Kommissar Hartenfels - Steffen Bärtl - E-Book

Kommissar Hartenfels E-Book

Steffen Bärtl

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Beschreibung

Im härtesten Winter seit Jahren, ermittelt Kommissar Hartenfels in den Straßen Berlins. Seine Vorgehensweise gleicht die einem Neandertaler. Doch sein Ziel den wahren Täter zu finden, hat er immer erreicht. Der hartgesotte Kommissar bekommt vor Weihnachten es mit einem der schrecklichsten Fälle seiner Karriere zu tun. Fast auf sich allein gestellt, versucht er über die Feiertage hinweg, die Berliner Bevölkerung vor einem undurchschaubaren Täter zu schützen. Von der Weihnachtsstimmung abgelegnkt, nimmt kaum einer Notiz von den verschwundenen Opfern, bis Chaos und das Gefühl der Machtlosigkeit geschürt.

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Inhalt

1. Kapitel - 21. Dezember / 09:30 Uhr

2. Kapitel - 22. Dezember / 08:30 Uhr

3. Kapitel - 23. Dezember / 09:56 Uhr

4. Kapitel - 24. Dezember / 02:19 Uhr

5. Kapitel - 25. Dezember / 07:31 Uhr

6. Kapitel - 26.Dezember / 02:19 Uhr

7. Kapitel - 27. Dezember / 07:38 Uhr

8. Kapitel - 28. Dezember /03:26 Uhr

Kapitel Eins

21. Dezember / 9.30 Uhr

Für viele Berliner war das kommende Weihnachtsfest eine willkommene Abwechslung, all die bürokratischen Amtsträgern einmal zu vergessen, die dem einzelnen Bürger tief in die Tasche griffen. Mit den zunehmenden Änderungen, die der Staat den Bürgern auferlegte, wurden aus verzweifelten Blicken, den Kindern zu liebe, ein Herz erwärmendes Leuchten. Auch wenn die Kinder es nicht verstanden, warum manchen Menschen mit Sorgen beschriebenen Gesichtern durch die Welt gingen, so hatten sie für einige Tage im Jahr ihre eigene Weltordnung. Lachen, spielen, die große Neugier vor dem Geschenke auspacken und das Singen von Liedern über die heile, weiße Winterwelt vor einem reichlich geschmückten Weihnachtsbaum.

Die Berliner Polizei hatte reichlich zu tun. Beinahe stündlich kamen Meldungen über Einbrüche in Kinderspielläden, Übergriffe auf betagte Rentner, Diebstähle sowie zahlreiche Verkehrsunfälle herein. Während die Uniformierten Beamten sich rund um die Uhr auf Streife befanden, waren fast alle anderen Abteilungen mit der Notbesatzung vertreten.

Wie jedes Jahr, wurde dafür gesorgt, dass Mitarbeiter mit Familien an bestimmten Weihnachtstagen frei bekamen – besonders an Heilig Abend. Einer der Mitarbeiter, die es jedes Jahr traf Dienst schieben zu müssen, war Peter Hartenfels. Mit seinen knappen vierzig Jahren war es ihm egal gewesen, ob er zu Hause an Langeweile einging, oder gelegentlich auf Arbeit Abwechslung bekam. An diesem Morgen saß er an seinem Schreibtisch der Mordkommission, hatte seine Beine auf dem Schreibtisch abgelegt, die Zeitung aufgeschlagen und gelegentlich einen Schluck von seinem Pott Kaffee´genommen.

„Immer der selbe Mist in den Zeitungen!“, Stellte er fest, zerknüllte sie und warf sie, wie ein Basketballer in den Papierkorb.

Während in seiner Abteilung völlige Stille herrschte, ausgenommen das Tippen am Computer, das von seiner Sekretärin begangen wurde, dröhnten leise Klänge von Weihnachtsliedern aus der oberen Etage. Dort befand sich das Drogendezernat. Davon inspiriert schaltete die Sekretärin im Vorzimmer eines ihrer CD´s an.

Nun dröhnte die Musik lauter in Peters Ohr. Er griff zum Telefon und wählte die Durchwahlnummer zum Drogendezernat. Als sich der leitende Beamte meldete, konnte sich Peter nicht zurückhalten.

„Kannst du mal den Scheiß da oben abstellen. Ich kann es bis hier runter hören! … Was heißt hier Einstimmung in die Weihnachtszeit? Mach die Dudelei aus, sonst komme ich hoch!“

Er knallte den Hörer in die Gabel und stellte fest, dass er bereits am Morgen wieder gut gelaunt war. Er schloss für einen Augenblick die Augen und begab sich hinaus zur Sekretärin.

„Guten Morgen.“, Versuchte er höflich zu sein.

„Guten Morgen, Herr Kommissar. Ist das nicht ein herrliches Wetter da draußen. Sonnenschein, blauer Himmel und am Boden liegt bereits Schnee. …“

Hartenfels wurde laut und unterbrach die Sekretärin.

„Wenn ich den verdammten Wetterbericht hören will, dann schalte ich die Nachrichten ein! Frau Hübner, hätten sie die Freundlichkeit ihre Musik zu Hause, in ihrer Freizeit zu hören. Das Einzige, was ich hören möchte, ist der Polizeifunk, nichts anderes. Haben wir uns da verstanden?“

Frau Hübner erhob sich, umging Hartenfels und stellte ihren CD-Player ab.

„Diese Ruhe – einfach himmlisch!“, Murmelte Peter vor sich hin und begab sich wieder in sein Büro.

Als sich die Tür schloss und er außer Sichtweite war, fluchte Hübner einige Worte vor sich her.

„Kein Wunder, dass er keine Frau hat - bei so einem

Stinkstiefel!“

Plötzlich läutete das Telefon in der Schaltzentrale. Hübner begab sich hinüber und griff rasch zum Hörer.

„Hier ist die Mordkommission Berlin- Mitte. Sie sprechen mit dem Sekretariat. Ich bin Frau Hübner.“

Sie nahm sich den Bleistift, der neben einem Stapel geschnittener Zettel lag und notierte sich einige Angaben. Als sie die Mitteilung vernahm, ließ sie entsetzt den Hörer aus der Hand fallen.

Es dauerte einige Sekunden, ehe sie sich wieder gefangen hatte. Sie nahm den Hörer wieder auf, hielt ihn an ihr Ohr, doch die Verbindung war getrennt. Sie hing den Hörer wieder auf, nahm ihren Notizzettel und begab sich in das Büro von Hartenfels.

Sie klopfte an.

„Ja.“

Hartenfels erblickte Hübner in einem Trance ähnlichen Zustand.

„Falls sie gekommen sind, um zu fragen, ob sie ihre

Weihnachtsmusik wieder spielen dürfen, dann ist meine Antwort nein.“

Hübner reagierte kaum auf Hartenfels Aussage.

„Sie haben doch etwas?“, Stellte er fest, erhob sich aus seinem Stuhl, umging seinen Schreibtisch und näherte sich seiner Sekretärin. Er blickte sie an, doch sie schien keine Mine zu zucken. Klare, große Augen, als hätte sie einen Geist gesehen. Ihr Körper steif, als wäre sie aus der Tiefkühltruhe gekommen.

„Mit ihnen ist doch etwas!“, Wiederholte er seine Worte.

„Lesen sie!“, Sagte sie ihm mit kühlen Worten.

Hartenfels nahm ihr den Zettel aus der Hand und begann zu lesen.

[Fundleiche im Humboldthafen. Mögliches Opfer zwischen 10 und 14 Jahre alt.]

„Sie wissen doch, dass wir schon öfters solche Meldungen erhalten haben! Sicherlich wird es sich um einen Unfall handeln.

Ein Kind ist beim Herumtollen am Hafen ins Wasser gefallen. Versuchen sie sich wieder zu fassen. Ich werde der Sache nachgehen und melde mich bei ihnen. Geben sie der Spurensicherung und dem Gerichtsmediziner Bescheid, dass ich sie vor Ort treffen werde.“

Hartenfels begleitete Frau Hübner an ihren Schreibtisch zurück, goss ihr eine Tasse heißen Kaffee ein und stellte ihr sogar ihre CD-Weihnachtsmusik wieder ein, damit sie wieder zur Besinnung kam. Anschließend begab er sich zum Treppenhaus und lief bis zur Tiefgarage, wo sein Fahrzeug stand. Er stieg ein und verließ blitzartig seinen Parkplatz. Mit Blaulicht verschaffte er sich im Berliner Verkehr Platz.

10:17 Uhr

Der Verkehr floss langsam über die Berliner Straßen. Hartenfels fluchte sogar am Lenkrad vor sich hin. Dadurch kam er auch nicht schneller voran, trotz des Einsetzen der Polizeisirene.

Er schaltete sein Radio ein, um etwas ordentliche Musik zu hören. Doch auf jeden Sender, den er herein bekam spielte man Weihnachtslieder. Ob nun auf Deutsch oder in englischer Sprache. Sie dröhnten in Peters Kopf und brachten ihn unerhebliche Kopfschmerzen. Er griff in sein Handschuhfach und entnahm aus einer angefangenen Packung Aspirin, die Schablone heraus. Mit seinen Unterarmen hielt er das Lenkrad fest, während er mit seinen Händen sich eine Aspirin heraus zwickte und sie in seinen Mund warf. Er schmiss die Schablone auf den Beifahrersitz und griff sich sie Flasche Cola, die er hinter dem Beifahrersitz gestellt hatte. Er streckte sich dabei, als er sie in die Hand bekam. Er nahm sie vor, schraubte den Deckel ab und nahm einen ordentlichen Schluck, um die Kopfschmerztablette hinter zu würgen. Er nahm sicherheitshalber drei Schlucke zusätzlich. Als er seine Tablette hinter geschluckt hatte, legte er die Flasche beiseite und konzentrierte sich wieder auf den Verkehr.

Als er in die letzte Kurve abbog, vergewisserte er sich, dass er die richtige Straße fuhr. Peter hatte keine große Lust darauf in diesem Verkehrschaos zu wenden und noch mehr Zeit zu vertrödeln. In einer Entfernung von sechzig Metern, konnte er einen Polizeiwagen von der Streife am Straßenrand erkennen. Er hielt kurz an, und fuhr das Seitenfenster herunter.

„Na, Kollegen?“, Rief er sie. „Habt ihr die Meldung über den Fund der Leiche gemacht?“

„Das haben wir, Herr Kommissar!“, Ertönte es zurück.

„Wie komme ich denn am besten in den Hafen rein?“

„Folgen sie uns einfach!“

Hartenfels blieb stehen und wartete darauf, dass die Streife ihn lotsen würde. Ihm war es dabei egal, ob die Fahrer, die nach ihm kamen, lautstark hupten, um die Fahrbahn weiter befahren zu können. Der Polizeiwagen setzte sich vor Hartenfels und steuerte in eine Nebenstraße hinein. Es war eine Straße für Lieferanten, wo große Lkws zum Hafen fuhren. Auf dem LKW Parkplatz kamen sie zum stehen. Näher konnte die Streife Hartenfels dem Tatort nicht bringen. Dafür war eindeutig zu viel betrieb. Gabelstapler beluden die Lkws, die Fahrer kümmerten sich um die Papiere, die für die jeweilige Fracht gedacht war.

Peter stieg aus und folgte den uniformierten Beamten zu Fuß, bis sie plötzlich stehen blieben.

„Da hinten ist es, Kommissar!“, Sagte einer von ihnen und deutete mit dem Arm in die Laufrichtung.

„Danke.“, Hauchte Peter ihnen entgegen, blieb für einen Augenblick stehen, vergewisserte sich, dass seine Kollegen wieder zum Fahrzeug gingen und zündete sich in der Zeit eine Zigarette an. Er zog einmal kräftig daran, ehe er seine Zigarettenschachtel zurück in die Jackentasche seiner gefütterten Lederjacke steckte.

Er sah sich das Ufergelände an. Schnell wurde aus einerbetonierten Anlegestelle, Gras und Gestrüpp. Er beobachtete, während er Zug für Zug an seine Zigarette niederbrannte, das Geschehen auf so manchen Kahn. Der letzte Anlieger war ein Kies-Transporter mit einem integrierten Bagger, der den Kies auf einen Kipplaster beförderte. Ein weiterer stand schon in Wartestellung, um den Rest aufgeladen zu bekommen.

„Hier drüben! Hier drüben!“, Rief ihn ein junger Mann in ziviler Kleidung.

Peter nickte sacht, stieß dabei den Zigarettenqualm aus. Bei der Kälte konnte man kaum den Unterschied einer normalen atmenden Person und einer rauchenden Person machen. Nur wenn man bei den Minustemperaturen noch eine gute Nase hatte. Bei den meisten Anwesenden war sie bereits ein Eiszapfen.

„Guten Morgen, Herr Kommissar!“, Begrüßte ihn der junge Mann am Tatort.

„Wie kommen sie denn hierher, Kellermann?“, Fragte Peter interessiert, da er nicht damit gerechnet hatte, dass noch jemand aus dem Morddezernat anwesend sein würde.

„Ihre Sekretärin hat mich vom Frühstückstisch geholt. Sie dachte, dass sie Hilfe gebrauchen könnten. Ich weiß auch, dass der Pathologe und die Spurensicherung auch gleich hier sein müssten.“

„Wenn sie schon mal hier sind, dann könnten sie mir ihren ersten Eindruck vermitteln.“

„Ein klarer Mord an einem jungen Mädchen. Einzelheiten werden sich erst im Laufe der Ermittlung ergeben.“

„So, meinen sie!“

Peter blickte den jungen Kellermann an, wie er sich den Leichnam betrachtete. „Dann sehen sie nicht dasselbe, wie ich. Auf die kleinen Details kommt es an. Ich kann von hier aus erkennen, dass der Kinderleichnam in einer Plastikfolie eingewickelt und mit einer Wäscheleine gebunden wurde.“

„Warum hat der Mörder das getan?“

„Vermutlich aus zwei Gründen! Erstens. Er wollte nicht, dass die junge Haut des Mädchens nicht verletzt werden sollte, nicht einmal während ihrer ewigen Ruhe. Zweitens. Der Mörder versucht gerissen zu sein, clever, um jeden Preis. Er will als Sieger gegenüber der Polizei hervorgehen, indem er so wenig Anhaltspunkte auf seine wahre Identität liefert.“

„Das können sie alles anhand dieser Folie bestimmen?“

Hartenfels zog den letzten Zug von seiner Zigarette, zerdrückte den Stummel in seiner Hand und warf ihn ins Wasser des Hafenbeckens hinein.

„Demnach können wir von einem Einzeltäter ausgehen!“

Hartenfels wandte sich wieder Kellermann zu. Er begab sich zu ihm und stellte sich hinter ihm und blickte ihm über die Schulter. Er sah das Gesicht, welches offen lag und für jedermann berührbar war.

Hartenfels schwieg und starrte regelrecht auf das Gesicht des Mädchens.

„Sie war jung! Sehr jung, sogar!“, Erwähnte Kellermann, als er Hartenfels Blick erkannte.

„Wissen wir schon, wie sie heißt?“

„Nein, Herr Kommissar!“

„Gut. Warten sie auf die Spurensicherung. Die sollen jedes Material einsammeln, was sich im Umkreis von fünfzig Meter der Fundstelle befindet. Zusätzlich soll der Fotograf alles aufnehmen. Die Umgebung, das Gesicht, die Haare Alles andere werden wir in der Pathologie sicherstellen. Fragen sie im Umkreis von einhundert Metern nach, ob es eventuelle Zeugen gab, die dieses Mädchen angetroffen haben. Ich werde inzwischen im Bahnhof nachfragen und in den Büros gegenüber. Kein Schiff wird in den Hafen gelassen und keines verlässt den Hafen, ehe ich es nicht erlaube. Lassen sie die Grasnarben am Ufer absuchen!“

Peter kniete sich neben der Leiche hin, beugte sich nach unten, um das Ende der Wäscheleine genauer zu betrachten, ohne es in die Hand zu nehmen.

„Nach was sieht das für sie aus?“, Fragte er Kellermann.

„Sieht aus, als wäre das Ende abgerissen worden!“

„Und was bedeutet das?“

„Etwas Schweres war daran festgebunden, dass den

Leichnam unter Wasser halten sollte.“

„Gut kombiniert, Sherlock!“

„Das heißt auch, dass wir die Suche ausdehnen werden.

Rufen sie bei der Wasserschutzpolizei an. Die sollen die Zufahrt zum Hafen sperren und gleich ein Taucherteam mitbringen, die in Ufernähe nach einem Stein oder ähnlich Schweres mit einer Wäscheleine tauchen sollen. Umso mehr Hinweise wir finden, umso besser die Chance, diesen Schweinehund aufzuspüren.“

Hartenfels erhob sich wieder, steckte sich seine zweite Zigarette an und begab sich zu seinem Fahrzeug. Während er lief, begegnete er dem Kollegen der Spurensicherung, die gerade aus ihren Fahrzeugen stiegen und einige Koffer ausluden.

„Wo ist der genaue Tatort?“, Fragten sie Hartenfels.

„Ungefähr einhundert Meter darunter.“, Erwiderte er und wies mit seinem Zeigefinger die Richtung. „Der Kollege Kellermann, wird sie instruieren.“

Peter stieg ein und verließ den Tatort. Beim Einscheren in den Verkehr, brauchte er genauso viel Zeit, wie beim Ausscheren aus dem Verkehr. Der langsame Trott zog sich in Richtung Stadtmitte noch langsamer, als hinaus. In den Wintertagen mussten die Autofahrer besonders viel Zeit und Geduld aufbringen. Beides, was Peter Hartenfels nicht hatte.

11.23 Uhr

Peter war frustriert und übel gelaunt, als er das Gebäude des Morddezernates wieder betrat. Jede Kleinigkeit, dass ihn störte, brachte ihn nur noch mehr zur Raserei. Er zog an den Türen, als wenn sie schwer wie unbewegliche Felsformationen im Wasser waren. Die erschütternden Vibrationen, die man im ganzen Haus wahrnehmen konnte, ließen einem schon mal die Kaffeetasse aus der Hand fallen. Als er vor Frau Hübners Schreibtisch stand und sah, dass sie erneut am Computer saß und Randnotizen des Chefs verarbeitete, blickte er sie nur an. Hübner wartete regelrecht darauf, von ihm angeschnauzt zu werden und blickte nur fragend zurück.

Peter winkte seine Angelegenheit ab und stürmte in sein Büro hinein, zog seine gefütterte Lederjacke und seine Schuhe aus.

Auf Socken begab er sich zu seinem Schreibtisch, setzte sich in seinen Drehstuhl hinein, beugte sich sitzende nach unten und öffnete die letzte Schublade, die er erst aufschließen musste. Mit einem Handgriff nahm er seine Hausschuhe, von denen er zwei Paar hatte, eins für zu Hause und eins für die Arbeit, heraus. Gerade weil es so kalt war und keiner von den anderen Kollegen Dienst schob, traute er sich diese warme und flauschigen Schuhe zu tragen. Er schämte sich auch nicht dafür, dass diese Art von Hausschuhen eher bei Kindern angesagt war.

Ihm ging es nur darum, dass er seine Füße wieder warm bekam. Andere tranken gerne mal einen Schluck Schnaps um die inneren Organe zu wärmen. Peter hatte dafür seine Vorlieben und Methoden.

Es vergingen ein paar Minuten, ehe sich Peter abgeregt hatte und wieder ruhig atmete. Auch sein Gesicht hatte wieder normale Farbe. Mit aufgerichtetem Oberkörper vollzog er Atem- und Bewegungsübungen, als wäre er zum Buddhismus konvertiert.

Nach der letzten Übungssequenz griff er sogleich zum Telefonhörer und wählte die Durchwahlnummer der Vermisstenstelle an. Auch wenn diese Abteilung im gleichen Hause saß und Peter nur zwei Etagen höher gehen könnte, um sein Anliegen vorzubringen, so fand er es unkomplizierter einfach anzurufen.

„Kommissar Hartenfels, hier! Sind sie heute, der leitende Diensthabende ihrer Abteilung?“

Peter lauschte den Worten seines Gesprächspartners und nahm nur ein sehr kurzes „Ja“ wahr.

„Wir haben vor zwei Stunden einen Mordfall rein bekommen. Bisher konnte keine Identifizierung durchgeführt werden. Vielleicht kann ich das Opfer anhand eurer Beschreibung der Vermissten wiedererkennen.“

„In welchem Zeitraum?“

„Die letzten drei Monate bis gestern!“

„Ich brenne ihnen die Dateien und bringe ihnen die CD dann runter. Dauert keine 15 Minuten!“

Peter schüttelte den Kopf.

„Nein … Nein. Nicht brennen! Ich brauche zu jeder Vermisstenanzeige die Akte! Ich muss sie in meinen Händen halten könnten. Auf dem Computer dauert mir das alles zu lange.“

„Na schön, dann drucke ich ihnen die Fälle aus! Das könnte aber bis zu drei Stunden dauern!“

„Ist kein Problem. Nur mehr Aufwand für sie!“

Hartenfels legte den Hörer wieder auf. Anschließend begab er sich zu seiner Sekretärin ins Vorzimmer. Auf diesem Wege begann sein einfaches Handy, älteren Models, an zu vibrieren.

Ein Signal, für Peter, dass für ihn eine SMS-Mitteilung eingegangen war. Er öffnete während des Laufens die SMS -

Abteilung auf dem Display. Er erkannte, dass die Mitteilung von der Pathologie kam.

[Leichnam für Obduktion bereit!]

Kommissar Hartenfels musste eine Entscheidung treffen, ob er lieber, im Warmen auf die Akten warten sollte oder sich wieder in die Kälte hinaus zu begeben, um der Obduktion beizuwohnen.

„Frau Hübner! Ein Kollege der Vermisstenstelle wird nachher ein paar Akten herunterbringen. Legen sie diese in meinem Büro ab. Anschließend können sie dann zu Mittag gehen.“

„In Ordnung, Herr Kommissar.“, Erwiderte Hübner und ließ ihren Blick wieder auf den Computerbildschirm verschwinden.

12.15 Uhr

Die Pathologie lag etwas außerhalb des Zentrums, in der Nähe einiger Universitäten. Daher war es für Peter keine Seltenheit, in der Pathologie einige Studenten aus den verschiedenen Semestern anzutreffen.

Die langen Gänge durch das unterirdische Labyrinth, schienen den Reiz der Unnahbarkeit auf Hartenfels verloren zu haben. Teilnahmslos lief er, wie ein befohlener Soldat, der seine Meldung im Schlachtgetümmel von A nach B beförderte. Er steckte sich wieder eine Zigarette an, obwohl er an einem Schild vorbeikam, welches an der Wand zeigte, dass das Rauchen in den unteren Gängen verboten war. Peter würdigte es mit keinem Blick.

Selbst der beißende Geruch des Todes schien ihn nicht aufzuhalten vorwärts zu kommen. Während er sich jedes mal an Ereignisse jüngerer Kollegen, wie auch seine ersten Schritte in diesem Bereich hier unten, erinnerte und seine Augen unweigerlich zu jenen festen Punkten wanderten, wo sie ihre Innereien ausgespien hatten, konnte man förmlich die pure Unlust in seinem Gesicht erkennen. Ein hoffnungsloser Blick, eine zerbissene Mine, bei der man nicht wusste, ob Gedankengänge oder zusammengezogene Eiszapfen der Haut die Ursache waren.

Selten kam ein kleines Lächeln hervor. Stets dann, wenn jemand anderem etwas komisches passiert war. Das Verschütten von Kaffee auf einen Anzug oder auf eine Bluse, das Bespritzen mit Senf auf die Krawatte oder das Gegenlaufen eines menschlichen Körpers auf festen Bestandteilen der Welt.

Hartenfels sah die Durchgangstür zum Pathologen. Dahinter verbarg sich der Obduktionsraum. Zu oft ging er durch diese Tür. Würde jede Berührung dieser Tür, ihn an sentimentalen Ereignisse erinnern, so müsste er jetzt, wie eine Primadonna flennen. Für manchen Kollegen stellte diese Tür eine Barriere dar. Bis hierhin und nicht weiter. Sie blieben alle davor stehen und konnten keinen weiteren Fuß nach vorne setzen. Es war eine Blockade, die sich zwar in ihren Gehirnen abspielte, aber eine äußerst effektive Waffe gegen das Leben darstellte. Da wo andere Berührungsängste auszustehen hatten, hatte Hartenfels die Gleichgültigkeit gepachtet, der ihn über alle anderen stellte.

Er musste noch zehn Meter weit gehen, blickte durch das gläserne Bullauge der Flügeltür aus Metall. Er konnte den Pathologen bei der Arbeit sehen und dessen verwaschene Stimme hören. Vor ein paar Jahren noch, konnte Hartenfels jedes Geräusch, was von da drin kam, unterscheiden. Ob ein Skalpell beim Zurücklegen in die Ablageschale geworfen oder, ob die Schädeldecke oder das Brustbein mit einer Knochensäge bearbeitet wurde. Aufgrund vieler Beschwerden dieses erhöhten Geräuschpegels, wurden Gelder locker gemacht, um die Pathologie-Abteilung mit Schall gedämmten Wänden zu versehen.

Peter klopfte erst gar nicht an. Er konnte anhand der letzten Arbeitsabläufe des Pathologen erkennen, wann er eintreten konnte und wann nicht. Das Ausziehen der Handschuhe, war so ein Zeichen.

Er betrat das Allerheiligste, für jeden Pathologen und angehenden Pathologen. Sein Blick war auf den Leichnam gerichtet. Eine weiße Decke bedeckte den nackten, toten Körper. Erst als Peter das Gesicht des Opfers sah, stockte es in seiner Kehle, als ob er nach Luft rang, die ihm plötzlich verweigert wurde. Äußerlich sah man ihm nichts an.

Es war die Kleine aus dem Hafen. Dafür brauchte er den diensthabenden Pathologen, Dr. Klaus Bergmann, nicht fragen.

„Haben sie was für mich?“, Fragte Hartenfels unerwartet leise, als ob ihm der Knoten im Hals die knappe Luft, die er zum Sprechen benötigte, in geringer Menge, zugebilligt hatte. Bergmann, der im Gegensatz zu Hartenfels einen Kopf größer war und eher das Leben zu genießen schien, wirkte schon beinahe beleidigend auf die Frage.

„Bisher hatte ich immer etwas für sie parat! Seit zehn Jahren kommen sie, wenn ich ihnen Bescheid gab! Sie tanzen mir dadurch nicht in meinem Tanzsaal herum, wo sie eh nur stören würden, und ich beschränke unsere Kommunikation nur auf das Wesentliche. Warum sollte es heute anders sein?“

„Und was?“, Hakte Peter nach, der seinen Blick nicht von der Kleinen lassen konnte.

„Die Folie und die Wäscheleine habe ich gesichert und für das Labor, zur Abholung bereit gestellt! Der Körper ist in einem makellosen Zustand. Keine Blutergüsse, keine Schürf- oder Schnittverletzungen, was eher selten bei kleinen Kindern vorkommt, da sie beim Toben immer irgendwelche Prellungen oder Schürfwunden zu sich ziehen. Doch bei ihr, absolut Nichts!

Nicht einmal die Ohren sind durchstochen. Sie ist so rein, als wenn sie Gott persönlich erschaffen hätte. Die Haare sind gereinigt worden, ebenso Hände, Finger- und Fußnägel – selbst die Zwischenräume der Zehen. Keine Tätowierungen, Piercings oder was einen Körper verunstalten könnte. Das einzige Merkmal ist ein Leberfleck auf der Innenseite des rechten Oberschenkels.“

„Könnte man davon ausgehen, dass das Opfer gründlich vom Täter gereinigt wurde, um ihre Arbeit zu beeinflussen?“

„Wenn eine gewöhnliche Person es durchgeführt hätte, so wären Spuren vorhanden. Er oder Sie muss schon ein Profi auf dem Gebiet der Forensik und Pathologie sein, um keine Spuren zu hinterlassen.“

„Jemand aus ihren Kreisen? Ist doch eher ungewöhnlich! Oder Dr. Bergmann?“

Bergmann traute sich kaum die Antwort zu geben.

„Bedauerlicherweise, ja.“

„Waren die Haare nass oder trocken.“

„Nass. Wieso?“

„Wenn die Folie, wie Einwickelfolie beim Frischhalten des Körpers verwendet wurde, verfälscht dies automatisch den Todeszeitpunkt. Wenn die Haare trocken waren, dann waren sie es auch bei der Entsorgung der Leiche. Waren sie jedoch nass, dann müssten sie eigentlich immer noch nass sein. Das heißt, dass wir eine Spur hätten.“

„Können sie mir eine Wasserprobe aus den Haaren entnehmen. Zudem brauche ich die Fingerabdrücke und alles, was sie bei sich hatte!“

„Kriegen sie!“

„Trug sie Kleidung?“

„Ja – eine Art Ballettuniform!“

„Die brauche ich auch!“

„Ich werde alles zusammen tragen und ihnen meinen Bericht oben auf legen. Wegen der Todesursache und dem Todeszeitpunkt werde ich sie gesondert informieren! Wenn si mich jetzt entschuldigen wollen, ich habe noch einen alten Mann im Nebenzimmer liegen!“

„Gehen sie ruhig, Bergmann!“, Gestattete Hartenfels.

Ihre offenen Augen waren so klar, wie Kristall. Nun lag sie auf dieser Bare, wie ein Engel. Peter zog langsam die Decke über ihren Kopf.

Wenn jemand, in diesem Augenblick, hereinkommen würde, könnte er Hartenfels Anblick kaum glauben. Es war einer jener wenigen Momente, wo Peter Gefühle zeigte. Seine Augen schwammen vor Tränenflüssigkeit, die sich auf dem Wege über die Wangen befanden.

„Ich finde diesen Schweinehund!“, Flüsterte er ihr zu und strich mit seiner Hand sachte über ihre abgedeckte Stirn, als wenn er sich von ihr verabschiedet hatte.

Er wischte sich die Tränen aus den Augen und wartete einen Moment, bevor er diesen Obduktionssaal verließ. Wieder eines dieser Erinnerung, denn mehr wird es für Peter nie sein, als Erinnerung, die sich in sein Langzeitgedächtnis brennen wird.

13.09 Uhr

Das Morddezernat war nicht besetzt. Beim Betreten stellte Hartenfels fest, dass Frau Hübner zum Mittagessen gegangen war. Jedenfalls stand es so auf ihrem Notizzettel, den sie für ihn, auf seinem Schreibtisch, hinterlassen hatte. Gelesen, für nicht wichtig genug erklärt und im Papierkorb zerknüllend vernichtet.

Was in Hartenfels Augen wichtiger war, ist die Gewissheit, dass inzwischen die angeforderten Akten, in einigen offenen Kartons neben seinem Schreibtisch standen. Bis auf seine Augenhöhe wurde die Kartons gestapelt.

Wir haben zwar nicht Ostern, aber viel Spaß beim Suchen; las Peter auf einen angeklebten roten DIN A5 Zettel.

Der Mann hat Sinn für Humor, dachte sich Hartenfels, riss den Zettel ab und lies ihn ebenfalls in seinem Papierkorb verschwinden.

Mit einem starken schwarzen Filzstift wurden die Zeiträume der Vermisstenanzeigen, an den Seiten der Kartons, geschrieben. Peter brauchte sich nur von Woche zu Woche durcharbeiten. Er nahm sich den ersten Karton, der genauso groß war, wie ein Umzugskarton und stellte ihn neben seinem Drehsessel ab.

Er zog seine Lederjacke ab und warf sie über die restlichen Kartons, bevor er sich setzte und sich der ersten Akte widmete. Er löste den Aktengummi, nachdem er den Namen der Vermissten las.

[Ulrike Hahn ]

Hartenfels hielt nicht all zu viel von Glück. So etwas existierte nur in den Köpfen von Optimisten und Verliebten. Da Peter Beides nicht war, konnte er sich es nur sehr schwer vorstellen, dass er ausgerechnet jetzt, ein Bisschen Glück abbekäme.

Er öffnete die Akte und beugte sich über ihr. Das Foto der Vermissten, schien an einem Sommertag aufgenommen worden zu sein, da im Hintergrund des abgebildeten Gesichtes eine männliche Person mit einem Golden Retriever Frisbee spielte. Auch war das T-Shirt der Vermissten zu klein. Er ging die Stammdaten der Vermissten durch.

Alter: 4 Jahre Geboren am: 24.5.2008

Wohnhaft: Hüttenweg 7, 14195 Berlin – Dahlem

MERKMALE

• Blondes Haar

• Grüne Schleife im Haar

• Sommersprossen im Gesicht

• Schnittwunde am rechten Zeigefinger

• Weisse Sandalen mit Schnallen

• Grünes T-Shirt mit Tele-Tubbies

• Blauer Jeans-Rock

Peter brach die Akte ab. Sicherlich dachte er in diesem Augenblick an die Eltern der Kleinen, die sich nach wie vor Sorgen um den Verbleib ihrer Tochter machten. So gerne er alle Akten gelöst sehen wollte, holte ihn sogleich die Realität wieder ein, als er [Status: Offen], in einem separaten Feld des Blattes, las.

Offen, bedeutete in diesem Fall, dass die Ermittlungen noch voll im Gange waren – auch wenn die Vermisstenanzeige bereits drei Monate alt war. Ein Umstand, der die Tatsache, dass womöglich eines dieser vermissten Kinder getötet wurde, in den Vordergrund stellte und allen anderen Fälle, nach hinten.

Peter schloss die Akte und legte sie beiseite. Er zählte die vorhandenen Akten im Karton neben ihm. Es waren allein vierzig Akten. Sein Blick auf die übrigen vier großen Kartons, ließ ihn die genaue Zahl der Vermissten erahnen. Auch wenn er sich nur die Namen und die Bilder der Vermissten Kinder ansehen würde, könnte es Stunden dauern, um sie alle durch zuhaben. Doch, da war die kleine Hoffnung auf Glück, Was das Ganze kürzer machen könnte.

Ohne auf die Uhr zu sehen, machte Peter stets die gleiche Bewegung. Akte aus den Karton holen, Akte aufschlagen, Namen registrieren, Foto ansehen und Akte schließen.

Der abgearbeitete Akten-Stapel wurde immer höher, als seine Sekretärin Frau Hübner ihm ein Kännchen Tee brachte. Auf seinem Schreibtisch befand sich kein Platz mehr, um die Kanne und die Tasse abzustellen.

Er registrierte sie kaum, da er sich geistig komplett abgeschottet hatte. Nur mit seinem Unterbewusstsein nahm er sie, wie ein Schatten, der herum geisterte, wahr.

Karton für Karton wurde abgearbeitet und immer noch keine Spur, der vermissten Person.

Langsam kamen Peter Zweifel auf, ob er nicht lieber die Vermisstenstelle hätte mit einschalten sollen, bei der Suche. Es wäre schneller vom Vorteil für ihn, etwas Arbeit in kompetente Hände abzugeben. Doch als alter Dinosaurier des Polizeihandwerks, stieß er langsam an seine Grenzen. Die Müdigkeit kam schneller zum Vorschein - das Brennen seiner Augen, die nach langer Konzentrationszeit ihn darauf aufmerksam machten.

Das Aufkommen von leichten Schmerzen in den Fingerknochen, wenn man etwas zu lange hielt.

Nun hatte er nur noch den fünften und letzten Karton vor sich. Wieder vierzig Akten, die ihm vielleicht auch nur zum Endresultat führten, dass das getötete Kind nicht unter den Vermisstenanzeigen war.

Was wäre, wenn das Kind nicht aus Berlin und ihrer näheren Umgebung stammte? Woher könnte sie dann herkommen? Sie könnte auf einer Klassenfahrt nach Berlin gewesen sein! Sie könnte auf einem Ausflug mit ihren Großeltern nach Berlin gekommen sein oder mit einer Sportmannschaft aus dem Ausland!

Hartenfels zermarterte sich das Gehirn. Oftmals zu lange, wovon er immer Kopfschmerzen bekam. Er griff zu seiner obersten Schublade und nahm sich eine Tablette aus der

Verpackung mit der Aufschrift - IBU 600 – heraus und warf sie in seinen Mund. Mit dem inzwischen abgekühlten Tee, schluckte er sie runter. Er leerte dabei gleich die ganze Tasse.

Und wieder musste er von vorne anfangen – lies seine Gedanken für den Rest des Durchsuchens in den Hintergrund schweifen, auch wenn es ihm sehr schwer viel, nicht daran zu denken. Denn die Angst zu Scheitern, ist die größte Angst, die ein Mensch haben kann.

Es vergingen erneut dreißig Minuten, als Peter die letzte Akte schloss. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und stierte die abgearbeiteten Kartons an.

„Zweihundert Vermisstenanzeigen, allein in drei Monaten und sie ist nicht dabei!“, Murmelte er vor sich hin. „Und sie ist nicht dabei!“, Stieß er plötzlich im Geschrei aus und fegte wutentbrannt und frustriert seinen Schreibtisch leer, während er sich aufrichtete. Er begab sich zum Fenster und blickte hinunter zu den Ameisen, die im Schnee herum irrten. Sie wussten nichts davon, was tagtäglich in der Welt geschah. Niemand nahm Notiz davon, weil der Mensch, von Haus aus, ein Egoist war.

Das eigene Leben, als kostbarstes Gut – es am Leben zu erhalten, ist die erste Pflicht des Individuum. Auch wenn Peter nichts von Egoisten hielt, keinen großen Wert auf deren Meinung legte, so war er in diesem Augenblick froh, dass die Menschen gewisse Details nicht wussten. Die Last der Verantwortung und die Last gegenüber der Gesellschaft, könnte so manche menschliche Seele zerbrechen – wenn nicht sogar in den Selbstmord treiben. So oblag es nun an Peter Hartenfels, diese Last mit Würde zu tragen – in der Gewissheit, andere Kinder vor diesem Täter zu schützen. Eine Aufgabe, die seine ganze Aufmerksamkeit gehörte.

Frau Hübner kam herein gestürmt, nachdem sie das Poltern hörte. Als sie das Chaos sah, erschrak sie auf.

„Was ist den hier geschehen? Wieder mal eine Wutattacke, Herr Kommissar?“

Peter verzog kurz eine betende Mine und fragte sich, warum diese Frau ihn so gut kennen musste.

„Ich glaube, dass sie manchmal schlimmer sind, als meine Mutter!“

Hartenfels nahm seine Zigarettenschachtel vom Boden, suchte darin noch eine vorhandene Zigarette – doch sie war leer.

Er zerknüllte die Schachtel und warf sie zu Boden. Beim Gang zur Bürotür schnappte er sich seine Lederjacke und verließ das Büro.

„Wo wollen sie denn hin, Herr Kommissar. Sie wissen, wie ungesund das Rauchen ist!“

Hartenfels blieb stehen, knurrte kurz und zeigte Frau Hübner damit, dass sie ihm auf die Nerven ging.

„In eins, zwei Stunden werde ich wieder hier sein. Und hoffe, dass sie bereits Feierabend gemacht haben. Gehen sie nach Hause und feiern sie mit ihrem Mann ihr blödes

Weihnachtsfest!“, Blies er in den Wind, bevor er endgültig sein Büro verließ.

15.42 Uhr

Die U-Bahn in Richtung Tiergarten war sehr voll - beinahe überfüllt. Wie eine Ölsardine fühlt sich Peter in diesem Dunst aus Körpergeruch und blickenden, misstrauischen Augen, die umher wanderten und alles und jeden zu registrieren schienen. Man fühlte sich nicht beobachtet, weil jeder nur mit sich selbst beschäftigt war. Vom Genießen der Fahrt konnte keine Rede sein. Im Gegenteil – es war ein Paradies für kleine und große Diebe, für jene die gerne älteren Damen die Handtaschen entrissen und Halbstarke. Jene die unauffällig waren, aus dem Nichts auftauchten und wieder unter tauchten.

Der ideale Zeitpunkt für Diebe war unmittelbar, wenn die U-Bahn vor einer Haltestation die Geschwindigkeit abbremste. Durch diesen Ruck, verloren die meisten stehenden Personen ihren Halt. Unfreiwillige Berührungen zum Vorder- oder Nebenmann sind da nichts Besonderes.

Es war wieder so weit und die U-Bahn fuhr die Haltestelle TIERGARTEN an. Für Hartenfels war es die zweite Station. Aber auch für Gäste solcher kurzen Strecken, schienen sie ideale Opfer zu sein.

Peter bemerkt, kurz bevor sich die Türen öffneten und er aussteigen wollte, den Hauch einer Berührung. Sie war nicht einmal ungewollt. Niemand entschuldigte sich dafür. Demnach musste es sich um eine gezielte Berührung handeln. Peter blickte nach Rechts und anschließend über seine linke Schulter.

Zwischen all den Beinen schien sich ein Zwerg seinen Weg zu bahnen. Schon beim Anblick der vielen Leute, die sich hinter Peter gesellt hatten, war es aussichtslos, dem Dieb hinter her zu jagen. Peter machte ganz einfach gar nichts und wartete darauf, dass sich die Türen öffneten.

Als sie aufgingen, wurde er regelrecht hinausgedrängt. Im Strom laufenden und der wartenden Menschenmassen, fühlte er sich zwangsläufig, wie die Meet einer Bockwurst, wobei sich die U-Bahn Tunneln der Schweinedarmhaut glich.

Peter versuchte in die entgegengesetzte Richtung des Stromes zu gehen. Sicherlich würde es der Dieb auch so machen. Auf den schnellsten Weg hinaus zu gelangen und die gesicherte Beute ausgeben.

Es war kaum ein schnelles Laufen möglich. Viele Passanten brachten den Schnee von oben mit hinunter und die Gefahr zu Stürzen, war sehr hoch. Besonders für die Alten und Gebrechlichen. Die Rolltreppe am letzten Aufgang, die nach oben führte, war defekt und stand still. Die Leute mussten die Treppenstufen erklimmen und sich an den Geländern festhalten.

Hartenfels erkannte den kleinen Knirps im Gedränge an der Wand. Seine Hände konnten gerade so die Haltestange berühren und sich über die Treppenstufen hinauf ziehen.

Peter war schneller und wartete bereits oben auf seinen Dieb. Er kniete sich hin und blickte dem ankommenden, erschrockenen Meisterdieb in die Augen. Er hielt ihn sachte am Arm fest, während der Dieb sein reumütiges Gesicht aufsetzte.

„Na, Ulli! Wieder auf Beutezug?“

Ulli nickte sehr schwach mit seinem Kopf, als hätte er ein Muskelzucken im Halsbereich.

„Gerade mal sechs Jahre alt und schon so durchtrieben!“

„Sieben! Keine Sechs, ich bin sieben Jahre alt.“, Erwiderte Ulli, als hätte ihn Peter beleidigt.

„Na gut. Dann bist du ein Siebenjähriger durchtriebener, kleiner, junger Mann! Was wäre, wenn dich die Bullen erwischt hätten?“

Peter erhob sich, während Ullis Augen nach oben wanderten und seine Bewegung verfolgten.

„Bekomme ich jetzt Stubenarrest?“

Peter schmunzelte innerlich, lies es sich aber nicht anmerken.

„Von Rechtswegen müsste ich dich jetzt auf die Polizeiwache mitnehmen, eine Strafanzeige stellen und dich für achtundvierzig Stunden dort behalten! Ulli. Ich kann dir nicht immer alles durch gehen lassen. Ich bin nicht dein Vater!“

Peter wandte sich von Ulli ab und ging ein paar Schritte. Er fühlte in seinem Rücken die Blicke des Jungen, die an seinem Gewissen nagen. Er machte eine halbe Drehung zu dem Kleinen.

„Na, komm schon, Kleiner.“

Ulli tapste auf Hartenfels zu und griff Peters große, raue Hand. Peter umklammerte und wärmte die Hand des Jungen, nachdem er freiwillig die Geldbörse von Peter zurückgab.

„Wo sind denn deine Eltern?“

Ulli überlegte und schüttelte einfach den Kopf.

„Was? Du weißt es nicht? Wieso, weißt du so was nicht?“ Der Kleine zuckte mit seinen Schultern.

„Du bist aber heute sehr gesprächig. Nachts kriege ich kein Auge zu, weil du das ganze Haus zusammen schreist und hier kriegst du keine zwei Worte über die Lippen! … Na schön!“

Ulli riss sich kurz von Peters Hand los, als sie an einem Würstchenstand kamen. Verwundert blickte Peter hinterher und gesellte sich zu ihm.

Er hörte das Knurren von Ullis Magen.

„Hunger?“, Fragte Peter.

Ulli nickte dieses Mal mit stärkeren Muskelzucken, als würden seine Energieimpulse gar nicht mehr aufhören wollen.

Peter trat näher an den Verkaufsstand heran.

„Zwei warme Wiener, bitte.“, Bestellte er und reichte sie, nach Erhalt der Wiener, an Ulli weiter.

Ein leises „Danke.“ Huschte über Ullis Lippen.

Hand in Hand gingen beide langsam in Richtung Ausgang.

Als sie oben angekommen waren, hatte Ulli bereits seine Wiener verdrückt.

Peter setzte Ulli erst einmal auf eine Bank und kauerte sich vor ihm hin. Hier war es nicht so voll und man konnte sich auch besser verstehen, als unten.

Ulli lächelte Peter an und blickte zu weilen auf die angefangene Wiener in seiner Hand.

„Ulli! Ich werde dich erst einmal nach Hause bringen, zu deiner Mutter!“

„Stiefmutter.“ Korrigierte Ulli.

„Von mir aus Stiefmutter. Und dort bleibst du! Hast du das verstanden?“

„Ich will aber nicht nach Hause. Kann ich nicht bei Dir bleiben, Onkel Peter?“

Hartenfels fühlte dass er das Richtige tat, aber von stichigen Zweifeln, die aus den Augen des Jungen geschossen kamen, überstimmt.

„Ehrlich Kleiner. Ich kenne Keinen Schauspieler, der so mit seinem Gesicht arbeitet, wie du. Du musst mir eines Tages das mal erklären, wie du das machst.“

„Bitte“, dehnte Ulli das Wort aus.

Peter erhob sich wieder, drückte sich dabei an seinen Knien ab.

„Also gut, Ulli! Du hast gewonnen.“

Peter nahm Ulli auf seinen Arm und trug ihn eine Weile. So weit, bis er zur nächsten Bus-Station kam und gemeinsam mit ihm einstieg. Sie setzten sich auf zwei freie Plätze, die beinahe belegt gewesen wären.

Ulli blickte aus dem Fenster. Ihm schien die Fahrt zu gefallen.

„Viel hast du ja von der Stadt noch nicht gesehen!“, Flüsterte Peter ihm zu. Ohne eine Regung, war er weiterhin von den hohen Gebäuden, den verschiedenen Fahrzeugen fasziniert.

Auch wenn die Fahrt etwas lange anhielt und der Verkehr immer wieder stecken blieb, genoss auch Peter diese Fahrt. Eigentlich hatte er das Büro verlassen, um seinen Kopf frei zu kriegen. Frei von all den Gedanken über die vielen vermissten Kindern. Und nun saß ein kleiner Junge mit kurzen, schwarzen Haaren, neben ihm. Vielleicht war er die Abwechslung, die er so dringend gebraucht hatte. Vielleicht war dieser Junge der Grund dafür, dass wieder Energie durch Peters Blutadern floss. Vielleicht war der Junge, einfach alles, wofür das Leben stand.

17.02 Uhr

Die Augen waren schwer geworden und der Schleier der Müdigkeit hatte sich über Ulli ausgebreitet. Peter trug ihn die ganze Zeit von der Ausstiegsstelle bis zur Polizeistation – sogar bis in sein Büro hinauf.

Nun hatte er nicht so viel Ahnung mit Kindern, weil er stets diese Art von Verantwortung in seinem Leben, voraus gestellt hatte.

Irgendwann wirst du auch mal Kinder haben, aber nicht jetzt – redete Peter sich immer wieder ein. Dabei lag das Problem nicht beim anderen Geschlecht. Davon kannte Peter einige, die sicherlich auch den Schritt zur Heirat gewagt hätten. Doch Peter war bereits verheiratet – mit seinem Beruf. Hier steckte er mehr Zeit und Energie hinein, als in allen anderen Aktivitäten, die er versuchte zu vermeiden. Einmal im Monat Bowlen gehen, damit er in Gesprächen behaupten konnte, dass er etwas für seine Gesundheit tat. Er war der klassische Einzelgänger, der alles das wahrnahm, was seine unmittelbare Umgebung betraf.

Was Gefühle anging, die mussten erst einmal aufgetaut werden. Ehe das geschieht, musste man mindestens zwei Jahre Hartenfels kennen, gut kennen. Frauen dagegen brauchten keine Woche, um Hartenfels einzuschätzen. Brummbär, harter Kerl, besessen, launisch und vorhersehbar, gelegentlich warmherzig, wenn seie Zeit es zu ließ.

Peter legte Ulli auf seine Couch und deckte ihn mit einer flauschigen, Fleece-Decke zu. Er selber setzte sich in seinen

Bürostuhl und blickte Ulli nur an. Ulli schien eine Art Ruhepol für ihn zu sein und brachte sein stetig steigendes Gemüt auf eine ruhigere Ebene hinunter.

Sachte klopfte es an Peters gläserner Bürotür. Er blickte auf und erkannte den Mitarbeiter, der bei der Vermisstenstelle tätig war. Mit ihm hatte er noch vor einigen Stunden telefoniert.

Peter gab ihm ein winkendes Zeichen, dass er leise hereintreten konnte. Wie auf Wolken schien sein Kollege zu schweben, als wenn er den Fußboden gar nicht berührte.

Jedenfalls drang kein quietschendes Gummigeräusch zu Ullis Ohren.

„Ich habe ihre Sekretärin auf der Treppe gesehen! Wieso sind sie denn noch hier?“, Fragte der Kollege in Flüstermodus.

Peter deutete mit seinem Finger auf den Kleinen hin.

„Ist das ihr Sohn? Ich wusste gar nicht, dass sie einen haben?

In Zeichensprache machte Peter seinem Kollegen von der anderen Abteilung klar, dass sie sich beide außerhalb des Büros weiter unterhalten sollten, um den Jungen nicht aufzuwecken.

So leise wie möglich begaben sie sich hinaus und schlossen die Glastür.

„Es ist nicht mein Sohn! Im Grunde genommen hat er keine Eltern. Er ist ein Vollwaise. Als Baby überlebte dieser Junge, wie durch ein Wunder, bei einem Unfall. Seine wahren Eltern kamen bei diesem Unfall ums Leben. Damals sollte ich, als leitender Ermittler, die Ursache für die Tötung herausfinden.

Sein Vater hatte Spielschulden und es schien so, als hätte der damalige Casino-Besitzer Jack Lombardi, Berlin mit Las Vegas verwechselt. Bisher konnte ich ihm nichts nachweisen – aber ich weiß, dass er hinter diesen angeblichen Unfall steckte. … Am Grab seiner Eltern habe ich ihnen geschworen, auf den Kleinen aufzupassen. Nachdem der Kleine, die ersten drei Jahre in einem Waisenhaus aufwuchs, wurde er seitdem von einer Pflegefamilie zur nächsten weiter gereicht.“

„Und warum ist er hier und nicht bei seiner Pflegefamilie?“

„Ich fand ihn, als er mir in der U-Bahn meine Brieftasche klaute. Ich habe ihn schon öfters in den Tunneln gesehen. Die Pflegeeltern, bei denen er momentan ist, haben eigene Probleme. Der Mann ein stetiger Biertrinker und die Mutter bezieht ein paar Kröten übers Jugendfürsorgeamt und erhält Harts IV. Zurzeit wohnt der Kleine in meinem Wohnblock!“

„Sie sollten die Pflegeeltern anrufen und ihnen Bescheid geben, ehe sie bei mir anrufen!“

„Sie haben Recht, Rausch!“

Peter war im Begriff nach seinem Handy zu suchen. Er tastete seine Hosentasche ab, fand es aber nicht. Er blickte durch die Glastür zu seiner Jacke. Es konnte nur dort sein, dachte er.

„Weshalb ich eigentlich zu ihnen gekommen bin, Hartenfels, war der Umstand, dass gerade eine junge Frau bei mir war, die eine Vermisstenanzeige aufgegeben hatte. Ich habe die Akte gleich mal mitgebracht. Vielleicht könnten sie sich die Daten einmal ansehen.“

Rausch presste die Akte gegen den Bauch von Hartenfels, der sie mit einer Hand festhielt, als würde sie gleich zu Boden rutschen. Peter griff sie an der Falz-Naht, wandte sich kurz von seinem Kollegen ab und blickte hinein.

Er las sich die ausgedruckten Einzelheiten durch. Anhand der Beschreibung, in diesem Text, wurde Peter Neugierig und blickte Rausch an, als hätte er soeben die Nadel im Heuhaufen gefunden. Als er wieder weiter las und umblätterte erkannte er das Opfer anhand eines Bildes wieder.

„Das ist sie! … Das ist sie!“, Erstaunte es Hartenfels. „Wo befindet sich die Mutter?“

Rausch wusste nicht, ob er sich freuen oder eher nachdenklich wirken sollte. Erleichterung verspürte er ebenso, wie Hartenfels. Der endlose große Druck, das Opfer identifizieren zu können, schien gewichen zu sein. Eine seelische Entlastung, was Hartenfels Konzentration auf das kommende Wesentliche vereinfachte.

„Die Adresse habe ich hinten auf die Akte geklebt. Sie ist Krankenschwester und arbeitet im Schichtdienst. Aufgrund von Hygienemaßnahmen innerhalb des Krankenhauses, musste sie für vier Tage in Quarantäne bleiben. Als sie zu hause ankam, das war gestern, hatte sie darauf gewartet, dass ihre Tochter, Jasmin Schröder, vom Ballettunterricht nach Hause kommt. Als sie gestern Abend nicht kam, versuchte sie ihre Tochter telefonisch zu erreichen – ohne Ergebnis.“

„Wir sollten sie mal besuchen!“

„Und, was wird aus dem Kleinen?“

Peter blickte erneut in sein Büro in Richtung Couch. Noch immer schlief Ulli, wie ein Stein.

„Ich werde ihn nach Hause bringen. Ich würde vorschlagen, dass wir uns vor dem Haus der Mutter des Opfers, treffen!“

„Wir?“, Wirkte Rausch überrascht.

„Ich habe Feierabend!“

Peter schloss für einen Moment die Augen und konnte es nicht fassen, dass ein pünktlicher Feierabend wichtiger sein konnte, als das Trösten einer verzweifelten Mutter.

„Ich habe eine Familie, für die ich da sein muss! … Nur, weil du keine hast, kannst du nicht davon ausgehen, dass wir alle rund um die Uhr, wie die Bekloppten schuften!“

„Na schön! Dann hau doch ab. Leg dich ins warme Bett und lass dich von deiner Frau bedienen. Doch Eines sage ich dir! … Da draußen gibt es so viele einzelne Mütter oder Väter, vielleicht auch als Ehepaar zusammen, die verzweifelt Antworten suchen! … Wo ist mein Kind? Was ist mit ihr oder ihm geschehen? … Auch wenn die Antworten seelische Narben aufreißen, so weiß ich, dass sie lieber mit der Wahrheit leben, als mit der Ungewissheit.“

Peter riss die Glastür auf und schritt, beinahe stampfend, wie ein wütendes Nilpferd in sein Büro hinein, wovon Ulli aufwachte. Er zog sich seine Lederjacke an und kramte nach seinem Autoschlüssel. Sein Blick wanderte zu Ulli.

„Komm wir gehen nach Hause!“, Sagte er in einem ungewöhnlichen Ton zu Ulli.

„Bist du traurig, Onkel Peter?“, Fragte Ulli.

„Komm jetzt, Ulli!“, Ermahnte Peter ihn und ging auf ihn zu.

Er schob die Fleece-Decke zusammen und nahm Ulli samt Decke auf seinen Arm. Anschließend begaben sie sich zum Fahrstuhl.

„Die Decke wird dich im Auto wärmen! Also, halte sie so fest, wie du nur kannst.“

„Versprochen, Onkel Peter!“, Gähnte Ulli, während er seine Arme seitlich ausstreckte

Der Fahrstuhl brachte sie in die Tiefgarage, wo es scheinbar kälter war, als im geheiztem Büro – selbst für Hartenfels. Er stieß Nebel artige Atemstöße aus, bevor er sein Fahrzeug erreichte. Er schloss mit der linken Hand die Fahrertür auf, setzte Ulli auf die Rückbank und schnallte ihn an. Anschließend nahm er hinter seinem Lenkrad platz..

Peter blickte in den Rückspiegel und war prompt an die Vergangenheit, durch seine Erinnerung an den Unfall von Ullis Eltern, verbunden. Mit einem melancholischen Gefühl, gemischt von Wut und Zorn der Gegenwart, fuhr Hartenfels nach Hause.

19.55 Uhr

Der Schnee auf der Straße ließ ein schnelles Fahren nicht mehr zu. Man konnte höchstens 50km/h fahren, ging aber mit der Geschwindigkeit in Kurven herunter. Dazu die Pechschwarze Dunkelheit, ließ sie so manchem Fahrer die Unsicherheit anmerken.

Straßenlaternen beleuchteten die Fahrbahn. Links und Rechts, parkten die Fahrzeuge der Anwohner. Einige Hundebesitzer gingen mit ihren Lieblingen Gassi, deren Gebell man deutlich vernahm.

Hartenfels versuchte ein Parkplatz zu finden. Nach mehreren Minuten des Suchens, fand er schließlich einen – in der Nähe eines Kindergartens. Er stieg aus, nahm die Akte vom Beifahrersitz an sich und bahnte sich den Weg zur Wohnung des Opfers.

„Wenigstens in der richtigen Straße!“, Murmelte er vor sich hin, als er auf das Namensschild der Straße sah.

Nun wusste er nicht, in welche Richtung die Hausnummern, zu-oder abnahmen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als ein Stück von jeder Straßenseite abzuklappern. Anschließend musste er nur noch die richtige Straßenseite finden, in der sich die gesuchte Hausnummer befand.

Seine Hände wirkten kalt und eisig. Sein Handrücken wechselte rasch die Farbe – von durchblutetem Rot zu einem abgestorbenem Grau. So wie ein Schatten das Licht absorbierte, schien die Kälte seine eigene Körperwärme zu neutralisieren.

Zunehmend fror er auch an Kopf und Hals. Er stellte den gefütterten Kragen seiner Lederjacke auf, um etwas Schutz und Wärme seiner Kleidung zu nutzen.

In seiner Jackentasche läutete sein Handy. Kein modernes, spielerischer Schnickschnack. Es übte nur die einfachen Funktionen eines Handys aus. Es läutete, wenn ihn jemand anrief und Peter konnte jemanden anrufen, wenn er dringend etwas benötigte.

Für ihn waren die neumodischen Dinger ein Gräuel. Jedes Jahr in einem anderen Design, immer kleinerer mit noch mehr unnötigen Details, die den Endnutzer zu mehr Geldverschwendung verleitete. In Hartenfels Augen, waren sämtliche Handy-Vertreiber nur Schnorrer, die den Wahn der Jugend ausnutzten und diese nicht vor der Suchtgefahr und den versteckten Fallen hinwiesen. Eindeutig Schuldig!

Sein warmer Atem verwandelte sich in Sekunden schnelle zu einem sichtbaren, weißen Schleier, der von glitzernden Funkeln durchbrochen wurde. Es schien der Beginn eines fallenden Kristall-Schnees zu sein.

Peter blickte erst auf das Display seines Handys, dass in der Dunkelheit aufleuchtete. Dies war aber das Einzige, was man als „Special Feature“ bezeichnen konnte.

Der Name des aufblinkenden Teilnehmers, wies auf den Gerichtsmediziner und Pathologen Dr. Klaus Bergmann hin.

„Hartenfels … wenn möglich, machen sie es kurz. Ich befinde mich gerade draußen und friere mir den Arsch ab!“

„Dann gehen sie doch ins Warme!“, Erwiderte Bergmann sarkastisch.“

Hartenfels schwieg und konnte gar nicht darüber Lachen, nicht einmal Schmunzeln oder Kichern.

„Leider habe ich schlechte Nachrichten für sie! Wie soll ich es formulieren, ohne dass sie gleich einen Wutanfall kriegen?“

„Spucken sie es aus!“, Betonte Hartenfels energisch, da er kein Freund davon war, wenn jemand um den heißen Brei redete und damit seine Zeit verschwendete.

„Todesursache: unbekannt!

Todeszeitpunkt: unbekannt!“

„Wie kann das sein? Haben sie nicht mal einen Anhaltspunkt, den ich nachgehen kann?“

„Ich fand eine winzige Einstichstelle im Leberfleck des

Oberschenkels!“

„Und das bedeutet?“

„Der Täter hat ihr wahrscheinlich ein nicht nachweisliches, toxisches Gift verabreicht!“

„Und keine Nebenerscheinungen? Was sagt denn das

Blutbild?“

Hartenfels bewegte etwas seine Beine, als würde er auf der Stelle tanzen.

„Die Werte des Blutbildes lagen im Normbereich. Kein Arsen in den Haaren, kein Asbest in den Lungen – einfach nichts. Das Einzige, was ich feststellen konnte, war, dass sie an Blutarmut litt. Sie hatte zu viele weiße Blutkörperchen und litt an Asthma. Das Beste wäre ihre Krankenvorgeschichte zu kennen. Vielleicht befindet sich darin ein Hinweis, den ich zu meiner endgültigen Schlussfolgerung einbeziehen kann. Doch dafür brauche ich den Namen und den behandelnden Arzt.“

Der Kommissar überlegte. Für ihn war es wichtiger zu wissen, dass im Grunde, Bergmann nichts herausgefunden hatte, was den Tathergang spezifizieren könnte. Alles andere lag im Bereich der Ermittlung und dafür war Bergmann nicht der richtige Mann.

„Tut mir Leid, Bergmann. Ihre weiße Weste muss leider den ersten Riss hinnehmen müssen. Versuchen sie mit diesem Makel zu leben und akzeptieren sie es, wie ein Mann. Auch, wenn ich ihre Bemühungen anerkenne und für lobenswert erachte, werde ich dennoch alles daran setzen, dass die Daten des Opfers nicht in den Schmutz gezogen werden oder in die Presse gelangen, wie sie es schon einmal getan hatten!“

Hartenfels beendete das Gespräch und schaltete sein Handy aus, um für die nächsten Stunden nicht gestört zu werden. Er lief einige Meter weiter und erblickte die Hausnummer 23.

Es war ein Wohnblock mit vielen Mietern. Früher nannte man es noch Plattenbau, doch seit dem diese Kästen renoviert wurden und die Eigentümer aller drei Jahre wechselten, nannte man sie einfach nur noch Wechselblöcke. Ein Spitzname, den die Mieter bei Gesprächen untereinander oft gebrauchten.

Peter hielt sich am Geländer der Zehnstufentreppe fest und begab sich zum Eingang. An der Klingeltafel suchte er nach den Nachnamen. Als er ihn fand, betätigte er die Klingel. Er läutete kurz, zwei mal.

Aus eigener Erfahrung wusste er, wie nervend es sein konnte, wenn Personen lange klingelten. Vor allem bei diesem schwachsinnigen Halloween, wo er jedes mal zu seiner

Dienstwaffe griff, wenn irgendwelche Gören sich Süßigkeiten erbettelten. Und stets am Tag darauf, sah er die Schäden, die hinterlassen wurden. Auch wenn sie noch klein waren, so hätte man diesen Kindern etwas Benehmen beibringen können.

Immerhin schmiert man keine Zahnpasta auf Türgriffe oder kleistert Briefkästen zu. In seinen Augen war die Welt verrückt geworden – doch er musste sie akzeptieren, nur mögen musste er sie nicht.

„Ja!?“, Meldete sich eine weibliche Stimme über den Sprechanlage an der Eingangstür..

„Frau Schröder?“

„Ja!“

„Maria Schröder?“

„Ja, die bin ich!“

„Verzeihen sie die Störung. Mein Name ist Hartenfels. Kommissar Hartenfels. Ich würde gerne mit ihnen über ihre Tochter reden!“

Peter wartete auf eine lautstarke verbale und hörbare Reaktion. Doch es blieb still. Dafür sprach die Tür mit Hartenfels. Der Türöffner summte ein längeres Lied, so dass Hartenfels sie öffnen konnte.

Oben angekommen stürmte Maria Schröder aus ihrer Wohnungstür und wartete bereits im Treppenhaus auf ihren Gast.

Bereits an der Art, wie ihr Gast die Treppen hinauf kam, wusste sie instinktiv, dass dieser Mann eine schlechte Meldung überbringen würde.

Hartenfels traute sich kaum der jungen Frau in die Augen zu sehen.

Schwere Atemstöße stieß die Mutter aus, als würde ihr der Atem im Hals gefrieren.

„Ich kann es an ihren Erregungen sehen, dass sie eine negative Vermutung erahnen. Leider muss ich diese Vermutung bestätigen. Wenn sie es Wünschen können wir diverse

Einzelheiten, die sie interessieren, besprechen. Ich würde es aber auch verstehen, wenn sie sich in ihrer Trauer zurückziehen wollten.“

Maria Schröder brach in Tränen aus. Sie setzte sich beiläufig auf die oberste Stufe der Treppe nieder und hielt ihre Hände vors Gesicht.

„Oh mein Gott!“, Stotterte sie hinaus.

Peter kauerte sich einige Stufen vor ihr hin und versuchte sie zu trösten.

„Lassen sie ihren Frust und ihren Schmerz hinaus. Es ist normal, wenn sie in Tränen ausbrechen!“

Ehe Hartenfels das Falsche sagen würde, versuchte er sich im Schweigen. In so einer Situation konnte er nicht wirklich helfen, auch wenn er in seiner polizeilichen Ausbildung das Gebiet der Seelsorge durchwandert hatte. Sein Schweigen half Maria Schröder nicht wirklich. Doch seine physische Anwesenheit umso mehr. Sie hatte jemanden da, an den sie sich klammern, auf den sie ihre inneren geballten Fäuste einschlagen konnte.

„Nein, nein … nicht Jasmin! Nicht meine Jasmin! Sie müssen sich irren!“, Rief Maria ihm plötzlich ins Ohr hinein.

„Sie müssen sich ganz einfach irren!“

Maria Schröder erhob sich abstützend am Geländer und begab sich langsam zu ihrer Wohnungstür. Hartenfels erhob sich ebenfalls.

„Glauben sie mir, Frau Schröder, ich würde ihre Tochter auch lieber bei ihnen zu Hause in Sicherheit sehen. Die Wahrheit die sie in diesem Moment zu verdrängen versuchen, ist die Wahrheit, die mich zu ihnen geführt hat. Ich wäre nicht hier, wenn auch nur der kleinste Zweifel, um die Identität ihrer Tochter, bestünde!“

Peter bemerkte, dass sich Frau Schröder in einem situativen Schockzustand befand. Ob sie seine letzten Worte wahrgenommen hatte und verstand, konnte er nur vermuten. Er nahm eine Visitenkarte aus seinem Portemonnaie und klemmte diese an die soeben verschlossene Wohnungstür.

„Sie können mich jederzeit anrufen - auf Arbeit oder zu Hause, Tag und Nacht. Es ist egal, zu jeder Urzeit. Ich werde für sie da sein, wenn es ihnen nach Reden zu Mute ist.“

Der Kommissar wartete noch einige Minuten, in der Hoffnung die Wohnungstür würde sich doch für ihn öffnen. Er hätte am liebsten den ganzen Abend und die ganze Nacht in diesem Treppenhaus verbracht – so stark war sein Verlangen dieser Frau zu helfen. Leider fielen ihm Vorkommnisse aus andern Wohnhäusern ein, wo man solche Personen, die vor Haustüren lungerten, als Stalker oder Voyeure bezeichnete und wachsame Mitbewohner die Polizei riefen, um sie aus dem haus zu entfernen.

Hartenfels lief langsam, Stufe für Stufe, nach unten und begab sich wieder in die Kälte hinaus. Die Kälte von Berlin. Es war schon Spät geworden und die Nacht kam immer schneller. Zum körperlichen Ausruhen würde Peter kommen, zum seelischen Ausruhen eher nicht.

Kapitel Zwei

22. Dezember / 08.30 Uhr

Schwarz auf Weiß stand in ausgedruckter Form beschrieben, was Dr. Klaus Bergmann telefonisch versprochen hatte. Sein Obduktionsbericht lag Hartenfels zur Begutachtung, auf seinem Schreibtisch. Seine Neugier zog jedes Detail auf, um seine Wissenslücken zu füllen. Doch viele Details konnten nicht mehr hinzugefügt werden. Bergmann ließ sich stets im Rahmen seiner Untersuchungen ein Restzweifel offen, für den Fall, dass seine Unterlagen vor einem Gericht nicht standhalten konnten. Dies erlaubte den renommierten Pathologen Ergänzungen hinzuzufügen und seine Ergebnisse zu berichtigen.

Hartenfels wusste, dass die Untersuchungsergebnisse bei weitem nicht alles war. Es fehlten gewisse Anhaltspunkte, Vergleichsproben um den Bericht zu komplettieren. Proben, die man mit sichergestellten Proben vergleichen konnte. Eine Parallele zwischen Tatort und dem Täter zu ziehen.

Peter war mit dem Hinweis der Injektion im Oberschenkel des Opfers beschäftigt. Nach Bergmanns Meinung, geschah die Injektion ohne Fehler. In welche Richtung würde sich dies auf den Täter auswirken?

Ein Junkie auf der Straße, der sich zu jeder Zeit die Nadel in den Arm jagen konnte? Eine Person die im Umgang mit der Nadel geschult war? Eine Person die aus dem Umfeld eines medizinischen Berufes stammte? Oder gar ein Rettungssanitäter oder ein Notarzt? Die Liste konnte Hartenfels ins Unendliche lang ziehen und würde nur noch mehr Verdächtige ans Tageslicht fördern.

In diesem Fall wäre jeder verdächtig, gestand sich Hartenfels ein. Würde er nicht so denken, wäre es ihm ein leichtes Spiel gewesen, den Täter, aufgrund eines oberflächlichen Profils, zu inhaftieren. Da er die Aufklärung sehr ernst nahm, verharrte er nicht nur bei diesem einen Verdachtsmuster. Er musste sich Frage für Frage stellen und deren Antworten finden, wenn er eine eindeutige Spur haben wollte.

Vor allem galt es das Opfer eindeutig in der Gesellschaft zu identifizieren. Ein Name sagte nicht viel aus. Ein Name bestand nur aus zwei oder drei registrierten Wörtern, die irgendwo in Archiven festgehalten wurden. Ein Name bedeutete aber auch die Zugehörigkeit eines Geschlechts oder einer Familie. Dennoch sagte es nichts über den Menschen aus. Was waren ihre Hobbys? Wo ging sie zur Schule? Wie lief ihr Tag in der Regel ab? Fragen die nur ihre Mutter oder andere, nahe stehende Personen, beantworten konnten. Aber nur so konnte Hartenfels ein Schema aufbauen, nach dem der Täter vorgehen würde.

Dadurch dass die Mutter zurzeit nicht im Stande war, Auskunft zu geben, überlegte sich Peter, wie er auf Umwegen an die gewünschten Informationen gelangte.

Er begab sich auf die Arbeitsplattform der Berliner Polizei. Er loggte sich ein und nutzte das Suchprogramm.

Er begann dabei rein logisch zu denken.

Die Mutter des Opfers wohnte in der OPPELNER STRASSE. Diesen Namen gab er in das Suchfeld ein. Als detaillierte Angaben, um das Suchfeld einzugrenzen, gab er noch das Wort Grundschule ein.

Eine kurze Liste mit einigen Schulen tat sich auf, die sich in der Nähe von 1Km befanden.

Borsinger Grundschule Freie Schule Kreuzberg Fichtelgebirge Grundschule Heinrich-Zille Grundschule Paul-Dohrmann Schule

Peter druckte sich die Kontaktadressen aus, um persönlich nach den Gewohnheiten der kleinen Jasmin zu forschen. Sobald der Drucker fertig war, nahm er den Zettel von der Endablagestelle und begab sich zum Garderobenständer seines Büros. Er zog sich seine warme Lederjacke wieder an.

Im Vorzimmer trat er an Frau Hübners Schreibtisch heran und schien sie gerade beim Geschenke einpacken zu stören.