Chaosprinz - Band 2 - Katja Kober - E-Book

Chaosprinz - Band 2 E-Book

Katja Kober

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Beschreibung

Tobis Leben verlief bisher harmonisch: Aufgewachsen in einer Villa Kunterbunt, mit den besten Freunden der Welt und einer Mutter, die ihn abgöttisch liebt. Doch als diese mit ihrem Lebensgefährten nach Afrika auswandern will, ändert sich alles. Denn Tobi zieht es nicht nach Afrika und allein in Hamburg zu leben, ist auch keine Option. Also entschließt er sich kurzerhand zu einem drastischen Schritt und zieht zu seinem lange verschollenen Vater und dessen Familie nach München. Dank eines kleinen Taubenunfalls am Bahnhof, Terminproblemen, gebrochenen Kinderarmen und eines hilfsbereiten Tierarztes wird Tobis Start in München zu einem Abenteuer, bei dem so einiges ziemlich chaotisch läuft. Er muss lernen, dass Erwachsenwerden nicht immer leicht ist – besonders nicht, wenn man sich in seinen Stiefbruder verliebt…

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Seitenzahl: 1030

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Deutsche Erstausgabe ( ePub ) April 2013

© 2013 by Katja »LibbyReads« Kober

Verlagsrechte © 2013 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

Umschlag-+Textillustration: Janine Sander

Umschlaglayout: Hannelore Nistor

Satz Layout: Cursed Verlag

ISBN ePub: 978-3-95823-588-5

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de

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Klappentext:

Tobis Leben verlief bisher harmonisch: Aufgewachsen in einer Villa Kunterbunt, mit den besten Freunden der Welt und einer Mutter, die ihn abgöttisch liebt. Doch als diese mit ihrem Lebensgefährten nach Afrika auswandern will, ändert sich alles. Denn Tobi zieht es nicht nach Afrika und allein in Hamburg zu leben, ist auch keine Option. Also entschließt er sich kurzerhand zu einem drastischen Schritt und zieht zu seinem lange verschollenen Vater und dessen Familie nach München. Dank eines kleinen Taubenunfalls am Bahnhof, Terminproblemen, gebrochenen Kinderarmen und eines hilfsbereiten Tierarztes wird Tobis Start in München zu einem Abenteuer, bei dem so einiges ziemlich chaotisch läuft. Er muss lernen, dass Erwachsenwerden nicht immer leicht ist – besonders nicht, wenn man sich in seinen Stiefbruder verliebt…

31. Kapitel

Immer wieder sonntags…

Es regnet. Schwer und grau hängen dicke Wolkenfelder am Himmel, verschieben und verformen sich stumm. Kühl und feucht bläst der Wind durch die Luft. Er zerrt grob an den roten, gelben und braunen Blättern, reißt sie von ihren Ästen und trägt sie ein Stückchen mit sich, nur um sie dann achtlos auf den feuchten Boden fallenzulassen.

»Guck mal, der dicke Indianerbaum wackelt!« Emma steht auf einem Stuhl und schaut aus dem Küchenfenster.

»Ja.« Ich nicke. Die Kinder nennen die große, alte Trauerweide in unserem Garten Indianerbaum, seit wir letztens Cowboy und Indianer gespielt haben und dabei laut johlend und unsere Kriegsbeile schwingend um den Baum getanzt sind.

Es ist Sonntagmorgen und das ganze Haus schlummert noch friedlich. Bis auf Emma, Timmy und mich. Wir sind schon eine ganze Weile wach und bereiten das Frühstück für die ganze Familie vor.

Ich lasse die Pfanne mit den Rühreiern auf einem Untersetzer stehen und folge Emma ins Esszimmer. Die Zwillinge sind fürs Tischdecken verantwortlich gewesen. Stolz stehen sie nun beide neben der langen Tafel. Nichts aber auch rein gar nichts passt hier zusammen. Jeder Teller scheint zu einem anderen Geschirrservice zu gehören, die großen, bunten Kaffeetassen unterstreichen das Chaos auf ihre Art und Weise und auch das Besteck haben die Kleinen wild gemischt.

»Ich habe Alex den Becher gegeben, auf dem Goofy Schlittschuh fährt«, meint Timmy strahlend. »Und Maria bekommt die Tasse mit den zwei kleinen Katzen.«

Ich lächle. »Sehr gut«, sage ich und hole schnell eine Schachtel mit Schokoladenmarienkäfern, die ich gestern extra noch gekauft habe. »Legt jedem einen auf den Teller.«

Die Zwillinge rennen voller Begeisterung um den Tisch und verteilen die Süßigkeiten.

»Und jetzt?«, fragt Timmy begierig.

»Jetzt müssen wir die Marmeladengläser, die Wurst und den Käse aus dem Kühlschrank holen.« Ich zeige ihnen, wo die Sachen stehen, und gebe jedem ein Glas in die Hand.

Ich stelle den frisch gebrühten Kaffee auf den Tisch und betrachte unser Werk.

»Ich glaube, wir sind fertig, oder?«

Die Zwillinge stehen neben mir. Sie schauen sich den voll beladenen Frühstückstisch ganz genau an, dann nicken sie zufrieden.

»Ketchup brauchen wir nicht, oder?« Timmy kratzt sich am Kopf.

»Nein, wir essen ja keine Pommes.«

»Oh, ich mag Pommes.« Er strahlt.

»Ich auch«, ruft Emma.

»Ich auch, aber nicht zum Frühstück. Kommt, wir wecken die anderen.«

Gemeinsam gehen wir die Treppe nach oben. Martha hat heute frei, ein idealer Zeitpunkt für unser idyllisches Familienfrühstück. Ich muss zugeben, dieses Mal sind meine Bemühungen nicht ganz uneigennützig. Es geht mir nicht nur um den Familienzusammenhalt und den allgemeinen Umgang miteinander, nein, dieses Mal bin ich ziemlich egoistisch: Im Grunde will ich mich nur einschleimen.

Der große Moment wird bald kommen. Ich kann nicht länger warten. Ich muss Bettina und Pa endlich sagen, dass ich schwul bin. Und wenn sie diese Nachricht erfahren, dann sollen sie immer hübsch daran denken, was für ein hilfsbereiter, lieber und braver Junge ihr kleiner Tobi doch ist.

Pa und Bettina sehen uns reichlich verschlafen an. Ich glaube, es wäre beiden lieber gewesen, noch eine Stunde länger im Bett herumzuliegen und anschließend mit ein paar Bekannten in irgendeinem Restaurant zum Brunch zu gehen. Doch die Zwillinge hopsen so begeistert auf ihrem breiten Ehebett herum, dass sie gar nicht anders können als zu versprechen, so schnell wie möglich aufzustehen.

Maria aus ihrem geliebten Schönheitsschlaf zu reißen, ist etwas, das man sich gut überlegen sollte. Hat man Angst vor körperlichen Schmerzen und möchte man verbale Attacken jeder Art vermeiden, dann sollte man Maria früh morgens lieber aus dem Weg gehen. Sie wirft mit ihren Stoffteddys nach uns, als wir ihr die Bettdecke stehlen wollen. Zu dritt springen wir auf ihr Bett, ich halte sie fest und die Zwillinge kitzeln ihre Füße so lange, bis Maria kreischt und schreit vor Lachen.

»Jetzt müssen wir Alex wecken«, strahlt Emma und nimmt meine Hand.

Ich lasse mich von den Kleinen in den Flur ziehen. Mit jedem Schritt, der mich seiner Zimmertür näher bringt, erhöht sich der Rhythmus meines Herzschlags um einen Vierteltakt.

Ich öffne die Tür. Es riecht nach ihm. Das ganze Zimmer riecht nach seinem Aftershave, seinem Haarschampoo, seinem Duschgel, seiner Haut…

Die Jalousien sind geschlossen, der Raum liegt schwarz und stumm vor uns. Ich lasse mich auf die Knie nieder und deute den Kleinen an, meinem Beispiel zu folgen. Sie kichern leise. Ich lege meinen Zeigefinger auf die Lippen, fordere sie auf, still zu sein.

Vorsichtig schließe ich die Tür hinter uns. Zu dritt krabbeln wir über den weichen Teppichboden. Wie die Indianer schleichen wir vorwärts, geschmeidig und lautlos, elegant und umsichtig. Naja, zumindest versuchen wir es. Eigentlich erinnern die Zwillinge eher an zwei kleine Elefanten, wie sie so auf allen Vieren durch den Raum poltern. Es ist dunkel und die Kinder stoßen immer wieder an Möbel, reißen Gegenstände um und flüstern und kichern.

Wenn er nicht gerade im Koma liegt, hat er uns bestimmt schon längst gehört.

Ich bin der Einzige, der das Bett erreicht, Timmy ist vollkommen orientierungslos in Alex' großen Kleiderschrank gekrabbelt und Emma hockt irgendwo unter dem Schreibtisch. Ich kann sie kichern hören.

»Hey, ihr beiden, hierher«, flüstere ich. Trampelnd kommen die Kleinen in Richtung Bett gerobbt. Eines ist sicher, Timmy und Emma haben schlechte Chancen auf eine Karriere als Einbrecher.

»Hört mal zu«, flüstere ich und lege beide Arme um ihre kleinen Körper, um sie nah an mich heranzuziehen. »Wir machen jetzt folgendes, auf mein Zeichen springen wir alle auf das Bett und schreien ganz laut Buh, okay?«

»Darf ich auch wie ein Löwe brüllen?«, fragt Timmy.

»Von mir aus.«

»Ich will aber nicht wie ein Löwe brüllen«, erklärt Emma entschieden.

»Musst du ja auch nicht.«

»Was soll ich dann machen?«

»Mach Buh!«

»Aber ich brüll wie ein Löwe«, wiederholt Timmy.

»Wisst ihr was, jeder macht, was er will, okay?«, seufze ich und hoffe, dass die Diskussion damit beendet ist. Also, wenn er das nicht mitbekommen hat…

»Gut, auf mein Zeichen… macht euch bereit… Jetzt!« Schreiend werfen wir uns auf das Bett. Die Kleinen schlingen ihre Ärmchen um den Körper ihres Bruders und beginnen, wild kreischend an ihm herumzuziehen.

»Aufstehen, aufstehen, aufstehen!«, rufen sie immer wieder. Ich bin derweilen zum Fenster gegangen, ziehe den Rollladen nach oben und lasse das graue Licht des Regentages durch die Scheibe dringen.

Alex rührt sich nicht. Egal, was die Zwillinge machen, ob sie hüpfen oder schreien, ihn kneifen oder an seiner Bettdecke ziehen, er liegt stumm da und stellt sich schlafend. Sein blondes Haar hängt ihm weich ins Gesicht, die Augen sind geschlossen und auf seinen Lippen schwebt ein unauffälliges Grinsen.

Ich sehe ihn an. Ich will es nicht, wirklich nicht, aber in meinem Inneren blitzt der irre Wunsch auf, mich zu ihm in dieses warme Bett zu legen und mich an seinen wundervollen Körper zu schmiegen… Schnell schüttle ich den Kopf.

»Er wacht einfach nicht auf«, beschwert sich Timmy ungeduldig und stemmt seine kleinen Hände in die Hüften.

»Der tut nur so«, meint Emma wütend und piekt ihrem großen Bruder immer wieder mit dem Zeigefinger in die Wange.

»Nee, er schläft wirklich noch. Tja, da kann man leider nichts machen.« Ich seufze gespielt.

»Aber er soll aufstehen«, protestiert Timmy empört.

»Wir bekommen ihn leider nicht wach, Timmy. Aber wenn er schon mal so tief schläft, dann können wir das doch ausnutzen, oder? Also, ihr dürft jetzt alles in diesem Zimmer anfassen und mitnehmen, was ihr wollt. Wie wäre es zum Beispiel mit seinen Klamotten? Mit denen kann man toll spielen und auch sein Nintendo gehört jetzt euch.«

Die Zwillinge jubeln, springen vom Bett und eilen auf Alex' Kleiderschrank und seinen Schreibtisch zu.

»Finger weg!«, brüllt er, noch ehe die Kinder etwas berühren können.

»Oh, Alex, du bist ja doch wach.« Ich klimpere begeistert mit den Wimpern und strahle ihn an. Die Zwillinge lächeln erfreut. Stöhnend lässt sich Alex zurück in die Kissen sinken, nicht ohne mir vorher noch einen bösen Blick zuzuwerfen.

»Alex, komm jetzt, frühstücken.« Emma fuchtelt aufgeregt mit den Armen.

»Wir haben den Tisch gedeckt«, erklärt Timmy stolz.

»Hm, ja, ich komme gleich.« Er dreht sich wieder um und zieht sich die Bettdecke über den Kopf.

Die Kinder scheinen sich zu langweilen und ihr Interesse an dem verschlafenen Bruder verloren zu haben, sie drehen sich um und verkünden laut, dass sie schon mal nach unten in die Küche gehen und dort auf den Rest der Familie warten wollen. Ich bleibe. Schweigend stehe ich neben dem Bett und schaue auf ihn herab. Sein blonder Haarschopf guckt unter der Decke hervor.

»Was ist denn, Bambi?«, brummt seine Stimme unter Daunen und Laken.

Seufzend setze ich mich auf die Matratze. »Ich sage es ihnen heute.«

Er richtet sich ein bisschen auf und sieht mich fragend an.

»Ich sage Pa und deiner Mutter, dass ich schwul bin.«

Seine grauen Augen fixieren mich, ernst und prüfend. Ich erwidere seinen Blick. Wir schweigen. Ich seufze erneut und lasse mich nach hinten fallen.

»Was denkst du, wie sie reagieren werden?« Starr schaue ich an die Decke.

»Spielt das eine Rolle?« Er blickt auf mich herab.

»Nein, du hast recht, ich werde es ihnen so oder so sagen müssen, aber vielleicht ist es leichter, wenn ich weiß, worauf ich mich einzustellen habe.«

»Vielleicht…«

»Also, worauf muss ich mich einstellen?«

»Peitschen, Schläge, Tritte in den Magen…«

»Alex!«

»Ach, Bambi, wenn ich das wüsste…« Er lacht rau und humorlos.

»Hilfst du mir?« Ich drehe den Kopf, reiße meinen Blick von der weißen Decke los und sehe ihn flehend an. Er reibt sich müde über die Augen, streicht das lange Haar nach hinten und lässt dann den Kopf auf das weiche Kissen sinken. Unsere Gesichter sind sich nun sehr nah…

»Wie soll ich dir denn helfen?«, nuschelt er undeutlich und schließt wieder die Augen.

»Erst mal könntest du nicht wieder einschlafen, wenn ich mit dir über Probleme reden will«, motze ich und halte ihm frech die Nase zu. Er schnappt nach Luft und zwickt mich als Rache kurz in die Seite.

»Ich schlaf ja nicht«, verteidigt er sich gähnend. »Aber was kann ich tun? Soll ich dir packen helfen, alles für deinen Auszug vorbereiten?«

»Danke sehr, du machst mir wirklich Mut«, zische ich gereizt. Seine grauen Augen blitzen entschuldigend. Ich werde wieder ruhiger. »Sprich mit ihnen, versuch, ihnen klarzumachen, dass ein schwuler Sohn kein Weltuntergang ist.« Ich sehe ihn eindringlich an.

»Ich fürchte, ich kann das nicht ganz überzeugend rüberbringen«, seufzt Alex spöttisch. Ich schnappe nach Luft, will etwas erwidern, doch unterbricht er mich, noch bevor ich überhaupt ein Wort sagen kann. »Lass mal, Bambi, keine Grundsatzdiskussion am frühen Morgen, bitte!« Seine Stimme klingt so ernst und will keinen Widerspruch zulassen und so schweige ich und schlucke alle ungesagten Gedanken herunter.

»Wenn du willst, dann rede ich natürlich mit ihnen…«, meint er nach einer kleinen Weile.

»Danke…« Wieder schweigen wir. Ich drehe den Kopf zur Seite, sehe ihn an. Seine grauen Augen schauen zurück. »Wir sollten zum Frühstück gehen.« Langsam richte ich mich auf.

»Hm…« Er verschränkt die Arme hinter dem Kopf und starrt nach oben.

»Kommst du?«

»Ja…«

»Du bewegst dich gar nicht.«

»Nerv nicht, Bambi.« Er verdreht die Augen.

»Beweg dich!« Ich springe vom Bett, schnappe mir seine Decke und zerre daran.

»Lass mich!« Er wehrt sich.

»Nein. Komm jetzt!« Ich ziehe mit ganzer Kraft, verlagere mein gesamtes Gewicht nach hinten und lasse nicht locker. Alex hält dagegen, er ist stärker. Doch plötzlich lässt er los. Ich habe zu viel Schwung und falle sehr unsanft auf den Hintern, die Decke in den Armen. Alex lacht. Wütend sitze ich auf dem Boden. Mir tut der Hintern weh. Mit schmerzverzerrtem Gesicht und knallroten Wangen rapple ich mich auf und reibe mir den Hintern. Autsch!

Alex lacht immer noch. Das ist so selten… aber wenn es dann mal passiert, dann steht man da und weiß nicht, was man tun soll… weil's so schön ist … so ehrlich und frei… Alles, was ich denken kann, ist: Nicht aufhören, er darf nicht aufhören!

Ich würde mich sofort wieder auf den Boden fallen lassen, wenn er dann weiter lacht. Ich rutsche auf Bananenschalen aus, lass mich mit Torten bewerfen, ziehe ein albernes Kostüm an und tanze den Ententanz mit Schwimmflossen und Taucherbrille… Egal, was es ist, ich tu alles, um ihn lachen zu sehen.

»Morgen, Jungs, was ist denn passiert?« Pas Kopf erscheint in der Zimmertür. »Kommt ihr bitte zum Frühstück?«

Alex nickt schnell. Er ist nun still, sieht mich aber immer noch amüsiert an. Ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll, darum schweige ich einfach und gehe langsam Richtung Tür. Ich humple ein bisschen, mein Steißbein schmerzt. Als ich im Flur stehe, kann ich ihn in seinem Zimmer kichern hören. Strahlend steige ich die Treppenstufen nach unten.

Es hat eine halbe Ewigkeit gedauert, alle Familienmitglieder um den Esstisch zu versammeln. Aber nun ist dieses kleine Wunder vollbracht und ich reiche den Brotkorb herum, damit sich jeder eine Scheibe nehmen kann.

Bettina mustert ihr Gedeck. Neben einer überdimensionalen, giftgrünen Kaffeetasse, deren Ohren man als Henkel benutzen kann, und einem viereckigen, weißen Porzellanteller liegen eine silberne Kuchengabel und ein Fischmesser. In ihrem Kaffee schwimmt ein kleiner Einwegplastiklöffel. Sie scheint nicht zu wissen, wie sie auf diesen Anblick reagieren soll.

»Jeder hat was anderes«, erklärt Emma fröhlich und deutet auf die Gedecke.

»Aha!«, macht ihre Mutter.

»Das sieht lustig aus, gell?« Timmy blickt grinsend in die Runde.

»Und wie.« Ich verteile mit einem großen Fleischermesser Butter auf meiner Brotscheibe. Die anderen sagen nichts. Pa und Bettina werfen sich kurze Blicke zu und sehen dann zu mir. Scheinbar gehen unsere Ansichten, was Erziehung betrifft, etwas auseinander.

»Was habt ihr für den heutigen Tag geplant?«, fragt Pa an Alex gewandt. »Triffst du dich nachher noch mit Anja oder kommt Tom vorbei?«

»Bloß nicht«, zischt Maria, noch ehe Alex antworten kann. Maria hat Tom seine wenig dezenten Annäherungsversuche André gegenüber noch immer nicht verziehen.

»Maria, rede nicht so über die Freundin deines Bruders. Anja ist ein liebes Mädchen, so hübsch, klug und aufmerksam. Und sie weiß, wie man sich zu benehmen hat.« Bettina macht eine bedeutende Pause.

»Anja ist eine falsche, lästernde Schlange«, wirft Maria schnell ein.

»Maria!« Bettina ist empört.

»Das stimmt. Sie hat gesagt, Tobi hätte eine schreckliche Frisur.« Maria nickt bestätigend.

»Was?« Ich starre sie entsetzt an.

»Sie meinte, deine Haare wären zu lang für einen Jungen…«

»Diese kleine Schlam…«

Bettina räuspert sich, Pa sieht mich drohend an und Alex fixiert mit kühler Miene sein Marmeladenbrot. Ich beiße mir fest auf die Unterlippe, schlucke alle weiteren Beschimpfungen runter und versuche, die brodelnde Wut in meinem Inneren zu unterdrücken. Sie hat jedes Recht der Welt, mich zu hassen. Ich denke zwar nicht, dass sie wirklich weiß, was zwischen Alex und mir vorgefallen ist, aber wenn sie nicht gerade bescheuert ist, dann wird sie sich ihren Teil schon denken können.

»Ich denke, ein Friseurbesuch wäre vielleicht kein Fehler.« Verdutzt sehe ich Bettina an. Sie lächelt unsicher und zuckt mit den Schultern. »Deine Haare sind wirklich schon ziemlich lang…«

»Nicht zu lang«, rufe ich schnell.

»Naja…«, meint sie und sucht bei ihrem Mann nach Unterstützung.

»Für einen Jungen sind sie zu lang. Sie reichen dir fast bis auf die Schultern.« Pa nickt ernst.

Für einen Jungen… einen richtigen Jungen! Einen Jungen, der Fußball spielt, mit Kumpels um die Häuser zieht und mit Mädchen ausgeht. Einen Jungen, der über Blondinenwitze lacht, Autos reparieren kann und Klamotten einkaufen schrecklich findet. So oder so ähnlich stellt er sich wohl einen Jungen vor. So oder so ähnlich muss sein Sohn sein.

Bin ich aber nicht. Ich mag meine langen Haare, ich finde Shoppen super, Mädels sind zum Reden da und Jungs zum Knutschen.

Plötzlich wird mir das Herz sehr schwer. Flau und unangenehm kribbelig fühlt sich mein Magen an. Ich bekomme Angst. Wieder hat mir Pa deutlich gezeigt, wie er über Männer und Frauen denkt, wer welche Rolle hat und welche Erwartungen er an seinen Sohn stellt. Wie wird er da reagieren, wenn ich ihm gestehe, dass ich Bartstoppeln und Bauchmuskeln viel erotischer finde als Brüste und rot geschminkte Lippen?

Betreten rühre ich in meinem dampfenden Kaffee. Ich zupfe etwas an meinem Brot herum und überlege, wie ich Pa und Bettina am besten auf mein Coming-out vorbereite.

Ich könnte die Sache humorvoll gestalten und herunterspielen: Ich muss euch etwas ganz, ganz, ganz Schreckliches sagen: Ich bin ein Kannibale! Ha, da habt ihr euch aber erschreckt, oder? Nee, das war nur Spaß, ganz so schlimm ist es nicht, ich bin nur schwul!

Oder ich könnte es auch in einem Rätsel sagen: Was haben Elton John, George Michael, Freddie Mercury, Boy George und ich gemeinsam? Kleiner Tipp: Es hat nichts mit Musik zu tun!

Nee, alles nicht perfekt. Ich stöhne leise und nippe an meinem Kaffee.

Als wir dann zusammen den Tisch abräumen, habe ich ein wirklich ungutes Gefühl. Stumm reiche ich Alex die Butterdose und ein Marmeladenglas, er räumt sie in den Kühlschrank.

»Willst du es ihnen immer noch sagen?«

Ich blinzle und schaue auf. »Hm?«

»Mom und Dad… Sagst du ihnen jetzt, dass du… du weißt schon…?« Er zieht die Augenbrauen nach oben.

»Dass ich ein liebevoller, faszinierender und anziehender Charakter bin, zudem auch noch wahnsinnig gut aussehe und unglaublich beweglich im Bett bin?« Ich schenke ihm ein spöttisches Lächeln.

»Das willst du ihnen erzählen? Also wirklich, Bambi, ich denke, du solltest sie nicht dermaßen anlügen!«

Ich verdrehe die Augen und muss doch ein bisschen grinsen. Maria bringt einen Stapel Geschirr rein und rempelt Alex beim Vorbeigehen mit der Schulter an.

»Sehr erwachsen.« Alex grinst abfällig.

»Ja, alle beide.« Ich drehe mich um und schlurfe aus der Küche.

Er folgt mir. »Und du bist dir wirklich sicher, dass du das tun willst?«

»Ja, bin ich und sollte es schief gehen, sollte es in einer Katastrophe enden, dann kannst du dich ja in all deinen Ansichten bestätigt fühlen und ganz entspannt sagen: Siehst du, ich hatte recht, das Leben ist grausam und unfair!« Mein Zynismus kommt nicht gut an. Alex schüttelt nur kurz den Kopf, dann dreht er sich um und will zurück in die Küche gehen.

»Warte«, rufe ich schnell und halte ihn am Arm fest. »Vergiss, was ich gesagt habe, das war dämlich.«

»Ja, allerdings!« Er schnaubt.

»Aber ich muss es ihnen sagen.«

»Wenn du meinst…«

»Ja, das meine ich. Alex, ich möchte so sein, wie ich bin. Ich kann nur glücklich sein, wenn ich meine Gefühle leben darf.«

»Oh je, denkst du wirklich, dass du dann jemals richtig glücklich sein wirst? In der realen Welt kann man nämlich nur selten so sein, wie man sich gerade fühlt. Man muss sich oft verstellen und anpassen, das nennt man dann erwachsen sein!« Spott trieft aus seiner Stimme.

»Dann baue ich mir eben meine eigene kleine Welt und dort lasse ich nur die Menschen rein, die ich liebe… Und du musst draußen bleiben, weil du uns sonst immer die Stimmung verdirbst.« Trotzig schiebe ich meine Unterlippe nach vorne.

»Hey, Jungs, alles klar?« Pa geht an uns vorbei und Richtung Wohnzimmer. Ich schaue ihm hinterher.

»So, ich werde nun losziehen und den ersten Baustein meiner eigenen, kleinen Welt legen«, sage ich zu Alex.

»Viel Glück!« Er schafft es nicht ganz, Spott und Zynismus aus seiner Stimme zu vertreiben. Ich achte nicht darauf und folge Pa einfach direkt ins Wohnzimmer. Bettina ist auch da. Sie sitzt in ihrem Lieblingssessel und liest in einem Magazin. Pa greift gerade nach der Tageszeitung.

»Ähm«, sage ich und merke, wie ich plötzlich doch zittere. Beide sehen auf, schauen mich an und warten. Ich bleibe unsicher vor ihnen stehen. Könnte mich eigentlich ja auch setzen… Will ich aber nicht, bin zu hibbelig.

»Ähm, ich müsste mal mit euch reden«, sage ich sehr leise.

»Okay, was gibt's?«, fragt Pa und sieht mich ernst an.

Verdammt, warum ist das eigentlich so schwer? Ich muss doch nur sagen: Ich bin schwul!

»Tobi, ist etwas passiert?« Besorgt mustert Bettina mein blasses Gesicht.

Sie sitzen vor mir, auf ihrer geschmackvollen Couch, die so perfekt in den großen, hellen Raum passt und sich ideal in das Gesamtbild des Hauses einfügt. Bettina trägt einen hellblauen Kaschmirpullover, der ihre grauen Augen und das blonde Haar betont, dazu einen passenden, knielangen Rock in beige. Pa hat das dunkle Haar an der Seite gescheitelt und sauber glattgekämmt. Der Kragen seines weißen Hemdes schaut unter dem grauen Pullover hervor und die schwarze Tuchhose verleiht dem legeren Outfit einen eleganten Touch.

Sie sehen perfekt aus. Traumeltern, Traumehepaar in ihrem Traumhaus. Ich weiß zwar, dass es in ihrem Privatleben genug Lücken und dunkle Flecken gibt, die wirklich alles andere als perfekt sind, doch spielt das momentan keine Rolle. So wie sie mir gerade gegenüber sitzen, so wollen sie sich selbst sehen. Dieses Bild ist es, das sie sich aufgebaut haben, das sie pflegen. Und ich passe da nicht rein… Und schon gar nicht mit dem, was ich ihnen zu erzählen habe.

»Ich… ich…« Stottern. »Ich… glaube, dass ich die Mathearbeit letzte Woche total verhauen habe.«

Versager!

»Ach«, meint Pa und sieht mich prüfend an.

»Ja, ich denke, ich habe ziemlich viel falsch. Ich verstehe einiges nicht so richtig… Alex hat mir aber versprochen, dass er mir Nachhilfe geben wird…«

Gottverdammter Versager!

»Nun, du gehst ja erst seit ein paar Wochen auf die neue Schule und das war jetzt deine erste Mathearbeit, ich denke nicht, dass es so dramatisch ist, wenn du nicht so viele Punkte bekommst. Beim nächsten Mal kannst du dann ja mit Alex lernen.« Bettina lächelt mich an.

»Ja, so sehe ich das auch. Dieser Dacher muss aber auch ein Aas sein. Bei so einem Lehrer könnte ich wahrscheinlich auch keine Spitzenleistungen bringen.« Pa zwinkert mir kurz zu.

»Hast du Angst, uns zu enttäuschen?«, fragt Bettina gerührt.

»Ja, ich habe Angst, euch zu enttäuschen«, sage ich sehr ernst… und sehr ehrlich.

»Oh«, seufzt Bettina und lächelt.

»Das ist Quatsch, Tobi. Gib dir immer Mühe und arbeite hart, dann sind wir auch zufrieden.« Pa lächelt mich aufmunternd an. »Ist nun alles wieder okay? Oder hast du noch was auf dem Herzen?«

»Nein… ich meine, ja… es ist alles okay…« Betreten starre ich auf den Boden. Pa und Bettina scheinen aber recht zufrieden mit ihrer pädagogischen Leistung zu sein. Beide greifen wieder nach ihren Zeitschriften.

»Da ist noch was…«, sage ich plötzlich sehr laut. Überrascht blicken sie auf… und in dem Moment klingelt es an der Tür.

»Martha ist heute nicht da, ich gehe schon«, meint Pa schnell und eilt hinaus in den Eingangsbereich. Bettina und ich bleiben schweigend zurück. Unsicher lächeln wir uns an.

»Schaut mal, wer uns so unangemeldet besuchen kommt.« Gut gelaunt führt Pa die Gäste ins Wohnzimmer. Es sind Jasmin und Matthias Eichel.

»Nun tu nicht so, Joachim, wir wissen selbst, dass es unhöflich ist, uneingeladen einfach so irgendwo aufzukreuzen, doch wir sind gerade spazieren gewesen und dachten uns, schauen wir mal vorbei und gucken, was die lieben Zieglers so machen«, meint Matthias lachend. Er geht auf Bettina zu und küsst ihre Wange.

»Wir freuen uns, dass ihr da seid.« Sie lächelt und nimmt dann Jasmin in den Arm. Ich reiche beiden die Hände und muss ganz ehrlich sagen, ich freue mich überhaupt nicht, sie hier zu sehen. Erstens platzen sie mir mitten in mein Coming-out und das ist nun wirklich unhöflich und zweitens ertrage ich es einfach nicht, wenn Jasmin so wahnsinnig nett zu Bettina ist. Herrgott, sie hat mit dem Mann ihrer Freundin geschlafen, da ist ein reuevoller Gesichtsausdruck und schamhafte Zurückhaltung ja wohl mehr als angebracht, oder?

Stattdessen strahlt und lacht sie gut gelaunt, wirft in einer anmutigen Bewegung ihr Haar nach hinten und zeigt uns allen ihre weißen, geraden Zähne. Pa bietet ihr den bequemen Platz auf dem Sofa an, sie lächelt und legt ihre Hand auf seinen Unterarm, als sie an ihm vorbeigeht. Eine kleine Geste, Bettina und Matthias haben sie nicht bemerkt und wenn doch, dann haben sie sich dabei sicher nichts gedacht. Doch mir ist sie aufgefallen und ich denke mir etwas dabei.

Pa hat gesagt, ihre Affäre sei beendet. Er hat gesagt, es sei vorbei. Er merkt, dass ich ihn ansehe. Sein Lächeln verschwindet, plötzlich ist da Unsicherheit. Nur Unsicherheit oder auch ein quälend schlechtes Gewissen? Das kann nicht sein, er liebt Bettina…

»Tobi, wir reden später weiter, oder?« Fragend sieht er mich an.

Ich verziehe missmutig das Gesicht und gehe mit gesenktem Kopf in die Küche, als sich die vier Erwachsenen im Wohnzimmer niederlassen und sogleich beginnen, den neuesten Tratsch und Klatsch auszutauschen.

»Und?« Alex hebt die Augenbrauen und sieht mich an, sobald er mein Eintreten bemerkt hat. Er reißt mich aus meinen misstrauischen Gedanken. Elena sitzt mit den Zwillingen am Küchentisch und malt mit ihnen. Alex und Maria machen den Abwasch. Zusammen! Kurz bleibe ich stehen und starre sie an. Ist das ein Traum?

»Was ist nun?«, wiederholt Alex ungeduldig. »Was haben sie gesagt?«

»Ich habe vierundzwanzig Stunden Zeit, um das Haus zu verlassen«, sage ich trocken und schnappe mir einen roten Apfel. Alex und Maria starren mich mit riesigen Augen an. Sie sehen entsetzlich erschüttert aus. »Oh mein Gott, es ist unglaublich, was ihr euren Eltern zutraut.« Ich schüttle teils amüsiert, teils schockiert den Kopf.

»Du hast uns verarscht?«, ruft Maria wütend. Sie wirft mit dem Küchenhandtuch nach mir. Alex macht ein wirklich finsteres Gesicht. Er presst seine Lippen fest aufeinander und wendet sich wieder der Spüle zu. Ich gehe zu ihm und muss mir das Lachen verkneifen, als er sich demonstrativ von mir wegdreht.

»Tut mir leid, ich wollte euch nicht erschrecken. Aber schön zu wissen, dass ihr mich so vermissen würdet.« Ich lege meine linke Hand auf seinen Unterarm, doch er stößt sie sofort weg und schmollt weiter.

»Wir würden dich nicht vermissen«, motzt Maria und wirkt dabei nicht sehr überzeugend.

»Ich habe es ihnen nicht gesagt«, seufze ich und gehe zu Elena und den Kindern.

»Was? Ehrlich? Warum nicht?« Maria folgt mir. Schwer lasse ich mich auf einen der Küchenstühle sinken und nehme das weiße Blatt Papier entgegen, das Elena mir reicht.

»Ging irgendwie nicht«, sage ich nur.

»Du hast gekniffen. Du bist ein Feigling.« Maria scheint nicht besonders viel Mitgefühl für mich zu haben. »Als Alex gerade gesagt hat, du willst dich vor Mom und Dad outen, da wusste ich sofort, das macht der sowieso nie.«

»Natürlich werde ich es ihnen sagen… Nur eben jetzt noch nicht.« Ich sehe Maria böse an. »Auch wenn du es dir vielleicht nicht vorstellen kannst, das ist nicht so leicht…«

Maria zuckt mit den Schultern und macht ein überhebliches Gesicht, dann dreht sie sich um und geht zurück zu Alex, um ihm beim Abtrocknen zu helfen.

»Ich denke, du darfst nicht aufgeben«, meint Elena leise und lächelt mich aufmunternd an. »Bettina und Joachim sind keine Unmenschen. So schlimm wird es sicher nicht.«

Vielleicht hat sie recht. Wahrscheinlich hat sie recht. Ja, ganz sicher. Und trotzdem…

Mit einem blauen Buntstift bewaffnet beginne nun auch ich, das weiße Papier zu bearbeiten. Alex setzt sich neben mich und schaut mir über die Schulter.

»Was ist das für ein Tier?«, fragt er ernst.

»Das ist kein Tier… Das bin ich.« Beleidigt schiebe ich meine Unterlippe nach vorne und beuge mich noch etwas tiefer über das Blatt. Konzentriert male ich weiter.

»Und warum wächst dir da was aus der Brust?« Er klingt amüsiert.

»Das ist mein Arm…« Ich schmolle.

»Wirklich?«

»Ja, wirklich.«

»Tut mir leid, wenn ich dich enttäuschen muss, aber du kannst einfach nicht zeichnen.«

»Doch!« Ich kritzle weiter. Emma erklärt uns laut, sie wolle das weiße Einhorn, das sie eben gemalt hat, Hörnchen nennen und ihrer Mom schenken.

»Eure Bilder sind beide wunderschön«, lobt Alex die Zwillinge. »Viel schöner als das, was Tobi da fabriziert. Was soll das eigentlich werden?«

Ich werfe ihm einen leicht empörten Blick zu. »Das bist du!«

»Ich?« Er lacht. »Aber warum bin ich so winzig, ich reiche dir ja kaum bis zur Hüfte und was ist das da?« Er deutet auf das Strichmännchen, das ihn darstellen soll.

»Das ist eines deiner Beine«, erkläre ich.

»Oh, und ich dachte schon…«

»Ha, das hättest du wohl gerne.« Ich muss lachen.

Er grinst. »Und warum bin ich jetzt so klein?«

»Damit ich dich treten und in den Schrank sperren kann, wenn du mich nervst.«

»In welchen Schrank?«, fragt er lachend.

»In den hier.« Und schnell kritzle ich ein Viereck mit Türen auf das Blatt Papier.

»Das ist grausam«, meint Alex und betrachtet mein Werk.

»Ich tu's doch auch nur, wenn du mich ärgerst.«

»Nein, ich meine dein Zeichentalent ist grausam.« Grob nimmt er mir das Blatt aus der Hand und schnappt sich einen Bleistift.

»Was machst du?« Ich beobachte ihn neugierig.

»Ich backe einen Kuchen.« Er schüttelt spöttisch den Kopf. »Blöde Frage, Bambi, wonach sieht's denn aus?«

»Malst du uns?«

»Hm…« Er beugt sich konzentriert über das Papier und beginnt mit schnellen Strichen und Linien zwei Figuren neben meine Kritzeleien zu zeichnen. Ich sehe ihm dabei zu.

Langsam werden aus den Formen, Schraffierungen und Strichen Gesichter, Haare, Hälse und Oberkörper. Der Stift in seiner Hand rast über das Papier. Fast könnte man meinen, er hätte einen eigenen Willen. Mit schwungvollen, kleinen und großen Bewegungen tanzt, schwebt und fährt er über die weiße Oberfläche und lässt ein Bild zurück, dass so lebendig erscheint, dass ich das Gefühl habe, es müsste schon seit einer halben Ewigkeit existieren.

Fasziniert beobachte ich Alex' Hand, die schlanken, langen Finger, die den Bleistift festhalten, ohne ihn zu umklammern oder in seiner Freiheit einzuengen. Immer wieder fallen ihm einzelne Strähnen in die Stirn, er befeuchtet vollkommen konzentriert seine Lippen, zieht die Augenbrauen in Anstrengung zusammen und bemerkt meinen starren Blick nicht.

Ein kurzer, harter Schmerz durchzuckt mein Schienbein. Ich zucke erschrocken zurück. Elena malt immer noch an ihrem Regenbogenbild, völlig ruhig und unauffällig. Der warnende, versteckte Blick, den sie mir allerdings zuwirft, spricht Bände.

Ich lächle. Meine Wangen fühlen sich heiß an, schnell schlägt das Herz in meiner Brust. Herrgott, das war knapp! Ich hätte mich beinahe vergessen… verraten… Danke, Elena! Sie erwidert mein kleines Lächeln. Nervös rücke ich etwas zur Seite, bringe einen anstandsgemäßen Abstand zwischen Alex und mich, zwischen unsere Körper. Ich räuspere mich, wie um mich selbst wieder zur Vernunft zu rufen.

»Fertig!« Zufrieden legt er den Bleistift beiseite und betrachtet die Zeichnung. Ich ziehe das Blatt zu mir heran.

Das Bild zeigt Alex und mich, nebeneinander. Die Figuren berühren sich nicht, trotzdem sind sie sich irgendwie nah. Und obwohl es nur eine einfache Skizze ist, steckt sie so voller Leben… voller Wärme… Liebe… Er hat uns wunderbar getroffen… oder … ich weiß nicht, ich finde fast, er hat mich zu hübsch gemalt, zu süß… Ich bekomme rote Wangen und mir wird sehr warm. Ob er mich so sieht? Mit sanften, großen Augen und diesem frechen Lächeln…

Plötzlich ist es mir sehr unangenehm, gerade mit den Zwillingen, Elena und Maria in der Küche zu sitzen… Wie kann eine einfache Bleistiftskizze nur so intim sein? Meine Hände zittern ein bisschen, darum lasse ich das Blatt eilig sinken und lege es wieder auf den Tisch. Alex mustert mich, seine anfängliche Zufriedenheit weicht der üblichen kühlen Maske.

»Ist nur eine Kritzelei…« Er nimmt das Papier und will es zerknüllen.

»Bist du verrückt geworden?« Ich packe schnell sein Handgelenk und halte ihn auf.

»Das ist Müll!«

»Blödsinn!« Ich versuche, ihm das Papier zu entreißen. »Du kannst wirklich wunderschön zeichnen und das weißt du auch.«

»Kann ich nicht.« Er hebt das Bild in die Höhe, damit ich nicht rankomme.

»Doch kannst du, wo hast du das gelernt oder hast du das Talent geerbt?«

Er hält in seiner Bewegung inne und funkelt mich wütend an. »Lass die beschissene Schleimerei, das nervt«, zischt er aufgebracht.

Die Kleinen, Elena und Maria sehen uns mittlerweile mit großen Augen an. Sie fragen sich wohl, was passiert ist. Bis eben saßen wir noch friedlich und einträchtig nebeneinander, haben uns leise und vertraut unterhalten und waren uns sehr nah, und nun…

Ich verstehe es genauso wenig. Wenn ich nur wüsste, was ich falsch gemacht habe. Alex steht auf und verlässt die Küche, das Blatt Papier in seiner Hand zerknüllt. Als er am Mülleimer vorbei rauscht, wirft er das Knäuel achtlos hinein. Wir sehen ihm nach.

»Was ist passiert?«, fragt Elena mit leiser Stimme.

»Ich weiß nicht…« Es ist die Wahrheit.

»Vielleicht hat er ja seine Tage«, meint Maria trocken.

»Was für Tage?« Timmy sieht seine Schwester fragend an.

Ich bekomme nicht mehr mit, was Maria ihm antwortet. Schnell bin ich aufgestanden und zum Mülleimer geeilt. Vorsichtig falte ich das Bild auseinander und streiche es mit der Handfläche glatt. Es ist immer noch schön. Ich verstaue es in meiner hinteren Hosentasche.

Ein Geschenk von Alex… Naja, nicht richtig, aber fast. Niemals könnte ich so etwas wegwerfen. Ich will es aufbewahren… so wie ich auch die Gefühle für ihn immer aufbewahren werde…

32. Kapitel

Differenzen

»Tobi?« Martha steht am Fuß der Treppe und ruft laut meinen Namen.

»Ja…«, antworte ich stöhnend und nehme eilig immer zwei Stufen auf einmal. Meine Jacke, die Tasche und meine Schuhe an mich gepresst stürme ich die Treppe nach unten.

»Pass auf, du brichst dir noch das Genick«, warnt mich Martha besorgt, als ich keuchend vor ihr zu stehen komme. »Warum schaffst du es nicht ein einziges Mal, pünktlich zu sein, hm?« Tadelnd schüttelt sie den Kopf und drückt mir eine Tupperdose in den sowieso schon total überladenen Arm. »Dein Frühstück. Und nun beeil dich, Alex ist schon am Wagen. Er hat gesagt, er wartet noch zwei Minuten, dann fährt er ohne dich.«

Ich nicke nur, lasse mir von Martha die Tür öffnen und eile nach draußen. Alex sitzt im Auto. Er liest in einem Buch und schaut genervt auf, als ich die Beifahrertür aufreiße und meinen gesamten Kram auf den Sitz fallen lasse.

»Ich hasse Unpünktlichkeit«, meint er grob.

»Dir auch einen wunderschönen guten Morgen, mein Engel«, flöte ich mit bösem Gesichtsausdruck. »Schlechte Laune?«

»Bis eben noch nicht…«

Ich setze mich auf den Beifahrersitz, lege die Tasche zu meinen Füßen und ziehe mir umständlich meine Jacke an. Nur der blöde Reißverschluss klemmt und will sich nicht zuziehen lassen.

»Ich hasse Stress am frühen Morgen«, seufze ich und sinke erschöpft zurück in den Sitz.

»Dann steh früher auf.«

»Kann ich nicht und schon gar nicht, wenn ich so komische Sachen geträumt habe.«

»Kommt jetzt der Teil, in dem ich dich frage, was du denn Komisches geträumt hast?« Er grinst.

»Ja.«

»Was hast du denn so Komisches geträumt?«, fragt er immer noch grinsend.

»Ich habe von dir geträumt… und von einer Schildkröte«, erzähle ich und öffne die Tupperdose.

»Pervers!«, spottet er.

»Wir waren alle auf dem Weg nach Australien. Die ganze Familie und du, ihr seid mit einem schicken Schiff über den Ozean gefahren, während ich auf dem Rücken einer Schildkröte gesessen habe.«

»Sowas nennt man dann Zweiklassengesellschaft.«

»Ich fand das gar nicht witzig«, sage ich empört und beiße von meinem Wurstbrot ab. »Ihr wolltet mir nicht helfen. Ihr wolltet mich nicht dabeihaben, ich durfte nicht auf eure feine Party…«

»Es gab eine Party?«

»Ja, mit Schirmchen in den Cocktails und Kaviar.«

»Igitt!« Er verzieht das Gesicht.

Ich kaue eine Weile auf meinem Brot herum, dann drehe ich den Kopf und sehe ihn an. »Was, denkst du, hat mein Traum zu bedeuten?«

»Dass du dir ein Haustier wünschst und am liebsten eine Schildkröte«, schlägt Alex locker vor.

»Haha.« Ich strecke ihm die Zunge raus.

Alex hält den Wagen an einer roten Ampel und sieht mich kurz an. »Bambi, nur weil Mom meint, du solltest mal zum Friseur gehen, und Dad dir gegenüber immer noch ziemlich unsicher ist, bedeutet das noch lange nicht, dass sie sich für dich schämen, dich nicht als Familienmitglied akzeptieren oder gar loswerden wollen.« Sein Ton ist ernst.

»Und wenn sie erfahren, dass ich schwul bin?«, frage ich leise. Die Ampel schaltet um auf Grün und Alex tritt aufs Gaspedal. Er sagt nichts. »Findest du meine Haare auch so schrecklich?«, nuschle ich nach einer Weile und versuche, die langen Strähnen mit den Fingern zu ordnen. Ich traue mich nicht, ihn anzuschauen. Mit roten Wangen starre ich aus dem Fenster.

»Du bist eine wahre Vogelscheuche, Bambi«, sagt er und seine Stimme klingt dabei so warm, dass sich die kleinen, dunklen Härchen auf meinen Armen wohlig aufstellen und sich mein Kopf ganz arg heiß anfühlt. Würde ich in einem Comic leben, dann würde aus meinen Ohren in diesem Moment ganz sicher pfeifender Dampf strömen.

»Ehrlich?«, murmle ich und kann mir ein Grinsen nicht länger verkneifen.

»Hm, einfach abscheulich«, meint er sanft. Ich kaue mit kribbeligem Magen auf dem Brot in meiner Hand herum und genieße unser angenehmes Schweigen.

Ich schlucke gerade den letzten Bissen herunter, als Alex den Wagen auf den Schulparkplatz lenkt. Er muss nicht lange nach einer Parklücke suchen. Ich verfluche schon wieder meine Jacke, deren Reißverschluss immer noch nicht zugehen will. Ist wohl kaputt.

»Kommst du?« Alex legt sich den Tragegurt seiner Tasche über die rechte Schulter und sieht mich fragend an. Ich stehe neben dem Auto und rüttle und ziehe an dem beschissenen Reißverschluss herum.

»Gleich«, zische ich durch die Zähne.

»Oh, Bambi, hat dir deine Mama nicht gezeigt, wie man sich richtig anzieht?« Grinsend kommt er zu mir zurück. Er drückt meine Hände beiseite, greift nun selbst nach dem widerspenstigen Reißverschluss und fummelt sorgfältig an ihm herum. Er steht dicht vor mir, den Blick auf seine Hände gesenkt, die irgendwo in Hüfthöhe an meiner Jacke herumzupfen.

Ich beobachte seine Finger, die immer wieder unabsichtlich meinen Gürtel, mein Shirt und meinen Bauch streifen. Nee, das macht mich nervös… schnell woanders hingucken… Mit klopfendem Herzen hebe ich den Kopf und bereue es sofort, nun sind mir sein Gesicht, die weichen, blonden Haare und sein vertrauter, warmer Duft gefährlich nahe… Ich schlucke trocken. Kann er nicht schneller machen, bitte? Wenn uns jemand sieht…

Alex hat viel mehr Fingerspitzengefühl und Geduld als ich. Er schafft es, den kaputten Reißverschluss wieder einzufädeln, und schließt meine Jacke mit einem surrenden Ruck.

»Fertig«, meint er zufrieden und lächelt.

»Toll, danke… ähm, kannst du dann bitte mit meinen Schnürsenkeln weitermachen?« Ich versuche zu scherzen, doch hört sich meine Stimme unnatürlich hoch und dünn an, so, als hätte ich einen Fußball zwischen die Beine bekommen. Er lächelt immer noch und ich räuspere mich unsicher.

»Hey, ich hoffe, ihr spielt das Spiel auch andersrum, sonst ist es ja langweilig.« Wir drehen uns um und erblicken Lena und Tom, die grinsend ein paar Meter entfernt stehen und uns mit amüsiertem Blick beobachten.

»Häh?«, frage ich verwirrt.

»Na, wenn er dich schon anziehen muss, dann darf er dich doch wohl auch ausziehen, oder?«, feixt Tom und Lena lacht.

»Sehr witzig«, brumme ich mit roten Wangen. Alex verzieht keine Miene. Mit einem einzigen Handgriff holt er sein Mathebuch aus der Tasche und knallt es Tom sehr unsanft auf den Hinterkopf.

»Aua… Spinnst du?« Tom reibt sich den schmerzenden Schädel. »Das war echt übertrieben, Alex…«

»Sieh es als nachträgliche Rache für jeden dummen Kommentar, den ich dir einfach so habe durchgehen lassen.« Alex verstaut das Buch wieder in seiner Tasche und geht dann langsam in Richtung Schulgebäude.

»Dumme Kommentare?« Tom macht große Augen und schenkt uns seinen unschuldigsten Welpenblick. »Ich?«

Lena und ich müssen lachen. Mit schnellen Schritten holt Tom Alex ein und versucht, ihm immer wieder ein Bein zu stellen. Die beiden rangeln und schubsen sich freundschaftlich.

»Wie die kleinen Kinder«, ruft Lena feixend. Tom streckt ihr die Zunge raus. Ich beobachte Alex' Rücken, sein Gesicht, wenn er Tom ansieht, sein Lachen…

»Habt ihr miteinander geredet?«, fragt Lena mit gesenkter Stimme und hält mich ein bisschen am Arm fest, um mehr Abstand zwischen uns und den Jungs zu bekommen.

»Nein. Wieso?« Wir sind stehen geblieben.

»Ich weiß auch nicht…« Sie zuckt mit den Schultern. »Wie ihr eben miteinander umgegangen seid…«

»Wir können uns doch nicht die ganze Zeit anfeinden, oder?«, sage ich ernst.

»Ja, natürlich, aber man merkt eben, dass da noch mehr ist.«

Ich schüttle abweisend den Kopf und versuche eilig, zu den anderen beiden aufzuschließen. Lena hält mich am Ärmel meiner Jacke fest.

»Tobi, warte mal, bitte. Willst du nicht doch noch mal mit Alex reden?« Sie sieht mich ernst an.

»Warum sollte ich? Um mir den dritten, vierten Korb zu holen? Um mir zum hundertsten Mal sagen zu lassen, dass er mich nicht will?« Irgendwie fange ich gerade zu zittern an…

»Das ist Blödsinn, er will dich doch… Er liebt dich. Man muss kein Diplom-Psychologe sein, um seine Blicke deuten zu können.«

»Ich finde es schade, dass du keine Diplom-Psychologin bist, denn ich brauche bald eine, wenn ich weiter über diese ganze Scheiße nachdenke. Ich fürchte nämlich, demnächst den Verstand zu verlieren.« Ich bin ein bisschen lauter geworden und sehe Lena nun direkt an. Sie starrt zurück.

»Okay, und du denkst, die beste Therapie wäre es, mit irgendwelchen dahergelaufenen Typen auszugehen?«

»Erstens ist Kim kein dahergelaufener Typ, zweitens gehen wir nicht nur miteinander aus, sondern haben eine richtige Beziehung und drittens…«

»Ihr habt eine richtige Beziehung?« Lena lacht kurz auf. »Nach einer Woche? Nach zwei Dates?« Sie schüttelt ernst den Kopf.

Ich schnaube wütend. Wieso denkt eigentlich jeder, er oder sie müsste über mein Liebesleben urteilen? Gottverdammte Scheiße, das ist ja wohl meine Sache, oder?

»Ja, Kim und ich haben eine Beziehung… Und wir haben Sex«, fauche ich schließlich aufgebracht.

»Ihr… ihr habt miteinander geschlafen?« Mit großen Augen starrt sie mich an.

»Ja.«

»Weiß Alex schon davon?«

»Natürlich, das war das Erste, was ich nach meinem Orgasmus getan habe. Ich habe ihn angerufen und ihm alles erzählt: Stellung, Größe, Dauer…«

»Tobi, du Idiot, du machst alles kaputt.« Lena verschränkt die Arme vor der Brust und sieht irgendwie verzweifelt aus.

»Ich mache alles kaputt?«, frage ich atemlos.

»Ja.« Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Schnaubend schüttle ich den Kopf. Lena sieht mich immer noch ernst an. »Ihr gehört zusammen«, sagt sie leise.

Ich kann mir ein kurzes, freudloses Lachen nicht verkneifen.

»Ich weiß, dass du an Märchen, dass du an die einzig wahre Liebe glaubst.« In ihren Augen leuchtet es hell. »Alex ist dein Rhett Butler, dein Mr. Darcy, dein…«

»Hm, Mr. Darcy ist sogar ziemlich passend, ich meine, die eiskalte, emotionslose, britische Art…«

»… er ist dein Mr. Big.« Sie strahlt begeistert.

»Tja, es kommt aber nicht immer nur auf die Größe an…« Ich verschränke abweisend die Arme vor der Brust. »Lena, ich lebe nicht in New York, ich bin keine Frau Ende dreißig, ich lese keine Cosmopolitan und trage keine Manoloblablas…«

»Manolo Blahniks!«, zischt sie empört.

»Wie dem auch sei, vergleiche mich bitte nicht mit den Darstellern überdrehter, amerikanischer TV-Serien.« Wütend will ich mich zum Gehen wenden.

»Aber…« Sie stellt sich mir in den Weg.

»Lena, lass mich in Ruhe. Mein Leben ist keine Dailysoap, ansonsten hätte ich den Drehbuchschreiber schon längst angezeigt. Und zwischen Alex und mir wird es auch kein Happy End geben. Ich habe mich für Kim entschieden, für eine reale Zukunft, und du musst das einsehen. Oder vielleicht schaffst du dir selbst mal ein Liebesleben an, dann kannst du dich damit beschäftigen.«

Sie starrt mich an. Ich war zu hart… zu gemein… viel zu gemein…

»Lena…«

Sie dreht sich um und eilt schnell auf das Schulgebäude zu. Der Ausdruck in ihren Augen… Ich schlucke. Scheiße, Scheiße, Scheiße! Du bist so ein Arschloch, Tobi!

Ich verfluche mich selbst und versuche, Lena noch einzuholen, doch zu spät, sie ist bereits im Inneren des Gebäudes verschwunden. Jetzt erst fällt mir auf, wie ruhig der Schulhof und die Eingangshalle sind. Mist, der Unterricht hat schon begonnen. Ich habe in der ersten Stunde Mathe. Dacher. Ich fange an, zu rennen. Die Gänge sind menschenleer, als ich durch das Gebäude haste und vollkommen außer Atem vor meiner Klassenzimmertür zum Stehen komme.

Ob Lena auch direkt zum Unterricht gegangen ist? Nein, dann hätte ich sie ja eingeholt… Ich klopfe kurz an die Tür und trete ein. Im Inneren des Raumes herrscht die übliche Todesstille. Alle Köpfe drehen sich zu mir, bleiben an meiner keuchenden Gestalt hängen. Ich senke beschämt den Blick.

»Herr Ullmann.« Dachers unfreundliche Stimme dringt an mein Ohr.

»Es… es tut mir sehr leid, dass ich zu spät bin«, sage ich leise und mit heiserer Stimme.

»Kein Problem, ich weiß doch, Sie haben einfach wichtigere Dinge zu tun, als sich auf den Matheunterricht zu konzentrieren, nicht wahr? Sieht man ja ganz deutlich an dem Ergebnis Ihrer Klausur.« Er fischt einen karierten Bogen Papier aus einem Stapel und hält ihn für alle gut sichtbar in die Höhe. Er leuchtet rot. So viel falsch… Ich schiebe mich mit gesenktem Kopf an Dacher vorbei und will mich auf meinen Platz setzen.

»Einen Moment noch, Herr Ullmann. Eigentlich wollte ich die korrigierten Klausuren erst am Ende der Stunde zurückgeben, doch wo wir schon mal dabei sind.« Er drückt mir meine Arbeit in die Hand. »Damit ich Sie nachher nicht weiter damit belästigen muss, wenn Sie wieder träumend aus dem Fenster starren.«

Ich sage nichts. Schnell eile ich auf meinen Platz zu. Lena ist natürlich nicht da. Seufzend lasse ich mich auf den Stuhl sinken und rutsche gleich bis zur Brust unter den Tisch. Am liebsten würde ich ganz verschwinden. Ich bin mir der Blicke aus der Klasse immer noch bewusst. Dacher verteilt nun auch die anderen Klausuren und spart nicht mit bösen Kommentaren.

»Hey?«, zischt es plötzlich rechts neben mir. Ich blinzle schüchtern zu Alex rüber. »So schlimm?«, fragt er ernst. Ich nicke und drehe den Kopf wieder nach vorne.

»Was hat er?« Kann ich Tom viel zu laut tuscheln hören. Alex antwortet ihm nicht.

»Alex?« Anja hat sich nach hinten gedreht und versucht die Aufmerksamkeit ihres Freundes zu erlangen. »Und?« Er zeigt ihr wohl eine Punktzahl, ich schaue nicht hin. Sie lächelt.

»Sehr gut, ich auch.« Dann lacht sie leise. Melli beschwert sich derweilen lautstark über die fiesen Fragestellungen und lässt sich von ihrer Freundin den richtigen Lösungsweg erklären.

»Ich kapiere das nie«, mault sie ungeduldig, dann fällt ihr Blick über die Schulter und auf mich.

»Wo ist denn eigentlich Lena, Tobi?«

»Äh… Sie… Also, ihr war schlecht«, stammle ich unsicher und bekomme rote Wangen.

»Aha.« Melli macht ein wissendes Gesicht. »Stress?«

»Nein, kein Stress«, antworte ich ungeduldig.

»Wie viele Punkte hast du eigentlich in der Klausur bekommen?«, fragt nun Anja. Ihre Stimme klingt höflich und kühl.

»Zu wenige…«, nuschle ich und sehe sie nicht an.

»Ach ja, warum…?«

»Keine Ahnung, vielleicht bin ich einfach zu dämlich, liegt wahrscheinlich an meiner schrecklichen Frisur, unter den langen Haaren kann mein Hirn nicht richtig atmen.« Ich hebe den Blick und sehe ihr fest in die Augen. Sie starrt zurück. Okay, jetzt ist es amtlich: Ich habe eine Feindin!

»So, nun muss ich aber doch wieder um Ihre Aufmerksamkeit bitten, der Unterricht geht weiter. Wenn Sie allerdings meinen, auf Mathematik im Allgemeinen und gute Noten in diesem Fach im Besonderen verzichten zu können, dann bitte ich Sie, nun aus dem Fenster zu starren.«

Dacher tritt an die Tafel, um ein paar Seitenzahlen aufzuschreiben, doch vergisst er nicht, mir vorher noch einen kleinen Blick zuzuwerfen. Ich seufze missmutig und fühle mich ohne Lena an meiner Seite ziemlich nackt und schutzlos. Lena… Wo ist sie? Im Mädchenklo? Weinend? Mir ist ganz schlecht… Ich bin so zornig auf mich selbst… Warum war ich so gemein? Das sieht mir doch gar nicht ähnlich, oder?

Ich rutsche unruhig auf meinem Stuhl hin und her. Am liebsten würde ich aufspringen, hinausrennen und Lena suchen. Ich will sie in den Arm nehmen, mich entschuldigen und ihr bestätigen, dass sie recht hat, dass ich ein Idiot bin und dass ich sie brauche. Der leere Platz neben mir scheint eine grausame Kälte auszustrahlen, eine Kälte, die durch meine Blutbahnen wandert, auf dem direkten Weg zum Herzen. Ich fühle mich ziemlich einsam.

Mein Herz macht einen kleinen Salto, als die Schulglocke endlich ertönt und Dacher sein Buch zusammenklappt. Gott sei Dank! Ich denke, das war die schlimmste Mathestunde meines Lebens.

»Wo ist Lena?« Tom setzt sich auf den leeren Stuhl neben meinem.

»Ähm, ihr war schlecht, sie ist nach Hause gegangen«, lüge ich unsicher.

»Wirklich? Also, vorhin ging es ihr noch recht gut.« Er glaubt mir nicht. »Kommst du mit, einen Kaffee trinken?«

Ich weiß nicht so recht, unsicher schaue ich mich um. Die Hälfte der Klasse hat den Raum bereits verlassen. Ich will nicht allein zurückbleiben…

»Hm… ja.« Ich folge ihm. Wir gehen schweigend durch die Gänge. Der Lärmpegel ist hoch. Vor allem die jüngeren Schüler rufen laut durch-einander, schubsen sich und hüpfen aufgeregt durch die Flure.

»Hey, Tobi.« Ich drehe mich um und sehe Maria, Alina, Jana, André und noch ein paar andere Schüler der zehnten Klasse beieinander stehen.

»Hallo.« Ich winke Maria.

Tom ist auch stehen geblieben. Auf seinem Gesicht erscheint ein dreckiges Grinsen. Er fixiert André. Der Kleine bekommt eine knallrote Birne und schaut verlegen zu Boden. Ich ziehe Tom am Ärmel weiter.

»Guck nicht so, als würdest du ihn gleich bespringen wollen«, nuschle ich.

»Tu ich das?« Tom lacht fröhlich. »Naja, was soll ich machen? Er ist einfach zu niedlich.«

»Maria hat mir erzählt, er hätte dir seine Telefonnummer gegeben.«

»Das stimmt.« Tom nickt.

»Wirst du ihn anrufen?«

»Hab ich schon«, meint er zufrieden. »Wir haben eine Stunde lang telefoniert. Man muss ihm nur etwas Zeit lassen, dann taut er auf und kann ganz schön plappern…«

»Wirst du dich mit ihm treffen?«, frage ich.

»Aber sicher doch!«

»Und dann?«

»Dann werden wir ins Kino gehen, uns Popcorn teilen, während der Film läuft knutschen und danach vögle ich ihn im Wagen meines Vaters.« Tom sieht sehr zufrieden aus.

»Tom!« Ich bin entsetzt.

»Ach herrje, Tobi, nun mach nicht einen auf prüde, kleine Klosternonne. Du treibst es mit deinem Bruder…« Feixend sieht er mich an.

»Ssssscht, bist du wahnsinnig, das hier so herumzuschreien? Du weißt ganz genau, dass wir nicht verwandt sind und wenn du schon so einen Scheiß erzählen musst, dann benutz wenigstens die Vergangenheitsform… Es ist nämlich vorbei.« Wütend funkle ich ihn an.

»Echt?« Er klingt fast enttäuscht.

»Was heißt hier echt?«, frage ich verwirrt. »Alex ist dein bester Freund, da müsstest du eigentlich Bescheid wissen.«

Tom macht ein vielsagendes Gesicht, zuckt nur stumm mit den Schultern und grinst. Was soll denn das? Was will er mir damit sagen? Was hat ihm Alex erzählt? Ich kaue nervös auf meiner Unterlippe herum.

Die Clique steht geschlossen um die Stehtische herum, redet und diskutiert. Thema ist scheinbar immer noch Dachers Mathearbeit. Dirk regt sich lautstark über die Punktevergabe auf. Er behauptet, nahezu jeden Rechenweg richtig gehabt zu haben.

»Das hat er einfach nicht gewertet, der Arsch«, motzt er laut. Die anderen reagieren nicht wirklich auf seine Beschwerden, scheinbar kennen sie diese Tour schon von ihm.

Ich hole mein Handy aus der Hosentasche und wähle Lenas Nummer. Es klingelt, aber sie nimmt nicht ab. Seufzend lasse ich mein Handy zurück in die Hosentasche wandern. Hoffentlich meldet sie sich.

Unsicher werfe ich einen Blick in Richtung der Clique. Soll ich mich dazustellen? Zögernd gehe ich zu Tom. Er unterhält sich gerade mit Micha, Frido und Dirk. Ich halte mich etwas in Toms Schatten, bin froh, nicht angesprochen zu werden und trinke meinen Kaffee.

Alex steht mit Anja bei Melli und Jan. Sie hält seine Hand, spielt mit den einzelnen Fingern und streicht immer wieder mit dem Daumen über seinen Handrücken. Schnell senke ich den Blick, doch ich kann Anjas helles Lachen noch hören. Dann spüre ich ein Vibrieren in meiner Hose… also, in der Tasche… Ich beeile mich und drücke mein Handy ans Ohr.

»Lena?«, frage ich atemlos.

»Nein, leider nicht.« Es ist Kim.

»Oh, sorry«, sage ich schnell. »Ich warte auf einen Anruf von Lena.«

»Aha…« Er hat scheinbar mit einer anderen Begrüßung gerechnet.

»Aber natürlich freue ich mich auch über deinen Anruf. Nein, ich freue mich ganz besonders über deinen Anruf. Ich kann Aufmunterung vertragen.« Ich entferne mich einige Meter von der Clique, damit Kim und ich in Ruhe reden können.

»Ich vermiss dich«, nuschle ich leise. Und ich meine es auch so.

»Ich dich auch, mein Süßer«, raunt er sanft. »Ich rufe dich an, um zu fragen, ob ich dich nicht gleich von der Schule abholen soll?«

»Hm…« Ich überlege kurz. »Ja, warum nicht, kannst du machen.«

»Gut. Wo sollen wir uns treffen?«

»Am besten vor dem Schulgebäude, auf dem Parkplatz«, schlage ich vor.

»Alles klar, dann machen wir es so.« Ich kann sein Lächeln förmlich hören. »Ich freu mich auf dich.«

»Ich mich auch, bis später«, sage ich und versuche, möglichst viel Liebe und Wärme in meine Stimme zu legen. Seufzend lege ich auf.

»War das Lena?«

Erschrocken drehe ich mich um. Alex steht dicht hinter mir.

»Musst du dich eigentlich immer so anschleichen?«, frage ich mit klopfendem Herzen. »Und nein, das war nicht Lena…«

»Wo ist sie?« Seine grauen Augen bohren sich in meine. Ich habe das Gefühl, als könnte er in mich hinein gucken.

»Ich… Sie ist nach Hause gegangen. Magen-Darm.«

Er glaubt mir nicht. Kein Wort. Trotzdem fragt er nicht weiter nach, wendet nur seufzend den Blick ab und wechselt dann das Thema.

»Du musst heute Nachmittag wieder arbeiten, oder?«

»Ja.«

»Soll ich dich fahren?« Er schaut starr geradeaus. Mein Herz macht einen freudigen Hüpfer und fällt dann schwer und hart ins Bodenlose. Ich schlucke. Kim holt mich ja schon ab.

»Also…«, sage ich nervös.

»Tobi!«

Ein Rufen unterbricht mich. Alex und ich bleiben stehen und drehen uns um. Hinter uns, am Ende des Ganges steht Ben. Scheiße! Den habe ich ja total vergessen. Ich war die letzten Tage so mit Kim, der Familie, meinem Outing, Lena, Mathe und Alex beschäftigt gewesen, dass ich Ben, Manu und Marc einfach verdrängt habe. Er kommt mit schnellen Schritten auf uns zu.

»Hi«, sage ich nervös. Dann fällt mir auf, das Hi eine ziemlich vertrauliche Begrüßung und vielleicht für einen Bekannten aus einem Schwulenclub, jedoch nicht für einen Deutschlehrer geeignet ist.

»Hallo, Herr Baummann«, verbessere ich mich schnell. Alex' graue Augen bohren sich prüfend in mein Gesicht. Ich habe das Gefühl, als würde er mir die Wange verbrennen.

»Hallo«, sagt Ben ruhig. »Könnte ich eine Minute mit Ihnen sprechen, Tobi?«

»Ja, natürlich.« Ich nicke.

»Alex, gehen Sie bitte schon mal ins Klassenzimmer, wir kommen sofort nach.«

Alex sieht so aus, als würde er dieser Aufforderung nur sehr ungern nachkommen. Doch dann nickt er kurz und geht. Ben und ich bleiben allein zurück.

»Tobi, ich dachte, es wäre vielleicht eine gute Idee, vor dem Unterricht noch ein paar Kleinigkeiten zu klären. Ich will nicht, dass die Situation zwischen uns nachher irgendwie komisch wird, du weißt doch, was ich meine, oder?«, flüstert er ernst.

»Ja…« Ich atme schwer aus.

»Wegen … hm, wegen Marc…« Er seufzt.

»Was ist mit Marc?«

»Seid ihr Freunde?«, fragt er und klingt dabei sehr gequält.

»Ja, wir sind sehr gute Freunde.« Ich sehe ihm fest in die Augen.

»Hat er etwas gesagt… über mich?« Er wirkt nervös.

»Du meinst, ob er mir von deiner Affäre mit Manu erzählt hat? Ja, ich weiß Bescheid…« Es ist mir unangenehm, hier mit ihm über dieses Thema zu sprechen.

»Das habe ich befürchtet.« Ben seufzt. »Tobi, du musst mir glauben, ich wollte mich nirgends einmischen…«

»Aber du hast gewusst, dass sie zusammen sind. Du hast sie als Paar kennengelernt«, unterbreche ich ihn scharf.

»Ja, das stimmt.« Er seufzt.

Ich schaue zu Boden. »Du brauchst dich vor mir nicht zu rechtfertigen«, sage ich ernst. »Mich geht das Ganze nichts an.«

»Aber Marc ist dein Freund und ich will nicht… Ich will nicht, dass sich diese privaten Differenzen auf deine Meinung von mir als Lehrer niederschlagen. Verstehst du?«

»Du hast Angst, ich könnte dich hassen und um Marc zu rächen, vor der gesamten Schule outen?«, frage ich empört.

»Nein… nein, ich weiß, du bist nicht so ein Mensch. Ich will nur nicht, dass du eine falsche Meinung von mir hast.« Seine braunen Augen suchen nach meinen. »Tobi, es war Dummheit… Ich wollte ihre Beziehung bestimmt nicht zerstören oder so.«

»Hast du auch nicht, sie sind noch zusammen.«

»Ja, ich weiß.« Er nickt und lächelt schwach.

Ich habe noch eine Menge Fragen. Ich will wissen, ob er in Manu verliebt gewesen ist, ob sie sich nahe gewesen sind, ob sie sich irgendwann wieder gesehen haben und all so was. Doch weiß ich natürlich, dass dies sehr private Fragen sind und ich wahrscheinlich keine Antworten darauf bekommen würde.

»Wir sollten deine Mitschüler nicht länger warten lassen. Ach, und wenn jemand fragt, dann haben wir über deine Mathenoten gesprochen.« Er zwinkert mir kurz zu. Ich verziehe missmutig das Gesicht. Ben grinst und gemeinsam gehen wir ins Klassenzimmer.

Es ist eigentlich überhaupt nicht seltsam oder so. Der Unterricht bei Ben, meine ich. Klar sehe ich den Mann dort vorne an der Tafel nun mit ein bisschen anderen Augen. Ich weiß, wo er hingeht, wenn er die Nächte durchmachen will, ich weiß, dass er Brad besser findet als Angelina. Ich weiß, wie er in engen, schwarzen Lederhosen aussieht.

Ich weiß, dass er sich die Brusthaare abrasiert, und ich weiß, dass er mit einem Manuel Schmitt eine Affäre hatte und einen Marc Reuter damit sehr unglücklich gemacht hat.

Marc. Mein schlechtes Gewissen meldet sich sofort wieder zurück. Hier sitze ich, lache über einen kleinen Scherz, den Ben eben gemacht hat und der die ganze Klasse sehr amüsiert, und fühle mich einfach grauenhaft. Doch dann beansprucht der weitere Unterricht meine gesamte Aufmerksamkeit und am Ende der Doppelstunde habe ich das ganze Drama schon beinahe vergessen.

Zu meiner Schande muss ich mir eingestehen, dass ich auch Lena kurzzeitig völlig verdrängt habe. Doch nun auf dem Weg in den Kunstsaal vermisse ich sie wieder sehr. Ich schaue auf mein Handy. Keiner hat versucht, mich zu erreichen. Ich probiere es noch einmal und wähle ihre Nummer. Als ich gerade enttäuscht auflegen will, weil nach dem vierzigsten Klingeln immer noch niemand abgenommen hat, da höre ich ein Knacken in der Leitung.

»Tobi?« Das ist nicht Lena.

»Elena?«, frage ich verwirrt.

»Lena möchte gerade nicht mit dir sprechen«, sagt Elena. Ihre Stimme klingt etwas kühl…

»Ist sie bei uns zu Hause?«, frage ich aufgeregt.

»Ja.«

»Gibst du sie mir, bitte?«

»Nein.«

»Elena, ich weiß, ich habe Mist gebaut…«

»Allerdings.«

»… aber es tut mir so wahnsinnig leid, wirklich.« Ich seufze. »Sag ihr das, bitte.«

»Okay.«

»Okay…« Traurig warte ich darauf, dass sie noch einmal etwas sagt, aber…

Elena legt auf, ohne sich zu verabschieden. Hm, hoffentlich erzählt sie Lena, dass ich mich ganz schrecklich niedergeschlagen angehört habe. Das könnte ich gerade noch brauchen, zwei Freundinnen, die mich meiden und sich gegen mich verbünden. Ich muss das schleunigst wieder geradebiegen.

Schweigend stelle ich mich zu meinen Mitschülern und gemeinsam warten wir auf Jasmin. Noch so ein ungeklärter Fall. Hat Pa sein Wort gehalten und diese kleine Affäre beendet? Gott, ich hoffe es wirklich…