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Amor Scott hat das Bogenschießen satt – bis ein waghalsiger Stunt missglückt und ihn plötzlich für ein paar Tage an die Erde fesselt, wo er mitten ins Leben von Jan und Wolf katapultiert wird. Jetzt muss er nicht nur lernen sich in der Menschenwelt zurechtzufinden, sondern sich auch noch um die plötzlich aufkommenden Gefühle für Jan und Wolf kümmern. Aber die paar Tage bis das Schicksal, sein Ziehvater, ihn zurück in die Götterwelt holt, sind doch als Profi in Sachen Liebe ein Klacks! Oder? Chaos Cupid – Ein göttliches Missgeschick ist eine humorvolle und herzerwärmende Geschichte über Selbstfindung, die Macht der Liebe und die Familie, die wir selbst wählen.
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Seitenzahl: 413
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Triggerwarnung
Homophobie (vergangen, nur erwähnt, nicht explizit beschrieben), Vergangener Tod einer Person off-page, Feuer,
Alkoholkonsum
Foto © Ina Ulber
Über die Autorin
Ina Ulber, geboren 1989 in Friesoythe, lebt mit ihrer Frau und zwei Katern in Oldenburg, wo sie als Technische Assistentin an der Universität arbeitet. Schon seit dem Kindergarten erfindet sie eigene Geschichten. In der Grundschule entdeckte sie ihre Leidenschaft für Fanfiction, die sie bis heute gern schreibt. Ihre erste Teilnahme am NaNoWriMo im Jahr 2014 entfachte ihre Begeisterung für das Schreiben eigener Werke.
Wenn sie nicht schreibt oder liest, besucht sie Conventions, wo sie auch als Moderatorin auf der Bühne steht, und singt im Chor. Bis 2024 spielte sie auch Cosplay-Theater bei Otakus Live, einer der erfolgreichsten Showgruppen Deutschlands. In ihrer Freizeit schaut sie gerne koreanische Dramen, am liebsten mit einem ihrer Kater auf dem Schoß.
Chaos Cupid ist ihre erste Veröffentlichung. Auf Instagram und Threads teilt sie ihre Liebe zum Schreiben unter @kaylean.schreibt
Für Lene, ohne dich wäre Scott nie auf der Erde gelandet.
WREADERS E-BOOK
Band 270
Dieser Titel ist auch als Taschenbuch erschienen
Vollständige E-Book-Ausgabe
Copyright © 2025 by Wreaders Verlag, Sassenberg
Verlagsleitung: Lena Weinert
Druck: Custom Printing
Bestellung und Vertrieb: Nova MD GmbH, Vachendorf
Umschlaggestaltung: Jasmin Kreilmann
Lektorat: Rebecca Voeste
Korrektorat: Alina Lindecke
Satz: Antje Weise
www.wreaders.de
KAPITEL 1
Amors Büro. Wie kann ich helfen?«
Der Rezeptionist schickte einen gelangweilten Blick zur Wanduhr, die leise zwischen kitschigen Herzbildern vor sich hin tickte. Der Minutenzeiger der herzförmigen Uhr wanderte quälend langsam auf die Acht zu. Es waren doch nur noch zwanzig Minuten, bis Joshua Amors Telefon übernehmen würde. Wieso hatte es ausgerechnet ihn getroffen?
Das Telefon klingelte nicht mehr oft, seit alle Amoretten Smartwatches trugen und per App bestätigten, dass das sogenannte Matching – die Verbindung zwischen zwei oder mehr Menschen – funktioniert hatte. Schicksal hatte sich diese Funktion einiges kosten lassen.
Die Partnersuche ins Internet zu verlegen, war ein Geniestreich der Menschen gewesen und beschleunigte alles deutlich.
Der Techgott hatte Schicksal geholfen und ihnen einen Alarmalgorithmus erschaffen, der den vorherbestimmten Zeitpunkt und Ort für die Verbindungen aus dem Datenteppich der Schicksalsweber zog und einen Amor in der Nähe informierte.
Manche der älteren Amoretten kamen allerdings nicht mit der neuen Technik der Menschen zurecht und riefen lieber im Büro an.
»John? John, bist du das?«
John unterdrückte ein Seufzen. Scott war kein älterer Amor, aber wann immer er anrief, fühlte John sich automatisch ein halbes Millennium älter.
»Ja, Scott. Wie die letzten einhundert Jahre.« Er rollte mit den Augen. »Was ist diesmal passiert? Hast du wieder aus Versehen zwei Schutzengel gematcht? Oder zwei Tierarten, die nicht zusammengehören?« Beim Gedanken an hypothetische Eulenbärbabys schauderte John. »Deinen Köcher verloren? Deinen unzerstörbaren Bogen zerstört? Die Sehne aus dem Haar der Aphrodite kann jedenfalls nicht mehr reißen …« Er hätte endlos weitermachen können, »oder mal wieder ein falsches Match verbunden?«
»Wenn wir nicht so altmodisch mit Pfeil und Bogen schießen müssten, dann hätte ich vielleicht kein Problem. Können wir nicht Zauberstäbe haben wie die guten Feen?« Scott wollte gerade in einen seiner Vorträge über den Vorteil von Zauberstäben eintauchen, als John ihn unterbrach.
»Fokus, Scott. Fokus. Was ist passiert?«
»… ein falsches Match«, sagte Scott zähneknirschend und obwohl John sich fragte, warum Schicksal Scotts wilde, teils unglaubliche und unvorstellbare Eskapaden nicht voraussah (insgeheim dachte John, dass es Schicksal in den vergangenen tausend Jahren vielleicht einfach etwas zu langweilig geworden war), rief er widerstandslos das Formular für falsche Matches auf, das es erst gab, seit Scott als Amor tätig war. Bisher wurde es auch nur für ihn gebraucht.
»Okay. Wen hast du gematcht?«
Scott schwieg und John atmete tief durch. Ein Blick zur Uhr sagte ihm, dass es noch dreizehn Minuten bis zum Schichtende waren.
»Ist es schlimmer als damals, als du eine ganze Hippie-Gemeinschaft miteinander verbunden hast?«, fragte er vorsichtig, als das Schweigen andauerte.
»Vielleicht …?«, kam es leise aus dem Hörer und John schickte ein Scott!!! an Schicksal über den Instantmessenger Liebesbrief. Der Techgott hatte manisch gekichert, als er ihn präsentiert hatte. Der Dienst der guten Feen hieß Wunschzettel und John fand, dass der Techgott viel weniger lustig war, als er sich einbildete.
»Nun sag schon«, drängte John. »Wen hast du gematcht?«
Scott seufzte schwer. »Mich.«
Ein Match war kein Zing, bei dem man sich in die Augen sah und sich sofort ineinander verliebte. Dieser Moment schickte die künftigen Liebenden nur auf ihren vorgezeichneten Weg, den kein Amor sehen konnte. Liebe auf den ersten Blick, die gab es eigentlich nicht. Wenn Amors Pfeil einen traf und man sich danach in die Augen schaute, wurde aus dem goldenen Band, das dem Pfeil folgte, ein roter Faden, der sich um die Handgelenke der Menschen fädelte und nach einigen Zentimetern im Nichts verschwand. Lediglich Schicksal konnte die gesamte Länge der roten Fäden sehen, sie entwirren, schneiden und neu zusammenfügen, wenn sie sich verknoteten und den Lauf des Schicksals störten.
Ungläubig schaute Scott auf die roten Fäden an seinen Handgelenken, während um ihn herum das geschäftige Treiben des Cafés weiterging.
Niemand beachtete ihn, nicht einmal die Schutzengel. Das Große Ganze liebte die Menschen über alles, doch die Amoretten, Schutzengel, guten Feen und Todesengel durften sie nicht sehen. Die Schutzengel waren zu beschäftigt, um sich um die Amoretten zu kümmern. Wenn man sich jeden Tag begegnete, wurde man sich irgendwann egal. Schutzengel waren sowieso davon überzeugt, den wichtigsten Job von allen zu machen.
Was war denn schon die Liebe gegen das Überleben?
Scott regte sich oft über das überhebliche Getue der Schutzengel auf. Er hatte mindestens genauso viel Schneid wie sie und konnte seinen Job genauso cool erledigen!
Er wusste nicht mehr, wie viele Jahrzehnte er schon eintönig mit Pfeil und Bogen schoss, doch irgendwann hatte er beschlossen, es anders auszuprobieren. Bei seinem coolsten Schuss war er mit den Händen auf einem Skateboard stehend gefahren und hatte mit den Füßen das auserkorene Paar getroffen. Dies hatte er bei den Menschen in ihrem YouTube gesehen und es unbedingt nachmachen wollen. Der Techgott hatte ihm dafür sogar eine Kamera geschenkt, und Scott war dadurch in seinem Reich zu etwas Berühmtheit gelangt. Seine Stunts wurden seitdem riskanter und nicht immer ging alles gut.
So wie heute.
Jan und Wolf hatten sich auf einem Abenteuerspielplatz getroffen. Die Verlockung war einfach zu groß gewesen.
Sie waren sein einziger Auftrag für diesen Tag, und er hatte sich großartig gefühlt. Die Hüpfkissen unter dem großen Turm, von dem er gesprungen war, hatten ihn hervorragend in die Luft geschleudert, seine Berechnungen hatten gestimmt und er hatte genau die richtige Höhe erreicht, um den Pfeil mit der herzförmigen Spitze auf Wolf abzufeuern.
Wolf saß ahnungslos auf einer Bank und kramte in seiner Umhängetasche, als ihn der Pfeil traf. Das Band am Ende des Pfeils leuchtete golden und verschwand in seiner Brust. Erfolg! Sobald ein Pfeil sein erstes Ziel traf, flog er zurück zu seinem Amor. Scott fing ihn geschickt, spannte den Bogen und ließ den Pfeil erneut von der Sehne schnellen.
Gerade, als Wolf von seiner Tasche aufsah, traf der Pfeil Jan, der neben Scott mit zwei Jungen um die Wette sprang. In dem Moment, in dem sich die Blicke der beiden Männer trafen, wackelten Jans Knie. Sein nächster Sprung war schräg und brachte ihn genau in Scotts Richtung. Die Pfeilspitze, die durch Jan auf dem Weg zurück zu Scott war, traf den Amor und schoss auch durch ihn hindurch. Der Pfeil verpuffte hinter Scott, seine Aufgabe war erledigt.
Scott spürte, wie der Schicksalsfaden sich um sein Herz legte, von dort zu seinen Handgelenken wanderte, als roter Faden hervorschoss, sich erst um seine und dann um die Handgelenke der anderen beiden wickelte.
Fassungslos blickte er zu Jan, der mit ihm in der Luft kollidiert war, und nun auf dem gigantischen Hüpfkissen nach unten rutschte und seinen rechten Fuß umklammerte. Wolf sprang von der Bank und rannte zu ihm.
Die Fäden an seinen Handgelenken pulsierten und Scott folgte dem Drang, zu Wolf und Jan zu eilen.
Wie gelähmt beobachtete Scott Wolf, der aus seiner Tasche ein Erste-Hilfe-Set hervorholte, Jan sanft einen Stützverband anlegte – ihre Wangen rosig, die Blicke vorsichtig – und ihm zum nahegelegenen Café half. Scott folgte ihnen.
Danach hatte er endlich im Büro angerufen.
John war nicht amüsiert gewesen, aber das verstand Scott. Schließlich bereitete er ihm zum wiederholten Male mehr Arbeit. Schicksal würde ihm sicher einen Vortrag darüber halten, dass er doch seine Aufgaben ernster nehmen sollte und ihn dann mit einem milden Lächeln entlassen. Hoffentlich würde es nicht lange dauern, bis er kam und die Schicksalsschere mitbrachte. In der ganzen Galaxie vermochte nur diese eine Schere, den roten Faden des Schicksals zu durchtrennen.
Jan lachte laut auf und riss Scott aus seinen Gedanken.
Sein Bein war ausgestreckt und sein Fuß auf dem Stuhl gegenüber platziert, ein Kühlpack lag auf dem Gelenk. Sein Bruder, mit dem Jan auf dem Abenteuerspielplatz war, saß neben ihm und sah ihn besorgt an. Jan gegenüber saßen Wolf und der Junge, den er heute begleitete.
»Du hast also eine Eins in Mathe geschrieben und als Dankeschön hat Wolf dich mit in den Park genommen?«
Das Kind nickte. »Wolf ist der beste Nachhilfelehrer, den ich jemals hatte. Meine Mutter hat vor Freude geweint, als ich endlich eine gute Note in Mathe hatte.«
Scott lächelte mild, als er die Röte bemerkte, die sich auf Wolfs Wangen ausbreitete. Bei dem Lob schob er seine runde goldene Brille höher und ein kleines Grinsen umspielte seine Lippen. »Nicht schlecht für einen Literaturstudenten, oder?«
»Oh, du studierst?« Vorsichtig richtete Jan sich auf seinem Stuhl auf. Seine dunkelbraunen Augen funkelten. »Ich studiere Sport und Chemie. An welcher Uni bist du?«
»Oldenburg und du?«
»Nicht ernsthaft?! Ich auch!« Er lachte. »Was für ein Zufall, dass wir uns ausgerechnet hier treffen. Hundert Kilometer weiter weg.«
Ja, was für ein Zufall, dachte Scott und tätschelte zufrieden seinen Köcher. Er war immer stolz darauf, wenn ein Match erfolgreich war und bis auf die kleine Unannehmlichkeit, sich an die beiden gebunden zu haben, war ja alles gut gelaufen. Die Zwei verstanden sich auf Anhieb und unterhielten sich wie Freunde, die sich seit Jahren kannten.
Sie tauschten ihre Telefonnummern und Scott wunderte sich langsam, wo Schicksal blieb. Heute hatte er keine weiteren Aufträge und er wollte sich bald mit seinen besten Freunden treffen. Modo und Happy waren gute Feen und seit Scotts Erschaffung waren sie unzertrennlich. Sie waren zur gleichen Zeit geschaffen worden, zusammen aufgewachsen, hatten gemeinsam die Menschen studiert und schlichen sich seit der Erfindung des Kinos ab und an runter auf die Erde, um einen Film zu schauen.
Heute war so ein Tag, doch wenn Schicksal noch länger auf sich warten ließ, würde er es nicht rechtzeitig zu ihrem Treffen schaffen. Mit einem Seufzen rutschte Scott auf seinem Stuhl nach vorne, stützte seine Wangen in den Händen ab und beobachtete mit geschürzten Lippen das Geschehen. Nicht einmal ging Wolf und Jan der Gesprächsstoff aus, während die Kinder längst spielen gegangen waren.
Scott rieb abwesend am roten Faden seines linken Handgelenks, der von ihm zu Wolf führte. Ihn durchfuhr ein Schauer und hastig ließ Scott den Faden los.
Was war das denn?
Neugierig zupfte er an dem Faden an seinem rechten Handgelenk, und Jan erschauderte. Scott stand auf und schlich um den Tisch herum, ohne sie aus den Augen zu lassen. Abgesehen davon, dass er unsichtbar für sie war, hätten sie ihn vermutlich eh nicht bemerkt, so vertieft wie sie waren.
Was würde wohl passieren, wenn er die Fäden an ihren Handgelenken berührte?
Scott beugte sich an Jan vorbei und streckte die Hand nach seinem Faden aus. Bevor er ihn berühren konnte, fegte ein kräftiger Wind über den Platz. Servietten sausten von Tischen, Pappbecher stürzten um und Scott zog hastig seine Finger zurück.
»Bemüh dich nicht, ich habe es genau gesehen«, erklang es streng hinter ihm.
Scott wandte sich mit einem unschuldigen Lächeln um. »Ich habe doch gar nichts gemacht, Schicksal.«
Schicksals düstere Miene zerbrach und ein Lächeln breitete sich auf seinen ebenmäßigen Zügen aus. Seine goldenen Augen funkelten amüsiert und sein silberblondes Haar leuchtete, während er leise lachte. »Natürlich, du machst nie etwas und weil du nie was machst, hat John mich äußerst genervt angerufen und ins Büro zitiert, obwohl ich gerade bei meinen Webern war.« Schicksal trat zu Scott herüber und es schien, als würde er über den Boden schweben. »Also, würdest du mir das bitte erklären?« Er hob Scotts Arme an und blickte auf die Fäden an seinen Handgelenken, dann blickte er zu Wolf und Jan, die sich amüsiert ein Video auf Jans Handy anschauten.
»Jan und ich sind seltsamerweise kollidiert, als der Pfeil durch ihn durchgeflogen ist«, Scott zog eine Grimasse, »und ist dann durch mich durch und nun ja … ich wurde mit den beiden gematcht?«
Schicksal ließ schweigend Scotts Arme los.
Scott nickte auf seine erhobenen Handgelenke. »Würdest du mich also bitte losschneiden? Ich bin gleich mit Modo und Happy verabredet.«
»Ich kann nicht.«
»Was?« Scott stockte. »Aber du bist Schicksal! Und ich habe schon gesehen, dass du Fäden getrennt hast!«
Das Leuchten von Schicksals Haar erstarb. Scott schluckte. Schicksal war fast immer fröhlich und leuchtete heller als viele andere Gottheiten. Sein Strahlen wurde nur schwächer, wenn er schlechte Nachrichten hatte.
»Aber keine so frischen.« Er berührte die Fäden an Scotts Handgelenken und diesmal erschauderten alle drei gleichzeitig. »Frisch geschaffene Fäden sind besonders empfindlich, und wenn ich die Verbindung zwischen dir und ihnen kappe, könnte es Auswirkungen auf ihre Verbindung haben. Das ist eine unvorhergesehene Situation, und selbst ich weiß nicht, was dann passiert.« Er verschränkte die Arme. »Ich kann dich also nicht freischneiden.«
Scotts Miene fiel in sich zusammen. »Was …? Aber bei der Hippie-Gemeinschaft ging es auch?«
»Das war eine Gruppe von Menschen, die nicht füreinander vorherbestimmt waren. Diese beiden schon. Ihr Band muss sich erst festigen. Du wirst also auf der Erde bleiben und warten müssen.«
»A-aber? Das heißt, ich kann nicht nach Hause kommen. Und was ist mit der Arbeit?«
»Ich finde einen anderen Amor, der deinen Bereich übernimmt, und du wirst erst mal in der Nähe der beiden bleiben. Es sollte reichen, wenn du dich in der gleichen Stadt aufhältst wie sie.« Schicksal legte ihm eine Hand auf die Schulter und lächelte väterlich. »Sieh es mal so – es ist fast, als wärst du ein Schutzengel, weil du ihr Band beschützt. Außerdem magst du die Menschen doch gerne. Ist es da wirklich schlimm, ein paar Tage hierbleiben zu müssen?«
Scott warf einen Blick zu Jan und Wolf, die sich noch immer lachend über das Handy beugten.
»Ich werde sicher einiges lernen«, sagte er leise. Trotzdem, nicht zurück nach Hause zu können, traf ihn schon. Obwohl er ein Außenseiter unter den Amoretten war, war es sein Zuhause.
»Keine Sorge. Es sind nur ein paar Tage Erdenzeit.« Schicksal drückte seine Schultern. »Ich werde Modo und Happy sagen, dass du verhindert bist. Wenn was ist, ruf einfach im Büro an. Joshua und John wissen Bescheid.« Schicksal hob mahnend den Zeigefinger. »Und Hände weg von den Fäden!«
Bevor Scott etwas sagen konnte, verschwand Schicksal. Ein weiterer Windstoß fegte über den Platz und wuschelte Scott durch das blonde Haar.
Scott lächelte. Schicksal hatte recht, er war nun ein Schutzengel der Fäden und es würde ja nur für ein paar Tage sein. Wäre doch ein Klacks, wenn er das nicht packen würde!
KAPITEL 2
Nachdem Jan und Wolf festgestellt hatten, dass sie beide in Oldenburg wohnten, traten sie gemeinsam mit den Kindern den Rückweg an. Scott folgte ihnen gezwungenermaßen und ließ sich im Zug auf den glücklicherweise freien Platz hinter ihnen fallen.
Es war nicht sein erstes Mal in einem Zug. Vor nicht allzu langer Zeit – vielleicht 90 Menschenjahre – hatte er auf einer Fahrt eine junge Frau mit einem äußerst adrett gekleideten Herrn verbunden. Ihr war das Taschentuch zu Boden gefallen und der Herr hatte es für sie aufgehoben. Dann waren sie beide von Amors Pfeil getroffen worden.
Seitdem hatten sich Züge stark verändert. Sie fuhren viel ruhiger und mehr Menschen saßen darin, die jedoch immer noch aufgeregt miteinander redeten. So auch Jan und Wolf, die weitere Gemeinsamkeiten fanden. Scott erfuhr, dass sie beide gerne Bücher lasen und jüngere Brüder hatten, aber der Altersunterschied zwischen Wolf und seinem Bruder war geringer als der zwischen Jan und seinem.
Scott wunderte sich, wie es war, einen Bruder zu haben, während er Jan und Wolf dabei zusah, wie sie sich um die Kinder kümmerten, die irgendwann während der Zugfahrt einschliefen.
Sie weckten sie behutsam, als der Zug im Hauptbahnhof einfuhr und sie sich mit den anderen Reisenden auf den Bahnsteig schoben.
»Du musst Scott sein.«
Überrascht blieb Scott auf dem Bahnsteig stehen. Ein großer Schutzengel stand vor ihm. Seine krausen Haare sprangen ihm um die Ohren. Goldene Verzierungen schmückten seine Augen und auf dem purpurnen Revers seines dreiteiligen Anzugs prangte ein goldenes Abzeichen.
»Oh, du hast aber einen hohen Rang!«, entfuhr es Scott.
Der Schutzengel grinste und seine dunkelbraunen Augen funkelten, sodass sie schwarz wirkten. »Richtig. Ich bin Rakiel und passe ab heute auf Jan und Wolf auf.« Er legte seine Hand auf das Revers und neigte den Kopf in Scotts Richtung. »Wir werden uns ab jetzt öfter sehen.«
»Freut mich sehr«, rief Scott. Er wäre also nicht die ganze Zeit allein! »Ich bin Scott.«
»Ich weiß«, antwortete Rakiel und wandte sich nach Jan und Wolf um, die mit den Jungen an den Händen die Treppe herunterstiegen. »Wir sollten nicht trödeln.«
Scott eilte Rakiel nach unten nach, wo Jan und Wolf stehen geblieben waren und sich mit einem zögerlichen Lächeln verabschiedeten. Jan und sein Bruder gingen zum Ausgang Süd, während Wolf und sein Nachhilfeschüler in die andere Richtung zum Busbahnhof liefen.
Unschlüssig schaute Scott von links nach rechts. Die roten Fäden an seinen Handgelenken ragten in beide Richtungen, aber er konnte sich schlecht zweiteilen.
Rakiel blickte auf eine Taschenuhr, die er aus seiner Weste gezogen hatte. »Schicksal hat mich gebeten, aufzupassen, dass nichts passiert. Der Radar zeigt nichts an und ich war ewig nicht mehr im Außeneinsatz.« Er grinste und die weißen Zähne blitzten auf.
Scott mochte Rakiel auf Anhieb.
»Was willst du machen?«
»Ich glaube, ich will Jan folgen. Er hat einen kleinen Bruder und ich liebe Kinder. Die machen immer lustige Sachen und manchmal spüren sie uns.« Sein breites Grinsen glich Rakiels.
Auf dem Vorplatz des Bahnhofes holten sie Jan ein, der sein Fahrradschloss zusammenklappte und es in eine Halterung am Fahrradrahmen steckte. Sein Bruder, Dennis, hatte sein Rad schon bereit.
Scott seufzte. »Och nö. Ich will jetzt nicht rennen müssen …«
»Kein Problem. Ich fliege uns.« Rakiel berührte Scotts Schulter und begann zu schweben.
»Holy …!« Für einen Moment hatte er reichlich Mühe damit, sein Gleichgewicht zu halten.
Rakiel dagegen hob mühelos vom Boden ab. Wahrscheinlich schwebte er überall hin.
Diese verdammten Schutzengel, dachte Scott, während sie den Fahrrädern durch die laue Sommernacht folgten. Wie konnte Rakiel nur so cool sein? Scott wäre auch gern in der Lage, einfach immer zu schweben, doch das war ein Privileg der Schutzengel, die zwar keine Flügel hatten, aber trotzdem manchmal pfeilschnell von oben herab stürzen mussten, um die Menschen zu retten, deren Zeit noch nicht gekommen war.
»Irgendwie habe ich immer gedacht, du wärst größer«, durchbrach Rakiel plötzlich die Stille zwischen ihnen, als sie an einer Ampel hinter Jan und Dennis warteten.
»Was soll das denn heißen?« Scott wandte ihm den Kopf zu, während Autos und Busse an ihnen vorbeirauschten. »Es kann ja nicht jeder so ein Gigant wie du sein.«
Rakiel schmunzelte. »Die Geschichten über dich sind einfach heftig. Für einen Amor bist du ziemlich berühmt. Das musst du doch wissen.«
Scott wippte leise kichernd auf den Füßen. So deutlich hatte ihm das noch kein göttliches Wesen gesagt. Die Ampel sprang auf Grün. Jan und Dennis radelten los, Rakiel und Scott schwebten wie von Zauberhand hinterher. Wie machte er das?
»Stimmt wohl.« Scott grinste breit. »Ich fand es zu langweilig, immer mit Pfeil und Bogen auf die Vorherbestimmten zu schießen. Euer Job ist viel cooler und ich habe mich davon etwas inspirieren lassen.«
»Passiert dir sowas wie heute öfter?«
Rakiel ließ sie an der nächsten Ampel anhalten und Scott blickte sich kurz um. Der Platz war gespickt von Cafés, in denen selbst zu dieser Uhrzeit viel los war.
»Nein, das ist das erste Mal. Ich wusste nicht, dass sowas möglich ist. Aber seit ich im Dienst bin, sind einige Dinge passiert, die es vorher noch nie gab. Ich habe mal eine ganze Hippie-Gemeinschaft miteinander verbunden.«
Rakiel brach in schallendes Gelächter aus und sie schwebten weiter hinter Jan und Dennis her, vorbei am Staatstheater, einem imposanten weißen Gebäude, wo sie rechts abbogen. Erst als Jan und Dennis ein paar Straßen weiter links abbogen, ebbte Rakiels Lachen endlich ab. »Das ist großartig.« Er wischte sich die Lachtränen aus den Augen. »Ich denke, mit dir wird es nicht langweilig werden.«
»Ich denke, mit dir auch nicht. Du hast bestimmt schon unzählige Leben gerettet. Ich will alles wissen! Was war das Coolste, was du jemals getan hast?«
»Immer ruhig. Wir haben noch viel Zeit.« Rakiel stoppte sie und nach einer weiteren Berührung an Scotts Schulter sank der Amor zu Boden.
Jan und Dennis schoben ihre Fahrräder in einen Schuppen, verriegelten ihn und nahmen energiegeladen die Treppenstufen zu ihrer Haustür hoch. Eine Frau mit den gleichen brünetten Haaren wie die beiden öffnete die Tür und zog sie in eine Umarmung. Ehe sie die Tür schloss, schlüpften Rakiel und Scott hinein.
»Na, wie war euer Ausflug?«, fragte sie, als alle in der Küche des Hauses angekommen waren. Auf dem Herd dampften zwei Töpfe und ein paar Kräuter standen auf der Fensterbank über der Spüle. In der Mitte der Küche stand ein runder gedeckter Tisch.
»Fragst du dich manchmal, wie die Welt riecht und wie es wäre zu schmecken?« Scott wandte sich zu Rakiel, der die Küche aufmerksam musterte. »Die Menschen verbringen so viel Zeit beim Essen.«
»Hm …« Rakiel schob ein Messer, das an der Kante der Arbeitsplatte lag, in Sicherheit. Glücklicherweise waren Schutzengel in der Lage, Gegenstände ausnahmslos anzufassen und zu bewegen.
»Eigentlich nicht. Für solche Gedanken habe ich keine Zeit. Ich frage mich eher, warum die Menschen immer in gefährliche Situationen geraten, die leicht vermeidbar wären. Es ist zwar besser geworden, seit sie selbst auf die Idee gekommen sind, Regeln aufzustellen, aber es gibt inzwischen so viele Menschen auf der Welt …«
»Oh, bekommt ihr denn auch keine neuen Schutzengel? Ich bin der letzte Amor, der jemals erschaffen wurde.« Scott stellte sich neben Rakiel. Gemeinsam sahen sie zu, wie die Mutter Suppe in die Schüsseln ihrer Söhne einfüllte und sie ermahnte, vorsichtig zu sein. Dabei trat ein zufriedenes Lächeln auf Rakiels Lippen.
»Der letzte Schutzengel, der erschaffen wurde … das ist jetzt knapp fünfzig Erdenjahre her.«
»Was?«, entfuhr es Scott. »Selbst die guten Feen haben seit zweihundert Jahren keine neue Fee mehr bekommen und bei uns Amoretten ist es schon fast dreihundert Jahre her!«
Rakiel legte den Kopf schief. »Nicht jeder Mensch hat einen roten Faden des Schicksals und nicht jeder Mensch braucht die Hilfe einer guten Fee. Aber jeder Mensch braucht mal einen Schutzengel.« Er zuckte die Schultern. »Ist doch klar.«
Scott biss sich auf die Unterlippe und unterdrückte ein Schnauben. Da war sie, die Arroganz der Schutzengel. Und trotzdem wollte er immer noch am liebsten selbst einer sein, aber das war unmöglich. Du bleibst das, als das du erschaffen wurdest, hallte Schicksals Stimme in seinem Kopf.
»Jan hat also auch einen neuen Freund gefunden?«, fragte die Mutter amüsiert und ihre linke Augenbraue hob sich. Jans Wangen wurden sofort feuerrot. Er schob sich schnell einen Löffel Suppe in den Mund.
Dennis nickte begeistert. »Ja, Wolf ist echt cool! Er gibt meinem neuen Freund Nachhilfe! Und er studiert, genau wie Jan.«
»Oh?«, machte sie und Jan schob sich hastig ein Stück Brot hinterher.
»Ist das so? Was studiert er denn?«
»Literatur«, nuschelte Jan um den Bissen herum und die Röte seiner Wangen breitete sich auf seine Ohren aus. Scott wunderte sich, wie es sich anfühlte, zu erröten.
»Du solltest ihn mal zum Essen einladen.« Jans Mutter grinste und er stöhnte leise.
»Ma, bitte!«
»Was denn?«
»Ich weiß doch noch nicht einmal, ob Wolf auch schwul ist …«, gab Jan kleinlaut von sich und ließ den Kopf sinken. Seine Mutter legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte sie.
»Das wirst du nur herausfinden, wenn du ihn wiedersiehst. Lauf nicht immer davon, Jan.« Ihr warmes Lächeln spiegelte sich auf seinem Gesicht und sie strich ihm das Haar aus der Stirn. »Sonst verpasst du womöglich die größte Chance deines Lebens.«
Nach dem Abendessen folgte Scott Jan nach oben, vorbei an einem dicken roten Kater, der auf der Treppe lag und müde den Kopf hob, sich dann aber blitzschnell aufrichtete und Scott durchdringend ansah.
»Fips, was ist denn los mit dir?«
Jan blieb stehen und tätschelte dem Kater den Kopf, der den Blick nicht von Scott abwandte.
»Katzen sind wirklich die einzigen Wesen, die uns immer bemerken.« Rakiel hockte sich hin und streckte Fips die Hand hin. Der Kater schnüffelte kurz und ließ sich dann entspannt nieder.
»Hat wohl eine Spinne gesehen«, murmelte Jan zu sich selbst und nahm dann zwei Stufen auf einmal. Er bog nach links in sein Zimmer ab und die Tür knallte ins Schloss. Von unten schallte ein verärgertes »JAN!« hoch und das Lachen seines Bruders, der danach die Treppe hochlief, Fips zweimal mit der Hand übers Fell fuhr und in das Zimmer neben Jans verschwand. Er lief dabei einfach durch Rakiel.
»Ich hasse es, wenn das passiert.« Scott kraulte den Kater zwischen den Ohren, während Rakiel sich wieder materialisierte.
»Ich auch. Wenn ich es freiwillig mache, um durch Türen zu gehen, okay. Aber wenn man einfach durch mich hindurchläuft, kann ich das nicht leiden.« Rakiel zog sich den Anzug glatt.
»Was glaubst du, wie erschrocken ich war, als ich mit Jan auf dem Spielplatz kollidiert bin? Das ist mir noch nie passiert!« Scott richtete sich auf und blickte an Rakiels Anzug hinab. »Ist das nicht furchtbar unbequem?«
Rakiel musterte ihn seinerseits. »Du hast einen interessanten Stil. Tragen die meisten Amoretten nicht auch Anzüge wie wir?«
Scott verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Jap. Die sind alle in den 1930ern stehen geblieben.« Er war mit der Zeit gegangen und trug eine lockere schwarze Trainingshose und einen weiten Kapuzenpullover, dessen obere Hälfte gelb und untere weiß war. »Schicksal hatte eine Phase, in der er ausschließlich Anzüge trug. Haben natürlich alle nachgemacht. Ich auch, aber das passte nicht zu mir. Schicksals Arbeitszimmer ist immer noch im Stil der Dreißiger eingerichtet. Die Klamotten hier hat mir mein Freund Modo gezaubert. Er macht mir immer neue, wenn ich will.« Scott breitete die Arme aus und drehte sich einmal um sich selbst, sichtbar stolz auf Modo. »Er freut sich riesig darüber. Er sagt, seine Talente sind sonst verschwendet. Die meisten guten Feen tragen bunte Roben, denn wenn Kinder sie sehen, verstehen sie besser, wer sie sind, weil die Menschen doch diese Filme für Kinder haben, in denen gute Feen vorkommen.«
Rakiel starrte ihn einen Moment lang an, dann wandte er sich ab und schwebte die Treppe hoch. »Ich habe … ungefähr nichts von dem verstanden, was du gesagt hast.«
»Betreibt ihr keine Menschenstudien?«
»Doch, aber das ist für mich beinahe zehntausend Erdenjahre her.« Rakiel stoppte vor Jans Tür, dematerialisierte sich und schwebte hindurch. Scott beeilte sich, ihm zu folgen.
Jans Zimmer war klein und vollgestellt. Rechts neben der Tür stand ein Schreibtisch, auf dem sich neben einem Laptop ein paar Chemiebücher türmten, sowie zwei Tassen, die schon länger darauf warteten, weggebracht zu werden. Gegenüber lag Jan bäuchlings auf dem zerwühlten Bett. Am Fußende stand ein Fernseher, auf dem Jan irgendwas spielte, das Scott noch nicht kannte. Er wusste aber, dass das Klacken aus Jans Händen von etwas kam, das man Controller nannte.
Rakiel rümpfte die Nase beim Anblick der Socken, die auf dem Boden verteilt lagen, und nahm auf dem Drehstuhl vorm Schreibtisch Platz.
»Zehntausend Menschenjahre?«, wiederholte Scott, der sich im Schneidersitz auf dem Boden niederließ und Jan bei seinem Spiel zuschaute. Die Spielfigur lief durch einen gruseligen Wald und schlug mit einem Schwert auf andere Figuren ein, dabei war Jans Gesicht konzentriert verzogen. Seine Zungenspitze lugte zwischen seinen Lippen hervor, über denen er einen Leberfleck hatte. Scott fiel auch auf, dass Jan einen Ohrring im linken Ohr trug. Es war ein unauffälliger goldener Stecker, der zuvor von seinen längeren Haaren verdeckt gewesen war.
»Das heißt, du existierst schon so lange, dass du den Streik der Göttinnen mitbekommen hast?« Scott zwang seinen Blick von Jan und richtete ihn auf Rakiel, der die Arme verschränkt hatte.
»Genau. Das war vor beinahe dreitausend Jahren und seitdem hat sich das System stark gewandelt. Die Göttinnen leben, wo auch immer es ihnen gefällt, und genießen dort ihre freie Zeit. In eintausend Erdenjahren sollten sie zurück in den Äther kommen und ihre Aufgaben wieder übernehmen.«
»Deswegen war es so schwer, an das Haar der Aphrodite zu kommen …«, murmelte Scott.
»Aphrodites Haar?« Rakiel legte den Kopf schief. Er erinnerte Scott dabei an einen großen Hund.
»Ich hab die Sehne meines Bogens dreimal kaputt gemacht und dann ist Schicksal los und hat mir eine Sehne aus dem Haar der Aphrodite besorgt.« Scott kratzte sich verlegen am Hinterkopf. »Ich wusste nicht, dass es schwer werden würde. Danach habe ich mir eine lange Standpauke von John anhören müssen. John ist Schicksals bester Freund und er hat gesagt, dass es Schicksal ganz schön Mühen gekostet hat. Wenn ich die Sehne kaputt mache, werde ich den Höllenhunden zum Fraß vorgeworfen.«
»Du weißt, dass er das nicht machen könnte?«
»Ich traue John alles zu.« Scott schüttelte sich unangenehm. Jans Handy vibrierte auf dem Bett und er hielt sein Spiel an. Seine Mundwinkel zuckten nach oben und sein Gesicht hellte sich auf, als er das Gerät in die Hand nahm.
»Dennis!« Er schoss in die Höhe, riss die Tür auf und stolperte aus dem Zimmer.
Scott eilte ihm zu Dennis nach. Er wollte keine Sekunde verpassen.
»Was ist denn?«
»Wolf hat mir geschrieben!«
Von unten erklang der freudige Jubel ihrer Mutter. »Lad ihn zum Essen ein!«
Dennis nickte begeistert. »Lad ihn ein, Jan! Komm schon!
Ein Kribbeln an seinem Handgelenk ließ Scott nach unten schauen. Der rote Faden pulsierte schwach. Komm schon,lad ihn ein, dachte Scott und stellte sich vor, wie er den Gedanken durch den Faden an Jan schickte.
Jan rieb sich das Handgelenk, bevor er auf seinem Handy tippte. Einen Augenblick später vibrierte es wieder und Jan stieß einen Freudenlaut aus. »Er hat Ja gesagt!«
Dennis jubelte und gab seinem Bruder eine Brofist, während ihre Mutter die Treppe hoch eilte, um ihren Ältesten zu umarmen.
»Frag ihn, was er gerne mag! Natürlich werde ich dir helfen, aber du wirst kochen. Hau ihn mit deinen Fähigkeiten um.« Lachend fuhr sie ihm durch das Haar. Dann blickte sie an ihm vorbei in sein Zimmer. »Und du solltest aufräumen, bevor Wolf kommt. So kannst du ihn nicht beeindrucken.«
»Mama!«
Rakiel stieß erleichtert den Atem aus. »Vielleicht sollte ich schauen, ob das Zimmer von Wolf sauberer ist. Dann verbringe ich meine Zeit lieber dort.«
»Ich weiß gar nicht, was du hast. Hier ist es doch interessant!« Scott lachte, als Jan und Dennis in das Zimmer kamen, er gab seinem Bruder einen Controller und sie begannen zusammen zu spielen.
Scott stellte sich vor, gemeinsam mit ihnen zu spielen.
Irgendwann in der Nacht wanderte Rakiel auf der Suche nach Gefahren durch das Haus. Scott blieb bei Jan im Zimmer.
Jan hatte noch lange mit Dennis gespielt, bis ihre Mutter sie an dessen Bettzeit erinnerte. Der Junge war widerwillig gegangen und Jan hatte ihm versprochen, morgen nochmal mit ihm zu spielen, immerhin wäre Sonntag. Warum der Tag wichtig war, wusste Scott allerdings nicht mehr.
Jan hatte danach lange geduscht, sich noch an seinen Schreibtisch gesetzt und war irgendwann ins Bett gegangen. Scott hatte nicht verstanden, was er da am Schreibtisch machte, aber die Kreise, die er aufs Papier malte, und die Pfeile dazwischen, waren interessant. Aber wozu hatte er so oft H, C und O irgendwo hingeschrieben?
Das war wohl ein Rätsel, das Scott noch lüften musste.
Amoretten und Schutzengel mussten sich nicht erholen, darum war es recht langweilig, während die Menschen schliefen.
Scott brach nach einer Weile auf, den Kater der Familie zu suchen und ihn zu streicheln. Katzen waren die einzigen Wesen, die sie immer sahen und die sie auch berühren konnten. Manche Hunde nahmen sie auch wahr, aber das war eher selten. Gelegentlich wurden sie von Kleinkindern gesehen. Eigentlich sollten sie lediglich gute Feen sehen können und auch nur, wenn sie es wollten. Manchmal waren Kleinkinder auch empfindlich für andere göttliche Wesen.
Scott hockte gelangweilt neben Jans Bett, als dessen Mutter kam und ihn weckte. »Steh auf, sonst kannst du heute Abend wieder nicht schlafen und ich erinnere mich an jemanden, der sagte: ‚Die Vorlesung am Montag um acht, die ist schon nicht so schlimm!’ und sie seitdem verflucht.«
»Maaaa«, stöhnte Jan genervt, »Ich bin dreiundzwanzig, keine zwölf.«
»Und trotzdem bist du mein Sohn und solange du unter meinem Dach …« Sie lachte, während Jan sein Gesicht im Kissen vergrub. Er nuschelte hinein. Es klang verdächtig nach einem weiteren »Maaaa!«.
Deine Mutter ist cool, dachte Scott und stellte sich erneut vor, wie er den Gedanken über den Faden an Jan schickte.
Jan setzte sich auf und rieb sich sein Handgelenk.
»Alles okay? Hast du dich gestern auch an der Hand verletzt?« Seine Mutter beugte sich besorgt zu ihm, aber Jan schüttelte den Kopf.
»Nein, es juckt nur seit gestern manchmal.«
»Trag etwas Salbe auf, dann wird das schon. Wie geht es deinem Fuß?«
Jan zog die Decke zurück und stellte die Füße auf den Boden, Wolfs Stützverband war noch immer fest um das Gelenk gewickelt, und er stand vorsichtig auf. »Weniger schmerzhaft als gestern. Ist wohl echt nur verstaucht.«
Seine Mutter atmete erleichtert aus. »Gut, lass es langsam angehen heute. Frühstück ist übrigens fertig.« Sie verließ sein Zimmer und Scott stand auf.
Wenn er ein Mensch gewesen wäre, hätten seine Beine nach dem langen Sitzen taub sein müssen, doch solche Probleme hatte er nicht. Jan machte sich nicht die Mühe, sich umzuziehen, bevor er zum Frühstück runterging, und Scott folgte ihm.
Jan schlurfte mit nackten Füßen über den Boden, gähnte herzhaft und goss sich einen Kaffee ein.
Amüsiert beobachtete Scott, wie er sich dreimal die wild abstehenden Haare aus dem Gesicht strich, und sie ihm sofort wieder vor die Augen fielen. Seufzend gab Jan auf und nahm lieber einen Schluck seines Kaffees.
Rakiel tauchte aus der Wand neben der Küche auf. »Ich will mir Wolfs Haus anschauen. Möchtest du mitkommen?«
»Unbedingt! Ich bin neugierig.«
Scott und Rakiel nickten sich begeistert zu. Sie durchdrangen die Eingangstür und Rakiel ließ Scott schweben, schaute etwas auf seiner Taschenuhr nach und schon sausten sie durch die Luft. Der Wind fuhr Scott durch das Haar und er jauchzte begeistert.
»Rakiel, das ist der Hammer!«, jubelte er, während sie wie ein Windstoß durch die Straßen fegten.
»Ich war schon lange nicht mehr im Außendienst. Das möchte ich auskosten!« Rakiel beschleunigte sie und ein weiteres Lachen brach aus Scott hervor.
Bei der Geschwindigkeit dauerte es nicht lange, bis sie vor einem gut gepflegten Haus hielten. Der Faden an Scotts Handgelenk, der ihn mit Wolf verband, verlief aufwärts in Richtung eines Balkons. Scott deutete darauf, und Rakiel ließ sie hinaufschweben. Dort löste er die Wirkung auf und Scott plumpste auf den Po.
»He!« Er klopfte sich den Staub vom Hosenboden, während Rakiels Mund ein Lächeln umspielte.
Durch das Fenster sah Scott ein kleines Zimmer, in dem ein ordentlich gemachtes Bett stand, das überladene Bücherregale umrahmten. Ein winziger Schreibtisch quetschte sich zwischen Regal und Bett, ein Laptop lag darauf.
Sie tauchten durch die kalte Fensterscheibe in das Zimmer und Scott musste sich erst mal schütteln. Er empfand keine Temperaturen, doch bei Glas war das anders. Das fühlte er jedes Mal. Die anderen Amoretten lachten darüber und nannten ihn eine Frostbeule, denn keiner von ihnen hatte jemals Temperaturen gespürt. Rakiel schien auch keine Temperaturen zu fühlen, er war völlig unbeeindruckt schon dabei, das Zimmer auf Gefahren zu untersuchen.
Rakiel trat an ein Regal, fasste hindurch und seufzte glücklich. »Sie sind an der Wand verschraubt. Weißt du, wie wenige Menschen ihre Regale festmachen? Und es ist schön ordentlich hier!«
»Aber wo ist Wolf?«, fragte Scott, als die Tür auch schon aufging und der junge Mann hereinkam. Seine schwarzen Locken fielen ihm wild um den Kopf, und die kreisrunde Brille saß tief auf seiner Nase. In der Hand hielt er eine dampfende Tasse. Scott vermutete, dass es Kaffee war. Die meisten Erwachsenen tranken literweise davon. Wie oft hatte er schon Paare in einem Café verbunden? Er hatte irgendwann aufgehört zu zählen.
Scott war so in Gedanken versunken, dass Rakiel ihn aus dem Weg riss, damit Wolf nicht in ihn hineinlief. Er wäre zwar einfach durch ihn gelaufen, aber noch wussten sie nicht, wie sich ihre Verbundenheit äußerte. Scott sagte leise »Danke« und löste sich von Rakiel.
Wolf stellte die Tasse ab und setzte sich an den Schreibtisch. Er klappte den Laptop auf und Scott war ganz fasziniert, als Wolfs Gesicht erleuchtet wurde. Seine grauen Augen folgten konzentriert dem Text auf dem Bildschirm und seine schlanken Finger schrieben auf einem Block ab und an ein paar Notizen nieder.
Rakiel untersuchte die anderen Bücherregale, während Scott Wolf zuschaute. Immer wieder schob er sich diese eine Locke hinters Ohr. Wie fühlten sich seine Haare wohl an? Seit Scott gestern gesehen hatte, wie Jans Mutter ihrem Sohn durch die Haare strich, stellte er sich diese Frage. Sie hatten beide so zufrieden ausgesehen. Er hatte seit einhundert Jahren niemand anderes als Schicksal durch das Haar gestrichen. Weil Schicksal eine Gottheit war, fühlte sich jede Berührung wie ein Windhauch an.
»Rakiel?«
Der Schutzengel brummte leise. Inzwischen war er beim letzten Regal angekommen.
»Spürst du etwas, wenn man über dein Haar streicht?«
»Bitte?« Rakiel zog seine Hände aus dem Regal zurück und sah Scott an, als wäre ihm ein drittes Auge gewachsen. »Wie kommst du denn darauf?«
»Neugier. Menschen machen das oft. Ich frage mich, warum.« Scott schürzte die Lippen.
»Menschen machen viele Dinge, die ich nicht verstehe. Ich weiß nicht, ob ich etwas spüre. Mir ist noch nie über das Haar gestrichen worden.«
»Darf ich es machen?«
»Scott, ich bin der zweithöchste Schutzengel!«
»Na und?« Scott kam näher. »Hier ist niemand, der dich sieht. Außerdem gibt es keine Regel in unserem Reich, dass man andere nicht berühren darf.«
Rakiel überlegte einen Moment, dann nickte er. »Okay, du darfst.« Er beugte sich vor, damit Scott besser an seinen Kopf kam.
Der Amor hob die Hand und fuhr mit ihr langsam über Rakiels krauses Haar. »Was für eine interessante Struktur«, flüsterte er ehrfürchtig und tätschelte das Haar sanft. »Spürst du etwas?«
»Nur, dass eine Hand an meinem Kopf ist.«
»Hm«, murmelte Scott und zog seine Hand zurück. »Danke, Rakiel.«
»Keine Ursache.« Rakiel richtete sich auf und widmete sich erneut dem Bücherregal. Scott blickte auf seine Hand hinab, mit der er nicht viel außer der Haarstruktur gespürt hatte.
Ich würde so gerne durch dein Haar streicheln, dachte Scott und sah zu Wolf herüber, der kurz innehielt und sich dann selbst durch die seidigen Locken fuhr. Ein Kribbeln breitete sich in Scotts Hand aus, der Faden an seinem Handgelenk zitterte.
Auf dem Schreibtisch vibrierte das Handy und Wolf zog es heran. Ein kleines Lächeln trat auf seine schmalen Lippen. Das rote Band an Wolfs Handgelenk pulsierte.
Scott schlich näher zu Wolf und lugte über seine Schulter. Ein Schauder durchfuhr Wolf und er schaute sich im Zimmer um, schüttelte dann aber den Kopf und blickte auf sein Handy.
Jan, 12:34
Meine Mutter fragt, ob du heute schon zum Abendessen kommen möchtest. Sie ist ganz versessen darauf, dir zu danken, dass du mich so ritterlich gerettet hast.
Wolf, 12:35
Nur sie? *zwinkerndes Emoji*
Jan, 12:36
Vielleicht möchte ich dir auch danken *kusswerfendes Emoji*
Wolf, 12:37
Ich komme gerne vorbei.
Ich freue mich auf dich.
KAPITEL 3
Guten Tag, Frau Baumgartner. Vielen Dank für die Einladung.« Wolf lächelte charmant, und während Jans Mutter glucksend abwinkte, schoben Rakiel und Scott sich an den beiden vorbei ins Haus.
»Bitte. Hannah reicht völlig aus. Komm herein, Wolf. Meine Jungs sind in der Küche.«
»Vielen Dank.« Wolf trat in das Haus und hob die Tupperschüssel, die er in der Hand hielt, etwas höher. »Ich habe Dessert mitgebracht. Ich hoffe, Mousse au Chocolat ist in Ordnung?«
»Wolf, Dessert ist mehr als in Ordnung. Meine Familie besteht aus Naschkatzen.« Sie führte ihn in die Küche, wo Dennis den Tisch deckte und Jan am Herd stand. Er tippelte von einem Fuß auf den anderen, doch sobald er Wolf hörte, straffte er die Schultern und wandte sich mit einem kleinen Grinsen um. »Hey.«
»Hey.« Auf Wolfs Lippen tauchte dasselbe kleine Lächeln auf wie am Mittag, als Jans Nachricht gekommen war.
Kurz zitterten die Bänder an Scotts Handgelenken.
Dennis rollte mit den Augen, während Hannah ebenfalls ein bisschen lächelte. »Ich nehme dir mal den Nachtisch ab.«
Bei diesen Worten spitzten sich Dennis Ohren. »Nachtisch?«
»Ja, den es nach dem Abendessen gibt«, betonte Hannah.
Dennis zog eine enttäuschte Schnute.
»Wolf war so lieb und hat Mousse au Chocolat gemacht.« Sie öffnete den Kühlschrank und stellte die Schüssel hinein.
»O mein Gott. Du bist der Beste, Wolf!« Dennis vergaß, eine Schnute zu ziehen, und führte einen Freudentanz auf, der alle in der Küche leise lachen ließ.
Menschenkinder haben wirklich viel Energie, dachte Scott, der mit Rakiel bei der Tür stehen geblieben war.
Jan wandte sich dem Herd zu. »Das Essen ist auch gleich so weit. Setz dich ruhig schon, Wolf.«
»Gibt es noch etwas, bei dem ich helfen kann?«
»Nein, nein. Setz dich. Du bist heute unser Gast.« Hannah deutete auf einen Stuhl am Tisch. »Immerhin hast du meinem Jan gestern so gut geholfen.«
Scott sah, wie Jans Ohren langsam rot wurden und er leicht grinste. So wie Wolf, der sich an den Tisch setzte. Dennis setzte sich ebenfalls und Hannah nahm neben ihrem Gast Platz. »Ich habe gehört, du studierst Literatur? Kommst du hier aus Oldenburg?«
»Ich bin jetzt im vierten Semester«, antwortete Wolf und goss sich Wasser aus der Karaffe auf dem Tisch ein. Er hob sie in Hannahs Richtung, sie schob ihm ihr Glas hin. »Eigentlich komme ich aus der Nähe von Frankfurt am Main.«
»Es war sicher schwer, soweit von deiner Familie wegzuziehen?«
Wolfs Lächeln verschwand. »Es war besser so.«
Scott zuckte zusammen. Selbst er merkte, dass die Stimmung plötzlich kippte. Sogar Rakiel war die Härte in Wolfs Stimme unangenehm und er verschwand aus der Küche.
Jan warf seiner Mutter einen entsetzten Blick zu, bevor er den Herd abdrehte und den großen Topf Chili sin Carne auf den Tisch stellte. »Das Essen ist fertig.« Jan streckte die Hand Wolf entgegen. »Deinen Teller bitte.«
Nacheinander befüllte Jan alle Teller und Scott fragte sich, wie es wohl riechen und schmecken mochte.
Das Essen rettete schnell die Stimmung. Wolf nahm den ersten Bissen und seine Augen weiteten sich überrascht. »Wow! Das schmeckt fantastisch!«
»Das freut mich.« Jan lächelte schmal, aber glücklich.
»Ich kann nur Desserts besonders gut. Ansonsten sind meine Kochkünste eher bescheiden.« Wolf dippte etwas Brot ins Chili.
»Ich helfe einfach schon lange in der Küche.« Jan winkte ab.
»Er ist mir eine große Hilfe. Manche Gerichte kann er besser kochen als ich.« Hannah sah Jan stolz an. »Ich habe ziemlich Glück mit meinen beiden Jungs.« Sie wuschelte Dennis neben ihr durch das Haar.
Sie tut es schon wieder, dachte Scott.
Nachdem sich alle an dem Chili satt gegessen hatten, unterhielten sich Jan und Wolf vor allem über die Uni und Dennis und Hannah räumten den Tisch ab, bis sie den Nachtisch holte.
»Okay, Wolf«, sagte sie ernst nach dem ersten Löffel der Mousse au Chocolat. »Du musst jetzt leider jeden Sonntag vorbeikommen und das hier mitbringen.«
Wolf lachte und linste zu Jan. »Ich würde mich freuen, wenn ich öfter vorbeikommen darf.«
Hannah lächelte warm. »Du bist jederzeit willkommen.«
Das Essen endete mit einem restlos verputzten Dessert. Danach führte Jan Wolf in sein Zimmer. Im Gegensatz zu gestern war es aufgeräumt und Scott fand Rakiel zufrieden am Schreibtisch sitzend.
»Viel besser«, raunte er Scott zu, der sich neben ihn auf den Schreibtisch setzte.
Jan schloss die Tür. »Ich hoffe, meine Ma war dir nicht unangenehm. Sie hat dich ziemlich ausgefragt.«
»Im Gegenteil. Hannah ist wunderbar. Du hast großes Glück mit so einer tollen Mutter.« Wolfs Lächeln verschwand und der ernste Gesichtsausdruck von vorhin tauchte wieder auf. Als wollte er nicht über das Thema sprechen, wandte Wolf sich Jans Bücherregal zu. »Du hast nicht übertrieben, als du sagtest, du liest gerne.«
Das Regal platzte förmlich aus allen Nähten. Bücher standen in zweiter Reihe und darauf lagen noch mehr Bücher, selbst vor dem Regal stapelten sie sich.
Jan kratzte sich verlegen an der Nase. »Ich würde gerne noch mehr lesen, aber gerade wälze ich vor allem Bücher über Chemie, damit ich in Organik nicht zurückfalle.«
»Es ist wichtig, die Balance zu finden. Ich lese auch nicht nur die Klassiker, die wir in den Vorlesungen behandeln.« Wolf zog ein Buch hervor. Das wandelnde Schloss stand auf dem Einband. »Oh, ich habe den Ghibli-Film gesehen, aber nicht das Buch gelesen.«
Jan entglitten sämtliche Gesichtszüge. »O mein Gott! Was? Ich leih es dir aus. Du musst es lesen. Es ist so gut!«
»Danke. Ich bringe es dir auch bald zurück.« Ein kleines Lächeln umspielte Wolfs Lippen und Scott fuhr zusammen, als sich die Fäden um seine Handgelenke plötzlich erwärmten.
Jans Wangen wurden einen Hauch rosa. »Ähm … willst du zocken oder so?«
»Sehr gerne.«
Scotts Gelenke fühlten sich noch eine ganze Weile angenehm warm an. Selbst als Wolf sich verabschiedete und den Weg nach Hause antrat.
Rakiel entschied sich, Wolf zu begleiten, denn es war mittlerweile dunkel. Scott wollte lieber bei Jan bleiben. Er folgte ihm erst zurück ins Haus, als er Wolfs Rücken nicht mehr sah.
»Er ist großartig.« Hannah wartete in der Küche auf Jan. »Heiße Schokolade?«
»Ma, ich bin dreiundzwanzig …!«
»Man ist niemals zu alt für heiße Schokolade. Ich mache dir eine, keine Widerrede.« Hannah füllte Milch in einen Topf und stellte sie auf den Herd. »Ich mag Wolf.«
»Ich auch«, gestand Jan leise und Scott klatschte begeistert in die Hände. Er freute sich, dass sich die Verbindung zwischen den beiden festigte.
Einen Moment blieb es still zwischen Mutter und Sohn. Hannah rührte das Kakaopulver unter, ließ die Milch aufkochen und goss sie dann in zwei Tassen. Sie stellte Jan eine hin und nahm ihm gegenüber Platz.
Die beiden legten ihre Hände um ihre heiße Schokolade und Scott wünschte sich ebenfalls eine Tasse. Es sah gemütlich aus, wie sie dasaßen.
Es dauerte einen Moment, bis Hannah das angenehme Schweigen brach. »Papa hätte ihn auch gemocht.«
Jan hob den Blick und ein blasses Lächeln huschte über seine Züge. »Danke, Ma.«
Sie nahm einen Schluck. »Ich habe ein gutes Gefühl bei euch beiden. Fast wie damals, als ich Papa kennengelernt habe.«
Ihr Blick wanderte aus dem Küchenfenster und der Ausdruck in ihren Augen wurde sehnsüchtig. Ihre Hände lösten sich von der Tasse und sie griff nach ihrem linken, nackten Ringfinger.
»Ich habe mich noch nie so gefühlt«, gestand Jan. »Ich kenne ihn erst seit Kurzem und er ist eben erst weg, aber ich möchte ihn am liebsten sofort anrufen und wiedersehen. Das hatte ich mit meinem Ex nicht.«
Hannahs Gesicht leuchtete auf. »Dann ist er ein ganz besonderer Mensch für dich. Es kann kein Zufall sein, dass du ihm regelrecht vor die Füße gefallen bist.« Kichernd nahm sie noch einen Schluck, dann sah sie ihn ernst an. »Ich weiß, ich bin deine Mutter, aber wenn du reden willst, habe ich immer ein offenes Ohr für dich.«
»Ich weiß, Ma. Danke.« Jan leerte seine Tasse und stand auf. »Ich weiß das sehr zu schätzen.« Er hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und nahm ihre leere Tasse, stellte sie in die Spülmaschine und wünschte ihr eine gute Nacht. Fips, der neben der Tür gelegen hatte, folgte Jan nach oben.
Scott blieb sitzen und beobachtete Hannah, die gedankenverloren aus dem Fenster schaute. Schicksal hatte ihm einst erzählt, dass der Verlust der Person, die am anderen Ende eines Fadens war, tiefe Wunden schlug und Menschen bis an das Ende ihres Lebens begleitete. Selbst wenn sie sich erneut verliebten, war der rote Faden des Schicksals einmalig.
Scott streckte sich über den Tisch und tätschelte Hannah den Kopf. Ihr Haar war weich.
»Was war das?« Sie blinzelte überrascht und strich sich durch ihre Strähnen.
Scott starrte auf seine Hand.
Hannah hätte nichts spüren dürfen, er konnte Menschen nicht berühren.
Was geschah mit ihm?
KAPITEL 4
Wow, dachte Scott, das ist also ein typischer Montagmorgen. Er hatte in einer Ecke der Küche Zuflucht gesucht, während um ihn herum geschäftiges Treiben herrschte. Nach dem Aufstehen waren die drei Menschen bereits unendlich viel durch die Gegend gelaufen. Ins Bad, zurück in ihre Schlafzimmer, nochmal ins Bad, in die Küche zum Frühstück, wieder in ihre Zimmer und dann nochmal in die Küche. Scott verstand das nicht, aber er folgte ihnen, als alle ihre Taschen schulterten und fast gleichzeitig die Wohnung verließen, aber nicht, ohne sich noch einmal zu umarmen.
Scott tat es gut, mal wieder rauszukommen. Jan nahm das Fahrrad zur Uni, und Rakiel war noch nicht zurück, also entschied Scott, einfach hinter ihm her zu joggen.
Als erfahrener Stunt-Amor™ brauchte er seinen Ausgleich.
Er verlor Jan rasch aus den Augen, doch es war nicht schwierig, die Uni zu finden. Immerhin war sie gut ausgeschildert und die Fäden an seinen Handgelenken zeigten ihm den Weg.