Charly und seine Freunde 1 - Steffen Bärtl - E-Book

Charly und seine Freunde 1 E-Book

Steffen Bärtl

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Beschreibung

Gefangen im Strudel der Zeit, werden der 11-jährige Charly Townsend und seine Freunde an Orte transportiert, die ihre kühnsten Träume in den Schatten stellen. Gefährliche Abenteuer, Todesängste und die Gefahr Vergangenheit und Zukunft zu manipulieren, droht den Kindern auf dieser Reise. Die Hoffnung wieder nach Hause in ihre Zeit zu gelangen, schwindet mit jedem Sprung durch die Zeit.

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Hinweis

Das vorliegende Werk ist, auch wenn es auf Fakten basieren könnte, eine Fiktion. Figuren, Unternehmen, Organisationen und Autoritäten in diesem Roman sind entweder fiktiv oder werden, sofern sie real sind, in einem fiktiven Kontext verwendet, ohne dass die Absicht besteht, ihr tatsächliches Verhalten zu beschreiben.

Inhalt

Das Internat

Birr Castle

Der Lord of Essex

Das Feriencamp

Das Geheimnis von Glamis Castle

Auf den Spuren der Sussex

Ärger im Feriencamp

Friedhof der Schmuggler

Glamis Castle

Urgewalten

Der Fluch der Sussex

Unter wehenden Flaggen

Die Gründung einer neuen Nation

Eine neue Entdeckung

Der Sturm der Wüste

Zurück nach Hause

DAS INTERNAT

Das WELLINGTON COLLEGE ist ein privates Internat und befindet sich in Crowethorn, England. Es wurde im Jahr 1859 zum Gedenken an den Herzog von Wellington gegründet und entspricht den höchsten Anforderungen des internationalen Standards in Sachen Schulbildung. Hier lernen ausschließlich die Kinder derjenigen, die sich das sehr hohe Schulgeld leisten können.

Manche Kinder werden hier allerdings nur angemeldet, weil die Eltern hoffen, dass man ihnen ihre Flausen austreiben kann. Wieder andere müssen die Schule deshalb besuchen, weil begeisterte Schulabgänger die tolle Atmosphäre und Ausstattung des Internates in den höchsten Tönen loben. Traurigerweise sind die meisten Kinder aber hier, weil ihre Eltern keine Zeit für sie haben. Denn in der Welt der Reichen geht es meist nur um Geschäft, Macht und Geld. Sehr selten kommen Kinder einfach nur in diese Schule, weil sie hier etwas lernen sollen.

Jeder Schüler kann sich in eines der 15 sogenannten „Häuser“ einschreiben, in denen jeweils ein ganz bestimmtes Unterrichtsfach vorrangig gelehrt wird. Und jeder Schüler kann sich aussuchen, was ihm am meisten Spaß machen würde.

Der elfjährige Charly Townsend war fasziniert von Archäologie und Geschichte und hatte sich deshalb auch im „Talbot House“ eingeschrieben, als er mit sieben Jahren in das College gekommen war. Das war schon sechs Jahre her und er war in dieser Zeit bereits ein ganzes Stück gewachsen, doch mit 1,40 m noch kein Riese. Trotzdem war er aufgrund seiner blonden Haare und blauen Augen und einer gewissen Ähnlichkeit mit einem jungen Brad Pitt, besonders bei den gleichaltrigen Mädchen sehr beliebt. Er war nicht nur ein Ass im Sportunterricht, sondern insgesamt ein Idealschüler in den Augen seiner Lehrer. Sie übertrugen ihm daher immer wieder besondere Aufgaben, wie z. B. den Vorsitz im Kinderfest-Komitee. Diese erfüllte er stets so hervorragend, dass seine Mitschüler neidisch aber auch bewundernd zu ihm aufblickten. Die Lehrer hatten den größten Respekt vor seinen Leistungen.

Kaum einer bemerkte, dass der pflichtbewusste Junge manchmal heimlich verschwand, um sich in seinem Geheimversteck auf dem Dachboden seinen Tagträumen hinzugeben. Denn nur hier konnte er sein, was immer er wollte. Ein Abenteurer, der die Welt bereiste, sich in viele Gefahren stürzte, in fremde Welten eintauchte und mächtiges Wissen erlangte. Hier war er Kapitän Jack Sparrow, der dem Fluch der Karibik trotzte, Marco Polo, der das riesige Reich Asien erforschte und an der Seite des blutrünstigen aber gebildeten Dschingis Khan kämpfte und lehrte. Gelegentlich war er auch der große Ramses, Pharao über ganz Ägypten. Mit einem Wort oder einer Geste konnte er über Tod und Leben entscheiden. Manchmal führte er auch als Napoleon Bonaparte den Rückzug der Franzosen an oder als schottischer Freiheitskämpfer William Wallace die Schotten in die Freiheit. Wann immer er es einrichten konnte, schlich er sich dazu auf den Dachboden und schwelgte in seinen Tagträumen.

Er war gern im Internat, wo er sich seit dem Tod seiner Mutter wieder beachtet und akzeptiert fühlte. Er hatte sogar einige gute Freunde gefunden – Peter und Susi, mit denen er oft etwas unternahm. Gelegentlich waren auch Henry oder Miro und dessen Schwester dabei. Traf man sich nicht in der ersten kleinen Pause, so hatte man auf jeden Fall Zeit, sich in der großen Pause zu treffen. Sie konnten dann gemeinsam am See sitzen und frühstücken oder zu Mittag essen, sofern es draußen warm genug war.

Charlys Wochenenden waren dagegen meistens wie ein Ausflug ins MAG-ICH-NICHT-LAND. Dann war er mit seinem strengen Vater ganz alleine und vermisste seine Freunde. Sein Vater legte großen Wert auf Gehorsam und er hatte nur wenig Spaß, wenn er alleine in seinem Zimmer saß. Dann schaute er oft aus dem Rundfenster hinaus und stellte sich vor, frei zu sein wie einer der Vögel, die im Garten von Baumkrone zu Baumkrone flogen. Wenn sein Vater es bei seltenen Gelegenheiten erlaubte, so durfte er fernsehen und konnte anschließend in seinem Zimmer die Rolle, die er gesehen hatte, nachspielen. Am Wochenende als er „Braveheart“ angeschaut hatte, metzelte er anschließend mit seinem Holzschwert im Zimmer alle imaginären Feinde der Schotten nieder. Sein Kampfschrei war so laut gewesen, dass sein Vater persönlich ins Zimmer gestürmt war, um nach dem Rechten zu sehen. Doch nicht nur das, er hatte natürlich mit ihm geschimpft und ihm dann das Holzschwert weggenommen. Das war aber die Ausnahme, denn normalerweise war der Franzose Bernard, Hausdiener und Mädchen für alles, sein Aufpasser. Bernard war Charlys männliches Kindermädchen und gleichzeitig die wichtigste Vertrauensperson in Charlys Leben, seit dem Tod seiner Mutter. Bernard kannte viele von Charlys Geheimnissen, die er unter Androhung von vielfältigen Strafen niemals ausplaudern durfte.

Wenn Charly nichts anderes zu tun hatte oder tun durfte, saß er in seinem Zimmer und sah den Mond an, wobei er sich gerne vorstellte, dass seine Mutter ihn von dort aus beobachtete und auf ihn aufpasste und beschützte. Das tat er auch gerne, während er im Internat war – aber nur, wenn er sicher sein konnte, dass niemand ihn dabei beobachtete. Vor allem natürlich, weil er um diese Zeit im Bett liegen und schlafen sollte und nicht am Fenster stehen und in den Nachthimmel starren.

An den Wochenenden sehnte Charly sich wieder nach dem vergleichsweise fröhlichen Internatsalltag. Schon morgens herrschte in den gemeinsamen Wasch- und Duschräumen fröhliches Chaos, wenn Seifen und Zahnbürsten wie vom Erdboden verschluckt waren, oder auch mal eine Unterhose fehlte, die sich später am Ast eines Baumes wiederfand.

Natürlich blieb der Tag nicht so fröhlich, denn es handelte sich immerhin um eine Schule, und so hatten die Kinder einen strammen Stundenplan zu absolvieren. Charly war froh, dass die Lehrer und Fächer sich wenigstens abwechselten und nicht einer alleine alles unterrichtete. Morgens begann der Unterricht normalerweise mit leichter Kost wie Musik oder bei den Mädchen auch Handarbeit. Fächer wie ALGEBRA, MATHEMATIK, GEOMETRIE oder ASTRONOMIE kamen erst kurz vor oder nach der Mittagspause an die Reihe und am Ende des Tages war es dann Zeit für den Sportunterricht.

Im Sommer wurde dieser auf der riesigen Rasenfläche hinter dem College abgehalten. Es war sogar genügend Platz für ein Fußballfeld, ein Rugbyfeld und ein Cricketfeld sowie eine Spielwiese, die von Mädchen und Jungs gemeinsam genutzt werden durfte.

Hinter den Sportanlagen befanden sich die Unterkünfte der Lehrer. Hier verbrachten auch sie ihre freie Zeit. Zu diesem Gebäude hatten die Schüler kein Zutritt – ausgenommen mit Genehmigung eines Lehrers, wenn etwas abzugeben oder abzuholen war.

Manchmal konnte man vom Sportplatz aus genau hören, wann Dr. Ricardo – Lehrer für klassische Musik – Zuhause war. Die Melodien, die er auf seinem Piano dann spielte, übertönte jedes andere Geräusch in der Nähe. Auch so manchen Streit der Jungs. Aber die Musik störte gleichzeitig auch die anderen Lehrer, die sich in aller Ruhe einem Buch oder ihrem Mittagsschlaf widmen wollten.

Nach dem Unterricht gab es im großen Speisesaal Milch, Kakao und für die Lehrer und für die etwas älteren Schüler, Kaffee und Kuchen. Auf den Kuchen freuten sich alle. Auf die Getränke nicht so sehr, da es schon mal vorkam, dass die Milch sauer war. Danach konnten die Kinder lernen, Hausaufgaben machen, mit Freunden spielen oder sich auch in der Innenstadt umsehen, bis sie alle wieder zum gemeinsamen Abendessen zusammenkamen. Danach konnten sie fernsehen, Billardspielen, Kreuzworträtsel lösen oder auch einfach nur Radio hören oder sich unterhalten. Aber nur bis um 22 Uhr die Nachtglocke ertönte und es für die Kinder Zeit war ins Bett zu gehen. Diese Glocke wurde von jedem Haus abwechselnd einmal geläutet und die Kinder stritten sich sogar um diese Aufgabe, da derjenige, der die Glocke läuten musste, eine halbe Stunde länger aufbleiben konnte. Das Gebäude, in dem sich die Glocke befand, lag nämlich im äußersten Haus des Geländes, wer läuten musste, hatte so ein paar Minuten mehr Freizeit.

Unsere Geschichte beginnt am letzten Tag vor den großen Ferien, und zwar in der letzten Unterrichtsstunde des Schuljahres. „Bedeutende Kriegsherren in der Geschichte“, stand gerade auf dem Stundenplan. Und Geschichte war Charlys absolutes Lieblingsfach. Trotzdem: Jeden Moment konnte die Glocke endlich die Ferienzeit einläuten.

“Nicht schon wieder du, Charly! Weiß denn niemand sonst von euch die Antwort?”

Es waren stets die gleichen Worte, die Charly Townsend tagtäglich von seinen Lehrern zu hören bekam. Sei es von Mr. Briggs, Mr. McDuggen oder Mrs. Hangrich, das waren alles seine Lieblingslehrer. Aber ganz besonders mochte er Mr. McDuggen, seinen Geschichtslehrer.

James McDuggen unterschied sich nicht nur durch sein Aussehen von den anderen Lehrern. Mit seinen 1,83 m war er ein Hüne. Seine schwarzen Haare waren für einen Schotten genauso untypisch wie seine blaugrauen Augen. Diese konnten jedem Schüler, der ihn ärgerte, vernichtendere Blicke zuwerfen, besser als jeder andere Lehrer. Dass er neben dem Unterricht noch viel Sport betrieb, sah man seiner Figur an. Kein Gramm Fett zu viel, im Gegensatz zu Mr. Briggs, dem Mathelehrer am Internat, der kaum über seinen Bauch zu seinen Fußspitzen hinunter sehen konnte.

James lief jeden Morgen von seinem kleinen Häuschen, etwas außerhalb von CROWETHORN zum Internat. Dabei trug er stets seinen blauen Trainingsanzug mit den weißen Streifen an den Seiten. Seit Jahren konnte Charly ihn jeden Morgen von seinem Zimmer aus sehen, wie er angerannt kam. Sehr selten erlebte er, dass Mr. McDuggen außer Puste war. Vor der Klasse präsentierte der Lehrer sich stets in einem leichten grauen Tweedanzug. James McDuggen wurde von den Schülern als „cool“ bezeichnet und war sehr beliebt. Besonders die Mädchen himmelten ihn manchmal an. Die Lehrer waren zwar neidisch auf seine Beliebtheit, aber er hatte dennoch einen etwas zweifelhaften Ruf.

Hinter vorgehaltener Hand wurde nämlich darüber getuschelt, dass der beliebte Lehrer seine eigene Frau totgefahren haben sollte. Und das, obwohl ein gerichtliches Gutachten ergeben hatte, dass die Schuld am Tod seiner Frau eindeutig der Fahrer hatte, der ihnen entgegen gekommen war. Dieser Fahrer war alkoholisiert gewesen und hatte sein Fahrzeug nicht mehr unter Kontrolle halten können. Für James war es doppelt hart, seine Frau bei einem so furchtbaren Unfall zu verlieren und dann auch noch jeden Tag die angebliche Schuld daran zugeschoben zu bekommen.

Er hatte daher vor vier Jahren bereits um seine Versetzung gebeten und war aufgrund der guten Beziehungen seines Vorgesetzten dann am Wellington College gelandet.  Er hatte es bis heute  nicht bereut. Die Kinder respektierten ihn und er konnte ihnen sein umfassendes Wissen über alte Epochen und die Geschehnisse vergangener Jahrhunderte, vermitteln. Aber nur, wenn sie auch Lust hatten, dem Unterricht zu folgen und das war in der letzten Stunde vor den Ferien etwas schwierig.

„Es ist traurig zu erleben, dass meine Schüler, das ganze Schuljahr geschlafen haben.“ Stellte James vor den Sesselreihen der Schüler stehend, etwas frustriert fest.

„Charly wird jetzt für alle Ahnungslosen unter euch die richtige Antwort sagen. Hier noch einmal die Frage: Wer fiel 216 v. Christus in Italien ein, um die Römer vernichtend zu schlagen? Und auf welchem Weg gelangte dieser Mann nach Italien?“

James McDuggen setzte sich hin und legte seine Beine auf den Schreibtisch. Charly erhob sich und wollte gerade antworten, als eine Papierkugel angeflogen kam, die ihn mitten ins Gesicht traf. Einige Mitschüler lachten. Er blickte auf die Schulbank, wo er den Werfer vermutete und richtete seine Augen auf den Übeltäter. „Der hat doch keinen blassen Schimmer“, posaunte Kenny Gedeck, der die Kugel geworfen hatte.

Charly verschränkte seine Arme vor sich und positionierte sich in den Gang zwischen den Tischreihen.

„Es war Hannibal Barkas, Sohn von Hamilkar Barkas. Er wurde von dem Spartaner Sosylos erzogen, der später sein Berater wurde. Er ging erst nach Spanien und befreite besetzte Gebiete von den Römern. Mit 37 Elefanten, 9.000 Reitern und 50.000 Mann überschritt Hannibal im Winter die Alpen. Er konnte erst gestoppt werden, als die Römer sich mit seinen Taktiken vertraut gemacht hatten. Zudem schleusten die Römer einen Judas, einen Verräter, in Hannibals Armee ein. Nur so konnte er von den Römern geschlagen werden.“

Charlys Blick war weiter auf den Werfer gerichtet, dem jetzt das Lachen vergangen war. Er war einer von den Kindern, die sich unbedingt vor anderen wichtig machen mussten, um endlich Aufmerksamkeit zu bekommen, da sie diese nicht einmal von ihren Eltern erhielten. So war Kenny, genau wie Charly und wie viele Mitschüler auch, nicht wirklich erfreut über die bevorstehenden Ferien. Denn Zuhause würde man sie nur bei dem Kindermädchen oder einer Erzieherin abschieben, die sich mit ihnen beschäftigen mussten, bis die Schule wieder begann. Gemeinsame Zeit mit ihren Eltern war selten vorhanden.

Trotzdem waren Ferien natürlich viel besser als Schule und so warteten die Kinder entsprechend ungeduldig auf das Läuten der Glocke.

„Bevor ich euch in die Ferien entlasse, bekommt ihr von mir noch eine Hausaufgabe für die Ferien. Findet irgendetwas, einen Gegenstand, ein Buch oder auch nur einen Namen und findet alles Wissenswerte darüber heraus. Dann schreibt ihr alles auf und berichtet in unserer ersten Stunde darüber. Ihr solltet mindestens zehn Seiten schaffen. Es wird auch eine Note dafür geben. Also vergesst es nicht! In Ordnung?“ Die Kinder stöhnten über die Aufgabe, doch das Stöhnen mischte sich mit dem Läuten und alle sprangen praktisch gleichzeitig auf und stürmten Richtung Tür.

„Auch du, Kenny Gedeck. Sonst muss ich dir gleich zu Schulbeginn eine Sechs eintragen!“, Rief Mr. McDuggen ihm hinterher. Doch Kenny winkte ab und rannte kichernd mit seinen Freunden nach draußen.

Zurück blieb nur Charly, der in Gedanken versunken aus dem Fenster starrte. James verstaute das Geschichtsbuch der 6. Klasse, seine gelbe Krawatte und das Klassenbuch in seiner Aktentasche. Das Klicken beim Schließen war im leeren Klassenzimmer überlaut zu hören. McDuggen schaute sich im Raum noch einmal um, bevor er zur Tür gehen wollte, und zog überrascht die Augenbrauen hoch, als er Charly noch auf seinem Platz sitzen sah.

„Na Charly, willst du nicht auch zu deinen Eltern?“, Fragte er und trat näher an ihn heran. Doch Charly reagierte überhaupt nicht auf die Frage, sondern starrte weiter durch das Fenster auf die Laubbäume. James McDuggen setzte sich auf die Bank vor Charlys Bank und schaute ihn durchdringend an.

„Wenn ich einen Penny erhalten würde, für jeden Gedanken, den ich errate, wäre ich schon längst Millionär.“ Charly drehte langsam seinen Kopf zu McDuggen und lächelte kaum merklich.

„Wenn Sie wollen, können sie die Millionen meiner Eltern haben.“

„Tja, das liebe Geld. Wenn man es hat, will man immer mehr. Wenn man keines hat, ist man gezwungen, jeden Penny zwei Mal um zudrehen. Entweder du lernst damit umzugehen oder du lernst es nicht und wirst in 50 Jahren irgendwo, vielleicht auf einer Bank sitzen und schmollen. Worin liegt denn das Problem, mein Junge?“

Charly starrte angestrengt hinaus auf die Straße, die sich zwischen den vom Wind zerzausten Laubbäumen entlang schlängelte. Er hielt nach etwas Ausschau. Doch es schien sich nicht zu zeigen. „Ich hatte meinem Vater eine Karte geschickt, dass er es nicht vergisst, mich abzuholen. Bisher habe ich weder eine Antwort bekommen, noch sehe ich seinen BMW die Auffahrt herauf fahren. Er wird es wieder einmal vergessen haben“, seufzte der Junge.

„Vielleicht hat er es ja vergessen, vielleicht aber auch nicht. Wenn er dich so sehr vernachlässigt, bitte ihn doch einfach, sich diese Broschüre anzusehen, sobald du ihn siehst.“

„Was für eine Broschüre denn?“, Fragte Charly neugierig. James ging zu seinem Aktenkoffer, öffnete ihn und entnahm ihm eine Broschüre. „Diese hier“, erwiderte er und reichte sie Charly.

Beim Durchblättern erkannte Charly eine Abbildung der schottischen Highlands, eines anscheinend sehr alten Schlosses und Bilder, die den Alltag eines Feriencamps zeigten. “Das sieht schon relativ verlockend aus, aber ich weiß nicht so recht, was mein Vater für die Ferien geplant hat und ich ...“ Doch er konnte den Satz nicht beenden, denn James unterbrach den Jungen ungeduldig.

„Habe ich nicht erwähnt, dass ich über die Sommerferien dort als Camp-Leiter arbeiten werde? So üppig ist das Gehalt hier leider nicht, als dass ich mich im Sommer auf die faule Haut legen könnte.“ Der Lehrer grinste, doch Charly bemerkte es nicht, denn er war ganz in die Broschüre vertieft.

„Das finde ich super. Hätten sie noch ein paar Broschüren da? Vielleicht frage ich meine Freunde, ob die auch Interesse daran haben.“ James freute sich über Charlys Interesse. Er würde heuer das erste Mal dort arbeiten und war ganz begeistert von dem Projekt, das durch die Hilfe einiger Geldgeber, die gleichzeitig seine ehemaligen Schulkameraden waren, zustande gekommen war. Schnell zog James fünf weitere Broschüren aus der Aktentasche und gab sie an Charly weiter. Während der Junge danach griff, warf der Lehrer einen Blick aus dem Fenster und sah ein Auto sich dem Schulgebäude nähern. „Ich glaube dein Vater ist gerade vorgefahren!“, Sagte er und nickte mit dem Kopf in Richtung Fenster. Schnell trat Charly an das große Fenster und riss es auf, um zu sehen, ob es tatsächlich der Wagen seines Vaters war. Er war es tatsächlich. Charly begann zu strahlen und stürmte aus dem Klassenzimmer.

„Charly!?“, Rief ihm McDuggen hinterher. Charlys Gesicht tauchte nochmals im Türrahmen auf. „Was ist?“, Fragte er verunsichert. „Dein Rucksack“, schmunzelte McDuggen und zeigte in die hinterste Bankreihe. Charly ging nun mit schnellen Schritten durch das Zimmer zurück an seinen Tisch und warf sich den roten Rucksack über, bevor er erneut aus dem Zimmer stürmte. McDuggen folgte ihm und schloss den Klassenraum für längere Zeit ab.

Charly freute sich auf die Ferien und hoffte, dass sein Vater nun, anders als an den Wochenenden, Zeit mit ihm verbringen würde. Doch seine Vorfreude verwandelte sich schnell um in tiefe Enttäuschung. Wut auf seinen Vater kam in ihm auf, als Bernard, der Chauffeur der Familie, die hintere Türe des schwarzen BMWs öffnete und er statt in das Gesicht seines Vaters nur auf die leere schwarze Rückbank blickte. Sein Lächeln verschwand jäh und Tränen stiegen in seine Augen. Nur Leere und Stille warteten im Auto auf ihn.

„Ihr Vater bat mich, Ihnen auszurichten, dass er leider verhindert ist. Sie werden ihn im Schloss antreffen. Dafür hat er extra einen Termin abgesagt“, näselte Bernard mit seinem leichten französischen Akzent. Charly warf frustriert seinen Rucksack auf die Rückbank und setzte sich schmollend auf den Sitz hinter Bernard, der sogleich den Motor startete und langsam in Richtung Ferien losfuhr.

Der Wagen passierte die Allee und wartete darauf, dass das schwere eiserne Schultor mit der ausgeklügelten Kameraüberwachung sich vor ihnen öffnete. Noch immer mit Tränen in den Augen blinzelte Charly auf das Tor, in das das Wappen des Wellington College eingearbeitet war. In Gedanken verabschiedete er sich von der Schule und seinen Freunden. Hier hatte er Freunde, die nicht von irgendwelchen Geschäften anderweitig beansprucht wurden. Wie sollte er nur die Ferien bei seinem Vater überstehen, ganz alleine auf sich gestellt?

Schon in den ersten Minuten, als er Zuhause eintraf, konnte er das Desinteresse seines Vaters förmlich spüren. Verzweifelt dachte Charly an die Zeit zurück, als seine Mutter noch gelebt hatte. Sie hatte sich immer so gefreut, wenn er nach Hause gekommen war und hatte, wenn er traurig gewesen war, für ihn ein Lied gesungen, um ihn aufzuheitern. Sie hatte stets einen Kuchen für die Wochenenden gebacken. Meist hatte er ihr helfen dürfen, beim Nachbarn eigenhändig die Äpfel für den Apfelkuchen zu pflücken. Oder auch Pflaumen oder Kirschen, wenn es gerade welche gab. Doch die Obstplantage des Nachbarn existierte schon lange nicht mehr. Auch die Nachbarn auf der anderen Seite, der Bauer mit der Rinderzucht und Molkerei, war nicht mehr im Geschäft. Ja, es stand nicht mal mehr ein Haus. Irgendwann war er weggezogen und hatte alles verfallen lassen.

Charly hatte früher mit den Kindern von Bauer Stanton am Bach gespielt und sich wilde Wasserschlachten geliefert. Wehmütig dachte er an die schöne Zeit zurück, als sein Leben noch schöner und voller Liebe und Freude war. Mit seiner Mutter, der Obstplantage und seinen Freunden von gegenüber. Doch alles hatte sich verändert und eigentlich hatte er doch gar keinen Grund mehr, in den Ferien und an den Wochenenden nach Hause zu kommen.

Ein kahlköpfiger Mann, in einem dunkelgrauen Nadelstreifenanzug, eine rauchende Pfeife im Mundwinkel, stand am offenen Fenster und blickte gedankenverloren in die Landschaft. Er nahm ein paar Züge aus seiner Pfeife. Der Tabakqualm zog mit der leichten Brise, die aufgekommen war, in Richtung Freiheit. Der Mann schloss das Fenster wieder und setzte sich an seinen wuchtigen Schreibtisch, der aus massivem Mahagoni–Holz bestand und so schwer war, dass man sechs Männer benötigte, um ihn von der Stelle zu bewegen. Man sah dem Tisch ganz deutlich sein hohes Alter an. Der stammte aus der Zeit der Französischen Revolution und besaß geschwungene und vergoldete Beine. Auch die Ränder der Tischplatte waren vergoldet. Kleine Knöpfe, wie Reißzwecken, hielten das goldgelbe Metall am Holz.

Sir William versuchte, sich zu konzentrieren. Vor ihm lag eine geöffnete Akte der Stahlfirma Gruber in Deutschland, die er kaufen wollte. Doch zuvor musste er sich genauer mit den Gewinnen und Verlusten und den Personalzahlen beschäftigen, um den genauen Wert der Firma festzustellen. Immer wieder schweifte sein Blick von der Akte ab zu dem Foto seiner verstorbenen Frau. Ihr Bild hatte er stets auf dem Schreibtisch stehen und er vermisste sie jeden Tag. Aber er war kein Mann, der seine Gefühle offen zeigen konnte. Manchmal beneidete er seinen Sohn Charly, da dieser vollkommen anders mit seinen Gefühlen umging. Er gab sie zu und zeigte sie sichtbar, kam ganz nach seiner Mutter.

William wurde in seinen Gedanken unterbrochen, als sich die Bürotür knarrend öffnete und Charly eintrat. Er sah irgendwie unglücklich aus, fand William, doch er konnte sich jetzt nicht mit den Launen seines Sohnes beschäftigen, da er sich dringend mit der Akte der Firma Gruber beschäftigen musste.

„Langweilig?“, Fragte er ihn trotzdem und paffte an seiner Pfeife, während er ungeduldig auf eine Antwort wartete.

„Ich hatte gedacht, dass wir gemeinsam was unternehmen könnten“, erwiderte Charly und näherte sich mit langsamen Schritten etwas nervös seinem Vater. Sir William bemerkte, dass Charly etwas hinter seinem Rücken versteckt hielt.

„Was hast du da?“, Fragte er und winkte Charly zu sich heran. Charly zögerte etwas.

„Ich will wissen, was du hinter deinem Rücken versteckst.“ Seine Stimme klang sehr ungeduldig. Er hatte eigentlich keine Zeit für irgendwelche Unterhaltungen, geschweige denn für ein Ratespiel. Charly nahm seinen ganzen Mut zusammen und legte die Broschüre des Feriencamps vor seinen Vater auf den Tisch. Sir William blätterte schweigend darin herum und Charly konnte nicht einschätzen, ob sein Vater die Broschüre gut oder schlecht fand, denn er verzog keine Mine dabei.

„Komm mal zu mir, Charly“, sagte er dann mit ruhiger Stimme und drehte sich mitsamt seinem schweren Ledersessel vom Schreibtisch weg, sodass Charly ganz nah herantreten konnte.

„Ich weiß, dass du es mir übel nimmst, dass ich so wenig Zeit für dich habe. Und wir vermissen beide deine Mutter. Ja, sie fehlt auch mir, nicht nur dir. Aber weißt du, mein Junge, alles, was ich hier tue, alles, wofür ich arbeite, ist später einmal dein Erbe. Das Geld wächst schließlich nicht auf den Bäumen. Wir brauchen Geld, um das Anwesen hier zu unterhalten. Und um Deine Internatskosten zu bezahlen. Und dafür arbeite ich sehr hart. Später, wenn du älter bist, wirst du das sehr viel besser verstehen als jetzt. Es ist für ein Kind nicht einfach, diese Dinge zu begreifen. Aber wenn ich dir eine Freude damit machen kann, dann darfst du gerne in das Feriencamp gehen.“

Sir William zückte seinen Stift und füllte hastig das Anmeldeformular aus.

„Ich habe vor, nach Deutschland zu fliegen, um dort eine Firma zu kaufen. Ich hätte dich gerne mitgenommen, aber wenn du in das Camp gehst, hast du sicherlich mehr Spaß als auf einer Geschäftsreise mit deinem alten Vater.“

Sir William war ungewohnt fröhlich und Charly war irritiert. Sein Vater war vermutlich froh, dass er ihn so einfach loswerden konnte, dachte er. Aber trotzdem war er zufrieden. Das Camp war tausendmal besser als eine Geschäftsreise, oder alleine hier in seinem Zimmer herumzusitzen. Spontan umarmte er seinen Vater, was er schon lange nicht mehr getan hatte und stürmte dann aus dem Büro, um seine Sachen zu packen. All seine Wut auf seinen Vater war in dem Moment verflogen und er freute sich nur noch auf einen wunderschönen Sommer.

Sir William war überrascht von Charlys Gefühlsausbruch, doch er freute sich auch darüber. Ob es eine gute Idee wäre, Charlys Freunde ebenfalls in das Feriencamp zu lotsen? Gerne würde er ihm diese Überraschung bereiten, aber dafür musste er zunächst einmal Mr. McDuggen anrufen. Denn zu seiner Schande wusste Sir William überhaupt nicht, wer Charlys Freunde waren.

BIRR CASTLE

Birr Castle war ein lang gezogenes Schloss, mit schmalen, runden Türmen. Von dort oben hatte man einen herrlichen Ausblick auf die Ländereien mit den blühenden Feldern und den leuchtenden Ähren. Wenn Fuchsjagden veranstaltet wurden, konnte man die Pferde galoppieren und die Hundemeute rennen sehen. Durch die stark befestigten Verteidigungsanlagen, welche es immer vor Eroberungen und Plünderungen geschützt hatten, befand sich Birr Castle auch heute noch in einem bemerkenswert guten Zustand. Zwar leicht renovierungsbedürftig, aber noch ansehnlich genug für die gelegentliche Touristenrundgänge, die nur während der Urlaubssaison im Sommer stattfanden.