Chaosmage - Stephen Aryan - E-Book

Chaosmage E-Book

Stephen Aryan

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Beschreibung

Einst war die Stadt Voechenka für ihre Musik, Kunst und Schönheit bekannt, aber nun ist sie verwüstet und trostlos. Die einstige Metropole steht unter Belagerung, und manche sagen, sie sei verflucht. Der Krieg des irren Königs Taikon und seines dunklen Hexenmeisters ist zwar vorüber, doch nicht alle Kriegsopfer sind so tot, wie man geglaubt hat ... In jeder Nacht seit dem Ende des Krieges greifen ruhelose Untote Voechenka an und locken die Lebenden in ihre Welt jenseits der Gräber. Die junge Friedenswächterin Tammy, die Verräterin Zannah und der Kriegsmagier Balfruss müssen sich zusammentun, um gegen die Untoten zu kämpfen. Können sie Voechenka vor einem grausamen Schicksal bewahren?

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Übersetzung aus dem Englischen von Andreas Decker

ISBN 978-3-492-99075-2

© Stephen Aryan 2016

Titel der englischen Originalausgabe:

»Chaosmage« bei Orbit, Little, Brown Book Group, London 2016

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2018

Covergestaltung und -motiv: www.buerosued.de

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.

Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Für Chris

Inhalt

Cover & Impressum

Motto

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Danksagung

Kapitel 1

Zannah stieg die siebenundzwanzig Stufen bis zu ihrem Posten hinauf. Der tote Mann wartete bereits unten auf der Straße.

»Zannah, komm runter!«

Bis Mitternacht waren es noch zwei Stunden, und der pechschwarze Himmel schien erdrückend auf ihr zu lasten. Weit entfernt lockerte das Licht einiger Sterne im Osten die ansonsten grenzenlose Leere über ihr auf.

Früher einmal war Voechenka als Stadt der Musik, Kunst und Schönheit berühmt gewesen, inzwischen aber war sie zu einer trostlosen Landschaft verkommen. Eingehüllt in eine grimmige Stille erstreckten sich ihre Ausläufer in alle Richtungen. Die Trostlosigkeit der zerstörten Gebäude und Straßen blieb aus dieser Sicht größtenteils verborgen, aber hier und da flackerten doch ein paar Talgkerzen in den leeren Fenstern. Dichte Schatten klammerten sich an das skeletthafte Gebälk einst imposanter Bauten und verbargen eine Vielzahl von Sünden.

An mehreren Stellen der Stadt brannten Fackeln. Der Windhauch, der vom See herüberwehte, ließ ihre Flammen zwar tanzen, aber sie konnten kaum die Schrecken verjagen, die nachts in der Stadt lauerten. Und über mehr verfügten die Bewohner auch nicht. Zwei ähnliche Fackeln steckten unterhalb von Zannah in der Mauer, jeweils an einer Seite des schiefen Tors. Auf dem Hof blockierte ein stabiler, mit schweren Felsbrocken beladener Karren den Eingang zu ihrer Fluchtburg. Doch er war nicht mehr als eine Illusion, die Sicherheit vorgaukeln und die Furcht unter Kontrolle halten sollte. Ob die Kinder noch immer glaubten, in Sicherheit zu sein, nachdem sie hatten mitansehen müssen, wie einige ihrer Freunde in Stücke gerissen wurden?

Zannah betrachtete die Fackeln nicht lange. Den Blick vom Licht abzuwenden bewahrte ihre Nachtsicht. Als Morrin konnte sie in der Dunkelheit beinahe so gut sehen wie am Tag. Bevor sie nach Shael gekommen war, in diese Stadt mit ihren Schrecken, die den meisten verborgen blieben, hatte sie ihr Sehvermögen noch als einen Segen betrachtet. Diese entsetzlichen Dinge aber jetzt erblicken zu müssen, war zu einem Teil ihrer Buße geworden, nämlich zu einer weiteren Last, die man stoisch tragen musste, und über die man sich auf keinen Fall je beklagen durfte. So hätte Zannah auch niemals jemandem all das erzählt, was sie während der langen Nachtstunden auf ihrem Posten zu Gesicht bekam: die Geister, die Verlorenen und die hochgewachsene Frau, die immer in den Schatten stand.

Das alles würgte Zannah wie eine der Mahlzeiten in dieser verfluchten Stadt einfach herunter. Das Essen sollte ihren Körper am Leben erhalten, und die Albträume sorgten dafür, dass ihre Aufmerksamkeit niemals erlahmte. Sie dienten einem Zweck. Außerdem erinnerten sie Zannah an die Rolle, die sie dabei gespielt hatte, das Volk von Shael an den Rand der Vernichtung zu bringen.

»Komm runter, Zannah!«, rief Roake.

»Ist er schon wieder da?« Müde stieg Alyssa die Stufen hinauf. Sie lehnte sich gegen die Brüstung und spähte auf die Straße hinunter. »Wird er es denn niemals leid?«

»Nein. Niemals.«

Alyssa starrte auf die Stadt ihrer Geburt, und Zannah musterte ihr Profil. Blonde Haarbüschel wuchsen auf einem Schädel voller schwindender Blutergüsse und alter dunkelroter Narben. Früher einmal war diese Frau wegen ihres langen blonden Haars von vielen beneidet worden, aber das war inzwischen schon Jahre her. Ihre goldene Haut hatte den größten Teil ihres Glanzes verloren, und auch wenn sie so dünn wie ein Besen war, die eingefallenen Wangen lenkten doch nicht von dem wunderschönen Gesicht und den auffälligen grünen Augen ab.

»Du starrst schon wieder.«

»Tut mir leid.« Zannah wandte sich ab. »Bist du Dichterin gewesen?«

Alyssas herzliches Lachen passte nicht zu ihrem ausgemergelten Körper. »Nein, das nicht. Aber diese Vermutung kommt der Wahrheit näher als die anderen.«

Dieses Spiel spielten sie jede Nacht. Alyssa erlaubte Zannah einen einzigen Rateversuch, um herauszubekommen, was sie vor dem Krieg gemacht hatte. Vor vier Jahren war ihr Leben nämlich noch ein ganz anderes gewesen. Ein Dasein voller Komfort, in dem es ihr an nichts gemangelt hatte. Dann war ein Heer aus Vorga und Morrin in Shael einmarschiert, und die Ausrottung ihres Volkes hatte seinen Anfang genommen. Alyssa hatte den Krieg in einem Folterlager verbracht, in dem man sie ausgehungert, geschlagen und missbraucht hatte, während um sie herum Männer, Frauen und Kinder erschlagen wurden.

Als der Krieg schließlich ein Ende gefunden hatte, überließ man sie und viele andere sich selbst. Die Königin war tot. Das Land war zerstört, aber einige der Feinde waren nirgendwo hingegangen. Diejenigen unter den Überlebenden, die noch bei Kräften waren, versuchten ihre Heimat zurückzuerobern. Schließlich vertrieb eine Allianz der Königinnen von Seveldrom und Yerskania auch noch die letzten Invasoren. Endlich begann der langsame Prozess des Wiederaufbaus.

Hilfe kam nach Shael, aber Voechenka lag so weit von der Hauptstadt entfernt, dass es immer ganz zuletzt auf der Liste stand. Vor zwei Jahren hatte sich die verzweifelte Situation dann verändert. Jetzt war sie viel schlimmer.

Zuerst war niemandem aufgefallen, dass da gewisse Wesen waren, die sich in die Schatten eingenistet hatten. Im ersten Jahr nach dem Krieg konzentrierten sich die Bürger von Voechenka darauf, ihre Häuser wieder aufzubauen und Getreide zu pflanzen, das sie durch den Winter bringen sollte. Als dann im Frühling ein paar Gesichter fehlten, gab man dem schlimmen Wetter und der mangelnden Nahrung die Schuld. Aber nachdem das Eis geschmolzen war, fand man die Leichen. Das in die Gesichter eingegrabene Entsetzen hatte nichts mit Hunger zu tun.

»Hier.« Alyssa reichte Zannah eine kleine Stofftasche. Die empfindliche Nase der Morrin witterte Graubrot, gesalzenen Fisch und wilden Knoblauch.

»Ich habe keinen Hunger.«

»Lügnerin. Ich kann deinen Magen doch von hier aus knurren hören.«

Mit einem dankbaren Lächeln nahm Zannah die Tasche entgegen und holte die leicht angesengte Holzschüssel hervor. Sie hatte die Größe ihrer Faust und die Aushöhlung war mit Fisch, strähnigem Wurzelgemüse und wildem Knoblauch gefüllt.

Zannah bedachte den Fisch mit einem Stirnrunzeln. »Du hättest das Risiko des Sees lieber nicht eingehen sollen. Er ist viel zu gefährlich.«

»Das habe ich auch nicht. Jemand anders fuhr hinaus.«

»Und er hat ihn dir einfach gegeben?«

Alyssa zuckte mit den Schultern.

Zannah wollte fragen, was die Frau dem Fischer wohl dafür gegeben hatte, aber sie wusste, dass sie keine Antwort erhalten würde. Also nahm sie einen Bissen und richtete den Blick wieder auf die leeren Straßen. Roake wanderte dort unten auf und ab und rief gelegentlich ihren Namen. Sie tat ihr Bestes, ihn nicht zu beachten. Am liebsten hätte sie seinen Körper mit Pfeilen gespickt, aber das hatte sie bereits versucht. Und es hatte nichts genützt. Er würde in der nächsten Nacht einfach wieder zurückkehren. Pfeile waren ein knappes Gut, da durfte sie sie doch nicht für Roake verschwenden. Dennoch war sie versucht, ihm einen durch den Hals zu jagen, nur damit er für den Rest der Nacht das Maul hielt.

»Hast du geschlafen?«, fragte Alyssa.

»Etwas schon.«

»Hat jemand mit dir gesprochen?«

»Nein, aber man hat auch nicht versucht, mich im Schlaf zu ermorden, was man immerhin als Fortschritt bezeichnen kann«, sagte Zannah. Alyssa verzog das Gesicht und errötete. »Schon gut.«

»Nein, gut ist es nicht«, beharrte Alyssa und knirschte mit den Zähnen.

Ein angespanntes Schweigen trat ein, das nur gelegentlich von Roake gebrochen wurde. Zannah konnte ihren Mitbewohnern in der Zuflucht nicht verübeln, wie sie sie behandelten. Schließlich war es ihr Volk gewesen, die Morrin, die Shael zusammen mit den Vorga überfallen hatten. Ihr Volk hatte sie niedergemetzelt, ihre Städte niedergebrannt und sie in Lager getrieben, in denen man sie aushungerte, schlug und Experimente mit ihnen veranstaltete. Ihr Volk hatte sie dazu aufgestachelt, gegeneinander zu kämpfen, nur um etwas zu essen zu bekommen. Manchmal auch nur aus reinem Vergnügen. Ihr Volk hatte sie am Ende des Krieges im Stich gelassen und der Gnade der wilden Vorga überlassen.

Hätte sich die Wucht dieses Hasses allein auf ihr Volk konzentriert, hätte sich Zannah leichter vergeben können. Aber sie hatte während des Krieges zu den Invasoren gehört.

Sie hatte die Befehle befolgt, wie es sich für eine gute Soldatin gehörte. Also hatte sie Gefangene umgebracht. Dabei hatte sie nicht einmal gezögert oder über ihre Taten oder deren Preis nachgedacht. Die Einwohner Shaels waren keine Morrin, also was spielte es schon für eine Rolle, wie viele von ihnen starben?

Als aber gegen Ende des Krieges die Städte in Trümmern lagen und die Massengräber so groß waren, dass man sie mit Hügeln verwechseln konnte, hatte sich etwas in Zannah verändert. Die Nachricht von einer Spaltung des Rates, die Morrinow zu zerreißen drohte, war sogar bis ins ferne Voechenka gedrungen. Ihr Land – ihre ganze Welt – war in Gefahr. Dabei wurde es nicht von einem anderen Heer bedroht, sondern von einem Feind in den eigenen Reihen.

Die Befehle trafen ein, und die Morrin-Krieger kehrten geordnet in die Heimat zurück. Zannahs Einheit gehörte zu denen, die zum Schluss abrücken sollten. Am letzten Tag erhielt sie den Befehl, eine Abteilung zu kommandieren, die die restlichen Gefangenen töten und Voechenka niederbrennen sollte. Danach würden sie nach Norden segeln und sich um die Probleme in der Heimat kümmern.

Zannah sah noch immer den überraschten Ausdruck in den Augen ihres Kommandanten vor sich, als er mit ihrer Klinge im Hals gestorben war. Er hatte gerade ein paar Anschuldigungen herausquetschen wollen, vielleicht auch einen Befehl, dann aber nicht mehr als ein mühsames Würgen zustande gebracht.

Zannah verbrannte den Vernichtungsbefehl, gab die Anweisung, sämtliche Gefangene freizulassen, und wies ihre Leute an, nach Hause zu segeln. Die meisten begaben sich auch widerspruchslos zur Flotte, aber ein paar weigerten sich doch, ließen ihre Posten im Stich oder täuschten Krankheit vor, um bleiben zu können. Sie hatten sich daran gewöhnt, ihren Trieben freien Lauf zu lassen, und zeigten nicht die geringste Lust, zu dem geregelten Leben eines Soldaten zurückzukehren.

Sobald die Flotte den Hafen verlassen hatte, durchsuchte Zannah die Stadt und die Umgebung nach ihren Leuten. Sie jagte einen nach dem anderen. Sie verfluchten sie, als sie starben, jeder Einzelne von ihnen tat es. Sie sagten ihr, die Gesegnete Mutter werde sie verstoßen. Das musste sich Zannah nicht von ihnen sagen lassen. Sie wusste längst, dass sie verdammt war. Nur einer der Deserteure war ihr entkommen, und jetzt war es zu spät, sich um ihn zu kümmern.

Von den eigenen Leuten wurde sie für den Verrat an ihnen gehasst – und von den Shael für ihre Kriegsverbrechen verabscheut. Zannah konnte niemals nach Hause zurückkehren, und noch bis zum gestrigen Tag hatten jene, die sie zu beschützen versuchte, täglich versucht, sie zu töten. Aus irgendeinem Grund hasste Alyssa sie nicht. Zannah hatte keine Ahnung, warum das so war.

Eine Bewegung auf der Straße erregte ihre Aufmerksamkeit.

»Ich komme wieder«, versprach Roake, bevor er davonschlurfte und in einer Seitenstraße verschwand. Für einen Toten konnte er sich – wenn es denn nötig war – wirklich schnell bewegen.

»Da kommen sie«, rief Zannah. »Hol die anderen.«

Alyssa rannte die Treppe hinunter und rief um Hilfe. Beinahe sofort strömten Menschen aus dem Hauptgebäude auf den Hof. Eilig griffen sie nach den Waffen, bevor sie sich zu Zannah auf die Mauer gesellten. Die Verteidiger trugen Schwerter, Äxte, Stangenwaffen und sogar ein paar Speere. Jede Waffe war rasiermesserscharf geschliffen worden. Viel hatten die Invasoren nicht zurückgelassen, aber Stahl gab es mehr als genug.

Mit mühelosen, geübten Bewegungen spannte Alyssa ihren langen Bogen. In ihrem Körper lag eine Kraft verborgen, die ihre schlanke Gestalt Lügen strafte.

Ein Blick auf die Straße zeigte Zannah, dass heute Nacht nur ein Dutzend Leute kamen. Normalerweise rückten sie in wesentlich größeren Gruppen an. Die meisten waren ihr unbekannt, aber unglücklicherweise befand sich auch Jannek unter ihnen. Gestern hatte er noch entsetzt geschrien, als man ihn von der Mauer zerrte, und um seinen Tod gefleht, statt lebendig gefangen genommen zu werden. Heute Nacht sah er dagegen glücklich und schon viel gesünder aus. Die einstmals matte Haut glänzte wie poliertes Gold, und die hohlen Wangen waren aufgefüllt worden. Es war erstaunlich. Ein Wunder. Er musste vernichtet werden.

Tote wie Roake wieder zum Leben erweckt zu sehen, das war die eine Sache. Aber dies hier, das war etwas völlig anderes. Man hatte angefangen, sie die Verlorenen zu nennen, obwohl das in dieser Stadt eigentlich auf jeden zutraf.

Ein Stück weiter schluchzte Liselle, Janneks Schwester, und dann hob sie mit eiserner Entschlossenheit den Bogen.

»Wartet«, warnte Zannah. Sie wusste, dass die Verlorenen noch außer Reichweite waren. Dies würde nur die erste Welle sein. Alles andere war unmöglich. Aber warum denn bloß ein Dutzend? Das reichte nicht aus, um ihre Verteidigung zu überwinden.

Alyssa ließ die Angreifer nicht aus den Augen und wartete, bis sie näher herangekommen waren, bevor sie den Bogen hob. Die anderen ignorierten die Morrin und nahmen sie zum Vorbild, bereiteten sich darauf vor, das Feuer zu eröffnen. »Jetzt«, flüsterte Zannah.

»Schießt«, befahl Alyssa. Sechs Bögen summten gleichzeitig.

Mit außergewöhnlicher Anmut hakte Alyssa den nächsten Pfeil an die Sehne und schoss auf den nächsten Verlorenen. Vielleicht war sie ja Tänzerin gewesen. Falls sie die Nacht überlebten, würde das morgen eine gute Antwort für ihr Ratespiel sein.

Alyssas Pfeil traf eine Verlorene ins rechte Auge. Er riss die Frau von den Füßen, und sie schien tot zu sein. Zumindest für den Augenblick.

Den meisten anderen Verlorenen ragten ebenfalls Pfeile aus dem Körper. Doch keine der Verletzungen hielt sie auf, sie machten sie nur langsamer.

Jannek und die anderen eilten zwei notdürftig zusammengezimmerte Leitern hinauf und versuchten sich einen Weg auf die Mauer zu bahnen. Die Verteidiger ließen die Bögen fallen und griffen nach Schwertern, Speeren und Äxten, um die Angreifer mehr durch ihre Überzahl als durch das Kampfgeschick zurückzudrängen. Sie waren allesamt unterernährt, und bis vor einem Jahr hatten nur wenige von ihnen jemals eine Waffe in der Hand gehalten. Dies war keine gute Kombination, besonders dann nicht, wenn es um einem Kampf um ihr Leben ging.

Ein Mann stieg über die Mauer und Zannah stieß ihm ihr Kurzschwert in den Rücken und durchtrennte seine Wirbelsäule. Ohne Zeit zu verschwenden riss sie die Klinge aus dem Körper und beförderte ihn mit einem Tritt über die Brüstung. Auf dem Weg nach unten riss er zwei weitere Verlorene mit sich.

Zannah stürmte den Laufgang entlang, trennte weitere Gliedmaßen ab, und wo sie konnte, köpfte sie die Angreifer sogar. Das würde ihr später Zeit ersparen. Mit einem Kurzschwert in jeder Hand schnitt sich die Morrin einen blutigen Weg durch die Angreifer. Andere folgten ihr, stießen und hieben zu, kämpften zwar mit weniger Energie und Wildheit, erledigten aber schließlich ihre Arbeit. Die meisten Verlorenen stürzten nach unten auf die Straße.

Am anderen Ende der Mauer hatten sich vier Angreifer zu einer dicht beieinanderstehenden Gruppe zusammengedrängt. Sie bremsten Zannahs Schwung. Die Morrin wich einem ungeschickten Hieb aus, hackte einen Arm oberhalb des Ellbogens ab und beförderte den Verletzten mit einem Tritt in die Tiefe. Zwei weitere Verlorene starben, bevor sie endlich Jannek erreichte. Liselle hockte zusammengekrümmt am Boden und schrie vor Entsetzen. Ihre Axt lag zwar in Reichweite, aber jeder Gedanke daran war vergessen. Jannek beschwor sie, ihn zu begleiten. Er legte das Schwert nieder, um seinen guten Willen zu zeigen, und streckte die leere Hand nach seiner Schwester aus. Selbst mit einer Klinge wäre sie willkommener gewesen. Liselles angsterfülltes Kreischen wurde lauter und ließ Zannah zusammenzucken.

Jannek wollte sich gerade umdrehen, als ihm Zannah das Schwert durch den Hals stieß. Keine Worte mehr. Keine Lügen. Kein Versprechen von Freiheit und etwas noch Besserem. Das hatten sie alles so oft gehört.

Janneks Blut spritzte seiner Schwester ins Gesicht, und ihre Schreie wurden schriller. Er starrte sie in seinen letzten Sekunden an und versuchte eine allerletzte Botschaft zu übermitteln. Schließlich rutschte er von Zannahs Klinge und fiel in Liselles Schoß. Sie umarmte die Leiche ihres Bruders und schluchzte.

Die Mauer war gesäubert. Im Augenblick waren sie in Sicherheit, und kein Verlorener war entkommen, um jemanden zu verschleppen. Mit methodischen Bewegungen warf Zannah die Leichen und auch die abgetrennten Gliedmaßen auf die Straße, obwohl sie sich ihretwegen weniger Sorgen machte. Die anderen Verteidiger zogen sich auf den Hof zurück. Sie wollten nicht sehen, was nun kam, und taten lieber so, als würde es nicht geschehen.

»Hol das Seil«, bat Zannah. Alyssa nickte. Sie begab sich auf den Hof und kam mit einem langen Seil voller Knoten zurück, das an dem beladenen Karren befestigt war. Sie schleuderte es über die Brüstung und nahm ihren Wachtposten wieder ein, während sich Zannah Liselle näherte.

»Bleib von ihm weg«, schrie die Frau und drückte die blutige Leiche an die Brust. »Habt ihr nicht schon genug angerichtet? Hast du noch nicht genug von meinem Volk ermordet?«

Zannah erwiderte nichts. Es gab auch gar nichts, das sie sagen konnte. Jannek war bereits tot, und er war es schon eine ganze Weile gewesen, lange bevor sie ihn in den Hals gestochen hatte. Wann immer jemand von den Verlorenen verschleppt wurde, kehrte er verändert zurück. Sie bewegten sich und sprachen genauso wie zuvor. Zwar hatten sie dasselbe Gesicht und dieselbe Stimme, aber sie waren verändert. Etwas war aus ihnen herausgeschnitten oder herausgegraben worden.

Monella, eine stämmige Frau mit einem entzündeten Auge, kam die Treppe herauf. Geflissentlich übersah sie Zannah und begab sich direkt zu Liselle, die sich in ihre Arme warf. Schließlich konnte Monella die jüngere Frau auf die Beine ziehen und sie nach unten auf den Hof führen. Zannah wartete, bis sie außer Sichtweite waren, bevor sie Janneks Leiche auf die Straße warf.

Dann kletterte sie an dem Seil nach unten. Die tiefen Schatten verbargen zwar das meiste von dem, was sie tat, aber die Laute konnten sie nicht unhörbar machen. Die anderen Shael taten ebenfalls so, als könnten sie es nicht hören.

Zannah köpfte jede Leiche, Janneks eingeschlossen, bevor sie dafür sorgte, dass die Körper ein gutes Stück von den Köpfen entfernt lagen. Nur so konnte man sichergehen, dass sie nicht immer wieder zurückkehrten.

Dann kam der eigentlich schwierigste Teil der Nacht. Zannah griff nach dem Seil und begann mit dem langsamen Aufstieg. Eines Nachts würde das Seil dabei reißen. Einer der Eingeschlossenen würde Alyssa entwaffnet oder abgelenkt und das Seil durchtrennt haben.

Ein Sturz aus dieser Höhe würde sie gewiss nicht umbringen, aber möglicherweise brach sie sich dabei einen Arm oder ein Bein. Dann würde sie für den Rest der Nacht zusammen mit den Verlorenen auf der Straße gefangen sein. Die anderen wollten sie unbedingt in Stücke gerissen und tot sehen. Vielleicht wollten einige auch sehen, wie sie verschleppt wurde, nur um in der darauffolgenden Nacht zurückzukehren. In manchen Nächten wollte Zannah das ebenfalls. Nicht, weil sie der Ansicht war, dass sie mehr als ihre derzeitige Situation verdient hatte. Sie wollte einfach nur wissen, wo man die Leute hinbrachte und wie man sie veränderte.

Schließlich erreichte Zannah den Mauerrand, zog sich darüber und landete mitten im Blut. Sie setzte sich eine Minute hin, kam zu Atem und starrte in die endlose Leere des Himmels.

»Du solltest mehr Vertrauen haben«, sagte Alyssa, streckte die Hand aus und zog Zannah auf die Füße. Die Morrin sparte sich eine Erwiderung, denn sie wollte niemanden beleidigen.

Eine Weile standen sie schweigend da und beobachteten die Straße.

»Glaubst du, sie kommen heute Nacht noch einmal?«

»Mindestens noch einmal.«

»Wie lange können wir das deiner Meinung nach noch durchhalten?«, fragte Alyssa.

Diese Frage hatte sich Zannah schon oft gestellt. In der Stadt war jede Verteidigung geduldig ausgeschöpft worden, und die Zahl der Verlorenen stieg unaufhörlich. Einst hatten Dutzende Fackeln in der Nacht gebrannt und die Finsternis zurückgetrieben. Jetzt waren vielleicht noch sechs Schutzunterkünfte übrig.

Zannah antwortete nicht, denn sie beide kannten die Wahrheit. Ihnen ging die Zeit aus.

Kapitel 2

In der Nacht hatte der Schnee die Straßen von Charas wie mit einer feinen Zuckerschicht bestäubt. Talandra und der Rest von Seveldrom waren zwar an harte Winter gewöhnt, bis jetzt hatte sich das Wetter allerdings noch ungewöhnlich mild gezeigt.

Die Königin starrte aus dem Palastfenster auf die Straßen der Hauptstadt. Ein paar Veränderungen fielen ihr durchaus auf. Selbst aus dieser Höhe war deutlich zu sehen, dass sämtliche Geschäfte die Markisen zusammengeschnürt ließen; es gab auch keine Tische oder Stühle, um sich zu setzen und etwas zu essen oder zu trinken. Das war eine neue Mode aus dem Westen, die sich in den vergangenen vier Jahren ausgebreitet und die sie gerne unterstützt hatte.

Ohne Tische und hellbunte Markisen sahen die Straßen zwar etwas kahl aus, aber niemand ließ sich von der kurzen Erholungspause täuschen. Schon bald würde der Schneefall richtig einsetzen, und dann wollte niemand, dass seinen Kunden eine schneegefüllte Markise auf den Kopf fiel.

Der Handel zwischen Seveldrom und dem Westen florierte, und Talandra tat alles, was in ihrer Kraft stand, damit die Güter weiterhin in beide Richtungen flossen. Mit jedem Wagenzug kamen wertvolle Informationen durch die Stadttore, und schon am nächsten Tag brachen die Wagen mit neuen Bestellungen wieder auf. Ihr Spionagenetzwerk im Westen war viel größer als vor dem Krieg. Je mehr sie wusste, umso leichter würde man Situationen entschärfen können, bevor sie eskalierten.

Talandra schloss das Fenster und sperrte die Kälte aus. Sie setzte sich wieder an ihren Schreibtisch. Die darauf verteilten Papierstapel schienen niemals kleiner zu werden. Es gab immer neue Berichte, offizielle Anfragen und Einladungen. Nur selten erhielt sie Briefe, die nicht ihre Aufmerksamkeit erforderten. Tage und Wochen wurden davon aufgefressen, und die Jahre schienen immer kürzer zu werden. Talandra kannte den Grund dafür. Sie war ununterbrochen beschäftigt, und die Liste der Verantwortungen, die der Thron mit sich brachte, war nicht kleiner geworden. Davon abgesehen konnte sie schlecht delegieren. Die Ausrede, keine tüchtigen Leute zu finden, glaubte niemand aus ihrem engsten Kreis, aber loszulassen fiel ihr schwer.

Wie immer, wenn Talandra an das Verstreichen der Zeit dachte, wandten sich ihre Gedanken der Zukunft zu. Sie strich sich über den dicker werdenden Bauch. Auch wenn ihr das Geschlecht letztlich gleichgültig war, solange das Kind nur gesund zur Welt kam, hoffte sie dieses Mal doch auf ein Mädchen. Der kleine Lord wurde gerade anderswo beschäftigt, was ihr ein paar Stunden Ruhe verschaffte, um die eine oder andere Arbeit zu erledigen. Aber bis jetzt hatte sie an diesem Morgen nur aus dem Fenster gestarrt und über die Zukunft nachgedacht.

Ein wildes Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Bevor Talandra antworten konnte, stieß Alexis die Tür auf, um die verstört wirkende Shani einzulassen. Ihre Spionmeisterin sah verängstigt aus, was Talandra sofort in Panik versetzte. Shani hatte ihre Gefühle sonst immer im Griff.

»Beim Schöpfer, was ist denn passiert?« Talandra führte Shani zu einem Stuhl. Draußen im Korridor ertönte der Marschtritt vieler Füße. »Was ist los?«

»Wir verdreifachen die Wachen«, verkündete Alexis. »Niemand wird in Eure Nähe kommen. Noch mehr Leute sind unterwegs, um den Prinzen zu beschützen.« Sie schloss die Tür hinter sich. Seit beinahe drei Jahren, nachdem Shani die Sache selbst in die Hände genommen hatte, hatte es keinen Attentatsversuch mehr gegeben.

»Es sind keine Meuchelmörder«, sagte Shani mit krächzender Stimme. Obwohl bis zum Mittag noch einige Zeit verstreichen würde, goss Talandra eine großzügige Portion Whisky in ein Glas. Sie drückte es in Shanis zitternde Hände und half ihr, einen Schluck zu nehmen. Nach dem dritten Schluck ließ das Zittern nach, und ihre Spionin schob das Glas von sich.

Talandra zog einen Stuhl heran und setzte sich neben sie. Sie gab sich die größte Mühe, die Furcht zu unterdrücken, die sich in ihrem Inneren ausbreiten wollte.

»Von Anfang an. Verrate mir, was passiert ist«, sagte sie sanft. Dabei nahm sie Shanis Hände.

»Ich habe in der Schwarzen Bibliothek gesessen. Ich ordnete gerade neue Geheimberichte ein.« Shani schüttelte den Kopf, um die Frage schon zu unterdrücken, bevor sie gestellt wurde. Die Einzelheiten würden warten müssen und waren offensichtlich auch nicht von Gewicht. Talandra biss sich auf die Lippe und bedeutete ihr fortzufahren. »Ich wollte gerade gehen, als mir auffiel, dass etwas fehlte.«

Ein Frösteln lief Talandra den Rücken hinunter. »Was? Was fehlte?«

Shani starrte in die Ferne. »Ich sehe es ständig. Es ist nur ein weiteres Relikt der Vergangenheit geworden. Ich hatte ganz vergessen, was es in Wirklichkeit ist.«

Talandra ging bereits in Gedanken alle Möglichkeiten durch, die Shani so verstören konnten. Die Schwarze Bibliothek war hauptsächlich vom Boden bis zur Decke mit Notizbüchern gefüllt, aber es gab auch ein paar andere Gegenstände. Dinge, von denen die Königin nicht wollte, dass man sie in der königlichen Schatzkammer verstaute. Solche Dinge, die es gar nicht hätte geben dürfen. Dinge, von denen niemand wusste – abgesehen von einer Handvoll Leuten. Sämtliche dieser Gegenstände waren auf ihre ureigene Weise gefährlich, aber als sie die Liste durchging, gab es da nur einen, der ihr Herz einen Schlag aussetzen ließ. Sie starrte Shani an. Die Frage brannte auf ihren Lippen, und die Morrin nickte nur.

Wieder betrat Alexis das Zimmer in klirrender Rüstung. Hyram folgte ihr dichtauf. Zwar hatte keiner ihrer Leibwächter das Schwert gezogen, aber ihre Hände ruhten auf den Griffen. Sie waren sichtlich alarmiert, doch ihre Schultern hatten bereits einen Teil ihrer Anspannung verloren.

»Ihr könnt allen sagen, dass sie sich entspannen sollen«, sagte Talandra. »Wir schweben in keiner unmittelbaren Gefahr.« Ob ihre Leibwächter das Beben in ihrer Stimme hörten oder es ihre Miene war, jedenfalls erschienen sie keineswegs überzeugt. Talandra wusste selbst nicht, ob sie das glauben sollte, aber es gab nichts, das man hätte tun können.

»Was geht hier vor?«, wollte Hyram wissen. »Was verschweigst du uns?«

»Alexis, lass bitte die anderen wieder abrücken. Dann komm rein und verschließ die Tür.«

Die hochgewachsene blonde Frau befolgte ihren Befehl, hatte aber unwillig den Mund verzogen. Da sie nun schon seit Jahren jeden Tag so viel Zeit miteinander verbrachten, waren nur wenige Geheimnisse zwischen ihnen geblieben. Natürlich gab es Aspekte ihrer Position, die Talandra auf keinen Fall mit ihrer Leibwächterin und nicht einmal mit ihrem Bruder Hyram teilte. Von dem vollen Ausmaß der Arbeit ihres Spionagenetzwerks in der Heimat und im Ausland mussten sie nichts wissen. Das war ihnen durchaus bewusst, und auch wenn es ihnen vermutlich nicht gefiel, nahmen sie es dennoch so hin.

»Im Palast gibt es einen geheimen Raum, den wir die Schwarze Bibliothek nennen«, sagte Talandra. Alexis’ Stirnrunzeln verriet ihr sofort, dass ihre Leibwächterin der Ansicht war, sie hätte darüber informiert werden müssen. Doch sie ignorierte sie und wandte sich an ihren Bruder. »Nach meinem dreizehnten Geburtstag hat Vater sie mir gezeigt.«

Hyram sah nachdenklich drein. »In diesem Sommer bist du plötzlich ganz still gewesen und warst in dich gekehrt.«

»Ja, genau in diesem Jahr geschah das.«

»Ich und Thias, wir glaubten damals, deine Blutungen hätten eingesetzt«, sagte Hyram grinsend. Alexis’ grimmige Miene änderte sich aber keineswegs. Trotz ihrer Unterschiede teilten sie einen rauen Humor. Aber der musste der Leibwächterin der Königin an diesem Tag wohl abhandengekommen sein.

»Was befindet sich in diesem Gewölbe?«, fragte sie.

»Geheimnisse.« Talandra starrte sie an. »Ein Gewölbe voller Geheimnisse. Genug, um in den Händen der falschen Leute die Welt zu verändern oder sie sogar zu vernichten. Als Vater mir den Raum zeigte, wusste ich bereits von seinem Spionagenetzwerk. An jenem Tag aber verriet er mir den Rest. Eine schwere Bürde für ein Kind.«

»Was hat sich noch in dem Gewölbe befunden?«, fragte Alexis.

Talandra entging die Anschuldigung in ihrem Tonfall keineswegs. »Hier geht es nicht um dich.«

»Mir scheint es, als ginge es um Vertrauen, Euer Majestät.« Wenn sie unter sich waren, benutzte sie Talandras Titel nur, wenn sie verärgert war.

Talandra ignorierte den Seitenhieb und konzentrierte sich wieder auf Hyram. »Neben Geheimnissen lagerte ich dort auch ein paar heikle Dinge.«

»Ich war immer der Ansicht, dafür sei die Schatzkammer gedacht«, meinte Hyram.

»Diese Gegenstände existieren nicht«, sagte Shani. Sie hatte ihre Stimme wiedergefunden. Ihr Gesicht hatte auch wieder etwas Farbe, aber sie war noch immer sichtlich erschüttert. »Nirgendwo gibt es Aufzeichnungen davon. Nur eine Handvoll Leute weiß darüber Bescheid, und von denen haben nur drei Zugang zur Schwarzen Bibliothek.«

»Jemand hat etwas aus dem Gewölbe gestohlen«, vermutete Alexis.

Talandra zeigte auf sich und Shani. »Wir sind zwei der Schlüsselbewahrer.«

»Dann wird es der letzte Schlüsselbewahrer gewesen sein«, sagte die Leibwächterin.

»Nein, er ist nicht im Land«, sagte Talandra und dachte an ihren Gemahl.

»Was wurde gestohlen?«, wollte Hyram wissen.

»Ein Schwert namens Maligne. Es ist das einzige seiner Art – aus Sternenmetall geschmiedet.«

Talandra verfolgte, wie es ihrem Bruder dämmerte. Er fluchte und fing an, im Raum auf und ab zu gehen, um etwas von der Spannung loszuwerden, die sich aufbaute.

»Ich verstehe nicht«, sagte Alexis.

Talandra wählte ihre Worte mit Sorgfalt. »Einer der Kriegsmagier schmiedete es während des Krieges. Finn Schmied.«

»Ich glaubte, er wäre gestorben.«

»Ist er auch.«

»Aber wenn es keiner deiner Leute war, wer bleibt dann übrig? Wer wusste sonst von dem Schwert?«

»Nur eine Person, die noch am Leben ist.« Talandra teilte einen Blick mit Shani. »Und die hat schon seit Jahren niemand mehr gesehen. Die meisten Leute würden seinen Namen nicht einmal laut aussprechen. Er hat den Lauf des Krieges verändert, er hat den Hexer besiegt, und wir haben ihn dafür mit dem Exil belohnt.«

»Das kann nicht sein«, flüsterte Alexis. Ein Hauch Furcht schlich sich in ihre Stimme. »Ich hatte ihn für tot gehalten.«

Talandra schüttelte den Kopf. Am liebsten hätte sie ebenfalls einen Schluck Whisky getrunken, vielleicht sogar die ganze Flasche, aber sie durfte keinen einzigen Tropfen anrühren.

Er musste irgendwie herausgefunden haben, dass sich das Schwert noch immer in ihrem Besitz befand. Dann musste er den Palast betreten haben, ohne dabei von einem Wächter oder einem Diener bemerkt zu werden. Er hatte sich in das geheime Gewölbe geschlichen und war einfach mit dem Schwert wieder herausspaziert. Und dabei hatte er weder einen Schlüssel benutzt noch ein Schloss geknackt oder war von jemandem gesehen worden. Und nur das Fehlen des Schwertes kündete von seinem Besuch.

Talandra wusste zwar, dass er im Krieg ein mächtiger Magiebenutzer gewesen war, aber wo hatte er in der Zwischenzeit gesteckt? Was war aus ihm geworden? Darüber hinaus fragte sie sich, wozu jemand wie er ein Schwert brauchte und gegen wen es sich richtete.

Instinktiv legte sie die Arme um den Bauch. Das war nur ein schwacher Schild gegen die Schrecken der Welt, aber mehr hatte sie ihrem ungeborenen Kind nicht zu bieten. Sie musste seinen Namen laut aussprechen, nur um sich daran zu gewöhnen, ihn wieder zu hören, ohne dass er angerufen wurde, um Menschen in Schrecken zu versetzen.

»Balfruss ist zurückgekehrt.«

Kapitel 3

Tammys Schritte polterten durch die Gänge der Halle der Einheit. Gerade befand sie sich auf dem Weg zum Arbeitsgemach des Alten. Andere Wächter des Friedens lächelten oder nickten, was ein kurzes Zeichen des Respekts zwischen Gleichgestellten bedeutete. Hier spielten Ränge keine Rolle, niemand musste andere niederringen.

Lange bevor Tammy eine Wächterin geworden war, hatte sie für eine der Verbrecherfamilien von Perizzi, die Beherrscher der Unterwelt, gearbeitet. Jede Familie wurde von einem oder zwei Dons oder Dońas geführt, die sich auf viele Ränge aus Bandenmitgliedern stützten, von den untersten Papierschakalen zu den vertrauenswürdigsten Silber- und Goldschakalen.

Von ihrem alten Leben kündeten die verblichenen Narben an ihrem Körper und die wulstigen Knöchel ihrer Hände. In diesem Leben waren Kraft, Verschlagenheit und Brutalität geschätzte Dinge gewesen. Mitgefühl war eine Schwäche gewesen, die einen das Leben kosten konnte. Oder schlimmer noch: Sie kostete jene das Leben, die einem nahestanden. Darum nannte man sie auch Schakale. Wie ihr Namensgeber wandten sie sich gegen das schwächste Mitglied ihres Rudels, um die eigenen Ambitionen zu fördern.

Aber das alles war inzwischen lange her. Teil eines anderen Lebens, das sie hinter sich gelassen hatte. Jetzt war das Gesetz ihr Schild, und ihr Verstand war die beste Waffe ihres Arsenals. Tammy war nicht dumm. Noch immer trug sie ein Schwert und übte sich jeden Tag in seiner Verwendung. Sie arbeitete hart und stählte ihren Körper. Aber ein starker Arm reichte nicht immer aus. Leider hatte sie Jahre gebraucht, um das zu begreifen.

Und obwohl sie das Mitgefühl jetzt zu schätzen wusste, suchte der Schatten ihres alten Lebens noch immer die dunklen Abgründe ihres Wesens heim. Außerdem versah er sie mit einer einzigartigen Sichtweise und ließ sie Verbrechen aus einer Perspektive betrachten, die sich von anderen Friedenswächtern unterschied. Nur wenige Menschen wussten, womit sie ihren Lebensunterhalt früher bestritten hatte, der Khevassar und ein paar andere Leute gehörten dazu, aber die sprachen nicht darüber. Jeder hatte Geheimnisse, die auch geheim bleiben sollten.

Der pingelige Sekretär des Alten schrieb gerade eilig eine Nachricht, als Tammy den Vorraum betrat. Dort saßen zwei Kadetten und warteten auf ihr erstes Gespräch mit dem Anführer der Wächter. Beide sahen besonders jung und naiv aus. Das Mädchen schwitzte deutlich, und der junge Mann neben ihr konnte nicht ruhig dasitzen. Sein linkes Bein war in ständiger Bewegung und tippte endlos einen Rhythmus auf den Holzboden. Tammy erinnerte sich an ihr erstes Gespräch mit dem Alten. Die beiden taten gut daran, nervös zu sein. Sein Verstand war so scharf wie ein Metzgerbeil, das durch Fett und Knorpel direkt zum Knochen schneiden vermochte. Weder konnte man ihn anlügen, noch etwas vor ihm verbergen. Er konnte ins Herz einer jeden Angelegenheit schauen. Es schien zugleich Fluch und Segen zu sein.

Rummpoe hatte ihre Ankunft registriert, aber er trocknete sorgfältig die Tinte auf der Seite und säuberte dann die Schreibfeder, bevor er aufschaute. Dazu musste er den Kopf ordentlich in den Nacken legen. Dank ihres aus Seveldrom stammenden Vaters überragte Tammy die meisten Menschen von Yerskania.

»Er ist gleich so weit«, sagte der Sekretär und deutete mit dem Blick auf die Stühle, bevor er sich wieder auf seinen Papierkram konzentrierte. Tammy ignorierte die Sitzgelegenheiten und nahm sich stattdessen ein Berichtsbuch aus den Regalen, die vom Boden bis zur Decke reichten. Alle zusammen bildeten sie die Stadtgeschichte des Khevassar und umfassten ganze Jahrzehnte. Darin enthalten war jeder Mord, jeder Angriff, jeder Diebstahl und jede Untat, jedes Verbrechen, das ernst genug war, um über den Schreibtisch des Alten zu wandern. Hier befand sich die wahre Geschichte Perizzis, für die Allgemeinheit in Blut geschrieben. Irgendwo auf diesen Seiten standen auch ihre alten Verbrechen aufgeschrieben, das wusste Tammy.

Die Tür zum Gemach des Khevassar öffnete sich, ein aufgeregter Kadett eilte hinaus. Sein Gesicht war voller roter Flecken, er schien den Tränen nahe. Die in dem Arbeitsgemach gesprochenen Worte waren allein für seine Ohren bestimmt gewesen und würden mit niemandem geteilt werden. Sie würden ihn tief verletzen, hätten aber keine Überraschung sein dürfen. Falls doch, bedeutete das nur, dass er nie in sich gegangen war und seine Handlungen auch nie infrage gestellt hatte. Es bedeutete, dass er für die Arbeit eines Wächters nicht geeignet war. Diese Einsicht war nicht die einzige Anforderung, spielte aber eine große Rolle. Entweder würde der Junge den Kinnhaken wegstecken und weitermachen, oder er würde für immer bei der Stadtwache bleiben. Es bestand ein gewaltiger Unterschied darin, entweder ein Wächter des Friedens oder ein Mann der Stadtwache zu sein.

Rummpoe betrat das Gemach des Alten und kam eine Minute später wieder heraus. Er bedeutete Tammy, statt der wartenden Kadetten einzutreten.

Ausnahmsweise saß der Khevassar einmal nicht hinter seinem Schreibtisch und kümmerte sich um die Berge von Papierkram, die niemals zu schrumpfen schienen. Er stand da und las mit gerunzelter Stirn und entrücktem Blick in einem der Berichtsbücher, das er aus dem Regal gezogen hatte. Tammy schloss die Tür, setzte sich und wartete, bis der Alte fertig war. Mit einem Seufzen schob der Khevassar das Buch wieder sorgfältig an Ort und Stelle und setzte sich hinter seinen Schreibtisch.

Als Tammy sein Gesicht deutlicher sehen konnte, musste sie ihr Erschrecken verbergen. Er sah hinfällig aus. Zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme bei den Wächtern war er bereits alt gewesen, aber ebenso wie die Berge waren seine Züge im Laufe der Jahre nur markanter geworden. Er hatte nichts von seiner Vitalität oder seiner Kraft verloren. Als Tammy ihm jetzt in die eisigen blauen Augen blickte, hatte sie den Eindruck, dass er ausgelaugt wirkte, so als hätte man ihm etwas genommen. Seine wettergegerbte Haut erschien dünn, und die Knöchel seiner Hände wirkten erstaunlich groß. Unwillkürlich rieb sie sich die Hände und strich über die Narben und die schwielige Haut.

Sie wollte ihn nach seiner Gesundheit fragen, setzte auch mehrmals dazu an, fand dann aber doch nicht die richtigen Worte. War er krank oder hatte ihn die Zeit endlich eingeholt?

»Noch bin ich nicht so weit, Baker.« Er ließ sie seine makellosen weißen Zähne sehen.

»Tut mir leid, Herr.«

Er winkte ab, und seine Miene wurde ernst. »Seid Ihr glücklich?«

Die Frage überraschte sie. Damit hatte sie nicht gerechnet. Ihr wollte nicht einfallen, wann jemand sie das zum letzten Mal gefragt hatte. »Herr?«

»Lasst mich eine einfachere Frage stellen. Habt Ihr das Gefühl, dass Euch Eure Rolle als Wächterin des Friedens von Perizzi herausfordert?«

»Manchmal.«

»Aha.«

»Warum fragt Ihr?«

Statt zu antworten, kramte er einen Moment lang in seiner Schreibtischschublade herum, bevor er ein Dokument mit einem unbekannten Wachssiegel herausholte. Tammy kannte das seltsame Symbol nicht. Vielleicht gehörte es einem fremden König oder einer Königin.

»Wisst Ihr, was das ist?« Er wartete kaum ihr Kopfschütteln ab, bevor er fortfuhr. »Das ist eine Anfrage aus Drassia. In einer ihrer Städte sind eine Reihe ungewöhnlicher Morde geschehen. Etwas, das sie noch nie zuvor gesehen haben. Eine Art ritueller Massenmord. Sie hätten gern, dass die Friedenswächter eine Untersuchung durchführen.«

»Ist das ernst gemeint?«

»O ja. Die Wächter des Friedens sind einzigartig. Wir sind die einzige Organisation, die manchmal außerhalb ihrer Grenzen arbeitet. Was wisst Ihr über Shael?«

»Dort herrscht Chaos«, erwiderte Tammy, die sich unbewusst die Knöchel rieb.

»Etwas genauer, bitte.«

»Das Land ist im Krieg besetzt und zerstört worden, weil sich die Bewohner weigerten, sich der Allianz des Wahnsinnigen Königs anzuschließen. Jetzt wird es wieder aufgebaut.«

»Und?«, ließ der Alte nicht locker.

»Und trotz großer Anstrengungen von Königin Olivia und ihrem Regenten bleiben große Teile des Landes im Zustand einer gesetzlosen Wüste. Verbrecher haben ganze Dörfer und Städte übernommen und beherrschen sie wie ihre eigenen Herzogtümer. Einige Landesteile wurden sogar ganz aufgegeben.«

»Die Städte an den wichtigen Handelsrouten sind zurückerobert und gesäubert worden.« Der Khevassar legte den Brief zur Seite und nahm einen anderen vom Tisch. Tammy erkannte das Siegel nicht, aber so, wie er ihn hielt, konnte sie sich denken, von wem er war. Er übte so viel Druck aus, dass sich seine Fingerspitzen weiß verfärbten. »Aber es wird noch lange dauern, bis sich das Land selbst über Wasser halten kann. Möglicherweise wird es nie wieder so werden, wie es einmal gewesen ist.«

»Ich habe andere Geschichten über Shael gehört. Von der Art, die man sich nur zuzuflüstern wagt.«

Der Khevassar ließ den Brief los und setzte sich auf seinem Stuhl zurück. Er sah zur Seite und schien für einen Augenblick an einem anderen Ort zu sein. Tammy fand, dass sein spärliches weißes Haar noch dünner geworden war, und auf seinen Händen sah sie viel mehr Leberflecken, als ihr beim letzten Mal aufgefallen waren.

»Ich bedaure eine Menge Dinge«, murmelte er beinahe im Selbstgespräch. »Aber die schlimmsten sind die Gelegenheiten, bei denen ich jemandem nicht die ganze Wahrheit gesagt habe.«

»Herr?«

Seine Aufmerksamkeit kehrte in die Gegenwart zurück, sein durchdringender Blick richtete sich auf Tammy. »Die Geschichten, die Ihr gehört habt, die man sich in dunklen Ecken zuflüstert … aller Wahrscheinlichkeit nach treffen sie zu. Der Wächter Fray kehrte kürzlich von einer Reise nach Shael zurück, er besuchte eine Stadt namens Voechenka. Sie liegt an zwei Seiten von Bergen umgeben und ist völlig abgeschieden. Früher einmal muss es ein Ort der stillen Besinnung gewesen sein. Ein Zufluchtsort für Künstler. Jetzt ist es eine Ruine, die vom Verbrechen heimgesucht wird. Es war völlig in Vergessenheit geraten, bis die Geschichten aufkamen.«

Eigentlich wollte Tammy es gar nicht wissen, aber nun musste sie doch fragen. »Was für Geschichten?«

»Geschichten, in denen Menschen von den Toten zurückkehrten. Geschichten, in denen man nachts auf dem See seltsame Lichter sieht. Geschichten, in denen geschändete Leichen mit nicht zu identifizierenden Bissspuren auftauchen.«

»Ist es bloß eine verzweifelte Bitte um Hilfe gewesen oder steckt wirklich etwas dahinter?« Sie deutete auf den Brief.

»Darum schickte ich Fray. Er sollte es herausfinden. Ich hatte einen Verdacht, sagte ihm aber nicht alles. Die Ärzte haben mir versichert, dass er sich wieder erholen werde, aber es wird lange Zeit in Anspruch nehmen.«

Ein bedrückendes Schweigen senkte sich über den Raum. Der Alte schien auf etwas zu warten.

»Bittet Ihr mich, nach Voechenka zu reisen?«

»Nach dem, was ich Euch gerade berichtet habe, würdet Ihr denn gehen?«

»Vielleicht. Aber warum habt Ihr Fray geschickt? Er ist noch nicht lange Wächter.«

»Keine Spielchen«, erwiderte der Alte. »Ihr kennt den Grund.«

»Weil Ihr den Verdacht hattet, dass Magie im Spiel ist. Und er hat die Gabe seines Vaters geerbt.«

Der Khevassar grunzte. »Ihn zu schicken war gewiss ein Fehler. Ich hielt ihn für die ideale Wahl, wenn man die Situation bedachte, aber das Gegenteil traf zu. Die Stadt wurde von Toten überrannt, die nicht sterben wollen. Wie man mir berichtet hat, hatte er kaum die Stadtgrenze überschritten, als er auch schon von ihnen überwältigt wurde. In seinen lichten Augenblicken sprach er davon, dass seine magischen Sinne von etwas überflutet wurden. Etwas lauerte dort. Er ist gerade noch eben mit gesundem Verstand entkommen.«

»Aber warum ich? Warum kein anderer?«

»Weil Ihr für Magie unempfänglich seid. Weil Ihr hier nicht richtig gefordert seid, und weil ich glaube, dass Ihr diesem Geheimnis auf den Grund gehen könnt. Ihr seid gut in dem, was Ihr tut, und ich brauche jemanden, dem ich vertrauen kann.«

Tammy verschränkte die Arme. »Und wer spielt jetzt Spielchen?«

Der Alte grinste wölfisch. »Schon gut. Voechenka hat sich in eine Schlangengrube aus Verzweiflung, Mord und Chaos verwandelt. Ganze Stadtteile werden von Verbrecherbanden kontrolliert, und Ihr versteht es besser als die meisten anderen, unter solchen Umständen zu arbeiten.«

»Das ist es?« Tammy war enttäuscht. »Das ist der einzige Grund?«

»Wir haben alle eine Geschichte, die wir hinter uns lassen, wenn wir zu Wächtern werden. Mir ist gleichgültig, wer Ihr gewesen seid oder was Ihr getan habt, aber in diesem Fall könnte Euch das länger am Leben halten als andere. Denn wenn Ihr nach Voechenka reist, wird es nicht als Wächterin sein.«

»Als was dann?«

Der Alte beugte sich vor. »Dort herrscht kein Gesetz. Es gibt keine Gerichte, auch keinen Kerker. Worin immer diese Bedrohung besteht, jemand ist dafür verantwortlich. Hinter diesen Taten steckt eine Absicht, wie verdreht sie auch sein mag. Ich brauche Euch, um das zu untersuchen und diesen Grund aufzudecken. Ich brauche Euch, um herauszufinden, wer dahintersteckt. Und um die Schuldigen zu töten.«

Die Worte hallten durch den Raum, und als sie verklungen waren, verspürte Tammy einen Stich der Furcht. Aber da war auch Erregung.

»Ich frage Euch, weil ich glaube, dass Ihr die beste Überlebenschance habt.«

Der Khevassar hielt nichts zurück, und seiner gequälten Miene nach zu urteilen tat er das nicht oft.

»Was ist mit der Magie?«

Der Alte winkte ab, als wäre das nicht so wichtig. »Es war vermessen von mir zu glauben, dass Fray es schaffen würde. Der Rote Turm schickt jemanden, der besser qualifiziert ist. Sie stehen bereit, um Euch – falls nötig – die magische Unterstützung zu geben. Ihr würdet die Untersuchung leiten, und sie würden helfen. So lautet die Abmachung.«

»Muss ich mich jetzt entscheiden?«

»Nein, aber ich erwarte Eure Antwort morgen früh.«

Tammy ging ohne weiteres Wort. Sie nahm weder die schlotternden Kadetten noch die schmucklosen Korridore der Halle der Einheit wahr. Erst am Hafen schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Sie hatte noch den Rest des Tages, um eine Entscheidung zu treffen, aber in Wahrheit war die Entscheidung schon längst gefallen.

Die endlosen Laute des Meeres riefen sie. Ein Rhythmus, der ihr so vertraut war wie der eigene Herzschlag. Meistens war sie sich nicht einmal darüber bewusst, dass die Wellen dort ständig im Hintergrund lauerten. Verglichen damit würde es in Shael außerordentlich still sein.

Kapitel 4

Niemand schenkte dem bärtigen Mann große Aufmerksamkeit, der vor der Schenke Zum Eberkopf saß und sein Mittagessen verspeiste. Es war ein beliebtes Lokal im Herzen von Perizzi, was bedeutete, dass man an Gäste aus allen Herrenländern gewöhnt war.

Aus einiger Entfernung wirkte der Mann ziemlich unauffällig. Er schien mittleren Alters zu sein, hier und da wies sein Bart graue Stellen auf; das Haar auf seinem Kopf war kurz geschnitten. Seine Größe und der Körperbau deuteten auf die Herkunft aus Seveldrom hin, aber Eloise fand, dass ihm im Gegensatz zu seinen Landsleuten eine ungewöhnliche Zurückhaltung anhaftete.

Seine Kleidung war nicht teuer und schien eher nach Bequemlichkeit als nach Mode ausgewählt zu sein. Er trug keinen Schmuck, und es gab auch keine anderen Zeichen von Reichtum. Die bösartig aussehende Axt an seinem Gürtel sah aus, als wäre sie schon oft benutzt worden, und außerdem strahlte er Selbstvertrauen aus. Ungewöhnlich erschien, dass er noch ein Schwert auf dem Rücken trug. Die Waffen an sich waren zwar nicht ungewöhnlich, zwei davon erschienen jedoch etwas übertrieben. Vielleicht kehrte er gerade aus einem Kriegsgebiet zurück oder war auf dem Weg zum nächsten. Das Schwert kam Eloise bekannt vor, aber mehr wollte ihr darüber nicht einfallen.

In der Nähe aßen ein paar andere Leute; das leise Gemurmel von Unterhaltungen hing in der Luft. Die Gespräche verstummten, als sie zu dem Bärtigen an den Tisch trat und sich ihm gegenüber hinsetzte. Erst da fiel Eloise die Narbe auf, ein bereits verblichener aber wulstiger weißer Strich, der die rechte Wange senkrecht hinunterlief und unter seinem Kiefer verschwand. Ein zweiter und ein kaum zu sehender dritter Strich verliefen parallel dazu. Alte Krallenspuren waren das, von etwas Großem und Gefährlichem. Ihr fielen noch andere Veränderungen an ihm auf. Eine ungewöhnliche und komplizierte schwarze Tätowierung um sein linkes Handgelenk. In seinem Blick lag auch neue Qual. Die Falten zwischen seinen Augenbrauen waren tiefer, als sie sie in Erinnerung hatte. Dafür hatten Sorgen und ständiges Stirnrunzeln gesorgt.

Er aß weiter, als wäre er noch immer allein. Während er langsam kaute, musterten sie seine dunklen Augen. Sie wusste, was er gerade sah. Die Kapuze, die dunkle, voluminöse Robe und die goldene Maske. Als nichts Ungewöhnliches geschah, widmeten sich die anderen Gäste wieder ihrem Essen und ihren Unterhaltungen, aber Eloise wusste, dass sie lauschten. Zwar täuschten sie Desinteresse vor, doch gelegentlich konnte sie ihre Blicke spüren; ein kleiner aber beständiger Druck.

Schließlich hatte er seinen Teller geleert und lehnte sich zurück. »Ich habe Geschichten gehört – davon, dass jemand den Roten Turm in Beschlag genommen hat. Und es freut mich zu sehen, dass die Sucher wieder unterwegs sind. Aber wozu die Masken?«

»Um uns vor Gewalt zu schützen. Der Krieg hat dazu geführt, dass sich die Menschen noch mehr vor Magie fürchten. Sie haben Angst vor dem, was sie nicht verstehen können.«

»Trotz der Opfer, die die Kriegsmagier gebracht haben?« Stirnrunzelnd musterte er die Straße, als wären an dem allen die Passanten schuld. »Wie schnell sie doch vergessen.«

Eloise zuckte mit den Schultern. »So ist es sicherer. Auf diese Weise sehen sie uns kommen, und wir können uns freier unter ihnen bewegen als ohne Maske.«

»Ich erkenne die Weisheit in diesem Gedanken.«

»Können wir unter vier Augen sprechen?« Sie warf einen Blick auf die Gäste, die hinter ihm saßen. »Vielleicht sollten wir reingehen?«

Er hob eine Hand und machte eine Reihe schneller, zuckender Bewegungen. Eloise verspürte ein kurzes Aufflackern der Macht, und dann einen lauten Puls, als die Quelle zwischen ihnen hallte. Danach war nichts mehr da. Alles erschien wie zuvor. Aber als sie über seine Schulter blickte, schwebte ein seltsamer Hitzeschleier in der Luft. Die anderen Gäste unterhielten sich noch immer, aber ihre Worte dehnten sich in die Länge, was sie so gut wie unverständlich machte.

»So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen.« Aufmerksam studierte sie das Gewebe. Es war eine erstaunlich feine Arbeit, so dünn wie ein Spinnennetz, das bei einer Berührung leicht zerreißen würde. Das spürte sie.

»Wer seid Ihr?«, fragte er.

»Erkennst du mich nicht?« Eloises Herz pochte laut. Auf seltsame Weise neigte er den Kopf zur Seite und musterte sie mit einem zur Hälfte geschlossenen Auge. »Ich bin deine Ehefrau, Geliebter.«

Unvermittelt beugte sich Balfruss vor, streckte die Hand nach ihr aus und zog sie genauso schnell wieder zurück, als befürchtete er, sie sei eine Illusion.

In Wahrheit waren sie zwar nicht Mann und Frau, aber es gab durchaus einige Leute, die von ihnen erwartet hätten, dass sie heirateten. Nach der Tradition des Landes, zu dem ihr verstorbener Gemahl gehörte, hatte Balfruss nicht nur das Hab und Gut dieses Mannes geerbt, sondern auch das Recht, die Witwe zu heiraten. Außerdem hatte er sie im Krieg sterben sehen.

»Wie?«

Es fiel ihr noch immer schwer, darüber zu sprechen, aber wenn jemand verdiente, die Wahrheit zu kennen, dann war er es.

»Als ich im Sterben lag, von den Schmerzen meiner Verbrennungen überwältigt, erschien mir die Zeit endlos. Der Moment zwischen einem Herzschlag und dem nächsten kam mir lang wie Stunden vor.« Sie hatte noch immer Albträume von der Zeit, in der sie die Gefangene ihres eigenen Fleisches gewesen war und sich weder hatte bewegen noch schreien können. Dann wachte sie jedes Mal in kalten Schweiß gebadet auf, die Hände in die Laken gekrallt.

Balfruss’ Augen füllten sich mit Tränen; er nahm ihre Hand. »Hätte ich damals doch nur gewusst, was ich jetzt weiß, dann hätte ich helfen können.«

Eloise verdrängte die Erinnerungen und konzentrierte sich auf die Gegenwart. »Aber du hast mir geholfen. Während ich in der Finsternis schwebte und mit den Qualen meines Körpers rang, spürte ich etwas. Es schlug wie eine kühle Welle über mir zusammen und linderte meinen Schmerz. Und zum ersten Mal konnte ich wieder klar denken. Ich wurde mir des Zimmers, des Bettes und deiner Gegenwart bewusst. Du hattest deine Macht schon seit Stunden auf mich konzentriert.«

»Die Quelle«, sagte Balfruss.

Eloise lächelte, obwohl er das durch die Maske nicht sehen konnte. »Nachdem du gegangen warst, kehrte der Schmerz zurück, aber ich hatte wieder Hoffnung. Ich weiß nicht, wie viel Zeit es in Anspruch nahm, Stunden gewiss, vielleicht auch Tage. Aber schließlich konnte ich die Schmerzen lange genug abwehren, um die Quelle zu umarmen. Die Schmerzen wurden wieder schwächer, und ich klammerte mich an ihr fest, manchmal sogar stundenlang. Dann fing ich an zu experimentieren. Die Zeit verlor jede Bedeutung. Die Welt bestand nur noch aus der Quelle und meinem nächsten Atemzug. Ich fing mit den Lungen an, denn das Atmen fiel mir schwer, aber indem ich die Luft anhielt, versuchte ich ein kleines Stück zu heilen.«

»Wir glaubten, du würdest im Sterben liegen. Ich habe mich von dir verabschiedet.«

»Ich weiß. Ich hörte jedes Wort.« Eloise drückte seine Hand.

»Nach meinem Kampf mit dem Hexer hielt ich dich für tot.«

»Das tat jeder. Im Spital hatte man alle Hände voll zu tun, jeder rechnete mit meinem baldigen Tod. Als man schließlich das leere Bett fand, muss man wohl angenommen haben, dass sich schon jemand um meine Leiche gekümmert hatte. Ich ging in Lumpen gekleidet. Im Verlauf vieler Monate heilte ich mich selbst.«

»Du hast mehr als das getan.« Balfruss zeigte auf die Robe und die Maske der Sucherin. »Du bist das gewesen. Du hast den Roten Turm wieder geöffnet.«

Selbst jenseits des Toten Meeres mussten ihm Geschichten über die Wiedergeburt des Roten Turms zu Ohren gekommen sein. Vermutlich hatte er sich jahrelang gefragt, wer das geschafft hatte, wozu er selbst nicht in der Lage gewesen war. Alle hatten gehofft, dass es dazu kommen würde, aber da es so wenige Magiebenutzer gegeben hatte, war es unmöglich erschienen. Doch sie hatte es schließlich geschafft.

»Falls mich der Krieg etwas gelehrt hat, dann, dass Menschen die Magie brauchen. Sie brauchten unsere Hilfe, genau in dem Augenblick, in dem der Hexer unsere Heimat bedroht hat. Eines Tages wird sich eine neue Drohung erheben, und wenn man sich ihr nicht in den Weg stellt, könnte deren Ausmaß den Krieg noch in den Schatten stellen. Wenn dieser Tag kommt, möchte ich, dass der Rote Turm für den Ruf bereit ist.«

»Du hast dich verändert. Früher bist du nie so energisch gewesen.«

Sie zuckte mit den Schultern. Sie würde sich nicht für ihre Taten entschuldigen. »Ich hatte doch keine Wahl. Aber was ist mit dir? Wohin bist du nach dem Krieg gegangen?«

Balfruss lehnte sich zurück und starrte mit einem traurigen Lächeln in die Ferne. »Ich blieb eine Weile bei den Ersten Menschen, ebenso wie Ecko es vorhergesagt hatte. Dann bin ich über das Tote Meer gereist, um bei den Stämmen des Smaragddschungels unter seinen Vorfahren zu leben.«

»Was hast du erlebt?«

Ein kindhaftes Lächeln berührte sein Gesicht, das von Ehrfurcht und Erstaunen kündete. »Wunder. Wunder und Schrecken, die du nicht einmal erahnen kannst.« Sein Blick wurde verträumt. »Ich habe zugesehen, wie ein Drammu ein Kalb gebar, das die Größe von zehn Pferden hatte. Ich habe Musik gehört, die so wunderschön war, dass sie den Wind zum Schweigen brachte und Steine weinen ließ. Ich reiste jahrelang und legte Tausende von Meilen zurück, aber als ich dann erwachte, war nur ein Tag vergangen. Mein Bewusstsein wurde der Quelle auf Weisen geöffnet, wie ich sie noch nie zuvor gespürt hatte. Ich verliebte mich, ich hatte eine Frau, und für eine Weile war ich glücklich.« Ein Schatten huschte über sein Gesicht, und kurz flackerte da ein schrecklicher Schmerz in seinen Augen. Aber dann war er auch schon wieder verschwunden.

»Und jetzt?«

»Jetzt liegt mein Weg anderswo.« Da gab es zwar viel, das er nicht gesagt hatte, aber der Schmerz in seiner Haltung kündete von einem schrecklichen Verlust. Eloise bedrängte ihn nicht. Beide hüteten sie zahlreiche Geheimnisse, und er schuldete ihr keinerlei Erklärung. »Du hast mich aus einem bestimmten Grund gesucht. Warum?«

»Der Hexer.«

»Der Hexer ist tot«, sagte er überzeugt. »Das weiß ich, denn ich habe ihn getötet.«

»War dir bekannt, dass er vor dem Krieg eine Weile in Shael verbracht hat?«

»Nein.«

»Hast du gewusst, dass vor zwei Jahren ein Verrückter, den man als Blutmagier bezeichnet hat, hier in Perizzi einen Riss zwischen den Welten öffnen wollte?«

»Ich habe Geschichten gehört.«

»Er hat ebenfalls etwas Zeit in Shael verbracht.«

Balfruss runzelte die Stirn. »Kurz vor dem Ende riss der Hexer ebenfalls eine Wunde in das Gefüge der Welt. Ich weiß nicht, was er damit vorhatte, aber ich habe ihm zu weiterem Handeln auch keine Gelegenheit gegeben.«

»In der Vergangenheit sind andere Blutmagier nach Perizzi gekommen. Sie alle verfügten über gefährliche Talente, wie wir sie noch nie zuvor erlebt haben. Und sie alle kamen aus Shael.«

»Woher genau?«

»Eine Quelle hat mir verraten, dass sie eine abgelegene Stadt namens Voechenka besucht haben. Wer auch immer dahintersteckt, er verbirgt sich dort seit fast einem Dutzend Jahren und bildet Schüler aus, die er dann mit gefährlicher und zerstörerischer Magie bewaffnet in die Welt hinausschickt.«

Die Muskeln in Balfruss’ Kiefer verhärteten sich. Es war ein Zeichen des gleichen Zorns, den Eloise bei dieser Entdeckung ebenfalls verspürt hatte. Dieser schattenhafte Marionettenspieler war eine dunkle Spiegelung der Lehren des Roten Turms. Als Schüler hatte man ihr und Balfruss beigebracht, anderen mit ihrer Magie zu helfen und den Frieden zu fördern. Die Fähigkeit, die Quelle zu berühren, ließ sie mächtiger werden als hundert Krieger, aber sie sollten ihre Kräfte niemals dazu einsetzen, anderen ihren Willen aufzuzwingen.

Entdeckungen, die der Rote Turm als zu gefährlich einstufte, wurden tief begraben, damit andere mit weniger Skrupeln sie nicht aus selbstsüchtigen Motiven benutzen konnten. Wer auch immer den Hexer, die Blutmagier und vielleicht auch andere, die noch unentdeckt waren, unterrichtet hatte, war für die zahllosen Todesopfer mitverantwortlich. Bis vor Kurzem hatte Eloise allein dem Hexer die Schuld für für diesen Krieg gegeben. Jetzt aber wusste sie, dass er auf seine Weise nichts weiter als eine Marionette gewesen war.

»Es gibt noch mehr«, brach sie das bedrückende Schweigen. »Der Rote Turm ist beauftragt worden, in dieser Stadt eine weitere Angelegenheit zu untersuchen. Unter anderem geht es darum, dass Menschen angeblich von den Toten zurückkehren.«

Balfruss schüttelte langsam den Kopf. Wie sie dachte er an die Splitter des Hexers, die zugleich tot und lebendig gewesen waren, das war ihr klar. Die finstere Magie des Hexers hatte sie ausgehöhlt und in hirnlose Werkzeuge verwandelt, die allein für den Einsatz im Krieg gedacht gewesen waren.

»Das ist kein Zufall«, sagte er.

»Nein. Vielleicht zieht diese Stadt in Shael andere dunkle Mächte an. Was auch immer dahintersteckt, die Königinnen von Yerskania und Seveldrom haben den Roten Turm beauftragt, jemanden auszusenden, der diese Angelegenheit bereinigt.«

»Und da hast du an mich gedacht?«

»Nein, ich habe das stärkste Echo der Quelle in der Stadt gesucht und bin zu dir geführt worden. Ich brauche jemanden, der mächtig und erfahren ist, denn was auch immer in Voechenka schwelen mag, es ist noch gefährlicher als der Hexer.«

Eloise hob die Hand, um sich im Gesicht zu kratzen, und fluchte, als ihre Finger Metall berührten. Sie trug die Maske so oft, dass sie ihre Existenz manchmal einfach vergaß.

»Lass mich dein Gesicht sehen«, bat Balfruss.

Sie deutete auf die Leute hinter ihm. »Sie können uns sehen.«

Wieder hob er die Hand, und sie verspürte ein kurzes Aufflackern der Macht. Die Luft um sie herum veränderte sich zwar nicht, aber jenseits ihres Tisches verschwamm alles. Als würde man in einen alten, dunklen Spiegel blicken. Anscheinend hatte er in den vergangenen Jahren viel auf seinen Reisen gelernt.

Mit nervösen Fingern schlug Eloise die Kapuze zurück und nahm dann behutsam die goldene Maske ab. Die helle Wintersonne war Balsam für ihre Haut; ein leichter Wind blies ein paar lose Haarsträhnen über ihr Gesicht. Balfruss lächelte breit, und doch blieb ihr nicht verborgen, dass in seinem Blick eine gewisse Trauer lag. Sie erinnerte sich an das letzte Mal, an dem sie beide so dagesessen hatten, von Angesicht zu Angesicht. Kurz bevor sie und die anderen auf der Stadtmauer von Charas vom Feuer verschlungen worden waren.

»Du siehst genau so aus wie früher.« Balfruss’ Blick verharrte auf ihrem Gesicht. Er suchte nach Spuren von verbranntem Fleisch oder Narben, aber die gab es nicht. Sie hatte Jahre dazu gebraucht und jede Nacht daran gearbeitet, ihren Körper innen und außen zu heilen. Und noch immer war sie davon überzeugt, dass ihr Wissen über Heilung lediglich oberflächlicher Natur war, denn sie machte ständig neue Entdeckungen.

Sie deutete auf die Krallenspuren in seinem Gesicht. »Ich könnte sie heilen.«

»Danke, aber nein. Ich habe ebenfalls ein paar Fertigkeiten im Talent des Heilens erlangt, aber die Narben dienen mir als wichtige Erinnerung.« Wieder zeigte er ihr dieses Lächeln voller Trauer und Gedächtnis. »Wolltest du mich nicht noch etwas anderes fragen?«

Seit sie ihn gesehen hatte, hatte sie diese Frage beschäftigt. Nachdem sie nun etwas über seine Zeit im Ausland und seine Fähigkeiten gehört hatte, verschwanden auch die letzten Zweifel.

»Ich möchte, dass du dem Grauen Rat beitrittst und mir bei der Führung des Roten Turms hilfst.«

Früher einmal hatte der Graue Rat aus den respektierten Anführern des Turms bestanden. Bis sie wegen einer lächerlichen Prophezeiung ihren Posten verlassen hatte. Ohne sie war der Rote Turm in Unordnung geraten, und in der Folge hatten Kinder auf der ganzen Welt gelitten. Die Magie wurde wild und unberechenbar, und schon bald fingen die Menschen an, sie genauso zu fürchten wie ihre Benutzer. Eloise hoffte zwar, das wieder ändern zu können, aber es würde nicht einfach werden. Und es würde nicht über Nacht geschehen.

Zum zweiten Mal, seit sie sich gesetzt hatte, war es ihr gelungen, ihn zu überraschen. »Damit habe ich nicht gerechnet«, murmelte er. »Frag mich das noch einmal, falls ich aus Voechenka zurückkehre.«

»Bist du dir sicher?«