Wundergirl - Meike Cuddeford - E-Book

Wundergirl E-Book

Meike Cuddeford

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Beschreibung

Minna ist zwölf Jahre alt, als sie dem Mann begegnet, der ihr kindliches Vertrauen auf eine schreckliche und brutale Weise ausnutzt. Dieser vermeintliche Freund verletzt sie nicht nur körperlich, sondern fügt dem heranwachsenden Mädchen auch eine seelische Verwundung zu, die sein Leben nachhaltig beeinflussen wird. Viele Jahre später geschieht plötzlich ein Mord, der die ganze Stadt in Atem hält, und auch Minna ist alarmiert, denn sie kennt das Opfer aus früheren Zeiten. Die Vergangenheit holt sie ein, zieht sie hinunter und scheint sie fest im Griff zu haben, doch Minna ist stärker, als sie denkt. Wird sie es schaffen, sich zu befreien?

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Wundergirl

Über die AutorinÜber das BuchPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Epilog

Über die Autorin

Meike Cuddeford stammt aus Leer in Ostfriesland. Nach dem Abitur absolvierte sie zunächst ein Freiwilliges Soziales Jahr sowie eine Ausbildung zur Tierarzthelferin, bevor sie in München und Hannover Tiermedizin studierte.

Ihre Hobbies sind Lesen, Reisen und Wandern.

Ihr Hauptantrieb im Leben ist jedoch das Schreiben.

Über das Buch

Minna ist fast noch ein Kind, als ihre Welt zusammenbricht. Der Vater verlässt die Familie wegen einer anderen Frau. Die Zwölfjährige muss nicht nur den Umzug aus ihrem Zuhause in eine kleinere Wohnung, sondern auch die neuen Lebensumstände verkraften, denen sie, ihr Bruder Sören und ihre Mutter ausgesetzt sind. Auf der Schwelle zum Erwachsensein sehnt sie sich nach Geborgenheit und jenem Gefühl der Sicherheit, dessen Verlust ihre Kindheit jäh beendet hat. Dann tritt Harry in ihr Leben, der ihre Ängste spürt …

Dreizehn Jahre später. Minnas Leben gleicht einem Strudel, der sie immer weiter hinunterzieht. Der Versuch, als Studentin im bürgerlichen Leben Fuß zu fassen, ist gescheitert. Sie fühlt sich wie eine Fremde im eigenen Körper, mit dem sie heimlich Geld verdient. Eines Tages kehrt plötzlich ihr Vater in die Stadt zurück, und ein Mord geschieht, der sie im Mark erschüttert. Sie kennt das Opfer. Kennt sie auch den Täter? Holt die Vergangenheit sie ein?

Prolog

Hannoversche Allgemeine Zeitung 19. September 2002

„1977 war die Welt noch in Ordnung“

Heute vor genau 25 Jahren eröffnete Elsa Schniever aus Hannover ihren Kiosk in der Nordstadt, vielen auch bekannt als „Elsas Lädchen“. Die damals 26jährige, die in Döhren unter der Obhut ihrer Großeltern aufwuchs, ahnte nicht, dass sich ihre Nebenerwerbstätigkeit nicht nur zu einer festen Institution in Hannovers Norden, sondern auch zu ihrem Hauptberuf entwickeln würde.

„Nachdem mein Mann seine Arbeit [bei Hanomag, Anm.d.Red.] verloren hat, musste es ja irgendwie weitergehen“, erzählt die heute 51jährige. „Wir haben unsere eigene Küche geopfert, um den Kiosk zu vergrößern und unser Angebot zu erweitern. Die Leute arbeiteten ja immer länger und fanden es gut, dass sie sich nach Feierabend noch eben ein Bier oder eine Tüte Chips holen konnten.“

Auf die Frage, ob sie jemals daran dachte, ihren Kiosk aufzugeben und sich eine feste Anstellung in einem Supermarkt zu suchen, schüttelt sie energisch den Kopf.

Gerade am Anfang, also in den Siebziger Jahren, sei die Welt ja noch in Ordnung gewesen, die Geschäfte seien gut gelaufen und die heute fast regelmäßig stattfindenden Überfälle hätte es auch nicht gegeben.

Ehemann Harry unterstützt Elsa Schniever seit 1981, und die Kundschaft ist daran gewöhnt, den gelernten Schlosser hinter ihrem Rücken die Regale aufstocken oder sortieren zu sehen. Er erledigt auch die nötigen Einkäufe beim Großmarkt und hilft in Stoßzeiten beim Bedienen mit.

„Bei uns gibt’s nichts, was es nicht gibt!“ sagt Elsa Schniever nicht ohne Stolz und weist auf die kunterbunten Auslagen. Neben den obligatorischen Zeitungen, Zigaretten, Süßigkeiten und Spirituosen sind hier beinahe alle Dinge des täglichen Bedarfs erhältlich, ob es sich um Perlonstrümpfe, ein Pfund Zucker, Schnürsenkel oder sogar um Windeln handelt. Sie und ihr Mann sind mit ihrem Leben zufrieden und auch die zahlreichen Stammkunden können sich die Nordstadt nicht mehr ohne den Kiosk vorstellen. Viele haben heute etwas länger vor dem Verkaufsfenster gestanden als sonst, um „ihrer Elsa“ zu gratulieren.

Kapitel 1

Teil I

Kapitel 1

Samstag, 13. April 2013

Der Regen war nicht echt. Minna Kahlert beobachtete die Wassermassen, die in unregelmäßigen Mengen auf ihren Balkon niedergingen, als sie den Fremdkörper spürte, der sie auseinander zu reißen drohte. Der Mann hinter ihr hatte es wieder getan. Er wusste, dass sie es hasste, wenn er sein Geschlechtsteil in diese Öffnung steckte. Er wusste auch, dass es ihn einen Hunderter mehr kosten würde.

Sie konzentrierte sich auf den äußeren Schließmuskel und die Entspannungstechnik, die sie bereits als junges Mädchen eingeübt hatte, als sehr junges Mädchen.

Das Wasser musste aus der Gießkanne ihrer Nachbarin stammen, denn es regnete nicht. Der Himmel war wolkenlos, ein lupenreines Blau, Aprilfrische.

Der Frühling war in diesem Jahr sehr kalt gewesen. Die Zeit der Primeln und Stiefmütterchen war vorbei, ohne dass sie eine Chance zum Blühen gehabt hätten, und auch die Rückkehr der Bachstelzen und Kiebitze in die Herrenhäuser Gärten, in denen Minna jeden Winter lange Spaziergänge unternahm, hatte lange auf sich warten lassen.

Die Gießkanne war jedoch ein sicheres Zeichen, dass die Nachtfröste besiegt waren und die warme Jahreszeit nahe bevorstand.

Sie ertränkt ihre Geranien noch, dachte Minna, während es dem Geschäftsmann Wolf Gescharek in ihrem Enddarmausgang kam, und wie immer fühlte sie nichts als pure Verachtung.

„Oh, Minna …“

„Du weißt doch, dass ich das nicht ohne Ankündigung mag!“ keifte sie ihn an und wand sich aus ihrer Stellung zwischen ihrem Freier und der Sessellehne.

„Warum nicht?“

„Weil es mir weh tut.“

Wolf zuckte mit den Achseln, während er seine erschlaffte Männlichkeit in der Unterhose verschwinden ließ, sein hellblaues Dolce & Gabbana - Hemd mit der flachen Hand glatt strich und nach seinen Schuhen und Hosen Ausschau hielt.

„Meine Frau sagt, das sei die erogenste Zone überhaupt.“

„Warum fickst du sie dann nicht in den Arsch?“

„Weil sie befürchtet, dass es zu Fissuren und somit zu Blutungen führen könnte, die der Ansiedlung von Bakterien und Hämorrhoiden Vorschub leisten.“

Minna hielt die Luft an. Eigentlich bewunderte sie Wolf für seinen Wortschatz und seine Fähigkeit, sich präzise auszudrücken, sogar wenn es um komplizierte Sachverhalte wie Analverkehr, Ehegattensplitting oder virtuelle Produktentwicklung ging, aber dieser Satz war wirklich der Gipfel der Geschmacklosigkeit.

„Aha. Und was ist mit meiner Gesundheit?“

„Berufsrisiko. Ich nehme doch an, du bist ordentlich versichert.“

Sie starrte ihn an, während er sich weiter ankleidete, folgte seinen Handgriffen mit den Augen und konnte es nicht fassen. Wie konnte ein Mensch bloß so gefühllos sein?

„Was ist … habe ich zugenommen?“ fragte er, als er ihren Blick bemerkte, doch sie schwieg und zog sich ins Bad zurück, um sich frisch zu machen und allein zu sein.

Vor zwei Wochen hatte das Sommersemester begonnnen und was tat sie?

Statt an die Universität zurückzukehren und ihre Zukunft in die Hand zu nehmen, schlug sie sich mit einem Menschen wie Wolf Gescharek herum, der keinen Funken Respekt vor ihr hatte und sie wie Abschaum behandelte, obwohl er es war, der seine Frau betrog - oder war es kein Betrug, wenn man dafür bezahlte?

Kurze Zeit später trat sie ihm wieder gegenüber und zupfte ihren Rock zurecht, den sie bei seinen Besuchen meistens trug, sein Lieblingskleidungsstück, klein, schwarz und eng. Sie merkte gleich, dass etwas nicht stimmte. Sein Gesichtsausdruck irritierte sie, und auch die Tatsache, dass er nicht mit dem Portemonnaie in der Hand an ihrem Küchentresen, sondern mit dem Rücken zum Fenster stand, passte nicht in das übliche Verhaltensmuster. Er wartete auf sie, aber nicht ungeduldig wie sonst, sondern mit einer gewissen Anspannung, die sofort auf sie überging. Er hatte sich sogar die Mühe gemacht, ihre beiden Gläser voll zu schenken.

„Komm, setz dich, ich muss mit dir reden!“

„Macht zweihundertfünfzig.“

„Zum Wohl.“

Er leerte das Glas in einem Zug, obwohl es sich um einen italienischen Schaumwein mit einem beachtlichen Anteil an Kohlensäure handelte.

„Wir mussten einige Leute entlassen“, begann er, während sie nach ihrem Glas griff und seiner Aufforderung nachkam. „Den alten Köhler habe ich in Frührente geschickt, aber es mussten auch ein paar Jüngere dran glauben.“

„Warum erzählst du mir das?“

„Tja, Minna. Schwere Zeiten.“

„Die Dinge laufen nicht immer so, wie man es sich wünscht, gerade in unserem Sektor. Wenn ich nicht aufpasse, kann ich bald Insolvenz anmelden, aber ich werde natürlich alles tun, um das zu verhindern.“

„Was hat das mit mir zu tun?“

Er rülpste mit offenem Mund, und wie immer nahm Minna es ihm heimlich übel, dass er sein Aufstoßen in ihrer Gegenwart weder zu unterdrücken versuchte, noch sich dafür entschuldigte.

„Nichts - vorläufig jedenfalls, aber ich werde wohl in Zukunft etwas kürzer treten müssen, Luxus über Bord werfen, wenn du verstehst, was ich meine.“

Immerhin ordnete er sie in die Kategorie Luxus ein. Seine Worte waren weniger deutlich formuliert, als sie es von ihm gewöhnt war, und drangen nur langsam zu ihrem Gehirn vor. Was versuchte er ihr zu sagen? Wollte der Mann, der eine Villa im Zooviertel, ein Ferienhaus in Nizza und einen Audi Q7 besaß, ihr etwa erklären, dass er sich das mickrige Honorar für ihre Dienste nicht mehr leisten konnte?

„Du willst doch hoffentlich nicht sagen, dass ich dir zu teuer bin.“

„Doch, Minna. Es könnte sein, dass sich unsere Wege trennen müssen. Besonders deine Forderungen, wenn ich absage, sind völlig überzogen. In meinem Geschäft kann ich Leistungen auch nur in voller Höhe abrechnen, wenn sie tatsächlich erbracht wurden - sonst würden mir die Kunden der Reihe nach abspringen.“

Minna schluckte, während sie gleichzeitig versuchte, unbeeindruckt zu wirken. Sie verlangte von ihren vier Stammkunden, dass sie innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden vor dem vereinbarten Treffen absagten, wenn sie den Termin nicht einhalten konnten. Wer diese Regel missachtete, musste beim nächsten Besuch draufzahlen und mindestens das Standardhonorar für die entgangene Stunde berappen. Wolf hatte sich von Anfang an gegen diese Handhabung gewehrt, aber letztlich immer nachgegeben, und auch heute durfte sie sich nicht auf sein Lamentieren einlassen; er jammerte schließlich immer auf hohem Niveau.

„Zeit ist Geld“, zitierte sie einen seiner Lieblingsaussprüche und fuhr etwas milder fort: „Wenn du mich nicht rechtzeitig anrufst, hab’ ich keine andere Wahl.“

Seine graublauen Augen verengten sich zu bedrohlich aussehenden Schlitzen und fixierten sie so eindringlich, dass ihr unwohl wurde. Meinte er es diesmal wirklich ernst? Würde er die Verbindung lösen, die seit über zwei Jahren bestand? Seit sie ihn an jenem schicksalhaften Tag auf der Hannovermesse getroffen hatte, wo seine Firma ihre neuesten Entwicklungen vorstellte, war er nicht nur zu ihrem besten Kunden, sondern auch zu einer festen Größe in ihrem Leben geworden.

Er hatte ihr damals vorgeschlagen, sich ihre Liebesdienste und Verschwiegenheit vergüten zu lassen, statt ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann einzugehen, das sie nur unglücklich machen würde; er zahlte lieber mit Geld als mit Gefühlen.

„Ganz die Geschäftsfrau, hm? Dann musst du aber auch die Risiken abwägen und die Verluste tragen. Ich kann jedenfalls nicht immer einen Tag vorher wissen, was am nächsten Morgen ansteht oder welcher Kunde plötzlich mit einem dringenden Problem auftaucht. Diese Regel mit den vierundzwanzig Stunden ist mit meinem Business nicht zu vereinbaren und ich sehe nicht ein, mein gutes Geld für Leistungen auszugeben, die ich nicht in Anspruch genommen habe. Überleg es dir, meine Liebe.“

Mit diesen Worten ging er zum Küchentresen hinüber, stellte sein Glas ab, zupfte sein Portemonnaie aus der hinteren Hosentasche und nahm einige Scheine heraus.

„Zweihundertfünfzig?“

Minna antwortete nicht, sondern nahm einen Schluck von dem eiskalten Sekt und erhob sich, um mit dem Mann auf Augenhöhe zu sein, der ihr soeben angedroht hatte, sich aus ihrem Leben zu schleichen, falls sie seine Wünsche nicht berücksichtigte. Er hatte eindeutig zuviel Macht über sie und das war ihm auch bewusst. „Also gut“, sagte sie, „in deinem Fall mache ich eine Ausnahme und reduziere die vierundzwanzig Stunden um die Hälfte.“

Wolf stutzte einen Moment, um gleich darauf mit den Augen zu rollen und den Kopf zu schütteln, wie man es tat, wenn jemand etwas ausgesprochen Törichtes von sich gegeben hatte; seine Überheblichkeit war greifbar und verletzend.

„Das ist nicht der Punkt, Minna. Wenn man - wie ich - ständig unter Dampf steht, dann braucht man nicht noch zusätzliche Termine, die einen unter Druck setzen. Es muss doch möglich sein, sich spontan zu treffen, und wenn’s dann nicht geht, dann geht’s eben nicht. Ich möchte zu dir kommen, wenn ich das Bedürfnis habe, und nicht, wenn es meinen Tagesablauf stört und mir noch zusätzlichen Stress einbringt.“

„Ich bin aber kein Schnellimbiss!“

„Ja, das weiß ich.“

Wolf wandte den Blick von ihr ab, um seiner Resignation Ausdruck zu verleihen, und begab sich dann in den Hausflur, wo seine Jacke hing. Sie folgte ihm, obwohl sie aus Erfahrung wusste, dass keine Diskussion mehr möglich war, sobald er sich der Tür genähert und seinen Aufbruch beschlossen hatte. Er verabschiedete sich mit einem Kuss auf ihre Stirn, der an Unverbindlichkeit nicht zu überbieten war, und bevor sie noch etwas zum Abschied sagen konnte, war er verschwunden.

Es war der dreiundfünfzigste Geburtstag ihrer Mutter, der sie dazu zwang, ihren silbernen Golf in Richtung Wedemark zu lenken, jene Bilderbuchregion nördlich von Hannover, in der sie fünf Jahre lang gelebt hatte. Die Ortschaft Mellendorf löste bei ihr immer noch jenes Gefühl von Geborgenheit aus, das sie als Schülerin empfunden hatte, wenn sie auf dem Heimweg vom Bahnhof durch die hübschen, von Laubbäumen und Fachwerkhöfen gesäumten Straßen gelaufen war, aber trotz der ländlichen Schönheit konnte sie sich nicht vorstellen, jemals wieder hier zu wohnen. Sie hielt an dem Blumenladen in der Hauptstraße, in dem sie als Sechszehnjährige manchmal ausgeholfen hatte, doch die Besitzer hatten gewechselt und sie kannte niemanden mehr. Sie entschied sich für eine mit Narzissen bepflanzte Terrakottaschale, die ihrer Mutter mit ihrem ausgeprägten Mittelmeertick gut gefallen würde. Alles hatte mediterran zu sein, ob es sich um Badezimmerfliesen, Handseife oder das Muster auf den Salatschüsseln handelte - mediterran bedeutete Sonne, gut und gesund. Seit ihre Mutter Siegfried geheiratet und sich mit ihrer neuen Rolle als Arztfrau identifiziert hatte, lag ihre Bestimmung im Gesundheitswesen, das ihrem weit reichenden Bekanntenkreis am Beispiel der eigenen Familie vorgelebt wurde. Sie besaß zahlreiche Gleichgesinnte, aber heute war zum Glück nur Oma Helma da und es versprach ein schöner ruhiger Abend zu werden. Nur einer fehlte Minna, aber der fehlte immer: ihr Bruder Sören, das schwarze Schaf der Familie.

„He, Minna!“

Mit ihrem marineblauen Pullover, ihren weißen Hosen und ihrem wippenden Zopf sah Neele aus, als sei sie einem Katalog für Segelmode entsprungen. Ihre Augen strahlten, als sie ihrer Stiefschwester den jungen Mann in ihrem Schlepptau vorstellte, der sich in seiner Rolle als Anhängsel etwas unbehaglich zu fühlen schien.

„Das ist David und das ist meine große Schwester Minna.“

Minna drückte dem schlaksigen Kerl die Hand und wunderte sich wie immer über die Selbstverständlichkeit, mit der Neele sie als ihre große Schwester bezeichnete, obwohl sie nicht miteinander verwandt waren. Sie waren eine Patchworkfamilie, zu deren dunklen Flecken Minna sich zählte, während Neele mit ihrer aufblühenden Schönheit den Glanz ausmachte. Aus dem kleinen, achtjährigen Mädchen von damals, das sie immer um seine Reinheit beneidet hatte, war ein echter Hingucker geworden. Manchmal wünschte sich Minna, dass sie die Zugewandtheit ihrer kleinen Schwester erwidern und sich ihr näher fühlen könnte, aber sie wusste, dass es ihr nicht gelingen würde. Sie waren wie zwei Planeten, die auf verschiedenen Umlaufbahnen um die mütterliche Sonne kreisten und sich gegenseitig nicht berührten, Neele mit starker Anziehungskraft, sie selbst mit Hang zum Abdriften.

„Du bist ja so nachdenklich heute“, hörte sie ihre Mutter sagen, nachdem diese ihr Geschenk im Wintergarten abgestellt und die beiden Achtzehnjährigen aus der Küche verscheucht hatte. „Wie läuft es denn an der Uni?“

„Gut, danke.“

Katja Polonsky, die früher einmal Katja Kahlert geheißen hatte, war mit den Jahren etwas fülliger geworden, und die Schürze, mit der sie ihre Feiertagskleidung zu schützen versuchte, spannte über ihrem Bauch. Minna spürte, dass ihre Mutter etwas auf dem Herzen hatte, während sie das Dressing auf den Salat sprühte, aber sie brauchte stets einen gewissen Vorlauf, um mit ihrer Ältesten warm zu werden.

„Übrigens … dein Vater ist wieder in Hannover“, sagte sie schließlich.

„Was, Papa? Ich meine, Jakobus?“

„Ja. Er ist angeblich krank und lebt in einem Wohnheim in der List.“

„In einem Wohnheim?“

„Ja, schwer zu glauben, nicht wahr?“

„Und woher weißt du das?“

„Von Tante Annemie.“

Minna fröstelte. Der Gedanke an ihren leiblichen Vater war schlimm genug, aber die Vorstellung, dass er als Sozialfall in seine Heimatstadt zurückgekehrt war und in ihrer Nähe wohnte, war kaum zu ertragen.

Jakobus Kahlert, der Landstreicher.

„Hat sie ihn dort besucht?“

„Sie hat ihm sogar geholfen, dort einzuziehen, aber danach ist sie wieder zurück nach Baden-Baden gefahren. Sie müssen sich ziemlich heftig gestritten haben, weil sie nicht bereit war, ihn bei sich aufzunehmen, als er aus Spanien kam.“

„Warum ist er denn zurückgekommen?“

„Weil er seine Freundin vergrault, keinen Pfennig mehr in der Tasche und sich zu allem Überfluss auch noch die Schwindsucht geholt hatte.“

„Er hatte Tuberkulose? Gibt es das noch?“

„Er hat Annemie aus Malaga angerufen, wo er im Krankenhaus war. Sie hat die Transportkosten übernommen, mit Gott und der Welt telefoniert und das Wohnheim ausfindig gemacht, aber weiter reichte die Liebe nicht. Sie war völlig aufgebracht, weil das Sozialamt nicht zahlen will. Angeblich ist sie als seine Schwester verpflichtet, für seinen Lebensunterhalt aufzukommen.“

„Na, und? Sie hat doch mehr Geld, als sie ausgeben kann.“

„Das ist aber noch lange kein Grund, es aus dem Fenster zu werfen“, verteidigte Minnas Mutter ihre ehemalige Schwägerin. „Du weißt ja, dass Jakobus sich nie für sie interessiert, geschweige denn um sie gekümmert hat, nicht einmal, als sie zur Witwe wurde. Sie fühlt sich nicht für ihn verantwortlich und das kann ich gut verstehen, aber ich habe ihr trotzdem gesagt, dass sie euch in Ruhe lassen soll.“

„Uns?“

„Ja, dich und deinen Bruder. Sie will euch in die Pflicht rufen, weil ihr seine Kinder seid und in Hannover wohnt. Sie würde sogar einwilligen, seinen Wohnheimplatz zu finanzieren, wenn ihr alles andere übernehmen würdet, aber ich habe ihr schon angekündigt, dass ihr von diesem Plan nicht gerade begeistert sein werdet.“

„Alles andere übernehmen? Was denn zum Beispiel?“ fragte Minna und rieb sich die Arme. „Sollen wir vielleicht Mensch ärgere dich nicht mit ihm spielen?“

„Ich glaube, sie möchte kein Ansprechpartner mehr sein, wenn es Probleme gibt. Es stört sie nicht, hin und wieder etwas Geld zu überweisen, aber die ganze Bürokratie und die persönliche Ebene möchte sie lieber jemand anderem überlassen.“

„Auf die persönliche Ebene mit meinem so genannten Vater kann ich gut verzichten“, ereiferte sich Minna, während ihre Mutter einen besorgten Blick in Richtung Wohnzimmer warf, wo Neele, ihr Freund und Oma Helma die Nachrichten guckten. Es war ihr offensichtlich unangenehm, dieses Gespräch in Reichweite ihrer Schwiegermutter zu führen, und Minna beschloss, sie von dieser selbst auferlegten Bürde zu befreien und das Thema zu wechseln.

„Mach’ dir bitte keine Sorgen, Mama. Wenn Tante Annemie anruft, werde ich ihr schon eine passende Antwort geben. Soll ich schon mal den Tisch decken?“

Dieser Abend war für sie gelaufen. Der geschmorte Rinderbraten schmeckte fade, die Konversation langweilte sie und auch die Anwesenheit der beiden verliebten Teenager war nicht geeignet, ihre Stimmung zu heben. Als das Licht, das durch die Fenster fiel, immer fahler wurde und ihre Mutter nicht aufhörte, den jungen Mann namens David nach Strich und Faden auszufragen, fasste Minna den Entschluss, so bald wie möglich nach Hause zu fahren, statt wie geplant in ihrem alten Zimmer zu übernachten, das jetzt Gästezimmer hieß. Die Nachricht, dass ihr leiblicher Vater wieder in Hannover weilte, hatte eine Unruhe in ihr ausgelöst, die sich nicht mit Nestwärme, guter Hausmannskost oder Schlaf bekämpfen ließ, sondern nach stärkeren Maßnahmen verlangte, nach Alkohol und Alleinsein.

Auf dem Heimweg sah sie die äußere Erscheinung des Mannes vor sich, der sich immer nur verabschiedet hatte, zum letzten Mal vor etwa fünf Jahren, als er mit seiner Freundin nach Spanien auswanderte. Die mit Strähnchen blondierten Haare, das erdbeerfarbene Jackett, die Spuren von Nikotin an seinen Fingerspitzen.

„Nicht übel“, hatte er gesagt, als sie ihm ihr Abiturzeugnis unter die Nase gehalten und darauf bestanden hatte, dass er ihr gutes Abschneiden zur Kenntnis nahm. Anschließend hatte sie sich oft gefragt, warum sie dieser Verabredung in einem Café am Kröpcke nach allem, was ihr mit diesem Mann widerfahren war, überhaupt zugestimmt hatte. Sie erinnerte sich an das Triumphgefühl, ein Zeugnis vorweisen zu können, das sie über ihn stellte, aber war es das wert gewesen? Sein Gesichtsausdruck, der Ekel verriet, weil sie die höchste Punktzahl in Mathematik erreicht hatte?

Sein kaum unterdrückter Neid auf eine Zukunftsoption, die er sich selbst verbaut hatte? Sein Hass auf Studenten und Akademiker, seine Minderwertigkeitskomplexe gegenüber jedem, der eine Universität besucht hatte?

Der Messeschnellweg schien ihr allein zu gehören und der Golf seinen Weg selbst zu finden. Für einen Samstagabend im Frühling waren die Straßen sehr ruhig, als hätte sich der Verkehr der inneren Leere angepasst, die Minna ergriffen hatte, seit sie in Mellendorf aufgebrochen war. Statt jedoch direkt in die Südstadt zu fahren, wo sich ihre Zweizimmerwohnung befand, begab sie sich durch Hannovers Mitte, um schließlich in jenem düsteren Viertel zu landen, das sie trotz seiner Nähe zur Universität jahrelang gemieden hatte. Sie wusste nicht, warum es sie gerade heute an diesen Ort drängte. Sie lenkte den Wagen durch enge Kurven und lang gezogene, von Autoschlangen gesäumte Häuserreihen, passierte den Supermarkt und die Kirche, fuhr durch die Hauptstraße und hielt schließlich an einer Tankstelle, um zu telefonieren. Sie hatte plötzlich nicht mehr die Kraft, allein nach Hause zu finden, sondern verspürte den Wunsch, mit jemandem zu reden, sich an jemanden anzulehnen, der keine Gefahr bedeutete. Dafür kamen auf der ganzen Welt nur zwei Personen in Frage, ihr Bruder und Bastian, dessen Nummer sie zuerst wählte. Sie umklammerte ihr Handy mit festem Griff, lauschte mit pochendem Herzen auf die Klingeltöne und entspannte sich erst wieder, als er sich meldete.

Bastian war ihr jüngster Freier, und die Vereinbarung, sich mit ihm in der Öffentlichkeit zu treffen, widersprach allen Grundsätzen, die Minna sich seit der Aufnahme ihrer Nebentätigkeit auferlegt hatte. Die Gaststätte war erträglich, es gab Wein in winzigen Gläsern und gute Preise für die Studenten, die überall in den Nischen hockten und Minna wie farblose Wesen aus einer anderen Welt vorkamen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Bastian endlich hereinkam, dessen gutmütiges Gesicht sie sofort beruhigte. Sein Körper schien ihm immer etwas zu groß zu sein, denn vom Wesen her war er noch ein Junge, ein jungenhafter, sanfter Riese. Seine körperliche Größe war es auch, die sie während eines Kneipenbesuchs zusammengeführt hatte. Minna hatte in einem Pulk von Leuten an der Bar der „Ständigen Vertretung“ gestanden und vergeblich versucht, eine Bestellung aufzugeben, bis Bastian, dessen Kopf aus der Menge herausgeragt hatte, ihr Leid erkannt und ein Glas Prosecco für sie mitbestellt hatte. Damals war er erst sechzehn gewesen und sehr unerfahren mit Frauen, doch dieser Akt der Hilfsbereitschaft hatte alles verändert. Und nun war er hier.

Sein Gang war behäbig und täuschte Gelassenheit vor, während seine Augen die Unsicherheit verrieten, die ihn in ihre Arme getrieben hatte. Er kam auf sie zu, setzte sich neben sie und gab ihr einen schüchternen Kuss auf die Wange.

„Was gibt’s?“ fragte er.

„Nichts Besonderes“, wich Minna aus. „Ich hatte Sehnsucht nach Gesellschaft.“

Bei dem Wort Sehnsucht leuchteten seine Augen auf, deren Helligkeit bestimmt der Grund dafür war, dass sie ihn so leicht durchschaute, obwohl er gern und häufig schwindelte. Seine Anhänglichkeit war ein schwieriges Thema.

„Schön, dass du mich vermisst.“

„Mein Vater ist wieder in Hannover.“

Bastian stutzte einen Augenblick und strich sich die Haare aus der Stirn, wie er es immer tat, wenn er um eine Antwort verlegen war. Dieser Satz verwirrte ihn anscheinend genauso wie Minna, die einfach ausgesprochen hatte, was ihr gerade auf der Seele lag. Sie sprach nur selten über ihre Familie und hatte nie erwähnt, dass es neben dem Stiefvater, der ihre Mutter geheiratet hatte, noch einen anderen Vater gab. Sie verstand selbst nicht, was in sie gefahren war, den armen Bastian mit dieser Privatangelegenheit zu belästigen.

Er sagte zwar nichts, aber es bestand kein Zweifel daran, dass er auf die Fortsetzung gespannt war.

„Er hat uns verlassen, als ich zwölf war“, erklärte sie, während sie der Bedienung, einer dürren Rothaarigen mit Ring in der Nase, durch ein Handzeichen signalisierte, dass sie noch ein Glas Weißwein wünschte. „Willst du auch eins?“

Bastian nickte. „War das, weil deine Mutter …?“

„Nein, er selbst. Meine Mutter hätte nicht im Traum daran gedacht, sich jemand anderen zu suchen. Wie denn auch, als Hausfrau mit zwei Kindern?“

Der Wein wurde gebracht, und als die beiden Gläser leer waren, bestellte Bastian weitere, während Minna sich an seine Schulter lehnte und seine stummen Fragen beantwortete, indem sie ihm von ihrer Kindheit, ihrer Familie und ihrem Leben erzählte, indem sie einfach nicht aufhörte, sondern immer weiter redete. Ihr war bewusst, dass ihre Vertrauensseligkeit zu Problemen führen würde, die sie jetzt noch nicht absehen konnte, aber es ging nicht anders. Sie hatte noch nie darüber gesprochen und es war geradezu grotesk, dass sie sich ausgerechnet Bastian als Zuhörer ausgewählt hatte, einen unschuldigen jungen Kerl, der gegen ihren Willen in sie verliebt war und einen hohen Preis dafür bezahlte. Er verhielt sich so ruhig und abwartend, dass sie sich im Stillen darüber wunderte und sich fragte, ob sie den Achtzehnjährigen mit seinem dichten Blondschopf und dem Engelsgesicht in der Vergangenheit unterschätzt hatte. War er tatsächlich ein guter Freund?

Die Kneipe füllte sich mit immer mehr jungen und älteren Gästen, und bald saßen sie nicht mehr allein an ihrem Tisch, sondern inmitten einer Menschenmenge, die sie wie eine Woge aus Geräuschen und Körpern zu tragen schien, während sie sich gegenseitig festhielten, fast wie ein Liebespaar. Sie wusste, dass Bastian es genoss, ihr so nah zu sein. Sie fühlte sich schlecht, weil sie ihm falsche Hoffnungen machte, weil sie zuviel trank und zuviel quatschte. Er küsste sie gegen ihren Willen auf die Haare, auf die Ohren und sogar auf die Lippen, als er nichts mehr hören, keine Einzelheiten mehr erfahren, sondern sie nur noch anfassen, umarmen, streicheln und trösten wollte. Er hielt sie auch noch, als sie die Gaststätte verließen, als sie von Übelkeit übermannt wurde, als sie gemeinsam über die Straße wankten, die kalte Luft einatmeten und wie eine einzige Gestalt in den dunklen Gassen der Nordstadt verschwanden.

Kapitel 2

Solche Angst hatte sie noch nie gehabt. Es klopfte gegen die Fensterscheibe, ohne dass sie irgendjemanden erkennen konnte. Es war kurz vor Mitternacht und Elsa Schniever hatte gerade beschlossen, den Laden für heute dicht zu machen, als sie das dröhnende Geräusch hörte. Es klopfte viermal hintereinander, ganz langsam und deutlich, als wenn die Person vor dem Fenster keinen Zweifel daran lassen wollte, dass es von ihr wahrgenommen wurde.

Es erfolgte gegen die straßenseitige Fensterscheibe, hinter der sich die Auslagen befanden. Diese war einbruchsicher und so dick, dass der Klang der Erschütterung sekundenlang nachhallte und ihren Schrecken noch zu verlängern schien, wie ein Echo des Grauens. Trotz des dicken Pullovers war ihr plötzlich sehr kalt, und sie wagte kaum zu atmen, als ihr bewusst wurde, wie gut sie von draußen zu sehen war. Im Lauf der letzten Jahre hatte es in Hannover immer wieder Überfälle auf Kioske und Tankstellen gegeben, und immer passierte es nachts.

Elsa verfolgte alle Nachrichten und las jeden Bericht über diese Art von Verbrechen, der in der Zeitung stand, aber der Nervenkitzel, den sie dabei empfand, war nichts gegen ihre Angst in diesem Augenblick.

Sie erstarrte auf der Stelle, stand einfach nur da und lauschte, während sie die Lücken zwischen den Regalen anvisierte, aber so sehr sie ihre Augen auch anstrengte, sie sah zwischen den Konservendosen, Schundromanen und Fruchtgummitüten nichts als schwarze Balken. Tagsüber war es durchaus möglich, die Straße durch das Gewirr der Waren zu beobachten. Dann konnte man einzelne Gesichter erkennen, die Stadtbahn vorbeifahren sehen, Wartende an der gegenüberliegenden Bushaltestelle observieren oder alte Damen, die ihre Hunde ausführten. Zu dieser späten Stunde herrschte jedoch jene undurchdringliche Finsternis, die sie im Lauf der Jahre zu fürchten gelernt hatte, und auch der schwache Schein der Laternen auf der anderen Straßenseite konnte nicht bewirken, dass sie sich sicherer fühlte. Das Klopfen hatte aufgehört, aber sie hörte weder Schritte noch irgendein anderes menschliches Zeichen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und alle Verhaltensregeln, die in den Zeitungen für den Fall eines Überfalls empfohlen wurden, schienen aus ihrem Bewusstsein verbannt zu sein. Das Wort Opfer kam ihr in den Sinn. Brutal niedergeschlagen. Blutüberströmt. Angeschossen und liegen gelassen.

Atmen, dachte sie, ganz tief durchatmen, und vor allem nicht verzagen!

„Harry, kommst du mal?“ rief sie in Richtung Hinterzimmer, das zu ihrem Dreh- und Angelpunkt geworden war, nachdem sie ihre Küche mitsamt Kühlschrank und Einbauschränken in den Kiosk integriert hatten. Sie erwartete keine Antwort, denn ihr Mann war nicht da, aber vielleicht konnte sie die Person vor dem Fenster vom Gegenteil überzeugen. Im Hinterzimmer lief die Sportschau, die sie niemals sah, aber nun hielt sie die Fußballgeräusche für einen glücklichen Umstand, signalisierten sie doch, dass ein Mann zu Hause war und das Spiel des Tages verfolgte.

Das Verkaufsfenster war noch offen, aber auch in dem schmalen Eingangsbereich des Mehrparteienhauses, in den die Kunden eintreten mussten, wenn sie etwas kaufen wollten, war niemand zu sehen. Es befand sich im rechten Winkel zu jenem Auslagenfenster, an das gerade angeklopft worden war, und stellte insofern ein Sicherheitsrisiko dar, als man jeden, der davor auftauchte, erst im letzten Moment zu Gesicht bekam. Sie pflegte immer etwas Abstand von der Ladentheke zu halten und sich nicht so weit hinüber zu beugen, um sich vor einem direkten Zugriff durch potentielle Straftäter, die einfach hineinlangen würden, zu schützen. Jetzt näherte sie sich dieser vorsichtig, um einen Blick durch die quadratische Öffnung zu riskieren, während ihr pochender Herzschlag in ein Herzrasen überging, denn es klopfte schon wieder und wieder viermal, tock, tock, tock, tock, an der linken Fensterseite, wo die Sicht noch zusätzlich durch das historische Werbeschild einer Hannoveraner Keksfabrik eingeschränkt war. Ein Gedanke fuhr ihr durch den Kopf, obwohl er ziemlich abwegig war: Harry?

„Harry?“ fragte sie in die Dunkelheit, doch draußen rührte sich nichts. Er musste doch jeden Moment nach Hause kommen! Konnte es sein, dass er sie ein wenig ärgern, dass er seine eigene Frau auf den Arm nehmen wollte, wohl wissend, dass sie nicht nur ein schwaches Herz, sondern auch panische Angst vor Einbrechern hatte? Nein, das konnte nicht sein und diese Erkenntnis machte alles nur noch schlimmer. Nun traute sie sich erst recht nicht mehr an die Ladentheke heran, wo ein Verbrecher auf sie wartete und mit Sicherheit darauf spekulierte, ein leichtes Spiel mit ihr zu haben. Erst vor kurzem hatte sie sich gegen diese Bande von Jugendlichen zur Wehr setzen müssen, deren Anführer ihr Gewalt angedroht hatte, weil sie sich geweigert hatte, ihm Bier und Zigaretten zu verkaufen, und obgleich diese Räuber noch nicht volljährig waren, musste man sie sehr ernst nehmen. Vielleicht wollte der Junge, den seine Freunde Schlachter nannten, seinem Namen alle Ehre machen und mit ihr abrechnen? Vielleicht galt es heute als Mutprobe, eine arme, alte Frau in Angst und Schrecken zu versetzen, zu demütigen und auszurauben? Oder schlimmer noch: sie umzubringen? Wenn ihr Mann doch endlich die Außenjalousie reparieren und sie vor allem nicht immer allein lassen würde!

„Hallo?“ rief sie und bemühte sich um einen forschen Ton, der ihr jedoch nicht recht gelingen wollte. „Wer ist da?“

Plötzlich war ihr, als spürte sie einen Luftzug auf der rechten Wange, aber das Türenklappen blieb aus, also musste sie sich getäuscht haben. Wenn Harry nach Hause kam, würde sie zunächst das Geräusch der Hintertür vernehmen, bevor die schlurfenden Schritte ihres Mannes zu hören waren, aber es war wie immer: wenn man dringend auf etwas wartete, passierte es nicht.

Sollte sie die Polizei rufen? Bewaffnete Überfälle waren in der Nordstadt schließlich keine Seltenheit mehr, und immer wurde die Bevölkerung um Hinweise gebeten. Elsa Schniever schaute zwischen dem Telefon, das an der Wand neben dem Kühlschrank befestigt war, und dem Auslagenfenster hin und her. Sie sehnte sich danach, eine menschliche Stimme zu hören, aber was sollte sie sagen? War ein mitternächtliches Klopfen Grund genug, um einen Notruf abzusetzen? Würde man sie am Ende noch für verrückt halten oder zur Kasse bitten?

Sie hörte ein Auto vorbeifahren, folgte dem Lichtkegel mit den Augen und fragte sich, ob der Fahrer des Wagens den Menschen gesehen hatte, der sich in diesem Moment auf dem Bürgersteig befinden musste. Sie erwog auch in aller Kürze, Herrn Hasselmann anzurufen, der im ersten Stock wohnte, aber er war ein Frühaufsteher und lag bestimmt schon im Bett. Nein, das kam nicht in Frage, weil sie sich lächerlich machen würde, wenn sie die Nachbarn herausklingelte und auf die Straße schickte, um zu klären, wer mitten in der Nacht vor ihrem Kiosk randalierte. Es war Samstag und zu spät für einen Kinderstreich, wie sie ihn aus ihrer eigenen Jugend kannte. Die Zeiten hatten sich geändert. Jugendliche waren nicht mehr harmlos und man wusste überhaupt nicht mehr, wem man noch vertrauen konnte. Sie horchte auf weitere Geräusche, aber nun herrschte Ruhe. Es passierte auch nichts, als sie sich eine Schrittlänge nach vorn bewegte und die Hand nach dem Schalter ausstreckte. Ihr war zwar bewusst, dass die Außenjalousie immer noch klemmte und nur bis zur Hälfte heruntergelassen werden konnte, wenn man nicht von der anderen Seite nachhalf, aber im Moment erschien sie ihr trotzdem als die sicherste Maßnahme. Dummerweise lag die Schreckschusspistole, die Harry ihr vor ein paar Jahren besorgt hatte, oben in ihrem Nachtschrank. Er hatte ihr davon abgeraten, sie im Kiosk oder gar im Kassenboden herumliegen zu lassen, da er befürchtete, dass der Anblick der schwarzen Beretta einen ebenfalls bewaffneten Räuber zum Gegenangriff animieren und einen Schusswechsel auslösen könnte, bei dem Elsa Schniever, die schon bei dem Gedanken an den Gebrauch der Waffe zu zittern anfing, auf jeden Fall unterlegen sein würde. Allein die Vorstellung ängstigte sie, wenn sie die Pistole jetzt auch gern zur Hand gehabt hätte.

Als sie den Schalter betätigte und das vertraute, knarrende Geräusch wahrnahm, mit dem die Außenjalousie sich zunächst schwerfällig über das Verkaufsfenster wölbte und dann in geradem Lauf nach unten bewegte, fand sie vorübergehend zu jenem Selbstbewusstsein zurück, das sie zu einer der erfolgreichsten Kleinunternehmerinnen der Nordstadt gemacht hatte, denn der Spalt, der nun über dem Tresen klaffte, war kaum noch groß genug, um Raum für einen Überfall zu lassen. Mit einer beherzten Handbewegung griff sie hindurch und rüttelte an der Seitenschiene, so dass die Jalousie auch den letzten Teil der Abwärtsbewegung vollführte und mit dem üblichen, scharfen Knall in der dafür vorgesehenen Vorrichtung einrastete ... nie zuvor hatte sie dieses Geräusch so gern gehört wie heute.

Das dumpfe Pochen ihres Herzschlags füllte immer noch ihren Brustraum aus, aber die Angst hatte einen Dämpfer bekommen. Mit einem Mal überwog die Erleichterung, da sie es aus eigener Kraft geschafft hatte, ihre Angreifbarkeit zu minimieren, indem sie die Ladentheke, ihren verletzlichste Stelle, in wenigen Sekunden vor der Außenwelt geschützt hatte. Jetzt musste sie nur noch den Haken lösen und das Fenster herunterziehen, das sie daraufhin - wie jeden Abend - mit einer doppelten Umdrehung des Schlüssels verschließen würde. Dann würde sie das Licht ausschalten, den Verkaufsraum zusperren und sich ins Hinterzimmer zurückziehen, um dort in aller Ruhe auf ihren Mann zu warten. Wer immer sich um diese Zeit vor dem Haus herumtrieb, konnte ihr nichts mehr anhaben.

Ihr Atem ging schwer, wie es immer der Fall war, wenn Aufregung und körperliche Anstrengung zusammenkamen. Sie streckte beide Arme aus, um an den Holzrahmen des Fensters zu gelangen, und zog daran, als sie plötzlich eine Bewegung hinter sich wahrnahm. Sie wollte sich umdrehen, aber dann spürte sie etwas Hartes an ihrem Hals und Knöchel an ihrem Kinn, die nicht ihre eigenen waren und sich mit unbeugsamer Gewalt in ihre Haut bohrten. Sie hielten auch ihren Kopf in Position, so dass sie in ihrer Panik nur nach vorne starren konnte, in ihr eigenes, schreckverzerrtes Gesicht, das sich im Fenster spiegelte; hinter sich erkannte sie etwas Schwarzes, eine Maske mit Löchern, aus denen zwei Augen herausguckten. Nein, oh nein! Sie roch die fremde Haut und fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. Ich muss mich übergeben, dachte sie, als sie die Körperwärme des Menschen wahrnahm, der hinter ihr stand und sie unsanft gegen die Ladentheke drückte. Was wollte er von ihr, warum nahm er nicht einfach das Geld, das sie ihm ohne Zögern aushändigen würde, sobald er von ihr abließ? Warum befahl er ihr nicht, den Mund zu halten, die Kasse zu öffnen und das Geld in einen Beutel zu stopfen? Sie spürte seinen Atem im Nacken und versuchte, nach dem in ihren Speckfalten versunkenen Gegenstand an ihrem Hals zu greifen, bekam ihn jedoch nicht zu fassen. Sie wollte schreien, aber das kratzige und scharfe Band schnitt ihr die Luft ab, drückte auf ihren Kehlkopf und zog sich immer enger zusammen, als wenn ihr jemand auf schmerzhafte Art den Kopf abtrennen wollte. War denn das nötig, ihr solches Leid zuzufügen, um an ihre bescheidenen Tageseinnahmen zu gelangen?

„Bitte, was soll denn das?“ röchelte sie, aber sie erhielt keine Antwort außer dem heftigen Atmen ihres Peinigers, und für den Bruchteil einer Sekunde überlegte sie, wie er ausgerechnet auf sie gekommen war. Bald fühlte sie den Schmerz nicht mehr, konnte an nichts mehr denken, keine Angst mehr empfinden, keinen Schrei mehr ausstoßen, den doch niemand hören würde, und konnte sich nicht mehr gegen den Angreifer stemmen, da ihre Muskeln keine Kraft mehr hatten. Sie wollte nur noch atmen, aber je mehr sie nach Luft rang, desto weniger schien davon zur Verfügung zu stehen. Harry, dachte sie. Dann wurde es schwarz.

Kapitel 3

Juli 2000

Wundergirl war müde. Nachdem ihre Mama das Licht ausgemacht hatte, war sie mit Superman, der bereits schlief, ins Weltall geflogen, wo sie sämtliches Unheil von der Erde abgewendet, die Ritter der Dunkelheit besiegt und die Sonnengöttin als Freundin gewonnen hatten.

Leider war Superman eingeschlafen, bevor sie den himmlischen Trunk zusammen einnehmen konnten, und der Durst war geblieben. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, schien die Sonne durch das Fenster und der Himmel war blau. Minna war immer noch durstig, aber sie wollte nicht aufstehen, weil sie keine Lust hatte, Kisten auszupacken. Sie hasste dieses Haus.

Hier wohnten lauter Fremde unter einem Dach, während sie in Kirchrode eine eigene Doppelhaushälfte mit einem kleinen Garten besessen hatten. Sie hatte noch nie woanders gewohnt als in Kirchrode, höchstens mal im Urlaub, wenn sie mit der ganzen Familie ins Sauerland, an die Nordsee oder zu Tante Annemie und Onkel Frido nach Baden-Baden gefahren waren. Kirchrode war ihr Zuhause.

Dort ging sie zur Schule, dort wohnten ihre Freundinnen und dorthin wollte sie so schnell wie möglich zurück, doch dann fielen ihr die fremden Kinder ein, die jetzt in ihrem Zimmer schliefen. Sie dachte an ihren Kater Tommy, den ihre Mutter zum Tierheim gebracht hatte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie hatte noch nie soviel geweint wie in den letzten Tagen. Sie wollte keine Heulsuse sein, aber sie konnte einfach nichts dagegen tun. Ihr Bruder weinte auch manchmal, aber weniger oft, weil Supermänner nicht weinen durften. Sie war fast ein ganzes Jahr älter als er und musste ihr Leben lang auf ihn aufpassen. Sören schlief noch und seine verwuselten Haare waren das einzige, was sie von ihm sehen konnte.

Plötzlich wurde die Tür einen Spaltbreit geöffnet und Mama schaute herein. Woher wusste sie bloß immer, dass Minna aufgewacht war, wenn sie sich doch nicht rührte? Das Gesicht ihrer Mutter war so lieb und vertraut, dass sie schon wieder weinen musste und die Tränen an ihrer Wange hinunterliefen. Sie wandte sich ab, drehte sich auf die andere Seite und zog die Decke über ihren Kopf.

„Komm schon, Minna, du musst mir helfen!“ hörte sie ihre Mama sagen, die sehr leise sprach, um ihren Bruder nicht aufzuwecken. Sie durchschaute die Erwachsenen, wenn sie so redeten und diesen Ton anschlugen, der zwar wie eine Bitte klang, aber wie ein Befehl gemeint war. Sie bewegte sich nicht und blieb regungslos liegen, doch Mama schlug die Decke zurück und streichelte ihr über das Haar.

„Wann können wir wieder nach Hause?“ fragte sie, obwohl sie die Frage bereits gestern gestellt und eine Antwort darauf bekommen hatte.

„Ach, Liebes, mach’ es mir doch nicht so schwer“, sagte ihre Mutter und seufzte.

„Du weißt doch, dass wir nicht zurückkönnen. Wir haben jetzt ein neues Zuhause, und wenn wir uns alle viel Mühe geben, wird es fast genauso schön werden wie in Kirchrode, das musst du mir glauben. Manchmal muss man im Leben umziehen und es fällt immer schwer, sich an dem neuen Ort einzuleben, aber mit der Zeit gewöhnt man sich daran. Du musst jetzt ein tapferes Mädchen sein.“

„Können wir Tommy im Tierheim besuchen?“

„Nein. Dann denkt er nämlich, dass wir kommen, um ihn abzuholen, und wenn wir wieder weggehen, ohne ihn mitzunehmen, ist er noch trauriger als vorher.“

„Glaubst du, dass er uns vermisst?“

„Nein, Minna, das glaube ich nicht. Er hat doch jetzt so viele Spielkameraden.“

Darüber musste Minna erst einmal nachdenken, während sie nach der Hand ihrer Mutter griff, ihre Beine über die Bettkante schwang und sich aus dem Bett ziehen ließ, bis sie auf ihren eigenen Füßen stand. Sie schlüpfte in ihre Hausschuhe, die wie zwei flauschige Tigerköpfe aussahen, und folgte Mama in die Küche, wo das Frühstück schon auf sie wartete. Es gab sogar Orangensaft, aber auch dieser ungewohnte Luxus konnte sie heute nicht aufheitern. Sie war sehr traurig, als sie die vielen Behälter sah, die immer noch überall herumstanden, und gleichzeitig schämte sie sich dafür, dass sie sich vor dem Auspacken hatte drücken wollen. Sie war schließlich die Älteste, wie ihre Mutter immer sagte, und alt genug, um ihren Beitrag zum Haushalt zu leisten. Wenn nur der Gedanke an Papa nicht wäre …

„Wenn ich bloß wüsste, wo wir mit all dem Geschirr hinsollen“, sagte ihre Mutter, die offenbar schon früh aufgestanden war und die Zeitung gelesen hatte, in der einige Stellen mit einem Textmarker angestrichen waren.

„Vielleicht braucht Papa ja noch was?“ schlug Minna vor, aber sie merkte gleich, dass ihre Mutter von dieser Idee nicht gerade begeistert war. Ihr Vater hatte in der letzten Woche ein Gespräch mit Sören und ihr geführt, das sie sehr verwirrt hatte, und sie überlegte immer noch, was er eigentlich gemeint hatte, als er von den unüberwindbaren Schwierigkeiten zwischen ihm und ihrer Mutter gesprochen hatte.

„Papa hat alles, was er braucht“, lautete Mamas leicht bitter klingende Antwort. Sie ließ Minna ein Toastbrot mit Nutella nach dem anderen essen und wandte sich den zahlreichen Gegenständen zu, die sie erst vor einigen Tagen in Zeitungspapier eingeschlagen und in jenen Kisten und Kartons verstaut hatte, die anschließend von einem Lastwagen abgeholt und hierher transportiert worden waren.

Minna nahm noch einen Schluck von dem Orangensaft und erhob sich dann, um ihrer Mutter zu helfen. Eigentlich wären Sören und sie in den Sommerferien lieber ans Steinhuder Meer gefahren, wo sie im letzten Jahr mit anderen Kindern, deren Eltern auch bei der Brillianz beschäftigt waren, einen Zelturlaub verbracht hatten. Papas Firma organisierte das Zeltlager auch in diesem Jahr wieder, aber sie konnten nicht daran teilnehmen, da ihre Eltern unüberwindbare Schwierigkeiten hatten. Minna war klug genug, um zu wissen, dass Papa sich eine neue Frau genommen hatte, aber die Gründe waren ihr nicht ganz klar. Ihre Mama, die gerade die Suppentassen auspackte, war viel jünger und hübscher als die meisten Mütter, die Minna kannte, zwar nicht so elegant wie Frau Holzberg, ihre Französischlehrerin, aber dafür kochte sie umso besser. Ihre Eltern hatten sich fast nie gestritten, bis es zu jenem furchtbaren Streit gekommen war, den Minna und Sören niemals mehr vergessen würden, denn danach war nichts mehr gewesen wie vorher. Papa hatte plötzlich nicht mehr zu Hause geschlafen, Mama hatte ständig geweint und keiner hatte ihnen erklärt, warum ihre Eltern plötzlich von Scheidung sprachen; dieses Wort tat Minna in der Seele weh. Ihre Freundin Karolin, deren Eltern auch geschieden waren, hatte von Sex gesprochen und behauptet, dass die meisten Männer unersättlich seien und sich deshalb neue Frauen suchten, wenn es mir der alten nicht mehr klappte. Minna wusste natürlich, dass ihre Eltern irgendwann einmal Sex gehabt hatten, aber die Vorstellung behagte ihr nicht und sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihr Vater an diesem Thema interessiert war.

Er war schließlich schon siebenundvierzig, hatte einen tollen Beruf, ein schönes Auto und immer betont, dass er ein Familienmensch war. Auch Karolins Hinweis, dass Papa vielleicht eine neue Familie gründen wollte, beunruhigte Minna sehr. Beim Italiener, wo er das Gespräch mit ihnen geführt hatte, war davon zwar nicht die Rede gewesen, aber sie kannte solche Entwicklungen aus dem Fernsehen und wusste, dass sie nicht ausgeschlossen waren, wenn man ein zweites Mal heiratete. Er hatte ihnen versprochen, dass sie ihn regelmäßig in Kleefeld, wo er jetzt wohnte, besuchen dürften. Er hatte auch zugegeben, dass er dort nicht allein lebte, aber gleich hinzugefügt, dass es genug Platz für alle gäbe und sie sich bestimmt gut mit Inge vertragen würden, seiner neuen Freundin, die auch bei der Brillianz arbeitete.

„Geh’ dir erst mal was Richtiges anziehen!“ hörte sie Mama plötzlich sagen, die sich inzwischen den nächsten Karton vorgenommen hatte, und da merkte sie erst, dass sie noch im Schlafanzug war. Die frische Wäsche befand sich noch in dem blauen Koffer in Mamas Schlafzimmer und sie nahm auch gleich die Sachen für ihren Bruder heraus, damit er nicht wieder dasselbe wie gestern anziehen würde. „Gehst du bitte mal nach unten und fragst Frau Schniever, ob sie Glühbirnen hat?“ bat ihre Mutter sie, als sie kurz darauf mit ihrem neuen T-Shirt, das die Aufschrift Brillianz 2000 und auf dem Rücken den Schriftzug Die Millenium Versicherung