Die blaue Sonne der Provence - Meike Cuddeford - E-Book

Die blaue Sonne der Provence E-Book

Meike Cuddeford

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Beschreibung

Sabine Klimberger ist 48 Jahre alt und Lehrerin für Latein und Deutsch an einem Gymnasium in einer norddeutschen Kleinstadt. Sie flüchtet in die Provence, nachdem ihr Mann Helmut sie wegen einer jüngeren Frau verlassen hat. In Südfrankreich trifft Sabine auf Lulu, eine Aussteigerin, die ihr ein Zimmer in der Belle Bastide vermietet. Trotz ihrer Skepsis gegenüber dieser unkonventionellen Person kommen sich die beiden Frauen bald näher. Durch Lulu lernt Sabine viel über sich selbst, erfährt aber auch bald von den Problemen der Freundin (selbst die Geliebte eines verheirateten Mannes) und von deren dunklen Geheimnissen.

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Inhaltsverzeichnis
Impressum
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
XVIII
XIX
XX
XXI
XXII
XXIII

 

Meike Cuddeford

Die blaue Sonne der Provence

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

To Derek

With all my love

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die blaue Sonne der Provence

Erzählung

 

Meike Cuddeford

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Buch

Sabine Klimberger ist 48 Jahre alt und Lehrerin für Latein und Deutsch an einem Gymnasium in einer norddeutschen Kleinstadt. Sie flüchtet in die Provence, nachdem ihr Mann Helmut sie wegen einer jüngeren Frau verlassen hat. In Südfrankreich trifft Sabine auf Lulu, eine Aussteigerin, die ihr ein Zimmer in der Belle Bastide vermietet. Trotz ihrer Skepsis gegenüber dieser unkonventionellen Person kommen sich die beiden Frauen bald näher. Durch Lulu lernt Sabine viel über sich selbst, erfährt aber auch bald von den Problemen der Freundin (selbst die Geliebte eines verheirateten Mannes) und von deren dunklen Geheimnissen.

 

 

 

Die Autorin

Meike Cuddeford stammt aus Leer in Ostfriesland. Mit ihrem englischen Mann verbrachte die promovierte Tierärztin mehrere Jahre in Schottland und Südfrankreich. Heute lebt sie in Norddeutschland.

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

© 2020 Meike Cuddeford

Covergestaltung Christina Plener

Druck: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

 

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle in dieser Erzählung vorkommenden Personen sind frei erfunden. Jegliche Übereinstimmung mit realen Personen ist rein zufällig.

 

 

I

Das Haus ist zu groß für mich allein. Natürlich könnte ich es verkaufen, wenn ich wollte, aber ich hänge wohl zu sehr daran, und ich weiß nicht, wie man in anderen Häusern wohnt. Früher hatte ich einmal ein Appartement, aber ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich dort wirklich gelebt oder nur meine Zeit vergeudet habe; so lange ist das her. Ja, natürlich! In jener Epoche habe ich Helmut kennen gelernt. Mein Gott! Wie alt muss man sich fühlen, wenn man schon von Epochen spricht? Die Epoche mit Helmut. Mein Leben.

 

Im Prinzip besteht ein Haus ja nur aus Balken und Mauersteinen, aber irgendwann kommt der Geruch dazu, der Familiengeruch, die Träume, die Tränen, die Kinderstimmen, die irgendwo zwischen den abgewetzten Teppichen und den zerschrammten Türrahmen hängen bleiben, und dann wird eigentlich erst ein Haus daraus, ein Zuhause. Dann wird der Wind um seine Ecken pfeifen und durch die Ritzen ziehen. Dann werden Regenrinnen überlaufen, Dachziegel zu Boden fallen und zerbrechen, Keller überschwemmt werden und Holzwürmer werden sich durch die Balken fressen, aber es wird immer ein lebendiger Teil der Familiengeschichte bleiben. Saxa loquuntur. Steine sprechen.

Meine Tochter Tonia erfuhr als Letzte in unserer Familie von dem Drama, das sich seit Weihnachten zwischen ihren Eltern abgespielt hatte. Im Gegensatz zu ihrem Bruder hatte sie sich bis dahin geweigert, die Vorboten der Katastrophe ernst zu nehmen, und war ihrer Familie, dem Streit und den Schwierigkeiten einfach fern geblieben. Bis sie jenen Anruf von Helmut erhielt, in dem er ihr mitteilte, dass er mit den beiden reden wollte. Da kam sie prompt nach Hause.

 

Als die Bombe platzte, war sie zwar schockiert und zunächst auch wütend auf ihren Vater, aber ihre Wut legte sich erstaunlich schnell und ging in jenen sehr verletzenden Sarkasmus über, den sie gern als ihre Berufskrankheit bezeichnet. Dabei kann sie sich diese Schärfe in ihrem Beruf gar nicht erlauben, denn da ist Höflichkeit gefragt. Der Kunde ist König, auch wenn er betrunken ist und die Hand zwischen ihren Schenkeln hat. Tonia fliegt um die ganze Welt. Sie ist Stewardess bei einer angesehenen deutschen Fluggesellschaft. „Was?“ hörte ich sie rufen, halb amüsiert, halb angewidert. „Das kann nicht dein Ernst sein!“ Helmut war mit beiden Kindern auf die Terrasse gegangen, um ihnen zu sagen, dass er sich von mir scheiden lassen wolle. Und dass er eine Neue habe. Variatio delectat. Abwechslung erfreut.

Die Kaltschale stand im Kühlschrank und Helmut hatte Kuchen mitgebracht, Bienenstich von der Brunnenbäckerei am Krämereienmarkt. Den isst er gewöhnlich mit der Hand und leckt sich danach die Finger ab. Tonias Stimme überschlug sich fast, während von Helmut kaum etwas zu hören war. Sie steckte sich eine Zigarette nach der anderen an, obwohl sie sich das Rauchen erst vor kurzem abgewöhnt hatte und obwohl sie wusste, wie sehr ihr Vater diese Angewohnheit hasste. Sie benutzte Ausdrücke wie Chauvinisismus, Midlife-Crisis und Testosteronspiegel. Sie kämpfte in einer Schlacht, die bereits im Vorfeld verloren worden war, aber trotzdem bewunderte ich ihre Stärke.

 

Ich saß während dieser Auseinandersetzung in der Küche, hörte von weitem zu und schämte mich für meinen Mann, weil er unseren Kindern diese emotionale Tortur zumutete.

Sven schlug wie immer leisere Töne an. „Und was wird aus Mama?“ Was Helmut auf diese Frage geantwortet hat, weiß ich nicht, ist mir auch gleichgültig. Ich beschloss jedenfalls noch am selben Tag, meine Koffer zu packen.

 

Bei der Inspektion war alles in Ordnung. Niemand wunderte sich über mein Erscheinen so früh am Morgen. Der Automechaniker hatte kräftige, ölverschmierte Hände. Bei dem schönen Wetter verreisen? Da würde er doch lieber zu Hause bleiben!

Ich stellte den Kilometerzähler auf Null und brach in aller Frühe auf, während die Häuser und die Straßen unserer kleinen Stadt noch zu schlafen schienen. Ohne es vorher geplant zu haben, fuhr ich noch einmal um die Schule herum und durch die Altstadt, wo wir uns vor einiger Zeit mit dem Kollegium getroffen hatten, um das Sommerfest zu organisieren. Die alten Schiffe, das Rathaus, das kleine Bierlokal am Hafen. Und ich fragte mich, wie viele Kollegen zu diesem Zeitpunkt wohl schon von Helmuts Liaison gewusst haben? Fama nihil celerius. Nichts ist schneller als das Gerücht.

Ich hatte die Stadt verlassen, bevor sie zum Leben erwachte. Nun flitze ich mit meinem Volkswagen über menschenfeindliche Autobahnen, zähle die zurückgelegten Kilometer und fühle mich wie eine ungezogene Lehrerin, die den Unterricht schwänzt. Heute ist weder Feiertag noch findet ein Sportfest oder sonst ein ungewöhnliches Ereignis an unserer Schule statt, und es sind auch keine Ferien. Ich kann doch nicht einfach wegfahren! Meine Abwesenheit wird im Kollegium Unfrieden verursachen, weil die Kollegen mich in meinen Fehlstunden vertreten müssen. Der verdammte Lehrerkalender redet mir ununterbrochen ins Gewissen. Flüchten steht auf keinem Stundenplan.

Das Schlimmste am Autobahnfahren ist das Anhalten an der Raststätte.

Früher haben wir an diesem unbehaglichen Ort immer getankt und Fahrerwechsel gemacht, was mich daran erinnert, dass ich bald keinen Ehemann mehr haben werde und eigentlich meinen Ring abnehmen könnte. Die Scheidung findet allerdings ohne die Braut statt, weil die sich nach Südfrankreich abgesetzt hat. Frankreich, das Land meiner Sehnsucht. Ubi bene, ibi patria. Wo es mir gut geht, da bin ich zu Hause.

Ich sollte häufiger eine Pause einlegen, aber ich fürchte mich jedes Mal vor dem erneuten Auffahren auf die Autobahn. „Dies ist ein Beschleunigungsstreifen!“ höre ich Helmut noch neben mir rufen, wenn er nach einem Fahrerwechsel missgelaunt auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte. Er war zwar vernünftig genug, um einzusehen, dass er auch mal eine Pause brauchte, aber das Auffahren war stets der Moment, in dem er es bereute, mir das Steuer übergeben zu haben.

Dann stand ich am Ende dieses verdammten Beschleunigungsstreifens und wartete auf eine Gelegenheit, mich wieder in den Verkehr einzuordnen. Beschleunigt war dabei nur mein Puls.

Mit seiner Fächerkombination aus Biologie und Sport, die auf wunderbare Weise seinen Neigungen entspricht, fühlte Helmut sich an unserer Schule ausgesprochen wohl.

Über meinen Lateinunterricht hat er sich dagegen immer lustig gemacht, weil er darin nur ein Herumwühlen in Ruinen oder eine Vergeudungvon Gehirnzellen sah. Jahrelang konnte ich über seine Späße lachen, bis ich eines Tages merkte, wie ernst es ihm damit war. Bei der Planung der Fünfhundertjahrfeier unserer Schule stimmte er gegen die von mir entworfene Humanistische Agenda, für die ich unzählige Stunden unserer gemeinsamen Freizeit geopfert hatte. Beim Abendessen erklärte er mir, dass unsere Schule zwar neue Computer bräuchte, aber bestimmt keine Trojanischen Pferde. Später erfuhr ich von Sven, dass diese Bezeichnung neuerdings für bestimmte Computerviren benutzt wird. Haha.

Helmut hat heute Abend Training mit der Schulmannschaft. Er hält sich für einen großartigen Lehrer, weil er von den Mädchen angehimmelt und von den Jungen dafür bewundert wird, dass die Mädchen ihn anhimmeln. Von seiner ersten Affäre (wenn es die erste Affäre war) erfuhr ich am Tag von Tonias Konfirmation. Unsere Nachbarin, die unsere Kinder seitdem Frau Luntenriecher nennen, hatte ihn mit einer blonden Frau in der Stadt gesehen. Im Auto. Das wäre ja noch kein Grund zu Besorgnis gewesen, wenn er sie nicht geküsst und seine Hand nicht in ihrer Bluse gehabt hätte.

Leider habe ich nie erfahren, um wen es sich bei der Rücksitzblondine handelte. Helmut hätte einen Ehebruch niemals zugegeben, es sei denn, ich hätte ihn in flagranti erwischt. Aber selbst dann wäre ihm wahrscheinlich noch eine Ausrede eingefallen.

Ich wundere mich über mich selbst. Diesen Streckenabschnitt durch Lyon ist sonst immer Helmut gefahren, auf einer schmalen Spur an der Rhône entlang, durch verschiedene Tunnel, während links die allgegenwärtigen Lastwagen fahren und andere Fahrzeuge, insbesondere Klein- und Lieferwagen, von allen Seiten zu kommen scheinen und in wilder Fahrt an ihnen vorbeirasen. Wir sind immer mitten durch Lyon gefahren statt die Umgehungsstraße zu nehmen, weil Helmuts Navigationssystem behauptete, dass wir dadurch zwanzig Kilometer einsparen. Seltsam, dass ich keinen Moment darüber nachgedacht habe, es diesmal anders zu machen! Wenn ich den Stadtring bewältigt und die nächste Zahlstation erreicht habe, werde ich mich zurücklehnen, eine Mittagspause einlegen und die Sonnenstrahlen genießen. Gleich hinter Lyon fängt der Süden an.

Wie gut, dass Helmut damals auf einen Ehevertrag bestanden hat! Meine Mutter war entsetzt über das Schriftstück.

Sie sah darin eine Manifestation von Zweifel und Misstrauen, aber heute wäre sie froh darüber, weil das Haus, das ihre Eltern gekauft haben, immer noch mir gehört und nicht unter den Hammer kommt. Was für ein trüber Gedanke! Unvorstellbar. Doch so tief werden wir nicht fallen. Pactasunt servanda. Verträge müssen gehalten werden. Helmut wird sich an den Kosten für Svens Studium beteiligen müssen, aber ansonsten ist er aus dem Schneider. Meine Bezüge und meine Pensionsansprüche als Beamtin entbinden ihn von der lästigen Pflicht, für meinen Lebensunterhalt zu sorgen. Wie praktisch.

 

Seine neue Flamme heißt Clarissa. Ein schöner romanischer Name. Sie ist zweiundzwanzig Jahre jünger als er, spielt in ihrer Freizeit Golf und unterrichtet dieselben Fächer. Es besteht also keine Gefahr der Vergeudung von Gehirnzellen. Kein Catull, kein Cicero, kein Caesar. Helmut ist nicht nur der Liebhaber der jungen Referendarin, sondern auch ihr Betreuer. Früher hätte man das Unzucht mit Abhängigen genannt, aber heutzutage steht die Schulleitung solchen Affären gelassener gegenüber, da es sich bei der Geliebten um eine erwachsene Person und vielleicht sogar um eine zukünftige Kollegin handelt. Wie ich meinen Mann kenne, nimmt er seine Aufgabe sehr ernst. Er wird der hübschen, sportbegeisterten Biologin sein ganzes Repertoire an Lebensweisheiten vermitteln.

Seine lockeren Unterrichtsmethoden, Muskelaufbautheorie, Handballerdidaktik. Er wird dafür sorgen, dass sie für ein Leben an seiner Seite gut gerüstet ist. Und die Unzucht gibt es gratis.

Die Straßenkarte liegt neben mir, doch ich brauche sie nicht. Nach all den Jahren kenne ich die Strecke auswendig. Ich habe nur angehalten, um einen Blick auf die Mohnblumenfelder zu werfen. Der Anblick der roten Blüten ist atemberaubend. Ein Meer von Blumen, deren Köpfe leicht im Wind schaukeln und sanft auslaufende Wellen schlagen, dehnt sich wie ein leuchtender Teppich bis zum Horizont aus. In der Ferne ragt die Montagne Sainte Victoire mit ihrem mächtigen Felsenkörper aus dem dünnen Wolkenschleier, eine friedlich in der Sonne schlummernde Wächterin dieser fruchtbaren Landschaft. Was für ein herrlicher Empfang! Da wird mir plötzlich klar, dass wir die Provence noch nie im Mai besucht haben, sondern immer nur in den Sommerferien oder zu Ostern. Was fange ich hier bloß ohne Helmut an?

Den ersten Verdacht hegte ich bei der Weihnachtsfeier. Wie immer wollten wir mit dem ganzen Kollegium zum Weihnachtsmarkt fahren und hatten uns am Nachmittag in der zugigen Eingangshalle unserer Schule versammelt, um auf den Bus zu warten.

Es war nur ein kurzer, verstohlener Blick, den die beiden austauschten, während wir in der Halle standen und die Wartezeit mit kollegialer Konversation in kleinen Gruppen verbrachten. Helmut war wie gewöhnlich von jüngeren Kollegen umringt, nestelte an seinem Rollkragen herum und schaute in die Runde, als halte er nach jemandem Ausschau. Clarissa kam gerade die Treppe hinunter, berührte mit einer Hand das Geländer und strich mit der anderen ihre Haare zurück, die ihr bei jeder Stufe wie ein dunkler, geheimnisvoller Schleier ins Gesicht fielen. Sie sah aus wie eine moderne, hoch gewachsene Ausgabe von Schneewittchen. Sie trug einen hellen Mantel und eine riemendünne Handtasche über der Schulter.

Sie war ein Blickfang (was ihr auch bewusst war), und ich wäre bestimmt nicht misstrauisch geworden, wenn Helmut sie von Kopf bis Fuß gemustert und mit den Augen abgetastet hätte, wie er es beim Anblick einer schönen Frau normalerweise tut. Doch er schaute nur einmal kurz in ihre Richtung, öffnete seine Lippen einen Spalt breit und seine Mundwinkel zuckten, als wolle er etwas Stummes, Unaussprechliches, Vertrautes zu ihrer Begrüßung sagen, und wandte sich wieder seinem Gesprächspartner zu. Blitzschnell sah ich zu Schneewittchen hinüber, die ein Leuchten im Gesicht hatte und auf beinahe unverschämte Weise lächelte.

Da wusste ich es. Als ich ihn später zur Rede stellte, lachte Helmut mich aus, nahm mich beschwichtigend in den Arm und nannte mich sein hysterisches Weib, das nicht vorhandene Gefahren wittere. Doch in Wirklichkeit hatte er natürlich verstanden, dass ich von diesem Augenblick an Bescheid wusste.

Als Gott das Licht schuf, muss er in der Provence gewesen sein. Hier wird es in großen Mengen ausgeschüttet, flutet durch die Baumreihen, setzt die am Hang gebauten Dörfer in Szene und beleuchtet die Kalksandsteinfelsen, die in der Abendsonne eine honiggoldene Farbe annehmen. Immer, wenn ich die ersten Platanen sehe, die Schattenbäume der Provence, die in verträumter Gelassenheit am Straßenstand oder auf den Dorfplätzen stehen, dann weiß ich, dass ich an meinem Ziel angekommen bin, und mein Herz macht einen Sprung. Ich kann mich nicht satt sehen an diesen von der Sonne gebleichten Bäumen mit ihrem Relief von abblätternder Borke und ihrem Dach aus Blättern, die im Frühjahr hellgrün leuchten. Jetzt muss ich nur noch das Haus finden. Die Adresse lautet schlicht: La Belle Bastide, Lumaron.

Eigentlich wollte ich die erste Nacht in jenem Hotel in Lumaron verbringen, das Helmut und ich in den Osterferien gebucht hatten.

Schließlich haben wir dort zum letzten Mal zusammen geschlafen, zum letzten Mal miteinander zu Abend gegessen, zum letzten Mal miteinander gelacht. Doch das Hotel war ausgebucht und mir war nicht danach zumute, etwas Neues auszuprobieren. Daher beschloss ich kurz vor meiner Abreise, meine unbekannte Gastgeberin anzurufen und ihr mitzuteilen, dass ich einen Abend früher als verabredet eintreffen würde. Leider meldete sich nur ein Anrufbeantworter mit automatischer Ansage, dem ich meine Nachricht nur höchst widerwillig anvertraute, aber ich tat es trotzdem.

Seit jenem kühlen Abend im Dezember, den wir mit den Kollegen auf dem Weihnachtsmarkt verbrachten, begann ich Helmut und seine Geliebte (von der ich wusste, dass sie es war) mit Argusaugen zu beobachten. Es war zugleich verletzend und faszinierend, welche Mühe sich die beiden gaben, sich in meiner Gegenwart gegenseitig zu ignorieren. Einmal sah ich, wie sie zusammen auf dem Schulhof standen, als Helmut Aufsicht führte. Die große Pause dauert zwanzig Minuten, aber das war mit Sicherheit die längste Pause, die ich je erlebt habe. Ich stand an einem der hohen Fenster im dritten Stock und fühlte mich zutiefst gedemütigt, weil ich meinen eigenen Mann ausspionierte.

Das muss es sein. Hier bin ich schon ein paar Mal entlang gefahren, aber das Schild mit der Aufschrift Belle Bastide war mir bisher nicht aufgefallen. Die Buchstaben sind von einer dicken Staubschicht bedeckt und kaum noch zu lesen. Wenn ich nicht ausgestiegen wäre, um das Schild etwas genauer zu betrachten, hätte ichdas Anwesen niemals entdeckt. Zu dem Haus führt ein kleiner Sandweg, der auf beiden Seiten zunächst von einem Kieferngehölz gesäumt wird und dann in eine Ebene übergeht, wo uralte Olivenbäume stehen. Er endet auf einem von drei mächtigen Platanen überschatteten Plateau aus Kieselsteinen. Hier stelle ich meinen alten Volkswagen ab und laufe zum Haus hinüber. Der einzige Eingang scheint die Terrassentür zu sein, die sich direkt neben einem weit geöffneten Fenster befindet. Auf der Fensterbank hockt eine graue Katze zwischen zwei Blumentöpfen. Abgesehen von dem Tier scheint niemand meine Ankunft bemerkt zu haben.

„Hallo?“ Die Katze blinzelt verschlafen und reißt dann plötzlich die Augen auf, die mich an unseren Direktor erinnern. Rund, ernsthaft, warm. Trotzdem ist mir in ihrer Gegenwart etwas mulmig zumute. Von haarigen Tieren, die hier wohnen, hat mir niemand etwas gesagt. Im Gegenteil, denn in der Anzeige wurde ausdrücklich darum gebeten, keine Haustiere mitzubringen. Hoffentlich gibt es hier keine Hunde.

„Ist jemand zu Hause?“ höre ich mich fragen. Meine Stimme hört sich fremd und eigenartig an, als würde sie nicht zu mir gehören. Die Besitzerin des Hauses ist eine Deutsche, die aber schon seit vielen Jahren in Frankreich lebt. Bei unserem ersten und einzigen Telefonat hatte ich den Eindruck, dass sie eine praktische Person ist, die nicht gern viele Worte macht. Als ich sie zum Beispiel fragte, ob es eine Waschmaschine gibt, die ich benutzen darf, antwortete sie nur: „Ja, sicher! Aber nun kommen Sie erst mal her und Sorgen machen Sie sich später!“

Es gibt keine Klingel und keinen Türklopfer, sondern nur ein aus hängenden Bambusstäben bestehendes Fliegengitter, das weit offene Fenster und die ernsthafte Katze. Ich laufe um das ganze Haus herum, sehe zwei schneeweiße Ziegen (die glücklicherweise angepflockt sind), einige braune Hühner und ein Gewächshaus. Nach meinen spärlichen Informationen wohnen hier noch andere Frauen, aber außer meinem alten Volkswagen steht kein Auto auf dem Hof. Was soll ich denn jetzt tun? Ich betrete doch kein fremdes Haus, wenn mich niemand begrüßt und zum Eintreten auffordert! Die Katze scheint meine Anwesenheit völlig normal zu finden. „Hallo?“ rufe ich noch einmal in das Haus hinein und spähe durch das offene Fenster in die Küche. Da steht mein Name.

Da klebt ein Zettel an einer Flasche und darauf steht: SABINE.

Vorsichtig gehe ich um die Katze herum zur Eingangstür, schiebe die Bambusstäbe mit der Hand zur Seite und trete ein. Meine Augen sind noch geblendet von dem provenzalischen Licht und müssen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. In der Mitte des Raumes steht ein klobiger Holztisch. Die Einrichtung ist sehr einfach und zweckmäßig. An der hinteren Wand steht ein Gasherd und darüber befindet sich eine Eisenstange, an der Suppenkellen, Töpfe und Pfannen aufgehängt sind. Des Weiteren gibt es einen Küchenschrank, eine offene Feuerstelle und eine hölzerne Eckbank.

An der Gardinenstange hängen (statt Gardinen) Büschel von Kräutern, getrocknete Blumensträuße und violett schimmernde Knoblauchgebinde. Auf einer hölzernen Anrichte gleich neben der Spüle sehe ich einen wuchtigen Messerblock sowie einen Korb mit Zwiebeln und anderem Gemüse. Es herrscht eine viel versprechende, zart duftende, anmutige Stille.

Auf dem Tisch steht eine Rotweinflasche. Am Flaschenhals ist mit Tesafilm jenes Stück Papier befestigt, auf dem mein Name steht und darunter in krakeliger, kaum lesbarer Schrift:

Herzlich willkommen in der Belle Bastide! Sie wohnen im Turmzimmer. Machen Sie es sich gemütlich!

Hm.

Neben der Flasche liegt ein Holzbrett, auf dem sich ein Stück Olivenbrot, ein Apfel und ein runder Ziegenkäse befinden. Von der Küche aus führt ein niedriger Gang in den hinteren Teil des Hauses. Trotz der gewölbeartigen Decke muss ich den Kopf einziehen. Ich folge dem Gang bis zum Ende und öffne eine mit schwarzen Beschlägen verzierte Tür, die in eine kleine Diele führt. Hier sind die Wände weiß getüncht, der Fußboden ist mit Steinfliesen ausgelegt und an der stirnseitigen Wand hängt ein Ölgemälde, das Portrait eines alten Mannes, der unter einem knorrigen Olivenbaum in einem Klappstuhl sitzt. Unter dem Bild steht eine schwere Eichentruhe. Neben der Truhe befindet sich der Eingang zu einer engen Wendeltreppe. Die Stufen sind schmal und an der rechten Wand führt eine dicke Kordel entlang, an der man sich auf dem Weg nach oben festhalten kann. Da ist keine Tür, sondern nur ein fester, halbrunder Vorhang aus dunkelbraunem Leder.

So gelange ich schließlich in einen kleinen, aus Licht und Schatten bestehenden Raum: das Turmzimmer.

II

 

Es ist ein bezauberndes Geräusch, von dem ich aufgewacht bin. Ein ganz feiner Klang, helle, aufmunternde Töne, ein Glockenspiel, das aus weiter Ferne durch die Luft getragen wird. Es dauert eine Weile, bis mir klar wird, wo ich mich befinde. Das Bett füllt den einzigen Winkel des Turmzimmers aus, der nicht von Sonnenstrahlen ausgeleuchtet wird. Der Fußboden besteht aus Holzdielen, während die Zimmerdecke mit massiven Balken befestigt ist. Die Wände sind weiß gestrichen und reflektieren das Licht, das durch den schlitzförmigen Fensterkranz fällt und meine Augen blendet.