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Es gibt zwei Tragödien im Leben. Die eine ist, nicht zu bekommen, was man sich von Herzen wünscht und die zweite ist, dass man es bekommt.Chaos.Für die Teenager Bastian und Lucas ist dies nicht nur irgendein Wort, es beschreibt ihr komplettes Leben.Bastian wird in der Schule verachtet und von Gleichaltrigen gehasst. Für seine dominante Mutter ist der Schüchterne nichts weiter als eine unbezahlte Arbeitskraft und für viele andere Erwachsene, die in der Plattenbausiedlung leben, ist er ein bizarrer Junge.Lucas hingegen ist ein draufgängerischer Typ mit großer Klappe. Aufgewachsen bei einer Pflegefamilie und abgeschoben in ein Heim, weiß er sich gekonnt zu wehren.Die beiden Jugendlichen lernen einander kennen und lieben. Doch ihr Leben wäre kein Chaos, wenn sie nach all den Jahren der Einsamkeit endlich das Glück auf ihrer Seite hätten. Ein dunkles Geheimnis kommt ans Licht und die beiden erfahren, dass sie mehr als nur die Liebe miteinander verbindet.Das Chaos nimmt seinen Lauf.Über sieben Milliarden Menschen leben auf der Erde und die meisten abstrusen Gestalten haben in Chaos ein Zuhause gefunden.Chaos erzählt die Geschichte zweier Jungs, die sich ineinander verlieben. Für viele würde dies schon ausreichen, um angewidert den Kopf zu schütteln, doch dieser Roman geht noch einen erheblichen Schritt weiter.Anmerkung: Band 2
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Seitenzahl: 293
Veröffentlichungsjahr: 2020
CHAOS
DIE BRUDERGESCHICHTE
2
Copyright © 2020 der deutschen Ausgabe X-Scandal Books
No51 Bracken Road, Carlisle Offices, Sandyford, Dublin, D18 CV 48
Ireland
Cover: © nielvdw
Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages gestattet.
1. Auflage: 08.03.2020
Korrektorat: MvS Minden
Cover: Alec Xander
www.scandalbooks.com
www.alec-xander.com
Handlung, Charaktere und Orte sind frei erfunden.
Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.
Im realen Leben gilt verantwortungsbewusster Umgang miteinander.
In dieser fiktiven Geschichte werden Kondome ausschließlich zur Vermeidung von ungewollten Schwangerschaften benutzt.
Ginngen
März 1994
Karin stand vor dem Flurspiegel und machte sich für die Arbeit fertig. Um ihre schwarzen Haare mit den lilafarbenen Strähnen voluminöser wirken zu lassen, benutzte sie Unmengen an Schaumfestiger, den sie leise vor sich hinsingend in ihre Mähne reinknetete. Dass ihr siebenjähriger Sohn sie stillschweigend vom Wohnzimmertürrahmen aus beobachtete, bekam sie nicht mit, denn dafür war sie viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Bastian wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis seine Mutter zur Arbeit gehen würde und er wieder einmal den Tag allein verbringen müsste. Es war immer so. Hätten die ersten beiden Schulstunden stattgefunden, hätte er sie höchstwahrscheinlich erst am Abend schlafend in ihrem Bett gesehen. Manchmal wünschte Bastian sich eine ganz normale Familie. Eine Familie, die zusammen frühstückt, gemeinsam zu Mittag isst und lustige Spiele vorm Schlafengehen spielt. Vor allem sehnte der Grundschüler sich nach einem richtigen Vater. Auf die Ersatzdaddys, die im Höchstfall einige Monate blieben, konnte er nämlich verzichten, denn mehr als Ärger brachten diese für gewöhnlich eh nicht ins Haus.
Karin schaute suchend um sich. „Wo ist denn schon wieder mein verdammter Nagellack hin?“ Ihr kam ein Gedanke. „Bastian?“, rief sie genervt.
Nach kurzem Zögern gab Bastian sich zu erkennen. „Ja?“
„Kann es sein, dass du wieder mit meinem Nagellack gespielt hast?“
Die eindringlichen Augen, die schon nahezu bedrohend wirkten, ließen Bastian verstummen. Beinahe unmerklich schüttelte er den Kopf.
„Und warum glaube ich dir das dann nicht, hm?“
Der Schweigende wusste, dass seine Mutter hin und wieder etwas vergesslich war. Um ihr eine Freude zu bereiten, hielt er es für eine gute Idee, ihr bei der Suche zu helfen. In Windeseile stürmte Bastian die schmalen Stufen zum oberen Geschoss des kleinen Hauses hinauf – und als ob er es geahnt hätte, fand er den Nagellack auf der Fensterbank des Schlafzimmers.
Karin hörte ihren Sohn die Treppe hinunterstürmen. „Nicht so schnell, mein Freund! Oder willst du dir etwa auch wie die Rennmaus, die du ja unbedingt haben wolltest, dich aber nicht drum gekümmert hast, das Genick brechen?“ Sie sah auf den Nagellack, der ihr mit einem breiten Grinsen entgegengestreckt wurde.
Bastian war voller Erwartungen. Ein freundliches Dankeschön oder gar eine Umarmung hätten ihn überaus glücklich gestimmt. Dass man ihm den Nagellack mit warnenden Worten entreißen würde, damit hatte er mitnichten gerechnet.
„Wie oft habe ich schon gesagt, dass meine Sachen nicht zum Spielen da sind?“
Enttäuscht über diese Reaktion blickte Bastian zu Boden.
Karin drehte die Verschlusskappe auf. „Mach dich jetzt für die Schule fertig.“ Sie warf einen Blick auf die Wanduhr, die in der Küche hing. „Du musst schließlich in dreißig Minuten los und ich müsste auch längst auf dem Weg sein.“ So schnell es ihr nur möglich war, lackierte sie ihre Nägel in einem lilafarbenen Ton, während der betrübte Bastian sich ins Wohnzimmer begab.
„Ich werde“, hörte Bastian seine Mutter von der Haustür aus rufen, „jetzt zur Arbeit gehen. Bau ja keinen Mist!“
Um Auf Wiedersehen zu sagen, schaltete Bastian hastig den Fernseher aus und sprang von der Couch auf. Andere Mütter, so wusste er, drückten ihre Kinder vorm Abschied und wünschten ihnen obendrein viel Spaß in der Schule. Aber Karin war keineswegs wie die anderen Mütter. Kaum hatte Bastian die Haustür erreicht, wurde ihm diese vor der Nase zugeschlagen. Erschrocken zuckte er zusammen und starrte wie versteinert auf die Tür. An seine Ohren drangen die Schritte der Fortgehenden, die permanent leiser wurden.
Es war nichts mehr zu hören.
Bastian durchfuhr ein unheimliches Gefühl. Alles um ihn herum kam ihm mit einem Mal bedrohlich vor. „Mama?“, wisperte er. Sein Herzschlag beschleunigte sich, Tränen schimmerten in seinen Augen. „Mama?“
Allein.
Um dieser unerträglichen Stille zu entkommen, rannte Bastian in sein Zimmer. Rasch zog er sich die Schuhe sowie die Jacke an, griff nach dem Schulranzen und stolperte auf dem Rückweg über einen offenen Schnürsenkel. Er verlor das Gleichgewicht und knallte gegen den Kleiderschrank. Schluchzend sackte Bastian auf die Knie. Plötzlich schaltete sich der riesige und laute Durchlauferhitzer an, was einen enormen Krach verursachte und Bastian einen fürchterlichen Schrecken einjagte. Die Lippen des Kleinen zitterten vor Angst …
Abhanginngen
Gegenwart
Traurig sah Bastian über die Stadt hinweg. Warum hatte er sich ausgerechnet jetzt an diesen Moment aus seiner Kindheit erinnern müssen? Er schloss die Augen und fühlte den Wind, der ihn leicht hin- und herschwanken ließ.
Lucas lachte und verabschiedete sich mit einem Handschlag von Kai. „Yo, wir seh‘n uns, Mann!“
„Yo, hau rein, Alter!“
Lucas sah ihm kurz mit abwertenden Gedanken nach, ehe er die Hände in die Hüfte stemmte und mit dem Blick in den klaren, blauen Himmel die wohltuende Luft tief einatmete. „Was für ein schönes Wetter.“ Er beschirmte die Augen gegen die Sonne und schaute in das wunderschöne Blau. Auf einmal meinte er, jemanden auf dem Dach stehen zu sehen.
Einbildung?
Ungläubig über das, was er zu sehen meinte, machte er einige Schritte rückwärts hin zu den Mülltonnen und versuchte die undeutliche Person – oder was auch immer das sein sollte – zu erkennen. Es dauerte einen Moment, ehe der Schock einsetzte und sein Herz einen kräftigen Aussetzer machte, den er deutlich spüren konnte. In der Hoffnung, vor der Katastrophe oben anzukommen, rannte er schleunigst ins Haus. „Basti, mach keinen Scheiß, Mann!“, fluchte er, die Treppen hinaufstürmend. Wie er Bastian vom Rande des Daches bekommen könnte, ohne selbst dabei hinunterzustürzen, wusste er nicht. Jede einzelne Möglichkeit, die ihm einfiel, war lebensgefährlich!
Mit ausgestreckten Armen und geschlossenen Augen bewegte Bastian sich im dezenten Wind hin und her. Sorgen und Ängste waren wie verflogen, bis sich plötzlich kräftige Arme unter seinen Achseln einhakten! Von Angst gelähmt riss Bastian die Augen auf. Blitzschnell wurde er nach hinten gerissen und schwungvoll in die Richtung der Tür geschleudert. Schützend hielt er sich die Hände vor sein Gesicht, keine Sekunde später folgte der Aufprall. Bastian sah, vom panischen Schrecken ergriffen, auf. „Luc?“ Kaum hatte er den Namen ausgesprochen, da wurde er auch schon am Kragen seines Oberteils hochgezogen.
„Hast du jetzt komplett deinen Verstand verloren?!“
Bastian schaute in Augen, die voller Zorn waren, während Lucas ihn wieder und wieder gegen den Brustkorb schubste.
„Bist du von allen guten Geistern verlassen?!“ Ungewollt gab Lucas ihm einen derartig kräftigen Stoß, dass Bastian gegen die Betonmauer knallte.
Ein schmerzerfüllter Laut drang über Bastians Lippen, bevor er auf die Knie fiel. Dass Lucas sich von ihm getrennt hatte, war längst schlimm genug gewesen, dass er ihm aber obendrein körperlichen Schaden zufügte, war eindeutig zu viel des Guten.
Lucas war dermaßen über seine Gewalthandlung erschrocken, dass er kurzzeitig schweigend erstarrte. „Das wollte ich nicht, Kleiner. So-Sorry.“
Bastian sah ihn mit hasserfülltem Blick an.
„Ey, sorry, Mann!“ In die Hocke gehend, umfasste er Bastians Kinn. „Zeig mal.“
Jeden Augenkontakt versuchte Bastian zu vermeiden.
„Ist nur eine kleine Platzwunde und ein paar Abschürfungen.“ Er griff nach den Händen und betrachtete die Innenflächen. „Wird schon wieder, Mann. Sorry …“
Bastian wollte ihm nicht länger zuhören. Er stieß einen lauten, aggressiven Schrei aus, der sein Gegenüber unverzüglich zum Schweigen brachte. Mit all seiner Kraft stieß er Lucas von sich weg und sprang auf.
Lucas verlor das Gleichgewicht und fiel mit dem Hintern auf den Boden. Er sah nur noch, wie die Tür zufiel. „Basti!“
Bastian stürmte die Treppen hinunter und beschloss, sich im Keller zu verstecken. Kaum noch imstande weiterzugehen, lehnte er sich in der Dunkelheit, in die nur ganz schwaches Licht durch eins der kleinen Fenster drang, gegen die Wand und ging langsam, in gebückter Position. Als Lucas seinen Namen durch den Hausflur brüllte, zuckte er furchtsam zusammen. Seine Hände zitterten, sein Herz raste und dann war da noch dieser eigenartige Geschmack, der ihm auf der Zunge lag. Es schmeckte wie Kupfergeld. Bastian wischte sich über die Lippen und blickte entsetzt auf seine Hand.
Blut.
Bastian schlich nach einer gefühlten Ewigkeit zu einem Kellerfenster, das den Blick auf die Garagen sowie die Mülltonnen ermöglichte, und spähte auf Zehenspitzen hinaus. Als er Lucas davongehen sah, hastete er in die Wohnung und schloss sich im Badezimmer ein. Er blickte in den Spiegel und begann beim Betrachten seines Spiegelbilds zu weinen. Dass ausgerechnet Lucas ihm derartig zugesetzt hatte, konnte er nicht verstehen. Was hatte er ihm denn angetan?
Lucas saß mit der Zigarette in der Hand auf der Lehne der massiven Holzbank des Spielplatzes und blickte gedankenverloren auf das gegenüberliegende Hochhaus. Er wusste, dass er sich das, was er Bastian angetan hatte, niemals verzeihen würde. Sein Plan war es, sich vorerst von ihm zu trennen und den Kontakt stark einzuschränken, um etwaige Konsequenzen zu vermeiden, die beide in Teufels Küche hätten bringen können. Keinesfalls hatte er ihm körperlichen Schaden zufügen wollen. Wie sollte er das nur jemals wiedergutmachen? Unverhofft holte ihn eine bekannte, weibliche Stimme zurück ins Hier und Jetzt.
„Ey, Lucas!“
Lucas schaute auf und erkannte Susanne, die geradewegs über den Rasen auf ihn zulief. Die Olle hat mir jetzt auch noch gefehlt!
„Ha!“ Susi zog an ihrer Fluppe und schnipste sie mit einer lässigen Bewegung weg. „Was machst du denn hier?“ Es klang wie ein Vorwurf.
„Ähm … sitzen?“
„Ha! Das sehe ich auch.“ Susi wurde es richtig warm ums Herz. Mit einem breiten Lächeln blieb sie vor ihm stehen. „Was machste?“
„Bissel chillen.“
Ihr Interesse an Lucas war immens und sie wollte ihm unbedingt mit ihrer großen Klappe imponieren. Bei anderen Kerlen funktionierte dies schließlich auch des Öfteren. „Bist schon so ‘ne coole Sau, wa?“
Warum Susi andauernd dieses unheimliche Grinsen im Gesicht haben musste, verstand er nicht und noch weniger kapierte er ihr andauerndes ‚Ha!‘. „Wie kommste drauf?“
„Du sitzt aufm Spielplatz, Mann, und rauchst ‘ne Kippe!“
Für Lucas klang das so, als ob es für sie das Coolste der Welt sei. „Machen doch alle hier“, antwortete er schulterzuckend.
„Ha! Sag ich auch immer. Wie lange sitzte schon hier?“
„Kein Plan.“
Lucas breitbeinige Sitzposition machte Susi wuschig im Kopf. Sie konnte nicht anders und schielte heimlich auf seine goldene Mitte, wo sich eindeutig etwas abzuzeichnen schien. Grinsend spitzte Susi die Lippen und schaute mit unanständigen Gedanken um sich. Zu gern hätte sie gewusst, wie diese Pracht sich in ihr anfühlen würde. „Was machste heute noch so?“
Abermals zuckte Lucas mit den Schultern. „Kein Plan, Mann.“ Warum Susi nun noch unheimlicher grinste, verwirrte ihn. „Was ist?“
„Ich hab die Idee!“
„Die Idee?“ Fragend zog Lucas eine Braue hoch.
„Ja, Mann! Wir gehen nachher, also ich, Doris und Kai, wir gehen nachher zelten. Haste nicht Bock mitzukommen?“
Doris, Kai und ich, korrigierte Lucas sie im Stillen, während ihm das „Nein“ bereits auf der Zunge lag.
„Also … Wir gehen zum Kanal – zelten! Wir machen ein Lagerfeuer, saufen ein bisschen und bauen halt Scheiße.“
Lucas folgte Susis Blick, die über ihn hinwegsah. Dass er Kunigunde erblickte, die auf dem Balkon stand und so tat, als würde sie ihren Worten keinesfalls lauschen, fand er zum Augenrollen.
„Die Alte ist so neugierig!“, flüsterte Susi ihm zu.
„Ja, ich weiß“, sagte er sinnierend. Sollte er mit Susi und den anderen gehen, nur um Kunigunde zu täuschen? Ganz gewiss hätte er sich viel lieber bei Bastian entschuldigt und einen schönen Abend mit ihm verbracht, aber Kunigunde schien verdammt hartnäckig zu sein.
„Also?“, fragte Susi aufgeregt. „Was ist?“ Lucas nachdenkliches Kopfwackeln brachte sie zum Lachen.
Doris registrierte aus der Ferne ihre beste Freundin, die neben dem Objekt ihrer Begierde stand. „Na warte, du kleine Schlampe“, flüsterte sie und brüllte sodann quer über den Spielplatz: „Susi, du Opfer!“
Susi wandte sich um. „Ich geb dir gleich Opfer, du Nutte!“
„Was für ein asoziales Pack“, hörte Lucas Kunigunde fluchen. Und das aus dem Mund einer Gleichgesinnten, schmunzelte er innerlich.
„Lass doch mal den armen Luc in Ruhe!“, forderte Doris sie gespielt wütend auf.
„Ha! Hättest du wohl gerne!“
„Ja, natürlich! Was denkst du denn?“ Kichernd gesellte Doris sich zu ihnen.
„Ey, du Fistkuh!“
„Was willst du Alte denn von mir?“
„Ich“, verkündete Susi stolz, „habe Lucas gerade gefragt, ob er nicht Lust hätte, mit uns mitzukommen.“
Doris war von dieser Idee auf der Stelle begeistert. „Ey, geil!“ Erwartungsvoll schaute sie zu dem Attraktiven. „Und?“
„Er weiß es nicht“, schnitt Susi ihm das Wort ab. „Er mag uns nicht“, fügte sie schmollend hinzu.
„Ey!“ Lucas guckte verwirrt drein. „Ich habe doch noch gar nichts gesagt!“
Susis Miene hellte sich schlagartig auf. „Also, ja?“
Lucas betrachtete abwechselnd die Gesichter der beiden Schreckgestalten und fragte sich, ob er diese Menschen über Stunden hinweg würde ertragen können. Zu gern hätte er Nein gesagt, doch Susi sah abermals über ihn hinweg, was nur bedeuten konnte, dass Kunigunde ihren Worten weiterhin lauschte.
Eingekuschelt unter seiner Bettdecke lag Bastian auf dem Bett und sah fern. Das Brennen in seinen Händen hatte zwar nachgelassen, sie zu benutzen oder gar nur zu öffnen, kam allerdings nicht infrage, denn dies war mit neuen Schmerzen verbunden und davon hatte er entschieden genug. Wirklich bewegen wollte er sich ebenfalls nicht, denn die Abschürfungen schienen nahezu am ganzen Leib vorhanden zu sein. Plötzlich vernahm er das Geräusch der sich aufgehenden Wohnungstür. Dies konnte nur Lucas sein! Hastig griff er nach der Fernbedienung, was sich nicht gerade sehr angenehm anfühlte, und schaltete die Verblödungskiste aus. Noch ehe die Tür aufging, hatte er sich schlafend gestellt. Mit einem unbehaglichen Gefühl öffnete er die Lider einen schmalen Spalt. Was tat Lucas da? Es hatte den Anschein, als würde er Sachen in seinen Rucksack packen. Doch aus welchem Grund? Wollte er etwa verschwinden und nie wiederkommen? Trotz des Vorfalls gefiel Bastian diese Vorstellung keineswegs. All seinen Mut zusammennehmend, fragte er nach: „Was machst du da?“ Er täuschte ein Gähnen vor und richtete sich auf geballten Fäusten langsam auf. „Luc?“
„Mich umziehen.“
„Wi-Wieso?“
„Weil ich gehe.“
Hatte Bastian sich etwa verhört? „Was? Wohin gehst du denn?“
„Weg.“
„Und wo-wohin?“
„Weg bedeutet weg“, erwiderte Lucas, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
„Ist es meinetwegen?“, fragte er den Tränen nah, wartete jedoch vergeblich auf eine Antwort. Bastian schlug die Decke beiseite und stand auf. „Luc?“
Regungslos blieb Lucas stehen, schloss die Augen und atmete tief durch, ehe er sich umwandte und verstummend auf die vielen Kratzer auf Bastians Körper sah. „Hör zu … Ich wollte das nicht.“
„Dachtest du wirklich, dass ich runterspringen würde?“, fragte Bastian annähernd belustigt.
„Das finde ich nicht zum Lachen!“ Und schon wieder schien Bastian Angst vor ihm zu haben. Wieso hätte er sonst zurückweichen sollen? „Hör zu …“ Lucas blickte über die Schulter und schloss schnurstracks das gekippte Fenster. Auf Zuhörer konnte er gut verzichten.
„Ich wollte nicht springen“, versicherte Bastian ihm.
„Sah für mich aber eindeutig anders aus!“
„Manchmal“, erzählte Bastian ihm etwas verträumt, „wenn mir alles zu viel wird, dann gehe ich rauf und genieße dieses Gefühl der Schwerelosigkeit.“
„Schwerelosigkeit?“ Lucas konnte nicht glauben, was er da hörte. „Du genießt?“
„Ja, es ist irgendwie …“
„Krank!“, unterbrach Lucas ihn. „Das ist krank!“
„Die frische Luft tut mir gut, wenn mir alles übern Kopf wächst.“
„Dann geh das nächste Mal spazieren, anstatt dich auf ein Dach zu stellen! Hast du eigentlich eine Ahnung, was alles hätte passieren können? Es braucht nur mal ein kräftiger Windstoß kommen und schon liegste da unten wie eine zermatschte Wassermelone!“
„Ja, du hast ja irgendwie recht“, stimmte Bastian ihm nachdenklich zu.
„Nicht irgendwie! Ich habe recht!“ Lucas griff nach seiner Jogginghose und zog sie sich an.
„Wohin gehst du denn nun?“
„Weg.“
„Geht es auch etwas genauer?“
Lucas wollte keine erneute Kränkung von sich geben, aber offensichtlich hatte er keine andere Wahl. „Hör zu. Dass ich dir wehgetan habe, tut mir leid.“ Dass Bastian lächelte, gefiel ihm nicht. „Aber das mit uns ist definitiv vorbei.“
„Aber was habe ich dir denn getan?“
„Basti …“
„Nein!“, unterbrach Bastian ihn. „Ich möchte wissen, was ich dir getan habe. Du denkst doch nicht etwa immer noch, dass meine Mutter hier Kameras versteckt hat?“
Lucas zog es vor, nicht zu antworten.
„Hat sie nicht“, versicherte Bastian ihm. „Ich habe sogar extra die Wohnung abgesucht. Hier ist nichts. Wirklich!“
„Dass hier keine Kameras sind, weiß ich selbst.“
„Woran liegt es dann?“ Bastian traute sich, einen Schritt auf ihn zuzugehen, doch sofort wurde ihm eine zurückweisende Hand entgegengestreckt. „Lucas?“
„Ich liebe dich einfach nicht“, log Lucas, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
Bastian bemerkte Lucas’ nervöse Hände. Seine Finger bewegten sich auffällig schnell hin und her. „Und wieso glaube ich dir das dann nicht?“
„Weil du verliebt bist.“
„Und wieso liebst du mich nicht mehr?“
„Meine Güte, Basti!“, regte Lucas sich auf. „Kapierst du nicht, dass es zwischen uns aus ist? Ich habe dir heute Morgen einen Zettel hinterlassen und dir freundlich gesagt, dass wir nicht mehr zusammen sein können.“
„Ja, weil du Angst hast, man könnte uns erwischen. Mann, Luc! Niemand wird uns erwischen, wenn wir nur vorsichtig genug sind.“
„Kapiere es doch endlich, Mann!“ Lucas musste ihm jetzt zum letzten Mal klarmachen, dass es kein ‚uns‘ mehr geben würde. „Ich liebe dich nicht mehr!“
„Auf dem Zettel steht was anderes“, wisperte Bastian.
„Gib her!“
„Was?“
„Den Zettel. Gib ihn mir.“
„Wi-Wieso?“
Lucas fühlte sich gereizt. „Gib mir den scheiß verfickten Zettel!“
Schwer schluckte Bastian, ehe er unters Kissen griff und den Zettel an sich nahm. Prompt wurde er ihm entrissen.
„Siehst du das?“ Lucas zerrupfte das Stück Papier vor Bastians Augen. „Ich hatte das mit der Liebe nur geschrieben, um dich nicht unnötig zu verletzen, aber anscheinend bist du zu blöde, um das zu kapieren. Ich liebe dich einfach nicht! War das jetzt deutlich genug?“
„Aber …“
„Wenn ich ehrlich sein soll …“, fuhr Lucas etwas gelassener fort, „wollte ich eh nur wissen, wie du im Bett bist.“
Ungläubig schüttelte Bastian den Kopf. „Bitte was?“
„Na, du sagtest, dass du Jungfrau bist und was gibt es Geileres, als eine Jungfrau zu … nun ja … entjungfern?“ Er schenkte ihm ein freches Grinsen.
Irgendwie konnte Bastian das nicht für wahr halten. „Du verarscht mich gerade, oder?“
„Nö.“
Diese knappe Antwort reichte Bastian nicht aus. „Luc!“
„Es ist aus!“, machte Lucas ihm mit entschiedenem Blick klar.
Für Bastian brach eine Welt zusammen.
„Halt dich in Zukunft einfach von mir fern, okay?“ Lucas schmiss sich den Rucksack über die Schulter. „Und warte bloß nicht auf mich, denn ich penne heute woanders. Hauptsache raus aus diesem Irrenhaus.“
Bastian hörte, wie die Wohnungstür zugezogen wurde und vernahm kurz darauf die haarsträubende Lache von Susi. Als sie Lucas’ Namen in den Mund nahm, sah er wie benommen aus dem Fenster. Hatten Kai, Doris und Susi etwas damit zu tun, dass Lucas sich von ihm getrennt hatte? Oder hatte Lucas wirklich nur Sex mit ihm haben wollen? Tief atmete Bastian durch. Wie hatte er sich nur dermaßen in diesen Menschen täuschen können?
„Party!“ jubelte Susi, die in einen knappen gelben Bikini gekleidet ein Bier in die Höhe reckte.
„Ja, nix Party!“, fluchte Doris, die sich in einen zu engen schwarzen Badeanzug gequetscht hatte. „Hilf uns mal lieber, die Zelte hier aufzubauen!“
„Bin ich deine Sklavin, oder was?! Mach selbst, Alte!“ Sie lachte und nahm einen Schluck aus der Flasche. „Wer schläft denn jetzt mit wem zusammen?“
Eine Frage, die Kai nun wirklich nicht mehr hören konnte. Die ganze Busfahrt über hatte Susi schon damit genervt und selbst im Supermarkt hatte sie sich andauernd danach erkundigt. „Boah, Alte!“
„Was denn? Ich warte immer noch auf die Antwort!“ Um jeden Preis wollte sie mit Lucas in einem Zelt schlafen.
„Das entscheiden wir nachher spontan!“, erwiderte Kai, der eindeutig Probleme beim Aufbauen seines Zeltes hatte.
„Zwei Zelte“, sinnierte Susi angestrengt. „Also zwei Leute in einem Zelt.“
„Hui“, machte Doris sich über sie lustig. „Du kannst ja rechnen.“
„Fick dich!“
„Nee, nicht jetzt“, erwiderte Doris trocken.
Lucas sah zur Kanalbrücke, die ihre besten Tage längst hinter sich hatte, und fragte sich, ob es wirklich klug war, so nah am Wasser zu pennen. „Habt ihr hier schon mal gezeltet?“
„Ja klaro“, antwortete Doris. „Machen wir öfter. Ist doch das perfekte Wetter.“
„Ja, klar“, lächelte Lucas gekünstelt. Um das zu überstehen, wusste er, brauchte er mehr als nur ein Bier. „Wirf mal eins rüber“, bat er Susi.
Dies ließ sich Susanne nicht zweimal sagen. Sie wandte sich um, streckte Lucas provokant ihren Hintern entgegen und nahm eine Flasche Bier aus dem Kasten. Sie war sich sicher, dass er ihr auf den Arsch schauen würde. Jeder würde das, dachte sie. Susi drehte sich wieder zu ihm, musste sodann aber zu ihrem Bedauern feststellen, dass Lucas gar nicht zu ihr hingesehen hatte. Stattdessen schweifte sein Blick über das Wasser. „Ey, Lucas!“
„Hm?“ Voller Wucht wurde ihm die Bierflasche entgegengeschmissen, die er gerade noch rechtzeitig auffangen konnte.
Kai machte ein wütendes Gesicht. „Wenn die kaputtgegangen wäre!“
„Ha! Ist sie aber nicht! Und weißt du, warum? Weil ich eine gute Werferin bin.“
„Oder“, neckte Doris sie, „Luc ist einfach nur ein guter Fänger.“ Dass sie Lucas zum Schmunzeln bringen konnte, freute sie ungemein.
„Du mich auch!“, maulte Susi. „Blöde Kuh.“
Die beiden Freundinnen guckten einander an und lachten sodann aus vollem Halse.
„Yep“, flüsterte Lucas. „Ich brauche ganz viel Bier.“
„Der ist so lebensmüde“, sagte Doris verständnislos, während sie neben Susi und Lucas hockte. Sie alle blickten zu Kai, der zur Kanalbrücke schlenderte um ins Wasser zu springen.
„Wieso denn lebensmüde?“, stutzte Susi. „Du hast ja nur Angst, dass du wie eine Atombombe aufprallst.“
Lucas konnte es sich bildlich vorstellen, wie die pummelige Doris ins Wasser plumpsen und somit eine Welle der Verwüstung auslösen würde. Er presste die Lippen aufeinander, um sich das Lachen nicht anmerken zu lassen, doch Doris bemerkte das Schmunzeln und gab ihm einen Klaps auf den Oberarm. „Was denn?“
„So fett bin ich auch nicht!“
„Sagte ich das?“, fragte Lucas, als er das Papier von der Flasche abkratzte.
„Wieso …“, fragte Susi vorwurfsvoll, „bist du eigentlich noch angezogen?“
„Genau!“, stimmte Doris ihr zu. „Wir sitzen hier in unseren Badeanzügen und du hast ‘ne blöde Jogginghose und ‘n Shirt an.“
„Ähm …“
„Ausziehen!“, forderte Susi ohne Umschweife.
Doris stimmte ein. „Ausziehen …“
Lucas musste grinsen. Er trank das Bier auf ex aus und stand auf, um sich seiner Kleidung zu entledigen. Aus dem Augenwinkel erkannte er, dass die beiden liebestollen Mädchen ihm gespannt dabei zusahen.
„Wahnsinn!“ Susi kam aus dem Staunen gar nicht mehr raus, als Lucas seinen Oberkörper entblößte. „Und die Hose!“
Lucas kickte die Sneakers von den Füßen und zog sich die Socken aus.
„Ausziehen“, hörte er die beiden Mädchen wieder und wieder flüstern. Belustigt darüber ließ er die Hose fallen.
„Waaaas?“ Susi hätte keinesfalls amüsierter reagieren können. „Ein noch engeres Höschen hättest du nicht anziehen können?“
„Sagt die“, meinte Doris, „deren Brustwarzen aus dem BH hervorquellen.“
Susi blickte an sich hinab und lachte, als sie erkannte, dass Doris recht hatte. Peinlich berührt versuchte sie die Brustwarzen wieder zu bedecken. „Wo guckst du blöde Kuh mir eigentlich hin?“
„Wenn du deine Brustwarzen so provozierend zur Schau stellst!“
„Ach, halt doch die Klappe.“
Angetan schaute Doris wieder auf Lucs Unterhose. „Du hast ja einen richtig geilen Knackarsch.“ Sie konnte es sich nicht verkneifen und schlug auf die Pobacke. Lucas’ überraschter Gesichtsausdruck erheiterte sie.
„Ich will auch!“ Susi sprang auf, platzierte sich hinter Lucas und griff einfach mal in die Arschbacken rein. „Oooh! Ganz schön fest, mein Freund!“
„Kann man gut als Kopfkissen benutzen“, dachte Doris laut.
„Ha! Und wie!“ Staunend ließ Susi von dem runden Po ab und nahm – den Hintern immer noch im Blick – wieder neben ihrer Freundin Platz. „Wieso habt ihr Männer eigentlich immer so eine geile Kiste?!“
Lucas hätte ihr jetzt einen von seinen Po-Übungen erzählen können, doch wäre es im Grunde genommen Zeitverschwendung gewesen. Mädchen wie Susi, so wusste er, würden dann behaupten, sie müssten auch mal Sport treiben, damit nichts mehr hängt, aber im Endeffekt würden sie rein gar nichts machen, um Muskeln aufzubauen.
„Ich springe jetzt!“, rief Kai den dreien zu.
Gleichzeitig blickten sie alle zu ihm hinüber. Keine Sekunde später klatschte Kai grölend ins Wasser.
Doris verzog ihre Mundwinkel. „Das klang ein wenig schmerzhaft.“
„Hmmm … lecker“, ekelte Lucas sich. „Also mich kriegt keiner in dieses mit Kacke gefülltes Wasser.“
„Waaas?“ Susi sah entsetzt drein. „Da ist doch keine Scheiße drin!?“
„Das, liebe Susi, wirst du erst erfahren, wenn du drin warst.“
„Ey!“ Susi erhob sich. „Ich war da schon so oft drin, ja?! Da ist bestimmt keine Kacke drin! Oder hatte ich etwa schon mal braune Haare?“, fragte sie, an Doris gerichtet.
Lucas musste sich wirklich zusammenreißen, um nicht über derart viel Blödheit zu lachen.
„Nö, aber was Braunes im Kopf“, neckte Doris.
„Ich geb dir gleich!“
„Dann ab!“, scheuchte Doris sie. „Zeig uns deinen geilen Sprung!“
„Und wie ich ihn euch zeigen werde!“ Voller Vorfreude lief Susi kichernd zur Brücke. Sie schaute zu Kai und verkündete laut: „Ha! Jetzt komme ich!“
„Zeig, was du kannst, Süße!“, rief der Planschende.
Doris rollte mit den Augen und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Die ist aber auch manchmal drauf.“
„Wie lange kennt ihr euch eigentlich schon?“, fragte Lucas, während er sich nach hinten legte und sich auf beiden Ellbogen abstützte.
„Ach, viel zu lange“, antwortet Doris mit dem Blick auf Lucas’ durchtrainierten Oberkörper. „Machste viel Sport?“ Sie lehnte sich zur Seite und stützte ihren Kopf mit der Hand ab.
„Joah, ein wenig.“
„Sollte sich unser Kai mal ein Beispiel dran nehmen“, lästerte sie. „Der hat voll die kleine Wampe und mehr Titten als Susi.“
Lucas konnte sich das Grienen nicht verkneifen.
„Ist doch wahr. Was machste denn fürn Sport?“
„Ach, nichts Besonderes“, schwindelte er. „Und selbst?“ Die Frage hätte er sich bei der Plauze, die Doris vor sich hertrug, eigentlich sparen können.
„Ich und Sport?“, fragte sie lachend. „Bettsport vielleicht, aber das war’s dann auch schon.“
„Besser als gar keinen Sport.“ Lucas schaute zu Susi, die mühevoll die Brücke hochkletterte und sich mehrfach beinahe auf die Schnute legte.
„Ahhhh!“, lachte Susi sich kaputt. „Das ist so verfickt rutschig!“
„Die ist so durch, Alter!“ Doris gackerte aus vollem Hals, während ihre Freundin verzweifelt versuchte, auf die Brücke zu gelangen.
Ich muss süchtig nach dummen Menschen sein, dachte Lucas. Kann ja nicht anders.
„Hoffentlich“, brüllte Doris ihr zu, „brichst du dir das Genick!“ Sie lachte sich schief, als Susi abermals ausrutschte.
„Fick dich selbst!“, brüllte Susi, belustigt über ihr eigenes Scheitern. Wenig später hatte sie es endlich geschafft, oben anzukommen. Freudig rieb sie sich die Hände und bereitete sich seelisch auf den Sprung vor.
„Susi! Susi! Susi!“, feuerte Doris sie an.
„Haha! Jetzt zeig ich’s euch.“ Susi schaute in die Tiefe. Sie wollte Lucas um jeden Preis beeindrucken. „Drei … Zwei …“ Susi sprang hinab und hielt sich dabei mit zugekniffenen Augen die Nase zu. Das Wasser plätscherte nur ein wenig, als sie eintauchte.
„Ein kerzengerader Sprung!“ Doris staunte nicht schlecht. Dass Lucas allerdings beeindruckt war und der Blondine Applaus schenkte – obendrein zujubelte –, passte ihr nicht. Kurzerhand entschied sie, ebenfalls einen Sprung in die Tiefe zu wagen. „Jetzt zeig ich dir mal wie ein Profi das macht!“
„Du willst springen?“
„Aber sowas von!“
„Ach!“, meinte die schwimmende Susi überrascht. „Jetzt springst du doch?“
„Natürlich!“
Gespannt sahen die drei zu Doris, die sich auf die Brücke begab.
„Ich bin die Beste!“, war Doris von sich selbst überzeugt. Sie nahm Anlauf, ihre Brüste bebten auf und ab. Ich werde es euch allen zeigen! Bedauerlicherweise rutschte Doris in letzter Sekunde aus und flog mit dem Gesicht voran nach unten. „Ahhhh!“, schrie sie mit herumfuchtelnden Armen.
Lucas, Kai und Susi verzogen gleichzeitig ihre Gesichter, nachdem Doris hörbar ins Wasser geklatscht war. Die darauffolgenden Sekunden, in denen Doris nicht auftauchte, kamen ihnen wie Minuten vor.
Gerade als Susi voller Sorge fragen wollte, wo ihre beste Freundin abgeblieben sei, tauchte diese nach Luft schnappend auf. „Musst du dämliche Kuh mich so erschrecken?!“
Doris hustete Wasser und lachte zur gleichen Zeit. „Alter! Das hat jetzt bestimmt mein Gesicht geliftet.“ Das Gelächter war beträchtlich – selbst Lucas schloss sich dem an.
Deutlich angeheitert, trällerten Susi und Doris am Lagerfeuer ein Liedchen. Arm in Arm schwankten sie hin und her, während Kai und Lucas auf einer kaputten Bank saßen und den beiden zusahen. Kai dachte an Sex und Lucas an Bastian, den er gerne neben sich gehabt hätte.
„Also ich wäre ja für die Blonde“, flüsterte Kai ihm zu.
„Hm?“
„Susi“, sagte Kai. „Es sei denn, du stehst auf schwabbeliges Fett. Dann wäre Doris natürlich genau die Richtige für dich. Mich kriegt dieses Schwanzmonster jedenfalls nicht!“
Den aufkommenden Schauder ließ Lucas sich nicht anmerken. Er wollte doch kein Mädchen beglücken. „Ähm …“
„Kannst meinetwegen auch beide haben.“ Warum sah Lucas ihn seltsam an? Kerle guckten einander nicht so lang in die Augen. Kai bekam einen schlimmen Verdacht, der ihn augenblicklich aufbrausend werden ließ. „Ey, Alter! Du bist doch nicht etwa auch so ’ne verfickte Schwuchtel wie …“
„Wer ist schwul?“, unterbrach Doris ihn mit einem neugierigen Kichern. Sie hatte Schwierigkeiten, sich zu ihnen zu setzen und fiel beinahe glucksend auf Lucas drauf. „Ooops!“
„Blödsinn!“, verneinte Lucas rasch, wobei er an der pummeligen Doris vorbeischaute. „Sehe ich etwa so aus?“
Der Blick von Lucas schüchterte Kai ein wenig ein. „War nur ‘ne Frage, Alter.“
„Wer ist schwul?“, fragte Doris abermals. Mutwillig quetschte sie sich zwischen die beiden Jungs. Endlich konnte sie Lucas warmen Oberarm an ihrem spüren.
„Niemand“, meinte Lucas leichthin, während ihm der intensive Schweißgeruch von Doris in die Nase kroch. Er öffnete eine weitere Bierflasche. Wie viele er bereits intus hatte, war ihm nicht bewusst, aber es schien noch lange nicht genug zu sein, um all das überstehen zu können.
„Ihr habt über Schwule geredet.“ Doris war wissbegierig. „Habt ihr beide etwa gerade von …“ Susis lautes Trällern des Sommerhits brachte sie durcheinander. „Was wollte ich sagen?“
„Aseda ha! Ja deje tejebe tude jibbi sibbisibbi …“
Doris lachte sich kaputt. „Du singst das voll falsch, Alte!“ Sie erhob sich, schüttelte selbstbewusst ihr Haar und begann mit Susi mitzusingen.
Dass beide Mädchen den Text hörbar falsch sangen, amüsierte Lucas.
„Lachste uns aus, oder was?“, fragte Doris gespielt empört.
„Das geht so …“ Lucas gesellte sich zu ihnen. „Auf drei. Eins … zwei … drei!“ Fröhlich tanzten die drei umher und sangen dabei den Ketchup-Song.
Kai fand das dermaßen peinlich, dass er sich betreten die Hände vors Gesicht klatschte.
„Jetzt mach schon endlich mit!“, forderte Susi ihn fröhlich gestimmt auf, aber Kai weigerte sich rigoros. Erst als alle um ihn herumtanzten, ließ er sich zu dem Unsinn mitreißen.
„Ich geh mal schiffen.“ Dass Lucas einen sitzen hatte, war deutlich an seinen Bewegungen abzulesen.
„Ey!“, flüsterte Susi ihren Freunden zu. „Habt ihr ihm das mit der Schwutte schon gesagt?“
„Biste eigentlich bekloppt, Alte?“ Doris schüttelte mit gerunzelter Stirn den Kopf. „Niemals!“
„Wieso nicht?“
„Ey!“, regte Kai sich leise auf. „Wir kennen ihn noch nicht lang genug, um ihn in dieses Geheimnis einzuweihen.“
„Später vielleicht“, fügte Doris hinzu.
„Ey, Lucas ist doch voll korrekt, Mann!“ Susi zog an ihrer Zigarette. „Ich mach mit euch jede Wette, dass der dafür wäre, vielleicht sogar mitmachen würde, wenn Kai diese Tucke verprügelt.“
„Nein!“ In Kais Stimme lag Entschlossenheit. „Wir kennen den noch nicht lang genug. Abgesehen davon hat er mich vorhin so seltsam angestarrt, Mann!“
„Was?“ Doris hätte sich vor Lachen beinahe eingepinkelt. „Luc ist doch nicht schwul, Alter!“
Kai zog den Rotz hoch und spuckte auf den Boden. „Was weiß ich, Alte?“
„Ich beweise es dir. Wenn wir nachher pennen, dann werde ich ihn so richtig …“ Doris zuckte verführerisch mit den Brauen. Mehr Worte waren ihrer Ansicht nach nicht nötig.
„Wieso …“, regte Susi sich auf, „darfst du denn mit ihm in einem Zelt pennen? Haben wir darüber abgestimmt? Nein! Also penne ich mit ihm. Basta!“
„Wenn er schlecht war, kannst du ihn beim nächsten Mal gerne haben.“
„Bin ich hier die Restefickerin oder du?“
Doris vernahm ein Knistern von Ästen und sah rasch über die Schulter. „Pssst! Er kommt zurück.“
„Ich schlafe mit ihm!“, stellte Susi aufgebracht klar.
„Klappe!“
Lucas nahm sein Umfeld nur noch verschwommen wahr. „Leute“, nuschelte er, „ich bin so hackendicht.“ Er ließ sich auf den Boden nieder und rülpste laut.
Einen besoffenen Lucas hatte Susi weniger poppen wollen. „Okay, du kannst ihn haben“, sagte sie mit einem gleichgültigen Schulterzucken an Doris gewandt.
Das Lachen, das von allen Seiten zu kommen schien, verwirrte Lucas. Worüber lachen die?, fragte er sich und beschloss kurzerhand einfach mitzulachen.
„Wehe, du furzt!“, hörte Lucas die betrunkene Susi im anderen Zelt maulen.
„Ich furze nicht!“, war Kais übellaunige Antwort.
„Will ich auch hoffen!“ Kaum ausgesprochen, ließ Susi einen knattern.
Doris, die neben Lucas im Zelt auf dem Rücken lag, konnte sich das Lachen nicht verkneifen.
Kai regte sich lauthals auf, worauf Susi ein weiterer Furz durch die Ritze abging. „Ey, Alte!“
Susi bekam einen Lachkrampf. „Stell dich nicht so an, Mann. Nur die wirklich leisen … die stinken. Aber doch nicht die lauten!“
„Ey, du bist so durch, Alte!“
„Ja, ne? Ich bin voll betrunken!“
Doris gab einen unüberhörbaren, genervten Ton von sich. „Ruhe da hinten! Hier wollen anständige Leute schlafen!“
„Von wegen anständig!“, machte Susi sich lustig. „Du willst doch nur ficken!“
„Halt die Klappe jetzt!“
„Wehe du weckst mich mit deinem Gestöhne!“
„Schnauze jetzt!“
„Hab dich auch lieb!“
„Jaja, du mich auch.“ Doris kicherte und flüsterte Lucas sodann zu: „Die ist so fertig.“
„Hm-hm.“ Zu mehr Lauten hatte Lucas keine Energie mehr und obwohl er die Augen geschlossen hatte, fühlte es sich so an, als ob sich alles um ihn herum drehen würde.
„Auf was für Mädchen stehst du eigentlich so?“, traute sich Doris zu fragen.
„Hm …“ Kraftlos hob er die Schultern an und ließ sie wieder fallen.
„Ich meine, sollte sie schlank sein wie Susi und ohne Brüste oder stehst du mehr auf Füllige mit großen Titten?“
„Hm-hm.“
„Ich meine …“, überlegte Doris, während sie sich wagte, mit den Fingerspitzen über den Oberkörper des Angehimmelten zu streicheln, „wäre ich zum Beispiel dein Typ?“
Wessen Typ?, fragte Lucas sich. Er wollte nur noch eins: schlafen.