Tweed - Meike Cuddeford - E-Book

Tweed E-Book

Meike Cuddeford

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Beschreibung

Wild und romantisch - der Aufbruch in ein neues Leben. Die junge und ehrgeizige Immobilienmaklerin Julia reist nach Schottland, um im Auftrag ihres Chefs ein altes Gutshaus am River Tweed in Augenschein zu nehmen. Allerdings ist sie nicht die Einzige, die Interesse an dem begehrten Anwesen hat. Ein perfides Spiel mit skrupellosen Geschäftsleuten beginnt. Inmitten von Intrigen und Verrat beginnt schließlich die wilde und geheimnisvolle Landschaft der schottischen Borders auf sie zu wirken. Als dann noch der vermeintliche Forellenfischer Charles McCundran in ihr Leben tritt, muss sie sich endgültig zwischen Liebe und Karriere entscheiden. "Sehr gelungene Love-Story mit wunderschönem schottischen Hintergrund." - Rezension auf Amazon

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Seitenzahl: 590

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Meike Cuddeford

Tweed

To Derek

Who took me on a journey

Tweed

Roman

Meike Cuddeford

Das Buch

Julia Humbrand ist jung, attraktiv und ehrgeizig. Die Immobilienmaklerin reist beruflich nach Schottland, um im Auftrag ihres skrupellosen Chefs Dundawyck House, ein altes Gutshaus am River Tweed, in Augenschein zu nehmen. Die Besitzerin des Anwesens, die lebensfrohe und hemdsärmelige Elinor Wood, steckt seit einiger Zeit in finanziellen Schwierigkeiten, nichts ahnend, dass gewisse Geschäftsleute bereits auf ihr Eigentum spekulieren. Auch Julia beteiligt sich an dem perfiden Spiel, doch dann beginnt die wilde und geheimnisvolle Landschaft der schottischen Borders auf sie zu wirken.

Als dann noch Charles McCundran in ihr Leben tritt, den sie zunächst für einen Forellenfischer hält, muss sie sich endgültig zwischen Liebe und Karriere entscheiden 

Die Autorin

Meike Cuddeford, geb. 1969 in Leer, Ostfriesland, schreibt seit ihrem zwölften Lebensjahr Gedichte, Kurzgeschichten und Erzählungen. Die promovierte Tierärztin verbrachte mehrere Jahre in Schottland und Südfrankreich.

„Tweed“ ist ihr erster Roman, geschrieben im Jahr 2007.

Impressum

© 2017 Meike Cuddeford

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-6389-5

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle in diesem Roman vorkommenden Personen sind frei erfunden. Jegliche Übereinstimmung mit realen Personen ist rein zufällig.

Präambel

Oberhalb von Tweedsmuir entspringt der Fluss wie aus dem Nichts. Hier fließt alles zusammen, das Wasser von den Bergen, den grünen Wiesen und den Gräben ringsherum, hier sammelt es sich, strömt leise und geringfügig in Bahnen aus Moor und Gras, fließt immer weiter bergab, zieht Tropfen um Tropfen nach sich und verbündet sich mit dem Regen, bevor sich zunächst ein Rinnsal bildet, dann ein sprudelnder Bach, ein junger Strom und schließlich ein mächtiger Fluss, der River Tweed, der nach hundert Meilen in die Nordsee mündet.

Erster Teil

Montag, 27. Februar

Dundawyck, Scottish Borders

Auf den Gipfeln lag noch Schnee. Die Bäume standen still und schienen mit ihren mächtigen, schwarz lackierten Stämmen fast in den Himmel hinein zu ragen. Von Zeit zu Zeit schnitt ein Fasanenschrei messerscharf durch die kalte Luft oder ein Ast brach mit einem lauten Knacken ab, um mit großem Ächzen und Rascheln zu Boden zu fallen.

Lennys liebster Berg war der Kratzer. Er war fast eintausend Meter hoch und überragte die anderen Berge mit stolzer Erhabenheit, besonders in den Wintermonaten. Sein weißes Kleid ließ das Tannengrün noch dunkler, den Berg noch mächtiger erscheinen, und dämpfte die Geräusche im Februar. Das waren lautlose Tage, Zeit zum Innehalten und Durchatmen.

Eigentlich sollte er Feuerholz sammeln, aber wenn der Himmel klar war und die Wildgänse mit lautem Schnattern über seinen Kopf hinweg zogen, dann konnte Lenny nicht anders als den ganzen Weg zum Wohnwagen hinauf zu laufen und auf den wackeligen Hochsitz zu klettern. Er fühlte sich durchaus dazu berechtigt, da er Jim im Herbst dabei geholfen hatte, das hölzerne Gerüst zusammen zu schrauben. Außerdem hatte er die Löcher für die Pfosten mit einem Spaten ausgehoben. Der Wildhüter erschien hier nur am Wochenende, um sich in Ruhe zu betrinken und im Wald nach dem Rechten zu schauen.

Lenny kam regelmäßig hierher und erklomm die glitschige, aus Buchenholz gefertigte Leiter, obwohl sein Bein schon vom Aufstieg schmerzte und die einzelnen Stufen nie richtig treffen wollte, weil das Kniegelenk sich nicht einknicken ließ. Zum Glück hatte er noch ein gesundes Bein und zwei kräftige Arme, die seinen schmächtigen Körper sicher festhielten. Schließlich drehte er sich um und setzte sich auf die oberste Stufe, welche zu einem Sitz verbreitert war, so dass man sich bequem darauf niederlassen und auf Hirsche warten konnte.

Lenny hatte hier einmal einen Steinadler beobachtet, der weit oben über den Baumwipfeln schwebte und seine goldenen Schwingen majestätisch ausbreitete. Der Raubvogel ließ sich vom Wind höher und höher tragen, bis Lenny ihn kaum noch erkennen konnte. Seit jenem Tag hatte er fast täglich nach dem Vogel Ausschau gehalten, aber er hatte ihn nie wieder gesehen.

Jim hatte einmal behauptet, dass diese Art von Beutegreifer ganze Lämmer schlagen und in ihren Fängen davontragen würde, mindestens aber ein Kaninchen oder ein Moorhuhn. Lenny ahnte jedoch, dass er dem Wildhüter, wenn es um Raubvögel ging, nicht alles glauben durfte.

An diesem Tag blieb er nur wenige Minuten auf dem Hochsitz sitzen und hangelte sich dann langsam und vorsichtig wieder nach unten, indem er das linke Bein als Stütze und seine Ellbogen als Widerhaken benutzte, während seine Hände das nasse Holz umklammerten.

Er wollte wieder zurück sein, wenn Fiona im Hotel den Tee serviert und die Reste des Kuchens für ihn auf die Fensterbank gestellt haben würde. Der beste Kühlschrank der Welt, pflegte sie zu sagen, aber wenn er nicht rechtzeitig kam, holte sich die Katze seine Portion. Manchmal war auch noch ein Gurkensandwich da oder er ergatterte ein geröstetes Rosinenbrötchen, das Fiona für ihn mit Butter beschmierte. Sie ließ ihn zwar nie in die Küche hineinkommen, nicht einmal im tiefsten Winter, aber dafür hatte sie neben den Köstlichkeiten immer ein Lächeln für ihn übrig. Er schaute genau hin und vergewisserte sich, dass das Lächeln wirklich für ihn bestimmt war, aber er lächelte nie zurück. Andere Menschen schienen immer ganz genau zu wissen, wann sie lachen oder weinen oder eine ernsthafte Miene aufsetzen mussten, aber Lenny waren diese Dinge fremd; er hielt sich lieber aus allem heraus und verständigte sich auf seine eigene Weise.

Wenn Fiona ihn zum Holzsammeln in den Wald oder mit einem Müllsack zum Container schickte, wartete er in aller Ruhe ab, bis sie „Bitte“ gesagt hatte, machte auf dem Absatz kehrt und ging an die Arbeit. Wenn sie ihm zu Weihnachten ein Paar Handschuhe schenkte, trug er sie beim Schlafengehen, weil seine Hände draußen keine Bekleidung brauchten. Lennys Mutter war gestorben, als er noch ein kleiner Junge war, aber das machte ihm nichts aus, weil er sich nicht mehr an sie erinnern konnte. Wann immer das Wort „Mutter“ fiel, dachte er an Fiona.

Er musste sich beeilen, denn es wurde bereits dunkel. Er sah eine Gruppe von Rehen am Waldrand stehen, die mit großen Sprüngen zurück in das Unterholz flüchteten, als er näher kam. Wolkenschatten fielen auf die Erde und zogen als stumme Himmelsgiganten vorüber. Die Hügel waren von dunkelgrünem Samt überzogen, aber im nächsten Moment änderte sich das Licht und verwandelte die Landschaft in ein natürliches Relief aus Grau und Grün, dessen torfbraune und violette Nuancen das Bild abrundeten. Um diese Jahreszeit schien die Sonne nie länger als einen Augenblick. Ihr Untergang erfolgte unbemerkt und ohne jeden Abschied. Lenny stapfte mit Riesenschritten durch das weite Tal, wobei er das rechte Bein beinahe wie eine Krücke benutze, indem er es schwungvoll nach vorne warf, sich darauf stützte und im nächsten Moment, wenn das linke Bein vorschnellte, hinter sich her schleifte. Er dachte nicht darüber nach, weil das Humpeln ihm so vertraut war wie Wassertrinken oder Schafescheren.

Sein Körper hatte sich an den schrägseitigen Gang gewöhnt, seit er als Kind vom Heuboden gefallen war, und seine Muskeln schienen neue Ansatzpunkte gefunden zu haben, die es ihm ermöglichten, sich schneller vorwärts zu bewegen als mancher andere Junge in seinem Alter. Dabei schaukelten sein Kopf und sein langer Hals ständig von einer Seite zur anderen, als wollte er auf diese Weise das Gleichgewicht halten, wie ein Segelmast im Sturm.

Er umkreiste den Rinderstall von hinten, weil er dem Rinderzüchter nicht begegnen wollte, der ihn bei jeder Gelegenheit ausschimpfte. Er begab sich auf den kleinen, ausgetretenen Pfad zum Herrenhaus, wo er sein Quad Bike abgestellt hatte. Eine Steintreppe führte über die Mauer in den herrschaftlichen Park, aber die Stufen sahen so glitschig aus, dass Lenny es vorzog, über das Weidetor zu klettern. Nachdem er das Waldstück durchquert hatte, gelangte er in die Lindenallee, die in früheren Zeiten als Zufahrt gedient und die Verbindung zwischen dem Anwesen und den umliegenden Höfen gebildet hatte. Nun breitete sich zwischen den Bäumen ein Grasstreifen aus, der im Sommer von Schafen kurz gehalten und manchmal von Besuchern für Spaziergänge genutzt wurde.

Im Winter hatte Lenny hier noch nie jemanden getroffen. Wie immer ging er mitten durch die Allee, so dass er das Haus voll im Blick hatte. Das gefrorene Gras knirschte unter seinen Schuhen, wie ein grüner, vermoderter Teppich, den vor langer Zeit jemand für ihn ausgelegt hatte.

Von weitem wirkte Dundawyck House wie ein grauer Klotz aus Granit und Altehrwürdigkeit. Einzig die qualmenden Schornsteine wiesen darauf hin, dass in seinen Mauern immer noch jemand wohnte. Er dachte an Elinor, die das alte Gebäude seit vielen Jahren mit Leben und Wärme erfüllte, und sein Herz machte einen Sprung.

Neben Fiona war sie eine der wenigen Personen, die ihn nicht als Trottel betrachteten, sondern sich ganz selbstverständlich mit ihm unterhielten, als sei er ein Mensch wie jeder andere. Einmal hatte sie ihn sogar als „Gentleman“ bezeichnet, als er ihrer Tochter Katie bei den Weidezäunen geholfen hatte.

Er umrundete den aus Buchsbaumhecken bestehenden Irrgarten und den alten Tennisplatz, auf dem schon lange niemand mehr spielte. Dort, wo früher einmal ein Netz den Grasplatz in zwei Hälften geteilt hatte, bog er in einen Fußweg ein, der in schnurgerader Linie zum Seiteneingang von Dundawyck House führte, wenn man bis zum Ende ging. Doch Lenny pflegte den Umweg durch den von hohen Mauern eingefassten Gemüsegarten zu nehmen, in dem momentan nur einige verfroren aussehende Kohlköpfe aus dem Boden ragten.

Als er gerade aus diesem heraustreten wollte, sah er etwas sehr Ungewöhnliches. Jupiter raste mit gestrecktem Schweif und wehender Mähne über das winterlich ruhende Feld, das sich zu beiden Seiten der Einfahrt bis zum Pförtnerhaus erstreckte. Der Schimmel galoppierte, als wenn ihn eine Pferdebremse gestochen hätte, aber die gab es um diese Jahreszeit nicht. Lenny erkannte sofort, dass dem Pferd Gefahr drohte, denn es näherte sich mit unverminderter Geschwindigkeit dem offen stehenden Weidetor und stürmte hindurch, als wenn es einem unsichtbaren Feind entkommen wollte. Dann wurde es langsamer und trabte die lange Einfahrt entlang, die zur Straße führte.

Lenny spürte, dass er handeln musste. Er musste rennen, so schnell er konnte. Er lief dem Tier hinterher, doch er war so aufgeregt, dass er schon nach wenigen Schritten das Gleichgewicht verlor und stolperte. Während er sich mühsam wieder aufraffte, warf er einen flüchtigen Blick über seine Schulter zurück zum Haus.

Er wusste, dass Elinor und Katie noch in Edinburgh waren, wo Katie am Theater für eine neue Rolle vorsprach, aber Fionas Wagen stand da und auch der unvermeidbare Kevin würde irgendwo herumlungern.

Der Gärtner musste regelmäßig Holz nachlegen, damit es im Teeraum warm und gemütlich war, wie es die einzigen Gäste, ein belgisches Ehepaar, von ihrer Gastgeberin erwarteten.

Sie kamen stets im Februar, um sich in Dundawyck House zu erholen und die klare Luft der Borders zu genießen.

Diese Grenzregion zwischen England und Schottland mit ihren weiten Tälern und geschwungenen Hügeln war ein Anziehungspunkt für Naturfreunde und Wanderer aus aller Welt, aber die meisten Besucher kamen im Sommer. Als Lenny zum Haus zurückblickte, sah er gerade noch, wie ein Mann aus dem Pferdestall trat und gleich darauf wieder darin verschwand, als habe er sich durch den Anblick des Jungen ertappt gefühlt. Lenny kannte den Mann, der am Eddieburn wohnte und als Tierpfleger auf einer Hühner-farm arbeitete, aber er hatte jetzt keine Zeit zum Grübeln, weil er Jupiter einfangen musste. Später würde er in aller Ruhe darüber nachdenken, was der Kerl, den er gesehen hatte, bei den Pferden zu suchen hatte.

Hamburg-Mitte

Die Stadt war keine Winterschönheit. Julia Humbrand warf einen Blick auf den Parkplatz, der Angestellten und Gästen der Immobilienagentur Hollawart & Jung vorbehalten war, und betrachtete die grauen Wolkenschichten über der Stadt. Draußen wurde es kaum noch richtig hell und sie musste im Schein ihrer Schreibtischlampe arbeiten. Eine Kollegin, mit der sie nur selten sprach, hatte das Radio angestellt, aber außer Julia schien es niemanden zu stören. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das vor ihr liegende Exposé und begann zu lesen, was sie bisher geschrieben hatte.

„Kannst du mir mal helfen?“

Anke, die ihr gegenüber saß, schaute sie mit großen Augen an und deutete auf ihren Computer; sie schien wieder einmal ein Problem mit der Software zu haben. Diese Kollegin war zwar eher schüchtern, aber trotzdem die einzige, die sich direkt an Julia wandte, wenn das Programm nicht funktionierte oder die Zahlen in den Tabellen keinen Sinn ergaben.

„Klar“, sagte Julia und lächelte. Sie erhob sich und ging um den Schreibtisch herum, um sich der Sache anzunehmen.

„Ich krieg’ den Preis hier nicht ’rein“, lamentierte Anke, die gerade damit beschäftigt war, ein ehemaliges Kasernengebäude ins Internet zu stellen, aber Julia antwortete nicht, sondern fixierte das Geschehen auf dem Bildschirm. Sie erfasste den Fehler der Kollegin in wenigen Augenblicken und wies mit dem Zeigefinger auf die betreffende Stelle.

„Siehst du diesen Link? Dort einmal doppelklicken … dann müsste sich ein Fenster öffnen.“

„Oh“, sagte Anke, nachdem sie die Maus betätigt hatte. „Und nun?“

„Nun drückst du erst das Eurozeichen und dann kannst du die Zahlen eingeben.“

„So einfach? - Danke!“

„Keine Ursache.“

Nach dieser Unterbrechung widmete Julia sich wieder ihrem eigenen Projekt, einer Villa mit Swimming Pool und Tiefgarage, deren Besitzer völlig unrealistische Preis-vorstellungen hatte, so dass es nicht leicht werden würde, einen Käufer zu finden.

Doch es waren besonders die schwierigen Objekte, die ihren Ehrgeiz anstachelten, und nichts befriedigte sie mehr, als am Ende der Verhandlungen mit den Beteiligten beim Notar zu sitzen und einen unterschriebenen Kauf-vertrag in den Händen zu halten, für dessen Zustande-kommen sie verantwortlich war.

Heute fiel es ihr jedoch nicht leicht, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Vielleicht lag es an dem trüben Wetter, an der trockenen Luft in dem Großraumbüro oder der Radiomusik, die an ihren Nerven zerrte, aber sie verspürte keinen Drang, sich weiter in den Bericht zu vertiefen, der bis zum nächsten Vormittag fertig sein musste, wenn sie sich mit dem Besitzer der Villa traf. Vielleicht war es aber auch die Aussicht, mit ihrem Freund Janek und seinen Eltern in den Skiurlaub fahren zu müssen, die ihr den Spaß an der Arbeit verleidete. Sie hatte sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, aber Janek hatte keines ihrer Argumente gelten lassen und solange auf sie eingeredet, bis sie sich bereit erklärt hatte, an der Familienreise, wie er es nannte, teilzunehmen. Julia fand seine Mutter anstrengend und hatte nicht die geringste Lust, sich zehn Tage lang jene überkandidelten Sätze anzuhören, die in seinen Kreisen höfliche Konversation genannt wurden. Mit seinem Vater kam sie besser zurecht, doch das bezog sich auf gelegentliche Treffen zum Kaffeetrinken; sie war nicht darauf erpicht, mit diesen Leuten zu verreisen. Janek hingegen war Feuer und Flamme; er wurde nicht müde, ihr zu versichern, dass es ihr ebenso ergehen würde, wenn sie die Fahrt erst angetreten hätten. Das änderte jedoch nichts daran, dass Julia der Einladung seiner Eltern äußerst skeptisch gegenüber stand; statt Dankbarkeit zu empfinden, ließ sie das Gefühl nicht los, man wolle sie als mögliche Schwiegertochter auf die Probe stellen und ihre gesellschaftliche Eignung testen. Bei diesem Gedanken bekam sie vor lauter Unbehagen eine Gänsehaut und beschloss, die Arbeit wieder aufzunehmen. Vielleicht hatte sie ja Glück und der Chef würde ihr keinen Urlaub bewilligen …

Sie hatte gerade damit begonnen, die Bauweise der Villa zu beschreiben, als das Haustelefon klingelte. Das konnte nur der Chef sein. Bevor Julia den Hörer abnahm, fasste sie den festen Vorsatz, sich nicht für eine andere Aufgabe einspannen zu lassen, bevor sie mit der jetzigen fertig war. Ihr Arbeitgeber pflegte seine Mitarbeiterinnen gern hin und her zu scheuchen, wie es ihm gefiel, aber Julia Humbrand ließ sich diese Behandlung nicht gefallen. Sie wartete, bis es dreimal gesummt hatte, nahm den Hörer ab und meldete sich wie immer mit ihrem vollen Namen. Was immer er auch von ihr wollte - es musste warten.

Herbert Jung saß in seinem Büro und reinigte seine Fingernägel mit einem Zahnstocher. Kurz zuvor hatte er telefoniert und nebenbei einen Text durchgelesen, den Frau Spatz ihm auf den Schreibtisch gelegt hatte. Sie verstand nichts von Rechtsschreibung, doch was sollte er tun?

Es war nicht einfach, eine halbwegs zuverlässige Sekretärin zu finden, die nicht gleich mit Vertragswünschen kam oder plötzlich Kinder haben wollte, so dass er gezwungen war, ihre wochenlange Abwesenheit aus Krankheitsgründen oder ihre Mutterschaft zu finanzieren. Nach der Durchsicht des Kaufvertrages, der ihm einen schönen Batzen Geld einbringen würde, guckte er aus dem Fenster und dachte über das Telefongespräch nach, das er vor fünf Minuten mit Julia Humbrand geführt hatte.

Diese Mitarbeiterin war eine harte Nuss.

Sie arbeitete zwar schon seit anderthalb Jahren für ihn und war ohne Zweifel sein bestes Pferd im Stall, aber er hatte es noch nicht geschafft, sich mit ihr anzufreunden oder irgendein interessantes Detail über ihr Privatleben zu erfahren. Er kannte zwar ihre Adresse und den hübschen Stadtteil, in dem sie wohnte, aber sie hatte es stets abgelehnt, sich von ihm nach Hause bringen zu lassen.

Einmal war er abends im Dunkeln durch ihre Straße gefahren, um sich einen Eindruck von dem Ort zu verschaffen, an dem sie lebte. Eine Gründerzeitvilla, eigentlich von zeitloser Schönheit, aber verschandelt durch die moderne Sitte, in den hohen, stuckverzierten Räumen junge Spät-aufsteher wohnen zu lassen, die ihr Klingelschild selbst anfertigten und ihr Fahrrad an die Hauswand lehnten.

Er hatte sich darüber gewundert, dass sich Julia Humbrand, die er als ehrgeizige Mitarbeiterin kannte, in dieser Atmosphäre zu Hause fühlte.

Sie verkaufte ausschließlich exklusive Immobilien, seit sich herausgestellt hatte, dass sie keine Berührungsängste mit jener Gesellschaftsschicht zu haben schien, die sich ein Anwesen für mehrere Millionen oder ein schickes Appartement in der Innenstadt leisten konnte.

Julia Humbrand beeindruckte ihn, weil sie anders war als die anderen. Sie erledigte die schwierigsten Aufgaben im Handumdrehen und beklagte sich nie, während ihre Kolleginnen andauernd über die Kundschaft, das Wetter oder andere Übel schimpften, an denen sich nichts ändern ließ. Sie lächelte selten, aber ihr Blick war angenehm ruhig, so dass die Klienten sich in ihrer Gegenwart ernst genommen und gut beraten fühlten.

„Würden Sie bitte so freundlich sein und mich in meinem Büro aufsuchen?“ hatte er sie am Telefon gefragt.

Bei jeder anderen Mitarbeiterin wäre er in den Flur hinaus getreten und hätte einfach laut ihren Namen gerufen, aber die Humbrand kontaktierte er über das Haustelefon, weil sein Instinkt ihm sagte, dass er behutsam mit ihr umgehen musste.

„Ich arbeite gerade an dem Exposé Hindenburgstraße“, hatte sie geantwortet.

„Sobald ich das fertig habe, komme ich zu Ihnen.“

Er wollte noch etwas erwidern, aber da hatte sie schon aufgelegt. Sie war die einzige Person in diesem Hause, von der er sich ein solches Verhalten gefallen ließ.

Es ärgerte ihn, dass sie immer ihren Kopf durchsetzte und alle Regeln außer Kraft setzte, die er in mühevoller Arbeit aufgestellt hatte, um aus der kleinen Agentur ein florierendes Unternehmen zu machen.

Als er den Zahnstocher zurück in die Schublade legte, fiel sein Blick auf ihre Personalakte, die Frau Spatz ihm an diesem Vormittag herausgesucht hatte. Der Lebenslauf von Julia Humbrand gab nicht viel her. Sie hatte weder die Namen ihrer Eltern erwähnt noch einen Hinweis auf ihre privaten Vorlieben gegeben, wie man sie in anderen Bewerbungen fand.

Es kam nicht selten vor, dass die Schreibkräfte oder Immobilienfachwirte mit „Hobbys“ für sich warben und ihm verrieten, dass sie in ihrer Freizeit gerne Musik hörten oder Bücher lasen. Dieses belanglose Zeug hatte ihn nie interessiert, aber in Julias Humbrands Fall hätte er gern mehr erfahren. Sie hatte Hotelkauffrau gelernt und später bei einer Internationalen Reederei gearbeitet. Sie war ein Neuling im Immobiliengewerbe, doch sie schien für das Geschäft talentiert zu sein und hatte sich schnell in die neue Materie eingearbeitet. Unter dem Punkt „Sprachen“ hatte sie Fließend Englisch und Französisch angegeben und darauf würde er sie heute festnageln.

Seine Entscheidung stand fest: er würde niemand anderen als Julia Humbrand nach Schottland schicken.

Er musste es ihr nur noch beibringen.

Hamburg-Rotherbaum

Als Julia an diesem Abend nach Hause kam, sah sie das Täfelchen schon von weitem, das mit einem Bindfaden an der Türklinke befestigt war.

Oh nein, dachte sie. Nicht schon wieder die ganze Truppe!

Ihr Freund Janek kochte wirklich ausgezeichnet, aber sie konnte trotzdem nicht verstehen, dass er regelmäßig alle Mitglieder ihrer Hausgemeinschaft zum Essen einlud.

In solchen Momenten war sie froh, dass sie sich keine gemeinsame Wohnung teilten und kein gemeinsames Budget besaßen, denn es hätte sie maßlos geärgert, ihr schwer verdientes Geld für die Extravaganzen eines Medizinstudenten auszugeben.

„Heute: Chez Janek“ stand in weißer Kreide auf der Tafel. Julia wusste aus Erfahrung, dass es nun nicht mehr lange dauern würde, bis die Schmarotzer aus den anderen vier Wohnungen bei Janek auftauchen und die erste Flasche Wein auf seines Vaters Kosten öffnen würden. Sie musste unbedingt unter vier Augen mit ihm sprechen, aber erst brauchte sie einen Dauerlauf.

Sie liebte die trockene Luft, das stille Atmen und die kraftvolle Vorwärtsbewegung ihres Körpers, der nach Ertüchtigung verlangte wie nach Essen und Trinken.

Leider waren die Tage um diese Jahreszeit so kurz, dass sie ihre Aktivitäten im Freien einschränken musste, aber sie konnte nicht auf das Laufen verzichten. Es gab kein besseres Mittel, um einen klaren Kopf zu bekommen.

Das Gespräch mit ihrem Chef hatte ihr wieder einmal vor Augen geführt, wie sehr sie diesen Mann verabscheute, aber zugleich empfand sie eine seltsame Anziehungskraft, die von seinem Wesen ausging.

Er war ein abstoßender Mensch, aber kein Dummkopf. Julia musste sich manches Mal zusammenreißen, um seine Gerissenheit nicht charmant und seine Zielstrebigkeit nicht bewundernswert zu finden.

„Wenn ich Sie richtig einschätze, verfolgen wir dieselben Interessen“, hatte er zu Beginn der Unterredung gesagt. „Wir wollen erfolgreich sein und viel Geld verdienen.“

Diese Worte hatten Julia auf unangenehmste Weise berührt. Herbert Jung hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, aber sie wäre niemals auf die Idee gekommen, diese Formulierung für ihre Ziele zu wählen.

Sie träumte nicht vom großen Geld, sondern wollte sich lediglich alles leisten können, was sie begehrte. Sie wollte unabhängig sein und für alles bezahlen.

Das Schlimmste, was sie sich vorstellen konnte, war jemanden um etwas bitten zu müssen. In ihrer Partnerschaft war diese Marotte schon häufig der Grund für Auseinandersetzungen gewesen, da Janek nicht verstand, warum sie sich nicht helfen lassen wollte. Ihr Freund nannte sich selbst einen Networker und knüpfte scheinbar ununterbrochen neue Kontakte, die er ohne jegliche Skrupel ausnutzte, wenn er sich in einer Notlage befand. Im Gegenzug lud er seine Freunde und Bekannten zum Essen ein oder vermittelte kleinere Dienstleistungen zwischen Dritten. Wenn Julia die Gelben Seiten benutzte, um einen Handwerker zu finden, oder sich ein neues Möbelstück per Katalog bestellte, reagierte er mit Fassungslosigkeit.

Er fand es nicht nur unverständlich, sondern geradezu unverantwortlich, dass sie einen Handwerksbetrieb bemühte, während sein Freund Soundso, der zufällig Elektriker oder Möbeltischler war, diesen Auftrag gern erledigt hätte, natürlich schwarz und ohne die lästige Mehrwertsteuer zu verlangen.

Julia wiederum hatte kein Verständnis für sein Mitgefühl. Sie fand seine Freunde jämmerlich, die ihr halbes Leben lang studierten oder sich mit diversen Jobs oder Aushilfstätigkeiten über Wasser hielten. In seinen Kreisen schien der Sinn des Lebens darin zu bestehen, sich bei jeder Gelegenheit zusammenzurotten, um literweise billigen Wein zu trinken, kiloweise Pizza in sich hineinzustopfen und über Gott und die Welt zu philosophieren. Das war nicht ihr Stil. Sie hatte das Gymnasium mit einem guten Abitur verlassen und war bei einem Hotel in die Lehre gegangen, das zu den Besten in Hamburg zählte.

Zwar war sie dieser Branche nicht treu geblieben, aber trotzdem war in diesen drei Jahren der Grundstein für ihre Persönlichkeit gelegt worden. Sie hatte nicht nur gelernt, wie man Servietten faltete, Tagungsräume bestückte oder Hochzeitsfeiern organisierte, sondern hatte auch begriffen, dass es im Wesentlichen zwei Arten von Menschen gab: die einen bedienten, die anderen wurden bedient.

Auch gewann sie einen Einblick in die Welt der Reichen und Schönen, wodurch sie sich schnell angewöhnte, alle Menschen gleich zu behandeln, denn in ihrem Beruf musste man ständig auf der Hut sein, um nichts falsch zu machen. Disziplin und Diskretion waren zu einem festen Bestandteil ihres Lebens geworden. Sie achtete auf ihre Körperhaltung und sie wusste eine gute von einer schlechten Dienstleistung zu unterscheiden.

Diese Eigenschaften brachten ihr ein gesichertes Arbeitsverhältnis bei einer großen Reederei ein, die in der Nähe des Hafens angesiedelt war und LKW-Frachten aus allen europäischen Ländern nach Übersee verschiffte. Doch nach einigen Jahren begann sie sich dort zu langweilen und sah sich nach einer anderen Arbeit um.

Sie wollte nicht den ganzen Tag in ein Büro eingesperrt sein, sondern sehnte sich danach, sich zwischendurch einmal die Füße vertreten oder mit dem Auto unterwegs sein zu können. In der Stellenanzeige von Hollawart & Jung war von Außendienst zwar nicht die Rede gewesen, aber Julia hatte instinktiv gespürt, dass diese Agentur Aufstiegsmöglichkeiten für sie bereithalten würde.

Und sie hatte Recht gehabt, denn es dauerte nicht lange, bis Herbert Jung das Potential der jungen Frau erkannte. Im Gegensatz zu den meisten Kolleginnen besaß sie weder Erfahrung im Immobilengewerbe noch eine entsprechende Qualifikation, doch sie hatte ein Talent für das Kaufmännische und sie verstand sich auf den Umgang mit schwierigen Kunden. Darüber hinaus wuchs ihre Begeisterung für ihre Aufgabe, je länger sie sich damit beschäftigte, auch wenn es ihr nicht anzumerken war.

Sie vertiefte sich in die Merkmale ihrer Objekte, bis sie diese in- und auswendig kannte. Sie verblüffte Hausbesitzer mit Einzelheiten über ihre Häuser und machte profunde Vorschläge, welche Maßnahmen angebracht waren, um den Verkauf anzukurbeln. Wenn sie ein neues Objekt kennen lernte, empfand sie immer einen besonderen Nervenkitzel. Jedes Haus hatte eine Geschichte und Julia hatte schnell begriffen, dass sich ein Haus nicht verkaufen ließ, wenn man seine Persönlichkeit ignorierte.

Oft waren die Bewohner des Hauses verstorben und hatten es ihren Kindern überlassen, einen Käufer zu finden.

Dann mischten sich der Trennungsschmerz mit Kindheits-erinnerungen und geschwisterlichen Reibereien, so dass ein Wall von Gefühlen im Wege stand, wenn Julia das Haus zum Verkauf anbieten wollte.

Sie hasste Erbgemeinschaften. Ihre eigenen Eltern hatten ihr nichts außer dem nackten Leben hinterlassen und sie ärgerte sich häufig über die Selbstverständlichkeit, mit der viele Menschen die Errungenschaften ihrer Eltern nach deren Tod einforderten, als wären es ihre eigenen.

Auch ihr Freund Janek plante das Vermögen seines Vaters bereits als zukünftiges Rosenbett ein und konnte Julias Verärgerung nicht begreifen, wenn er diesen außer der Reihe um Geld anpumpte. Er erhielt eine monatliche Zahlung, die mit dem durchschnittlichen Einkommen einer Verkäuferin im Supermarkt vergleichbar war, aber mit dem Unterschied, dass sie eine Leistung erbringen musste, während er sich mit dem geringsten Arbeitsaufwand von Semester zu Semester hangelte.

Das Physikum hatte er im zweiten Anlauf bestanden und viel Aufhebens darum gemacht, aber das Staatsexamen würde er nicht vor seinem dreißigsten Geburtstag in der Tasche haben. Er bewunderte Julia, weil sie ihr eigenes Geld verdiente, aber mit ihrer Berufswahl konnte er nicht viel anfangen. Sie sprachen nur selten über ihre Arbeit, und wenn sie es taten, fand Janek in der Regel schnell irgendeinen Dreh, um das Gespräch wieder auf Themen zu lenken, die ihn interessierten. Er erzählte von den Eigenheiten seiner Professoren, die seiner Ansicht nach zwar hervorragende Wissenschaftler waren, aber keine Ahnung von Didaktik hatten, so dass es kein Wunder war, wenn er bei einem Testat durchrasselte oder eine Prüfung verschob, weil die Zeit zum Lernen einfach zu knapp war. Oder er berichtete von dem Kochkurs, dessen Leitung ihm das Studentenwerk kürzlich angeboten hatte, wenn auch leider unentgeltlich, aber was tat man nicht alles für die gute Sache? Und auch über seine Freunde, mit denen er einen Großteil seiner Zeit verbrachte, hielt er Julia auf dem Laufenden, so dass sie mit jedem Namen bestimmte Eigenschaften, Schicksale oder Anekdoten verknüpfen konnte, obwohl sie diesen Leuten nur selten persönlich begegnete.

„Hilfst du mir beim Tischdecken?“ fragte er, als sie nach zwanzigminütigem Sprinten und fast ebenso langem Duschen und Ankleiden endlich in seiner Küche stand.

„Du möchtest, dass ich den Tisch decke?“

„Das wäre lieb von dir.“

Er kam lächelnd auf sie zu, küsste sie zärtlich auf die Wange und wies auf den Ofen, der einen verführerischen Duft verströmte.

„Coq au vin.“

„Ich muss mit dir reden, Janek. Hast du ein paar Minuten, bevor die Hottentotten einfallen?“

„Was Wichtiges?“

In seiner Küche herrschte das übliche Chaos. Die Arbeitsflächen waren übersät mit benutztem Geschirr, Resten von Gemüse, Gewürzmühlen und anderen Kochutensilien, während diverse Lehrbücher, ungeöffnete Briefe sowie ein Badehandtuch auf dem Tisch herumlagen, den Julia decken sollte. Durch das weit geöffnete Fenster strömte eiskalte Luft in den Raum.

„Allerdings“, antwortete Julia. „Jung will mich für zwei Wochen nach Schottland schicken.“

„Schottland? Mitten im Winter?“

„Ja, und ich soll übermorgen fliegen.“

„Übermorgen? Warte mal, das wäre ja …“

„Ja, ich weiß.“

„Das ist völlig unmöglich!“

„Er will bis morgen eine Antwort haben.“

Und sie fuhr fort: „Ich hab’ beim Laufen darüber nachgedacht, Janek. Es tut mir leid wegen deiner Eltern, aber ich werde trotzdem zusagen.“

„Aber … wie soll ich das denn erklären? Die haben unseretwegen das größere Haus gebucht. Da kann ich doch jetzt nicht plötzlich absagen, eine Woche vorher …“

„Du kannst ja mitfahren.“

„Ohne dich? Das ist nicht fair, Julia! Wir hatten gemeinsam beschlossen, meine Eltern zu begleiten.“

Julia seufzte.

„Du wolltest es unbedingt und ich habe nachgegeben. Ich war von Anfang an nicht begeistert davon. Erstens kann ich nicht Skifahren und zweitens möchte ich keine Almosen annehmen, auch nicht von deinen Eltern und wenn sie es noch so gut meinen. Die Reise nach Schottland ist bestimmt kein Vergnügen, aber ich brauche diesen Job nun mal. Ich kann es mir nicht leisten, meinem Chef bei so einem wichtigen Projekt einen Korb zu geben!“

„Worum geht’s denn überhaupt? Will der alte Schwere-nöter ins Whiskygeschäft einsteigen? Und warum müssen es gleich zwei Wochen sein? Kann er nicht selbst hin-fliegen?“

„Nein, kann er nicht. Über die Einzelheiten darf ich nicht reden, aber es handelt sich um ein Objekt im Wert von mehreren Millionen. Jung hat mir weder den Auftraggeber verraten noch welchen Anteil wir an dem Geschäft haben werden, wenn es zustande kommen sollte.“

„Das musst du mir erklären. Du weißt nicht, in wessen Auftrag du nach Schottland fliegst?“

„Ich fliege natürlich im Auftrag von Hollawart & Jung, aber ich repräsentiere die Firma nicht. Mein Auftrag besteht lediglich darin, das Haus unter die Lupe zu nehmen und Informationen für unseren Klienten zu sammeln, der eventuell in dieses Objekt investieren möchte.“

„Mit anderen Worten sollst du inkognito reisen und für deinen sauberen Chef spionieren.“

„Genau.“

„Du verlangst also, dass wir das großzügige Angebot meiner Eltern ausschlagen, damit du für deinen Chef, den du nicht ausstehen kannst, die Schmutzarbeit erledigst?“

„Oh, verschon’ mich damit, Janek! Du weißt doch, dass ich auf das Geld angewiesen bin. Ich kann nicht einfach meinen Vater anpumpen, wenn es mal knapp wird - ich brauche das Geld. Grüß’ deine Eltern herzlich von mir und richte ihnen aus, dass ich aus beruflichen Gründen im Ausland unterwegs bin. Das wird sie mit Sicherheit mehr beeindrucken als meine Leistung auf irgendeinem Idiotenhügel in Garmisch-Patenkirchen.“

„Es geht nicht darum, meine Eltern zu beeindrucken“, gab Janek zurück.

„Worum denn sonst?“

„Es geht darum, dass wir zusammen etwas unternehmen. Und ich finde es eigentlich ziemlich nett von meinen Eltern, dass sie uns zu dieser Reise einladen. Das ist doch der beste Beweis, dass sie dich endlich akzeptieren. Dass sie dich als Teil der Familie betrachten.“

„Ich brauche keine Familie“, sagte Julia, schien es aber gleich wieder zu bereuen, schlang die Arme um seine Hüften und schmiegte sich an ihn. „Außer dir, natürlich.“ Dann widmete sie sich dem alten Holztisch und verwandelte ihn innerhalb weniger Minuten in eine festliche Tafel. Sie legte eine Tischdecke auf, verteilte Teller und Besteck, zündete Kerzen an und polierte die Weingläser mit einem sauberen Tuch, bevor sie die Servietten hineinsteckte. Sie rückte die Stühle zurecht und türmte einige Stechpalmenzweige, die sie von draußen mitgebracht hatte, in der Mitte des Tisches auf, so dass dieser im Glanz des Kerzenlichtes und der roten Beeren erstrahlte.

Janek hatte sich wieder seinen Töpfen zugewandt und schien zwar verstimmt, aber das würde sich legen. Julia war erleichtert, aber auch etwas aufgeregt. Zum ersten Mal in ihrem Leben würde sie im Ausland arbeiten. Gleich morgen würde sie ihren Flug nach Edinburgh buchen und sich mit aller Sorgfalt auf die vor ihr liegenden Aufgaben vorbereiten. Sollte Janek doch nach Bayern fahren und sich von seinen Eltern durchfüttern lassen.

Sie wollte selbst etwas leisten.

Edinburgh, Canongate

„Hast du mal daran gedacht, das Haus zu verkaufen?“

Die Frage hing in der Luft wie eine der dunklen, trüben Regenwolken, die in dieser Jahreszeit über Schottland zogen und kaum Tageslicht durchließen. Elinor Wood saß mit ihrem Bruder in einem Café an der Königlichen Meile und nippte vorsichtig an ihrer heißen Schokolade. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, diesen Ort im Sommer aufzusuchen, aber jetzt waren kaum Touristen da und man konnte in Ruhe zum Schloss hinauf wandern, ohne auf dem Bürgersteig angerempelt zu werden. Sie hatten den Wagen am Holyrood Park abgestellt und sich lächelnd daran erinnert, wie sie als Kinder den Berg hinauf gerannt waren, während ihr Vater in einiger Entfernung gefolgt war. Er hatte es strikt abgelehnt, das Auto zu nehmen, obwohl eine kleine Straße zu Arthur’s Seat hinaufführte. Daher war ihm nichts anderes übrig geblieben, als den schweren Picknickkorb zu Fuß nach oben zu tragen. Der Hausberg der Edinburgher überragte die Altstadt wie ein ruhender Wachhund. Elinor besaß noch einige Fotografien aus jener Zeit, die sie mit ihrem Vater zeigten, im Hintergrund das Meer, Schiffe mit leuchtenden Segeln oder die Halbinsel Five in der Ferne.

„Nein, das kommt nicht in Frage“, antwortete sie. Elinors Mann war früh verstorben und hatte sie mit drei halbwüchsigen Kindern zurückgelassen. Zu jener Zeit bewohnte die Familie ein Stadthaus in Morningside, wo die Kinder eine staatliche Schule besuchten, und kamen dank Elinors bescheidener Witwenrente einigermaßen über die Runden. Aber das Haus gehörte ihnen, und das Viertel, in dem es sich befand, zählte zu jenen Gegenden in Edinburgh, die als Wohnviertel immer begehrter wurden.

Sie hatte kurzerhand beschlossen, die hübsche Villa zu einem Preis, der ihr damals unglaublich hoch vorkam, zu verkaufen und mit ihren Kindern aufs Land zu ziehen, um eine eigene Existenz zu gründen.

Dundawyck House hatte bereits einige Jahre leer gestanden, als sie es zum ersten Mal sah, aber da war es schon zu spät, um wieder umzukehren. Sie wusste vom ersten Augenblick an, dass Dundawyck House und sie zusammen gehörten, und ein paar Tage später unterschrieb sie den Kaufvertrag. Seitdem waren fünfzehn Jahre vergangen und zwei ihrer Töchter hatten das Haus bereits wieder verlassen, während die Jüngste noch bei ihr wohnte.

„Du bist in Gedanken bei Katie, nicht wahr?“ fragte Richard. Katie war seine Lieblingsnichte und er hatte sich gern bereit erklärt, mit Elinor auf sie zu warten, während sie im Theater vorsprach.

„Sie war so aufgeregt!“

„Alle Schauspieler haben Lampenfieber“, behauptete er. „Sobald sie die Bühne betreten, legt sich das wieder. Dass sie aufgeregt ist, zeigt doch nur, wie ehrgeizig sie ist. Sonst wäre es ihr doch völlig gleichgültig, ob sie genommen wird.“

„Katie und ehrgeizig? Sprechen wir von demselben Mädchen, Richard? Du weißt doch, wie weltfremd sie ist! Manchmal glaube ich, dass Katie niemals erwachsen wird. Sie hat so viele Talente und jede Menge Verehrer, aber sie denkt gar nicht daran, irgendetwas in diesem Leben ernst zu nehmen. Stattdessen träumt sie sich durch den Tag und probt die ganze Zeit irgendwelche Rollen, die wahr-scheinlich nur in ihrem Kopf existieren, und wenn ich sie darauf anspreche, zuckt sie nur mit den Schultern. Die drei Jahre an der Universität hätten doch eigentlich etwas bewirken müssen, oder nicht?“

„Sie zeigt nicht das geringste Interesse, weiter zu studieren. Vielleicht war es ein Fehler, sie die ganze Zeit über zu Hause wohnen zu lassen. Mit ihrem Bachelor in Soziologie kann sie jedenfalls nicht viel anfangen. Gestern hat sie mir ganz stolz erzählt, dass man ihr angeboten hat, die Leitung der Laienspielgruppe in Peebleton zu übernehmen. Das ist ja alles schön und gut, aber natürlich ehrenamtlich, und irgendwann muss sie ja auch mal anfangen, ihr eigenes Geld zu verdienen. Sonst geht es ihr am Ende noch wie mir …“

„Du hast dir doch etwas Schönes aufgebaut …“

„Du hast mir gerade geraten, es zu verkaufen.“

„Nein, hab’ ich nicht. Das war lediglich eine Anregung zum Nachdenken.“

„Hast du mit Elisabeth darüber gesprochen?“

„Nein, jedenfalls nicht ausführlich.“

„Aha?“

„Du weißt ja, dass sie sich in solchen Angelegenheiten wesentlich besser auskennt als ich.“

„Ja, aber ich wäre dir trotzdem dankbar, wenn du die Einzelheiten für dich behalten würdest.“

„Das ist doch selbstverständlich“, sagte Richard und legte seine Hand auf ihren Arm.

Sie hatten beide nicht gemerkt, wie die Zeit verging, und draußen dämmerte es bereits. Elinor lenkte das Gespräch auf andere Themen und hoffte, dass Katie bald kommen würde, so dass sie sich auf den Rückweg nach Dundawyck machen konnten. Der Kakao schmeckte gut, aber Richards Worte hatten einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen.

Dundawyck, Scottish Borders

Seit Kevin Biggs nach Dundawyck gekommen war, litt er an Rückenschmerzen. Er war viel zu dick und das machte die Sache nicht besser, aber er konnte mit den Diät-vorschlägen seiner Hausärztin nichts anfangen und wusste nicht, wie er das mit dem Abnehmen anstellen sollte.

Sein Feierabendbier war das Einzige, was ihm im Leben Freude machte, und darauf würde er nicht verzichten, nur weil Frau Doktor kein vernünftiges Medikament zur Verfügung hatte. Allerdings hatte er sich schon oft gefragt, wie lange er noch in der Lage sein würde, die harte körperliche Arbeit zu bewältigen, die sein Job als Hausmeister und Gärtner mit sich brachte.

Er war realistisch genug, um zu wissen, dass er seine zwei Zimmer im Pförtnerhaus aufgeben musste, sobald er in Rente ging. Es sei denn, er konnte Mrs Wood davon überzeugen, dass er als Mädchen für alles unentbehrlich war.

Darauf spekulierte er und versuchte, sich so nützlich wie möglich zu machen. Er erledigte alle kleineren Reparaturen, brachte ihren Wagen zur Inspektion, half beim Ausmisten der Pferdeställe und trieb sich so oft wie möglich im Garten herum, damit sie ihn sah. Außerdem betonte er bei jeder Gelegenheit, dass er sich für die Sicherheit des Hauses verantwortlich fühlte. Er spielte sich gern als Bewacher des Anwesens auf und sorgte auch dafür, dass die Feriengäste dem Mann im Pförtnerhaus Respekt zollten.

An Tagen wie heute, wenn Elinor nicht zu Hause war, ließ er sich gern auf ein Schwätzchen mit den Besuchern ein und mimte den heimlichen Hausherrn.

Das belgische Ehepaar, das seit einigen Tagen wieder im Haus weilte, hatte geradezu an seinen Lippen gehangen, als er ihnen von der Jagd auf Fasanen und Rebhühner erzählte. Er hatte sich mit einer Hand auf dem Kaminsims abgestützt, wie er es von seinem ehemaligen Dienstherrn kannte, und hatte mit der anderen Hand weit ausgeholt, um die Ausdehnung der Jagdgebiete zu beschreiben.

Er konnte zwar kaum den Unterschied zwischen einer Büchse und einer Flinte erklären, aber er hörte in seiner Stammkneipe so viele Geschichten über die Jagd, dass es ihm nicht schwer fiel, einen Auszug daraus zum Besten zum geben. Dieses Destillat mischte er mit Fachausdrücken wie clean shot, double gun sowie einigen nebulösen Andeutungen über seine Herkunft, so dass die ausländischen Gäste ihn für eine wichtige Persönlichkeit halten mussten. Wenn er in ihren Gesichtern erkannte, dass er sie mit seiner Story beeindruckt hatte, befriedigte ihn das mehr als alles andere. Er hatte ihnen klargemacht, wer in Dundawyck House das Sagen hatte.

Mit diesem Gefühl saß er am späten Nachmittag in seinem verschlissenen Fernsehsessel und schaute sich eine Rate-sendung an. Er wollte sich gerade zum Kühlschrank begeben und seine erste Flasche Bier öffnen, als er das Geräusch hörte. Es klang erst wie eine Schreibmaschine, doch dann kam es näher, und bevor er es eindeutig identifizieren konnte, wurde es schon wieder leiser. Dann sah er das Pferd, dessen weiße Silhouette einen kurzen Augenblick vor seinem Fenster aufleuchtete, und er begriff, dass es sich bei dem Geräusch um den Hufschlag des Tieres auf dem Asphalt gehandelt hatte.

„Was zum Teufel …“ rief er aus, aber weiter kam er nicht, weil in diesem Moment ein ohrenbetäubender Krach einsetzte, der ihn erstarren ließ.

Als die Dämmerung einsetzte, begab sich Mia Wood in das Konservatorium, um einen Blick auf ihre geliebten exotischen Pflanzen werfen, die in dem Gewächshaus überwinterten.

Anschließend brach sie wie jeden Abend zu einem Rundgang um die Gärten auf und beschloss auf halber Strecke, die Abkürzung durch Dundawyck Park zu nehmen.

Dazu musste sie ein Stück am Waldrand entlanggehen und folgte einem ausgetretenen Pfad, der die Schafweiden säumte und einen herrlichen Blick über Dundawyck freigab. Zu ihrer Linken schlängelte sich der Tweed durch das Tal, tief eingegraben in die weite Landschaft und flankiert von grünen, mauerumrandeten Feldern, die sanft zu seinen Ufern abfielen. Unten auf der Straße ratterte ein Holztransporter über die Brücke. Sie fürchtete diese schwer beladenen Lastwagen, die aus den Holzgebieten im Norden kamen und mit grotesker Geschwindigkeit um die Kurven der Landstraße rasten, während die Baumstämme meterweit über den Fahrzeugrand hinausragten.

Mia beschloss, zum Souvenirladen zu laufen und noch ein Schwätzchen mit Fergus zu halten, bevor sie endgültig Feierabend machen und sich in ihre Wohnung oberhalb der Orangerie zurückziehen würde.

Sie hatte gerade die Eingangstür zum Laden erreicht, als sie den Lärm von der Straße hörte.

Es klang wie ein lang gezogener, animalischer Schrei, aber ihr wurde bald bewusst, dass es sich dabei um Bremsen-quietschen gehandelt hatte. Es folgte ein lautes Klirren und Scheppern, als wenn jemand eine gigantische Glasscheibe mit einem Stein zerschmettert hätte, aber es dauerte nur einige Sekunden und dann war Ruhe.

Es war ein Unfall passiert und obwohl sie von ihrem Standort nichts sehen konnte, wusste sie genau, um welche Stelle es sich handelte. Es passierte immer in derselben Kurve, die in einem Winkel von fast neunzig Grad am ehemaligen Kutscherhaus vorbeiführte, bevor die gerade Strecke nach Drumeleir begann.

Sie zögerte einen Augenblick und setzte sich dann in Bewegung, erst noch langsam und vorsichtig, aber dann beschleunigte sie ihre Schritte und rannte schließlich in Richtung Pförtnerhaus, über den Parkplatz, durch die Besucherschranke, über das Schafgitter und die Einfahrt entlang, bis sie sich der Straße näherte.

Während des Laufens verbot sie sich jede böse Vorahnung und zwang sich stattdessen, über das Wetter nachzu-denken. Wie gut, dass es in der letzten Woche aufgehört hatte zu schneien! Als sie das Pförtnerhaus schließlich erreichte, war sie erschöpft und außer Atem.

Was sie dort sah, kam ihr wie einer jener Albträume vor, die sie als Kind gehabt hatte. Ein undeutliches Bild, aber keine Farben, sondern lauter verschiedene Grautöne, die an den Rändern in tiefes Schwarz übergingen. Der Holz-transporter, den sie ein paar Minuten zuvor beobachtet hatte, stand auf dem Feld neben der Straße, während sich das Führerhäuschen mit brennenden Scheinwerfern der Kurve zuneigte, als wollte es die Szene beleuchten.

Zu beiden Seiten der Einfahrt standen Autos, die durch das Ereignis zum Anhalten gezwungen worden waren. Die Menschen, die aus den Fahrzeugen ausgestiegen waren, führten leise Gespräche, Schattengespräche, während Mia auch laute Stimmen vernahm, aber sie konnte beim besten Willen nicht feststellen, woher sie kamen. Im Licht der Autoscheinwerfer erkannte sie mehrere Personen, die zwischen Pförtnerhaus und Lastwagen hin und her eilten, aber sie waren scheinbar alle in Schwarz gekleidet und schwer zu identifizieren. Dann fiel plötzlich ein Schuss, dessen Knall noch sekundenlang in der kalten Luft nachhallte.

„Kevin?“ rief sie in die Dunkelheit hinein und rannte auf das Führerhäuschen des Lastwagens zu, aber der Haus-meister war nirgends zu sehen. Das Fahrzeug hatte den Weidezaun eingerissen. Mia musste unwillkürlich an Jeremy Johnson denken, dem die Weide gehörte.

Da wird er sich wieder schön aufregen!

Die Fahrertür stand offen und sie glaubte Radiomusik zu hören, die aus dem Innern der Fahrerkabine drang. Sie ging vorsichtig um das Vehikel herum und wünschte sich im nächsten Moment, dass sie es nicht getan hätte.

Das Tier lag auf dem Boden neben der Hütte. Jim Doyle hielt sein Gewehr in der Hand und beugte sich über den frischen, blutüberströmten Kadaver. Ein freiliegender Knochen ragte aus der Schulter des Tieres und hatte ihm das Fell zerrissen, so dass rotes Fleisch und glänzender Knorpel sichtbar wurden.

Katies Pferd! Mia kannte den Namen des Schimmels, aber es fiel ihr schwer, die leblose, aber immer noch dampfende Körpermasse, die vor ihr auf dem Boden lag, mit seinem Namen in Einklang zu bringen. „Jupiter“, flüsterte sie. Langsam schaute sie auf und blickte in das Gesicht von Jim, der sie grimmig beobachtete. Dann erkannte sie auch Kevin Biggs und Lenny, der das tote Pferd mit unbewegter Miene anstarrte.

Sein Gesicht war noch blasser als gewöhnlich.

Mittwoch, 01. März

Eigentlich hatte Julia sich am Flughafen einen Kleinwagen mieten wollen, um damit in die Borderregion zu gelangen, aber als sie nach dem fast zweistündigen Flug, der mit heftigen Turbulenzen und Gewitterschauern verlaufen war, in Edinburgh eintraf, war ihr die Lust auf weitere Abenteuer vergangen. Auch war sie es nicht gewöhnt, auf der linken Straßenseite zu fahren, und wollte es lieber bei Tageslicht probieren.

An diesem windigen, verregneten Abend zweifelte sie zum ersten Mal daran, dass ihre Entscheidung, nicht mit Janeks Familie nach Bayern, sondern beruflich nach Schottland zu reisen, richtig gewesen war. Ihr Freund hatte sie deutlich spüren lassen, wie enttäuscht er von ihrer Absage war, und sie hatte ihn auch nicht davon überzeugen können, dass es ihr leid tat. Janek hatte es zwar nicht abgelehnt, sie zum Flughafen zu bringen, aber sie hatten die ganze Fahrt über kein Wort miteinander gesprochen.

Zum Abschied hatte er ihr einen flüchtigen Kuss gegeben und war sofort zu seinem Wagen zurückgekehrt, ohne den Aufruf für ihren Flug abzuwarten. Dieses Verhalten war nicht gerade typisch für ihn, und Julia wusste, dass sie ihn mit ihrer Entscheidung maßlos enttäuscht hatte.

Was sie dabei aber am meisten erschreckte, war die Erkenntnis, dass es ihr nichts ausmachte.

Sie waren schon einige Jahre zusammen, und es war ihr noch nie in den Sinn gekommen, dass sich dieser Zustand jemals ändern könnte. Janek war meistens gut aufgelegt und pflegte ihre Alltagssorgen mit seiner guten Laune vom Tisch zu fegen. Er redete gern, während sie lieber schwieg. Er verwendete Stunden darauf, ein neues Kochrezept zu probieren, kannte stets das aktuelle Kinoprogramm, überraschte sie mit einem Frühstück im Bett oder günstig abgestaubten Theaterkarten, und seine Gegenwart war wie eine warme Dusche nach einem harten Arbeitstag.

Janek genoss das Leben in vollen Zügen, während sie sich den ganzen Tag abrackerte, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, doch das hatte sie bisher nicht davon abgehalten, diese Verbindung als etwas Dauerhaftes und Selbstverständliches zu betrachten.

Dennoch hatte sich in den letzten Tagen ein Gefühl eingeschlichen, das ebenso beunruhigend wie faszinierend war. War dieser Mann, der sie heute zum Flughafen gebracht hatte, wirklich der Richtige für sie? Oder war Janek am Ende nur ein Platzhalter, den sie benutzte, um sich weniger einsam zu fühlen? Julia schämte sich für diesen Gedanken, aber dann verdrängte sie ihn wieder. Schließlich waren es zwei Wochen bis zu ihrem Wiedersehen - genug Zeit, um über alles nachzudenken und sich über ihre Gefühle für Janek klar zu werden.

Sie nahm sich ein Taxi und ignorierte das überraschte Gesicht des Fahrers, als sie Dundawyck bei Peebleton als Fahrziel angab.

Es war eine Strecke von fast dreißig Meilen.

Der Taxifahrer hatte schwarzes Haar und dunkelbraune Augen, die einen starken Kontrast zu seiner auffällig hellen Haut bildeten. Er sah aus wie ein indischer Prinz.

„Dundawyck Castle?“ fragte er, während sie sich langsam vom Flughafen entfernten.

„Dundawyck House“, antwortete Julia.

„Oh!“

„Warum? Ist das ungewöhnlich? Bringen Sie nur selten jemanden dorthin?“

„Ja, selten. Zum Schloss, das kommt häufiger vor. Das letzte Mal vor sechs Wochen. Da hatte ich ein Ehepaar, das den ganzen Weg von Amerika angereist war, um Hog-manay zu erleben.“

„Hog - was?“

„Die schottische Neujahrsparty.“

„Aha.“

„Wer in Dundawyck Castle Urlaub macht, muss ganz schön was hinblättern“, behauptete er.

„Und Dundawyck House?“

„Bed and Breakfast, nichts Besonderes. Die Gäste von Dundawyck House sehe ich hauptsächlich im Sommer, wenn sie zu uns ins Restaurant kommen. Wir öffnen erst wieder im April. Der Weiße Elefant in Peebleton.“

„Dann chauffieren Sie nur im Winter?“

„Ja, nur im Winter. Im Sommer arbeite ich im Service. Mrs Wood schickt uns häufiger Gäste, weil es bei ihr nur Frühstück gibt.“

„Sie kennen die Besitzerin von Dundawyck House?“ fragte Julia. die sie sich insgeheim über den indischen Prinzen amüsierte. Er war offensichtlich stolz auf den Restaurantbetrieb seiner Familie und sprach gern darüber. Ob er wohl einen Turban trug, wenn er die Gäste bediente?

„Ja, ich kenne Mrs Wood, “ antwortete er. „Nette Frau.“

„Und der Betrieb läuft gut?“ erkundigte sie sich.

„Ja, soweit ich weiß. Mrs Wood hat eine Speisekarte vom Weißen Elefanten in der Eingangshalle ausgelegt“, betonte er, als wenn er darin einen Beweis für die Geschäftstüchtigkeit der Dame sah. „Neben den Wanderkarten.“

„Kann man hier auch im Winter wandern?“

„Sicher, wenn man etwas verrückt ist“, grinste der Prinz und zeigte zwei Reihen glänzender, makelloser Zähne. Er hielt das Steuer mit gestreckten Armen und schien die Gangschaltung häufiger zu bedienen, als es nötig war. Julia versuchte, nicht darauf zu achten und stattdessen einen Eindruck von der Landschaft zu gewinnen, was im Dunkeln jedoch nicht einfach war.

„Gibt es hier keine Straßenlaternen?“ wollte sie wissen. „Nur die Sterne am Himmel“, gab der Taxifahrer zurück. „Aber wir sind gleich in Peebleton, da ist es heller.“

„Und wie weit ist Dundawyck von Peebleton?“

„Ungefähr sechs Meilen. Aber wenn Sie noch einen Blick auf das Schloss werfen möchten …“

„Nein, danke, das hebe ich mir für ein anderes Mal auf.“

Interessant, dachte Julia. Das Schloss schien die Hauptattraktion dieser Gegend zu sein.

Der Taxifahrer wirkte enttäuscht, weil sie seinen Vorschlag abgelehnt hatte, und konzentrierte sich auf den Straßenverkehr. Sie passierten einen Kreisverkehr nach dem anderen, kamen durch mehrere kleine Ortschaften und bogen schließlich in die Hauptstraße von Peebleton ein, wo der Prinz plötzlich das Tempo drosselte, um Julia den berühmten Weißen Elefanten zu zeigen.

Sie durchquerten die Kleinstadt in wenigen Minuten und tauchten wieder in die Dunkelheit ein, die Julia als erdrückend empfand, war sie doch an Leuchtreklamen gewöhnt und das weit verstreute Licht der Großstadt. Einmal kam ihnen ein Fahrzeug entgegen und beleuchtete mit seinen Scheinwerfern eine schwarz glänzende Fläche neben der Straße, die nichts anderes als Wasser sein konnte.

„Was ist das für ein Fluss?“ fragte sie, obwohl sie die Antwort bereits kannte, denn sie hatte im Flugzeug die Landkarte studiert.

„Das ist der River Tweed“, antwortete der Inder, der sich über ihre Unwissenheit zu wundern schien. „Wir sind hier in der Grafschaft Tweedshire. Wussten Sie das nicht?“

„Wie der Stoff?“ fragte Julia.

„Ja, genau, wie der Stoff. Wenn Sie sich dafür interessieren, kann ich Ihnen ein Geschäft in Melkirk empfehlen. Da gibt es alles von der Tweedjacke bis zum feinsten Kaschmirpullover.“

„Danke, aber ich glaube nicht, dass ich viel herumreisen werde.“

„Oder Sie besuchen das Wollmuseum in Innerburn“, schlug der Taxifahrer vor.

„Vielen Dank für den Tipp, aber ich werde mich wohl hauptsächlich in Dundawyck aufhalten und höchstens mal einen Abstecher nach Peebleton machen. Gibt es dort eine Autovermietung?“

„Ja, mehrere.“

„Und das Schloss werde ich mir natürlich ansehen! Wenn ich Sie vorhin richtig verstanden habe, scheint es ja das erste Haus am Platz zu sein.“

„Ja, in der Tat“, sagte der Prinz und schien plötzlich noch aufrechter am Lenkrad zu sitzen. Danach verstummte er und sprach erst wieder, als sie ein paar Minuten später in eine Einfahrt einbogen, die von einem Pförtnerhaus auf der linken und von einem spärlich beleuchteten Schild auf der rechten Seite flankiert war. Botanische Gärten von Dundawyck las Julia und darunter stand in kleineren Buchstaben: Dundawyck Bed & Breakfast House.

„Da sind wir“, sagte der Prinz.

„Da sind wir“, flüsterte Julia.

Dundawyck House

Ursprünglich hatte sie Lukas Smith zum Tee eingeladen, um mit ihm über ihre finanziellen Probleme zu sprechen, aber nun brauchte sie seine Gegenwart als reines Beruhigungsmittel. Elinor schenkte ihrem alten Freund bereits zum dritten Mal nach und sah mit Genugtuung zu, mit welchem Appetit er Fionas Butterkekse vertilgte.

Ihre Gäste waren zu einer Wanderung durch die Meldon Hills aufgebrochen, wofür sie den ganzen Tag eingeplant hatten. Sie hatte ihnen ein Lunchpaket mit auf den Weg gegeben und den guten Rat, bei schlechtem Wetter sofort umzukehren, denn wenn Schneefall einsetzte, konnte man sich dort leicht verirren.

Ihre Tochter Katie hockte immer noch auf ihrem Bett und weinte leise vor sich hin, während Elinor den täglichen Pflichten nachkommen und sich um das Geschäftliche kümmern musste. Im letzten Jahr hatte es die wenigsten Anmeldungen gegeben, seit sie Dundawyck House eröffnet hatte, und die Ausgaben überwogen die Einnahmen. Sie zermarterte sich das Hirn, mit welchen Attraktionen sie eine größere Zahl von Besuchern anlocken könnte, aber außer dem Bewährten fiel ihr nicht viel ein. Die Hauptsache waren die Botanischen Gärten, aber sie konnte nicht mehr tun als in ihrem Prospekt darauf hinzuweisen. Sie liebte die herrliche Natur der Borders mit ihren von Heide bewachsenen Hügeln, ihren klaren Flüssen und ausgedehnten Wanderwegen, aber sie konnte niemanden dazu zwingen, seinen Urlaub hier zu verbringen. In den letzten Jahren war es zunehmend schwieriger geworden, neue Kundschaft zu gewinnen. Besonders jüngere Leute zogen es vor, für wenig Geld nach Griechenland oder Marokko zu fliegen, statt sich mit der Geschichte der Douglastanne zu beschäftigen oder auf den Spuren von Walter Scott am Tweed entlang zu trotten.

Elinor konnte es ihnen nicht verdenken.

Von ihrer ältesten Tochter Megan bekam sie regelmäßig zu hören, dass Dundawyck House endlich eine eigene Website brauchte, um mit anderen Pensionen konkurrieren zu können.

„Was machen deine Modernisierungspläne?“ fragte Lukas, als wenn er ihre Gedanken gelesen hätte. Wie immer saß er auf der rechten Seite des weich gepolsterten Ledersofas am Kamin, hatte seine Beine übereinander geschlagen und seine Teetasse auf dem Beistelltisch abgesetzt. Er trug seine übliche Zivilkleidung, einen grauen, abgewetzten Anzug, Hemd und Krawatte. Elinor konnte sich nicht daran erinnern, dass er jemals etwas anderes getragen hätte, wenn er auf einen Sprung vorbeigekommen oder einer Einladung zum Tee gefolgt war, vorausgesetzt, dass sie nichts mit seinem Beruf zu tun hatte.

Für die übrigen Dorfbewohner war Pastor Smith niemals etwas anderes als der Pastor, aber für Elinor war er auch ein lieber Freund, der ihr mit den Jahren ans Herz gewachsen war. Er war schon beinahe im Pensionsalter und sein dichter, schlohweißer Haarkranz, der hinter der hohen Stirn zurückgewichen war, ließen ihn noch älter aussehen. Seine lange, dürre Gestalt schien sich im Bereich des Halses fortzusetzen und sein Kopf war hoch und schmal, wobei sein Mund unverhältnismäßig groß wirkte. Was Elinor an ihrem Freund am meisten schätzte, war seine Fähigkeit zum Zuhören. Sie hatte ihm schon einige Male ihr Herz ausgeschüttet, ohne jemals das Gefühl zu haben, ihm dadurch eine Last aufzubürden oder die Grenzen ihrer Freundschaft zu überschreiten.

An diesem grauen, regnerischen Tag brauchte Elinor seinen Ratschlag mehr als alles andere. Seit Katie sich auf ihr Zimmer zurückgezogen und beschlossen hatte, für den Rest ihres Lebens um ihr Pferd zu trauern, schien alle Lebensfreude aus dem Haus gewichen zu sein.

„Ach, Lukas“, antwortete sie auf die im Raum stehende Frage. „Modernisierungspläne … du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich mir jeden Tag den Kopf zerbreche, um eine Lösung zu finden, aber bisher … und dann noch diese Geschichte!“

„Ja, das muss sehr schwer für deine Jüngste sein.“

Dann fügte er hinzu: „Immerhin ist kein Mensch dabei zu Schaden gekommen, Elinor.“

„Hm, ja. Das Schlimme ist nur, dass Katie nicht an einen Unfall glaubt. Sie weiß natürlich, dass Jupiter vor diesen Lastwagen gerannt ist, aber sie ist felsenfest davon überzeugt, dass ihn jemand aus dem Stall gejagt haben muss. Und Kevin behauptet, dass es Lenny war.“

„Lenny?“

„Ja. Angeblich war Lenny zwei Minuten nach dem Unfall am Pförtnerhaus und völlig außer sich. Du kennst ja Kevin. Du kannst dir vorstellen, wie er dem armen Jungen zugesetzt hat.“

„Aber Lenny ist doch nicht aggressiv! Geht er denn häufiger zu den Pferden?“

„Er hilft hin und wieder mal beim Putzen, aber wenn du mich fragst, gilt seine Hingabe eher meiner Tochter als ihren Tieren.“

„Du meinst, er ist in sie verliebt?“

„Na ja, vielleicht ein bisschen. Wäre ja auch kein Wunder, so wie Katie auf die Männer wirkt! Der Junge tut mir wirklich leid, Lukas. Er wird niemals in der Lage sein, ein normales Leben zu führen, und jetzt ruiniert dieser Vorfall sein bescheidenes Glück. Du hättest erleben sollen, wie er unter Katies Wut gelitten hat. Er spricht ja leider nicht, aber ich bin sicher, dass es für Jupiters Ausbruch eine Erklärung gibt.“ Und nach einer Pause fügte sie hinzu: „Jim hält es für unmöglich, dass Lenny ein Pferd zu Tode jagt.“

„Was hat Jim damit zu tun?“

Lukas kannte den Wildhüter. Ein ruppiger Kerl mit Arbeiterhänden und Drei-Tage-Bart, der gern mal einen über den Durst trank, aber nicht in der örtlichen Gastwirtschaft, sondern allein. Ein Einzelgänger und als solcher eine ständige Herausforderung für den Hirten der Gemeinde.

„Der Unfall hat einen Riesenkrach gemacht und war meilenweit zu hören. Jim war einer der Ersten am Unfallort und hat nicht lange gefackelt, als er Jupiter am Boden liegen sah. Er hat ihn erschossen, was sicher richtig war, aber Katie kann es trotzdem nicht begreifen. Als wir aus Edinburgh kamen, war alles schon vorbei. Der Abdecker hatte das Tier schon aufgeladen und der Lastwagenfahrer war schon auf dem Weg ins Krankenhaus. Gott sei Dank ist ihm außer dem Schock nichts zugestoßen und den Schaden am Fahrzeug wird die Versicherung übernehmen. Aber trotzdem … auf solche Schicksalsschläge könnte ich in meiner derzeitigen Lage gut verzichten.“

Lukas rührte sich nicht, weil er spürte, dass Elinor ihm noch mehr zu berichten hatte. Ihr sonst so frisches, lachendes Gesicht wirkte grau und müde.

In guten Zeiten sah man ihr die Jahre nicht an, die sie auf dem Buckel hatte, aber heute klammerte sie sich an der Stuhllehne fest und die grauen Strähnen in ihrem Haarschopf traten deutlich zutage.

„Immerhin gibt es dieses Angebot von der Laienspielgruppe“, seufzte sie und hob das Kinn ein wenig an.

„Das wird Katie hoffentlich davon abhalten, noch länger Trübsal zu blasen. Und außerdem erwarten wir noch einen weiteren Gast, eine junge Frau aus Deutschland, die heute Abend in Edinburgh ankommen wird.“

„Aus Deutschland?“

„Ja, Hamburg, glaube ich. Julia Irgendwas. Hat unsere Adresse im B&B-Magazin gefunden.“

„Eine junge Frau und ganz allein?“ fragte Lukas. „Das ist aber ungewöhnlich!“

„Vielleicht möchte sie ihre Ruhe haben?“ mutmaßte Elinor. „Einfach mal ausspannen.“

„Wäre sie dann nicht besser im Schloss aufgehoben, wo sie sich verwöhnen und Schlamm ins Gesicht schmieren lassen kann?“

„Vielleicht kann sie sich Dundawyck Castle nicht leisten. Und wer sagt, dass es bei uns kein Verwöhnprogramm gibt? Für Fionas Frühstück würde ich alles stehen und liegen lassen! Und frische Luft ist auch genügend vorhanden. Nein, mein Freund, so leicht lasse ich mir meine Kunden nicht abschwatzen! - Darf ich dir noch eine Tasse Tee anbieten?“

„Aber gern, meine Liebe“, sagte der Pastor und lächelte.

Dundawyck Castle

An solchen Tagen merkte Fiona Clark, dass sie nicht mehr die Jüngste war. Ihre Arbeitszeit war zu Ende, ihr Rücken schmerzte und sie konnte es kaum abwarten, ihre Beine auf dem Sofa auszustrecken. Vielleicht sollte sie das Angebot ihrer Chefin, den Wellnessbereich des Hotels in den Abendstunden zu nutzen, doch nicht immer ausschlagen. Gemeint war nach zwanzig Uhr, wenn die meisten Gäste das Abendessen einnahmen, und viele ihrer Kollegen nahmen die Gelegenheit wahr, sich nach Feierabend selbst wie ein Gast zu fühlen.

Sie gingen in die Sauna, benutzten die Geräte im Fitnessstudio oder begaben sich in den Indischer Ozean genannten Pool, um ausgiebig zu schwimmen.

Doch Fiona hatte diese Möglichkeiten noch nie in Anspruch genommen, weil sie sich vor den Blicken fürchtete. Sie konnte sich zwar vorstellen, wie gut sich eine Massage oder ein Bad in Meeresalgen anfühlen würde, aber sie traute sich mit ihrem fülligen Körper nicht unter die Leute und ließ sich das Angebot lieber entgehen.