Champagnergirl - Meike Cuddeford - E-Book

Champagnergirl E-Book

Meike Cuddeford

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Beschreibung

Tammy Stuker ist die Tochter von Henry Stuker, dem Besitzer von Wein & Spirituosen Stuker in Bad Zilleran. Nach dem Unfalltod ihrer Mutter vor neun Jahren verließ die damals 16jährige junge Frau, die inzwischen als Partyqueen von Bad Zilleran gilt, die Schule, um fortan im Geschäft ihres Vaters zu arbeiten. Sie gilt als designierte Nachfolgerin ihres Vaters, erledigt ihre Arbeit gewissenhaft und liebt in ihrer Freizeit das "Feiern" und die Ausgelassenheit mit ähnlich gesinnten Freunden. Mitten in der Coronazeit (und einen Tag vor ihrem 25. Geburtstag) erscheint ihr Vater nach Feierabend in ihrer Wohnung und erklärt ihr, dass sie seiner Meinung nach zu viel Alkohol trinkt. Sie soll das Trinken für ein ganzes Jahr aufgeben, denn sonst würde er die Leitung des Geschäfts nicht ihr, sondern ihrem Vetter Patrick übergeben. Tammy sträubt sich zunächst gegen den Wunsch ihres Vaters und lässt sich an diesem Abend gemeinsam mit ihrer Freundin Heike noch einmal richtig gehen. Dabei lernt sie auch Kristof kennen, der später eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielen wird. Ab ihrem Geburtstag versucht sie sich jedoch an die väterliche Vorgabe zu halten, um ihre Zukunft nicht zu riskieren. Der Kampf der jungen Frau gegen gesellschaftliche Normen, ihre Auseinandersetzung mit dem Thema "Alkohol" sowie die Einschränkungen des Lebens durch Corona stehen bei die-sem Buch im Vordergrund. Daneben spielt auch die Liebesbeziehung zwischen Tammy und Kristof eine wichtige Rolle, die sich ohne Tammys "Fastenjahr" nicht in dieser Art entwickelt hätte. Die Geschichte spielt im Zeitraum zwischen Juli und Dezember 2020.

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Champagnergirl

Erzählung

Meike Cuddeford

Über die Autorin

Meike Cuddeford stammt aus Leer in Ostfriesland. Nach dem Abitur absolvierte sie ein Freiwilliges Soziales Jahr und eine Ausbildung zur Tierarzthelferin, bevor sie in München und Hannover Tiermedizin studierte. Nach mehrjährigen Aufenthalten in Schottland und Südfrankreich ließ sie sich schließlich im Ammerland nieder, wo sie bis heute zu Hause ist. Ihre Hobbys sind Lesen, Reisen und Wandern.  

Impressum

© 2021 Meike Cuddeford

c/o AutorenServices.de

Birkenallee 24

36037 Fulda

Druck: neopubli GmbH, Berlin

Printed in Germany

Dienstag, 30. Juni

TAG NULL

Heute beginnt eine neue Zeitrechnung.

Die alten Zeiten gefielen mir besser, vor allem vor Corona, vor Trump und vor der großen Ansage, die mein Vater mir heute gemacht hat.

Er stand am frühen Abend vor meiner Wohnungstür, wo er fehl am Platz wirkte. Wenn man bedenkt, wie scheußlich er mein Penthouse findet und die Tatsache, dass man einen Lift benutzen muss, um in die eigenen vier Wände zu gelangen, dann ist es umso erstaunlicher, dass er den Kredit für diese Immobilie aufgenommen hat, den ich nun monatsweise bei ihm abstottere.

   Das Problem mit meinem Vater ist seine Konsequenz. Er ist zwar lieb und umgänglich, aber er ändert niemals seine Meinung oder gibt einen Entschluss auf, den er einmal gefasst hat. Wenn er sich also aufmacht, um ein Gespräch mit mir in meiner Wohnung zu führen, obwohl wir uns täglich im Laden sehen, dann wird es nichts Banales sein.

   „Du trinkst zu viel“, sagt er noch vor dem Hinsetzen und schaut auf den See hinaus, als ob er ihn dort nicht vermutet hätte.

   „Und du rauchst zu viel“, kontere ich, aber es prallt an seinem Schweigen ab. „Apropos, sollen wir rausgehen? Da habe ich sogar einen Aschenbecher.“

Er will nicht rausgehen. Seine Augen sind dunkler als sonst, wahrscheinlich wegen all der unausgesprochenen Gedanken, die sich hinter der Stirn versammelt haben.

Er verhält sich ganz ruhig, aber das tut er eigentlich immer und sieht dabei aus wie ein Gelehrter, mit seiner Brille und der braunen Lederweste. Wenn er lacht, werden seine Augen zu kleinen, sichelförmigen Schlitzen und man muss ihn einfach gernhaben. Heute ist er jedoch nicht zum Lachen aufgelegt, sondern setzt sich hin und trommelt mit seinen Fingern auf der Armlehne herum.

   „Tamara, du trinkst zu viel.“

Wenn mein Vater mich Tamara nennt, kann das etwas Gutes oder etwas Schlechtes bedeuten, ist aber auf jeden Fall eine Ausnahme, etwas Besonderes, eine Reminiszenz an meine Mutter. Im normalen Leben ruft er mich Tammy, so wie alle meine Freunde und Bekannten es tun, meine Lieblingstante Edelin, Thilo und Berta, Oma Ricki und sogar die meisten Kunden, die meinen richtigen Namen gar nicht kennen. 

   „Du zerstörst dein Leben. Du hast alles, was eine junge Frau sich wünschen kann. Du bist schön, intelligent, und du hast eine Familie, die dich liebt. Du hast einen Platz im Leben, eine Zukunft. Du trittst all das mit Füßen und nennst es Feiern. Dabei solltest du es besser wissen.“

Worte wie Pfeile.

Manche verfehlen ihr Ziel und fallen zu Boden.

Manche sitzen im Fleisch, als würden sie Widerhaken besitzen, und ihr Gift breitet sich über den Blutkreislauf im ganzen Körper aus.

Wie der Alkohol, von dem er spricht.

Das Thema hat er noch nie angesprochen, kein einziges Mal. Bislang war all das Ungesagte auch das Unsagbare, wie der Grund im Zilleraner See, der zwar manchmal aufgewühlt wird, aber der Schlamm wiegt einfach zu viel, um nach oben zu kommen. Und auch solche Andeutungen gab es nicht, die jetzt wie Blaualgen an der Wasseroberfläche schwimmen.

   Tammy war das erste Wort, das Thilo sagen konnte. Wir haben alle gelacht, vor allem vor Erleichterung, dass mein kleiner Bruder überhaupt etwas sagen konnte, denn in seinen ersten fünf Lebensjahren hat er nicht gesprochen.

Er ist dann hinter mir hergerannt und hat immer wieder Tammy, Tammy gerufen, so dass der Name an mir kleben blieb; einzig Mama nannte mich manchmal noch Tamara, besonders wenn ich etwas ausgefressen hatte.

   „Papa, ich bin fast fünfundzwanzig“, wehre ich mich. „Ich trinke nicht zu viel, das ist normal. Heike solltest du mal hören, wenn die von Trier erzählt … da an der Uni, da saufen die richtig!“

Eigentlich weiß ich schon, als ich diese Worte spreche, dass es keinen Sinn haben wird. Mein Vater duldet den Widerspruch, aber der Ausgang dieser Diskussion steht bereits fest. Er hat sich darauf eingestellt, dass ich mit Ablehnung reagieren, lamentieren, protestieren und vor allem versuchen werde, die Sache herunterzuspielen, doch das ändert nichts an den Tatsachen, die er bereits als solche eingestuft hat, und den Maßnahmen, die sich daraus ergeben.

   „Du trinkst ab morgen keinen Alkohol mehr“, sagt er.

   „Wie, überhaupt nicht? - Papa, ich bin erwachsen. Du musst nicht mehr auf mich aufpassen. Außerdem hab‘ ich morgen Urlaub. Da kannst du doch nicht erwarten …“

   „Erst mal für ein Jahr. Ohne einen Tropfen. Und dann sehen wir weiter.“

Na gut. Soll er doch reden. Die Zeiten sind vorbei, dass er über mein Leben bestimmt. Ich trinke ab und zu mal mit Freunden, na und?

Was konstruiert er hier für einen Fall? Er soll sich um seine eigenen Probleme kümmern und vor allem weniger rauchen. Das würde auch seine Chancen bei Frauen erhöhen. Wenn man jeden Abend mit seinem Buch vorm Kamin sitzt, lernt man niemanden kennen. Dann wird man missmutig und eigenbrötlerisch, aber das ist noch lange kein Grund, sich in meine Angelegenheiten einzumischen.

Ich könnte etwas sagen, aber ich schweige lieber.

   „Ich schlage dir vor, ein Tagebuch zu führen“, höre ich ihn sagen. „Das ist eine gute Sache. Das soll helfen.“

Jetzt erst fällt mir diese komische Kladde auf, die er mitgebracht und auf meinen Glastisch gelegt hat.

Und wenn ich keine Lust dazu habe? Obgleich ich diese Worte nicht laut ausgesprochen, sondern nur gedacht habe, folgt die Reaktion prompt.

   „Wie du weißt, werde ich nächstes Jahr sechzig.“

Natürlich weiß ich das. Mein Vater wird nächstes Jahr sechzig und ist Corona jetzt schon dankbar, dass es wahrscheinlich kein großes Fest geben wird.

Feste sind nur für andere Leute, pflegt er zu sagen, allerdings nicht gegenüber den Kunden, denen er den Sprit für ihre Partys verkauft.

   „Das ist ein gutes Alter, um sich aus dem Geschäft zurückzuziehen“, fährt er fort, ohne sich um meine Gedanken zu kümmern.

„Um den Lebensabend einzuläuten. Andere Sachen zu machen.“

Schwer vorstellbar, denke ich und gucke weg, weil sein Blick so eindringlich ist.

Was soll mein Vater denn anderes tun als das, was er die letzten dreißig Jahre getan hat?

Wie soll Henry Stuker seinen Tag verbringen, ohne von dem Sortiment umringt zu sein, welches er liebevoll zusammengestellt und arrangiert hat?

Ohne mit den Stammkunden zu fachsimpeln, die ihren Wein schon immer bei Stuker gekauft haben?

Ohne den Whisky zu bestellen, dem er als junger Mann in Schottland nachgereist ist, oder sich über den Lieferanten aus Bremen aufzuregen?

Ohne ganze Nächte mit Hemingway zu verbringen, um dessen Lieblingsrotwein am nächsten Tag mit dem gelesenen Buch im Schaufenster zu präsentieren?

Er räuspert sich.

Zum einen kommt das vom Rauchen, aber zum anderen will er auch wieder angesehen werden, wenn er spricht.

Ich soll aufhören, den See zu hypnotisieren.

   „Ich muss mir also Gedanken um den Laden machen“, sagt er.

Was redet er da? Hat er etwa vor, mit sechzig in Rente zu gehen und mich mit dem Geschäft allein zu lassen? Es klappt doch eigentlich ganz gut mit uns beiden.

   „Es gibt da genau zwei Möglichkeiten“, erklärt er mir mit ungewöhnlich sonorer Stimme.

   „Nummer eins: du hörst wie geplant mit dem Trinken auf, bist morgens pünktlich im Laden, machst ab sofort den gesamten Einkauf, kümmerst dich um die Vertreter, organisierst die Auslieferungen, arbeitest dich in die Buchhaltung ein, führst die Bestandslisten, machst abends die Kasse und schließt als letzte den Laden ab.“

   Was heißt wie geplant? Er hat das geplant, nicht ich. Und warum zählt er all die Tätigkeiten auf, die ich tagtäglich erledige? Na gut, zugegeben, nicht allein.

   „Nummer zwei: ich hole Patrick mit ins Boot“, fährt mein Vater fort. „Der macht nämlich gerade seinen Handelsfachwirt und hätte bestimmt Interesse, das Geschäft zu übernehmen. Du würdest natürlich nicht leer ausgehen. Er müsste dich auszahlen und gegebenenfalls auch weiter beschäftigen.“

PATRICK?

Diese Information braucht einige Sekunden, um in jenem Teil meines Gehirns anzukommen, der für Unvorhergesehenes, Katastrophen und schwere Schicksalsschläge zuständig ist.

   „Das ist nicht dein Ernst.“

   „Doch, natürlich. Der Junge ist nicht dumm. Biertrinker, aber trotzdem ehrgeizig. Wenn seine Mutter Recht hat, wird er es noch weit bringen, mindestens zum Geschäftsführer.“

   „Tante Irene? Seit wann hörst du auf Tante Irene? Das ist unser Laden!“

Mein Vater seufzt und steht auf. Seine braunen Augen ruhen auf mir, bevor er wieder zum See hinausschaut und ein Segelboot in der Ferne fixiert. Seine Hände sind wie immer das Stillste an ihm, auch wenn sie den Autoschlüssel halten, und die Cordhosen sind gebügelt.

   „Es ist mein Laden“, sagt er.

Mein Magen rutscht eine Etage tiefer.

Natürlich gehört ihm der Laden.

Schließlich ist er Henry Stuker, Inhaber und Geschäftsführer von Wein & Spirituosen Stuker, der ersten Adresse für Alkoholika in Bad Zilleran.

Für Alkoholiker übrigens auch, jedenfalls die Betuchten unter ihnen.

Mein Vater achtet nicht auf mich, sondern spricht einfach weiter.

   „Ich habe lange darüber nachgedacht und beschlossen, das Zepter im nächsten Jahr aus der Hand zu geben. Wie gesagt, bin ich dann sechzig und möchte die Zeit nutzen, um mich anderen Dingen zu widmen, zum Beispiel meinem Buch.“

   Daher weht der Wind. Mein Vater träumt schon lange davon, ein Buch über Whisky zu schreiben.

Einen Ratgeber der besonderen Art, voller Anekdoten und Geschichten, in denen sein Lieblingsgetränk die Hauptrolle spielt. Dafür sammelt er in dem alten bemalten Holzkasten alle möglichen Sachen - Notizen, Zeitungsausschnitte, Internetfundstücke, Zettel mit Gedanken. Aber deshalb muss er doch nicht gleich aufhören zu arbeiten!

   „Du hast die Wahl. Entweder du kniest dich richtig herein, wie ich es von dir erwarte, oder du gewöhnst dich an den Gedanken, dass dein Vetter in Zukunft den Laden führt.“

   „Er ist kein schlechter Kerl, der Patrick. Und … Tammy?“

   „Ja?“

   „Ab morgen kein Tropfen.“

Das ist typisch mein Vater. Er lässt mir die Wahl, trifft die Entscheidung aber schon im Voraus.

Nun küsst er mich auf die Wange, wie er es schon hunderttausendmal getan hat, aber diesmal brennt meine Haut davon. Er lässt mich allein und nimmt den Lift nach unten, während ich mich zurücklehne, einmal tief durchatme und meine Gedanken ordne, die von zwei Worten dominiert werden:

AB MORGEN.

Leider habe ich keinen Sekt mehr im Haus, nur Champagner.

Mein letzter Tropfen Alkohol für ein ganzes Jahr?

   Noch nie hat mein Vater ein derart sinnloses Ansinnen an mich herangetragen. Er hat meinen Alkoholkonsum, der ja gewissermaßen eine Berufspflicht darstellt, noch nie kommentiert oder sich in anderer Form dazu geäußert, und jetzt soll ich auf einmal mit dem Trinken aufhören?

Jetzt trinke ich auf einmal zu viel? 

Mein Vater neigt gewöhnlich nicht dazu, einen Sachverhalt zu übertreiben oder gar zu dramatisieren, aber diesmal ist er über das Ziel hinausgeschossen.

Ich bin doch keine Alkoholikerin!

   Sein ganzer Besuch kommt mir plötzlich unwirklich vor, wie eine Sinnestäuschung, eine väterliche Fata Morgana, doch dagegen spricht dieses seltsame Teil, diese Kladde, die vor mir auf dem Tisch liegt. Mit Seiten aus Papier und Linien, als würde heute noch jemand mit der Hand schreiben.

Ich beschließe, erst mal etwas zu trinken.

   Meine Hände zittern leicht, als ich die Flasche Veuve Clicquot aus dem Kühlschrank nehme.

Da ist noch ein Stück Pizza von gestern Abend, das ich mir kurz in der Mikrowelle aufwärme, doch das beste Mittel gegen den bitteren Nachgeschmack, den der Besuch meines Vaters hinterlassen hat, ist ein Schluck eiskalter Schampus.

Der spült das Gehirn frei, und für den Rest des Abends kann ich mir darüber Gedanken machen, wie ich auf Papas Vorschlag reagieren soll, ein Jahr lang keinen Tropfen Alkohol zu trinken.

Und warum er mir das ausgerechnet heute gesagt hat. Er weiß, dass ich den Rest der Woche frei habe, und er kennt auch den Grund. Denn morgen ist mein Geburtstag.

Mittwoch, 01. Juli

TAG EINS

Ich bin mit Kopfschmerzen aufgewacht.

Und mit Kristof, den ich gestern Abend in der Himmelbar kennengelernt und anscheinend mit nach Hause gebracht habe, denn er sitzt neben mir auf dem Bett und grinst mich an.

   „Na? Alles gut?“

Sein Haaransatz ist über Nacht irgendwie nach hinten gerutscht. Bei Tageslicht sieht er ganz anders aus, als ich ihn in Erinnerung habe, vor allem jünger und käsiger.

Die Sonnenstrahlen sind nicht auszuhalten. Warum habe ich nicht auf Papa gehört und Jalousien einbauen lassen?

   „Was? Ich meine … was machst du denn hier?“

Der Anblick seiner Boxershorts ist so grotesk, dass ich die Augen schließen muss. 

   „Ich habe Kaffee gemacht“, sagt er.

   „Ach so.“

Mein Gehirn braucht noch eine Weile, um die Informationen zu verarbeiten, die sich aus dieser kurzen Unterredung ableiten lassen. Wenn er sich die Freiheit herausnimmt, fast unbekleidet auf meiner Bettkante zu sitzen und meine Küchengeräte zu bedienen, dann lässt das auf eine gewisse Vertraulichkeit schließen; auch meine Nacktheit, sein Gesichtsausdruck, das zerwühlte Bettzeug sowie mein roter BH, der an der Stehlampe hängt, sprechen dafür.

Shit. Ich zwinge mich zu einem Lächeln.

Kristof steht auf und läuft in Richtung Kaffeemaschine, während ich mich aufsetze und einen Schluck aus der Wasserflasche nehme.

Immerhin weiß ich noch seinen Namen … Kristof.

Die Bruchstücke vom gestrigen Abend kommen langsam wieder.

Erst ruft Heike an, die wieder einmal Semesterferien hat, aber richtige Semester finden ohnehin nicht statt, nur distance learning.

Sie erzählt, wie Corona ihr das Studium verleidet.

Wenn man in Trier keinen Wein mehr verkosten darf, nicht einmal auf dem Hauptmarkt, dann ist die Stimmung mindestens so schwarz wie die Porta Nigra und man kann ebenso gut zu Hause lernen.

Heike schlägt einen Besuch bei Marcello vor, der zwar keine Moselweine, aber die beste Pizza in Bad Zilleran im Angebot hat.

Die Wartezeit an der Theke überbrücken wir mit Prosecco.

Die Kellner tragen Masken in den Farben von AC Mailand, während Marcello sich das rotschwarze Teil in die Brusttasche seines Sakkos gestopft hat, als wäre es ein Einstecktuch. Er verzichtet auf das Küssen, tätschelt uns stattdessen die Schultern und kredenzt uns seinen besten Barolo, den er im Großmarkt kauft.

   Nach der Pizza folgen Espresso und Digestif, Grappa für mich und Sambuca für Heike. Wir haben es beide nicht weit und könnten nach Hause laufen, aber es ist ein milder Abend und wir haben uns viel zu erzählen.

   „Außerdem müssen wir doch reinfeiern“, sagt Heike angesichts meines bevorstehenden Geburtstags, der zwar auf einen Mittwoch fällt, aber was macht das schon, wenn man Urlaub beziehungsweise Semesterferien hat und ausschlafen kann?

   Von dem Besuch meines Vaters erzähle ich ihr nichts. Je länger er zurückliegt, desto mehr wird er zur Vergangenheit und verschwimmt in meiner Erinnerung.

Wir ziehen weiter, trinken an Stehtischen, treffen alte Schulkameraden, lästern über die vielen Touristen, lachen uns über Gott und die Welt kaputt, und landen schließlich in der Himmelbar, weil wir pinkeln müssen.

   Da steht plötzlich Kristof neben uns an der Theke, an der trotz Corona noch ausgeschenkt wird, oder Corona zum Trotz, wie immer man es sehen will.

Wir kommen ins Gespräch, aber ich kann mich nur noch an bestimmte Einzelheiten erinnern. Er wohnt in Varenstede, arbeitet als Pferdewirt, liebt die Natur und bildet Springpferde aus, die sein Vater züchtet. Er erzählt von irgendwelchen Hengsten mit unaussprechlichen Namen, während Heike und ich uns bei Begriffen wie Besamungsstation und Zuchtstuten fast zu Tode kichern, als wären wir Teenager.

   Bald darauf bricht meine Erinnerung ab, was sicherlich auch dem Tequila geschuldet ist, der in regelmäßigen Abständen durch meine Kehle fließt, denn er lässt sich nicht lumpen, der fremde Reiter namens Kristof.

Nun läuft er jedenfalls durch meine Wohnung und bewegt sich hier so selbstverständlich, als stünde im Badezimmer schon ein Zahnputzbecher mit seinem Namen darauf.

   „Nimmst du Milch?“

   „Nein, danke.“

   „Soll ich nochmal zu dir ins Bett kommen?“

Bei dieser Frage setze ich mich auf und strecke ihm meine Handfläche entgegen, die einzige Abwehrmaßnahme, zu der ich in meinem jetzigen Zustand fähig bin. Dann schwinge ich mich aus dem Bett, greife mir die Wasserflasche und eile zum Badezimmer, dem einzigen geschlossenen Raum in meiner Wohnung abgesehen von der Abstellkammer, und der einzige Rückzugsort für eine verkaterte, sich in Grund und Boden schämende, splitternackte Partyexpertin.

   Leider führt ein Übermaß an Alkohol bei mir dazu, dass ich die Scheu vor solchen Typen verliere, denen ich sonst mit Vorsicht begegnet wäre oder erst abgewartet hätte, bis ich sie besser kenne.

   Heike neigt auch dazu, ab einem gewissen Pegel total touchy zu werden, aber diesmal scheine ich die Trophäe gewonnen zu haben.

Zum Glück wohne ich nicht mehr in der Villa und muss mich nicht vor meinem Vater rechtfertigen, der dieses Verhalten mehr als missbilligen würde.  

Du nennst es Feiern…

   Die Frau im Spiegel beschließe ich nicht zu kennen. Nachdem ich die Reste des abendlichen Make-ups beseitigt und eine gefühlte halbe Stunde unter der Dusche gestanden habe, hocke ich auf den Rand meiner Eckbadewanne und überlege, ob ich einfach warten soll, bis er die Geduld verliert und das Haus verlässt.

Andererseits drängt es mich zu erfahren, was genau passiert ist, nachdem wir die Himmelbar verlassen haben, denn ich kann mich nicht einmal an den Heimweg erinnern, geschweige denn an irgendetwas danach.

Das nennt man wohl Filmriss.

Als ich aus dem Badezimmer komme, steht Kristof in der Küchenecke und schaut mich erwartungsvoll an.    

   „Na?“

Ich ziehe die Mundwinkel hoch, so gut es geht.

   „Geht’s dir besser?“

   „Alles gut“, hauche ich, obwohl ich diesen Ausdruck verabscheue.

   „Ich muss jetzt los.“

Er greift nach seinem Smartphone, das auf dem Rand meiner Kücheninsel liegt, und steckt es in seine Hemdtasche.

Ein Gedanke jagt mir durch den Kopf wie ein mittelschwerer Stromschlag. Ich hoffe, er hat keine Bilder gemacht. Fotos. Filme. Tonaufnahmen.

   „Sehen wir uns wieder?“

Die Frage trifft mich genauso unvorbereitet wie das Aufwachen mit einem fremden Reiter und das Puffen der Kaffeemaschine, die anscheinend kein Wasser mehr im Speicher hat.

„Ich weiß nicht. Heute ist mein Geburtstag.“

   „Ja, ich weiß.“

   „Ach so.“

   „Coole Wohnung“, sagt er.

   „Hast du deinen Kaffee schon auf?“

Seine Augen fallen fast in den See, ein verschwommenes Blaugrau.

   „Ja. Du warst ja ziemlich lange im Badezimmer.“

   „Tut mir leid.“

   „Dann bis bald.“

Schade. Jetzt werde ich wohl nicht mehr erfahren, wie er mit Nachnamen heißt, ob die Geschichte mit dem Pferdehof stimmt und was wir miteinander getrieben haben.

   Kristof verlässt meine Wohnung, während ich hier immer noch im Bademantel stehe und versuche, dem Ganzen einen Sinn abzugewinnen, doch der Versuch ist zum Scheitern verurteilt.

Es macht keinen Sinn, sich so zu betrinken, dass man mit fremden Reitern schläft, ohne es zu merken.

Donnerstag, 02. Juli

TAG ZWEI

Mein Geburtstag ist überstanden.

Thilo wollte mich besuchen, aber ich habe ihn auf das Wochenende vertröstet und ihm versprochen, dass wir mit dem Ruderboot auf den See hinaus fahren werden. Mein Bruder liebt das Wasser, aber leider darf er nicht allein auf den See, weil Berta sonst verrückt wird vor Angst.

   Das übliche Kaffeetrinken findet ebenso am Samstag statt wie meine von langer Hand geplante Geburtstagsfeier.

Eigentlich wollte ich die Zeit bis dahin nutzen, um ordentlich einzukaufen und den Pavillon vorzubereiten. Dann wäre ich jetzt schon auf dem Weg zum Großmarkt, um das Büffet zu planen, Softdrinks aufzustocken und meinem Ruf als legendäre Gastgeberin gerecht zu werden, den ich seit meinem Achtzehnten verteidige.

   Aber nun soll ich (wegen Corona) höchstens zwanzig Freunde einladen und (meinem Vater zuliebe) den ganzen Abend nüchtern bleiben, und diese Konstellation aus Corona und Henry Stuker ist eine Zumutung für einen jungen Menschen wie mich.

Nichts ist mehr wie früher.

Mein Geburtstag war ein Tag ohne Inhalt, nur geprägt von unstillbarem Nachdurst und der Verärgerung über mich selbst. Warum muss ich es bloß immer so übertreiben? Es war niemand da, um auf den feierlichen Anlass anzustoßen, nicht einmal mein Vater. Sein Anliegen war wirklich töricht, denn ich hatte gestern nur Kopfschmerzen und überhaupt kein Verlangen nach Alkohol, wie es jeder Süchtige nach einer durchzechten Nacht verspürt hätte.

Heute ist das anders.

Es ist wine o’clock, im Kühlschrank steht noch eine Flasche Grauburgunder, und es ärgert mich, dass ich mir von Henry Stuker den Urlaub verderben lasse.

Das Etikett auf der Rückseite ist schlicht gehalten.

Pfalz. 12,5 % Alkohol. Deutscher Qualitätswein trocken.

Die Weißweingläser hängen hübsch aufgereiht im Halter, funkeln im Sonnenlicht und warten nur darauf, von mir gefüllt zu werden. Weißwein ist meine Leidenschaft.

Einen besonders guten Tropfen durfte ich an meinem letzten Geburtstag genießen, der mir in der Erinnerung vorkommt, als habe er in einem anderen Leben stattgefunden.

Und das nicht nur wegen Corona.

Ich erinnere mich noch an die Freude, die ich beim Öffnen des Briefes empfand.

Meine Tante Edelin, die in Südfrankreich lebt, hatte mir ein Flugticket geschickt, einmal Bremen - Nizza und zurück.

Einige Tage später empfing sie mich in Südfrankreich, aber diesmal fuhr sie nicht mit mir nach Amouville, sondern hatte uns für drei Tage in einem vornehmen Hotel an der Promenade des Anglais in Nizza einquartiert.

Dort fühlten wir uns wie Fürstinnen, als wir abends auf der Hotelterrasse saßen und auf den Chablis warteten, den wir zum Aperitif bestellt hatten.

   Der Himmel hätte nicht blauer sein können und das Mittelmeer glitzerte wie das Kristall der Champagnerkelche, die der Kellner zum Nachbartisch brachte. Wir genossen unser Zusammensein, die leichte Brise, die vom Meer herüberwehte, und das bezaubernde Flair der Côte d’Azur, die sich an diesem Tag so fein herausgeputzt hatte, dass wir nicht mithalten konnten.

   Dann erschien der Kellner, platzierte den silbernen Weinkühler an meiner Seite des Tisches und befreite die Flasche aus ihrem Bett von Eiswürfeln. Er hielt sie mit einem weißen Tuch, schön gestärkt wie auch die Tischdecken und Servietten, trat an meine rechte Seite und schenkte einfach ein, wie ich es mag, nicht dieses Getue um Schwenken, Schnüffeln und Abgang.

   Ein Chablis, um Himmels willen! Was sollte damit nicht stimmen? Die Flasche war von einem Netz feiner Tröpfchen überzogen, die von dem Gewebe aufgesogen wurden, damit kein Wasser in den teuren Wein gelangte, und während sich der Flaschenhals neigte, gluckerte es verheißungsvoll.

Vor mir stand ein hübsches, langstieliges Glas, gefüllt mit jenem Getränk, auf dessen Genuss ich mich schon seit Stunden gefreut hatte, und endlich war es soweit.

   „Santé“, sagt meine Tante, und der erste Schluck war wie immer der beste.

Eine kostbare Erinnerung.

Eine Erinnerung, bei der mir das Wasser im Mund zusammenläuft. Dagegen sieht der Pfälzer Grauburgunder ziemlich blass aus.

Ich stelle die Flasche zurück in den Kühlschrank und beschließe, erst einmal eine Runde um den See zu laufen, um meinen Kopf frei zu kriegen.

Freitag, 03. Juli

TAG DREI

Die Sache mit Patrick ist die reinste Erpressung. Mein Vater hat sich das nur ausgedacht, um mich noch stärker an unser Geschäft zu binden, sein Lebenswerk.

Henry Stuker würde den Laden keinem Fremden überlassen, auch nicht dem Sohn seiner Stiefschwester, der schon als Kind an verschlossenen Türen rüttelte.

Wenn Irene uns besuchte und Patrick mitbrachte, wurden stets Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Wertvolle Vasen wurden höhergestellt, scharfe Gegenstände entfernt und Kinderzimmer abgeschlossen, denn der Junge war so unbändig, dass häufig etwas kaputt ging.

Auch nahm er Thilo gern sein Spielzeug weg oder prügelte sich mit mir, bis die Erwachsenen uns auseinanderrupften und mit uns beiden schimpften, obwohl er angefangen hatte.

Besonders das Tor zum See musste immer verriegelt sein, denn sonst hüpfte unser Vetter so lange auf dem Boot herum, bis es kenterte, zielte mit Kastanien auf vorbeifahrende Tretboote oder brach Dielen aus dem Steg heraus, Gott weiß wie.

Inzwischen ist Patrick erwachsen und arbeitet in dem Supermarkt, den ich gerade betreten habe.

Im Gegensatz zu mir ist er ja nicht im Einzelhandel aufgewachsen, sondern musste nach der Schule eine Lehre absolvieren, um hier die Konservendosen oder das Klopapier sortieren zu dürfen (falls welches vorhanden ist).

   Ich kaufe nur selten am Westufer ein. Hier wohnen die Kurhauskellner und die Putzfrauen, die am Ostufer arbeiten. Hier wohnt Tante Irene in einem Reihenhaus voller Kitsch. Ganz in der Nähe befindet sich auch das Gymnasium, das ich einige Jahre besucht habe, und wenn man Pech hat, trifft man seinen ehemaligen Mathelehrer an der Käsetheke.

   Beim Gemüse streitet sich ein älteres Ehepaar mit einem jungen Kerl, der keine Maske trägt.

Ob er denn kein Problem damit habe, andere in Gefahr zu bringen, fragt der ältere Herr durch seinen Mundschutz; es klingt hitzig, aber gedämpft.

   „Nein, ganz und gar nicht“, antwortet der Unmaskierte, während er einen Apfel nach dem anderen in die Hand nimmt und nach Faulstellen absucht, bevor er seine Auswahl in der Papiertüte versenkt.

Die freie Rede ohne Maske ist ein klarer Vorteil, und sein spöttisches Grinsen spiegelt die Genugtuung wider, die er durch diesen kleinen Disput erfährt. Die Rentner geben sich geschlagen, schütteln mit dem Kopf und ziehen weiter.

Vielleicht reden sie nicht so gern mit Tätowierten.

   Zwischen den Weinregalen herrscht eine angenehme Stille.

Niemand scheint sich um diese Zeit schon für Wein zu interessieren, so dass ich ganz allein zwischen den aus aller Welt importierten Flaschen hin- und herwandern kann.