Chased - Katharina Sommer - E-Book

Chased E-Book

Katharina Sommer

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Beschreibung

Ein Blick hinter einen Schleier aus Geheimnissen, der Herz und Verstand auf die Probe stellt. Mit einer verschrobenen Familie aus Geheimniskrämern ist die 16-jährige Ginny Follett Skurrilitäten gewohnt. Die vermeintliche Existenz von Dämonen ist dann allerdings doch zu viel. Ausgerechnet ihre Familie hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Wesen aus der Unterwelt zu jagen. Als wäre das noch nicht schlimm genug, verschwindet ihr Bruder und Ginny soll seinen Platz einnehmen – als Dämonenjägerin! Neben ihren Verpflichtungen gegenüber den Clans muss sie sich erst an ihr neues Leben gewöhnen, da hilft es nicht gerade, dass sie plötzlich selbst von Dämonen verfolgt wird und es der berüchtigtste Dämonenjäger überhaupt auf sie abgesehen hat. Ginny ist sich nur einer Sache gewiss: Geheimnisse sind dafür da, gelöst zu werden. . Neuauflage von "Hunter - ich jage dich" - komplett überarbeitet und neu gestaltet.

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Seitenzahl: 380

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Epilog

Danksagung

Die Autorin

GedankenReich Verlag

N. Reichow

Neumarkstraße 31

44359 Dortmund

www.gedankenreich-verlag.de

CHASED

(1)

Text © Katharina Sommer, 2021

Cover: Phantasmal Image

Lektorat/Korrektorat: Marie Weißdorn

Satz & Layout: Phantasmal Image

eBook: Grit Bomhauer

Innengrafiken © shutterstock

ISBN 978-3-947147-74-8

© GedankenReich Verlag, 2022

Alle Rechte vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Für meine Eltern,

weil ihr meine größten Stützen seid.

»Du kriegst mich nie!«, rief Ginny Follett und ging kichernd hinter einem blühenden Hortensienstrauch in Deckung. Raschelnd umhüllten die zarten Blätter ihre schmale Gestalt.

»Na warte!«, kam die Antwort aus der Dunkelheit.

Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus und brachte ihre Augen selbst in der Finsternis verborgen zum Strahlen, als wären sie Sterne am tiefschwarzen Himmel.

Das Anwesen der Folletts war bevölkert mit Gästen, Musik spielte und die Besucher tanzten und plauderten ausgelassen unter funkelnden Lichterketten. Nur weitab von den Festlichkeiten, im hintersten und nachtdunkelsten Teil des Gartens, waren das Mädchen und der Junge allein und ungestört.

»Ethan, hierher!«, lockte sie mit leiser Stimme.

Zweige knackten. Sie horchte und ging langsam zwei Schritte nach hinten. Weg von dem Geräusch, bis sie mit dem Rücken gegen jemanden stieß.

»Hab ich dich!«, rief Ethan triumphierend und schlang die Arme um ihren zierlichen Körper.

Lachend wehrte sie sich gegen seine Umarmung und drehte sich um, sodass sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und er küsste sie.

Zwei Verliebte, umhüllt von schützender Dunkelheit. Keiner von ihnen ahnte, dass nur wenige Meter von ihnen entfernt eine Gestalt mit dem Geräusch knackender Zweige in der schwarzen Nacht verschwand.

Mein Geburtstag. Sweet Sixteen! Meine Wunschvorstellung von diesem Tag war simpel gewesen: eine teuflisch gute Fete, sexy Jungs, reichlich Alkohol und laute Musik, die die Nachbarn zur Verzweiflung brachte.

Kurz und knapp: Party, bis die Polizei aufkreuzt.

Aber nichts da!

Stattdessen saß ich eingeklemmt zwischen meiner Großmutter und meiner Tante Chloe auf einem Sofa im Salon, das so unbequem war, dass es verboten sein sollte, darauf zu sitzen. Aber alles war besser, als drei Stunden durchgehend zu stehen. Denn da meine gesamte Familie versammelt war (Großeltern, Eltern, Tanten und Onkel, eine Schar von Cousins und zumindest einer meiner Brüder), waren die Sitzplätze rar.

Meine Tante Chloe, eine Wirtschaftsberaterin, sagte immer wieder: »Uns Folletts gibt es in Überproduktion!« Dann lachte sie aus vollem Hals und als guter Verwandter blieb einem nichts anderes übrig als mitzulachen. Tante Chloe erzählte immer Witze. Die meisten davon waren nicht gerade lustig. Genau genommen waren sie größtenteils zu grotesk, um sie zu verstehen.

So wie jetzt.

»Eine überintelligente, von Forschern gezüchtete Perserkatze wird von Aliens in den Weltraum entführt. Was sagt sie zu ihren Kidnappern?«, fragte sie, die Lippen fest zusammengekniffen, um ihr Lachen zu unterdrücken. Ihr runder Kopf lief rot an. Bestimmt würde er jeden Moment platzen.

Grandma neben mir wirkte genauso entgeistert wie ich. Sie neigte das Kinn nach vorn und legte den Kopf schief, als würde sie angestrengt nachdenken. Tat sie wahrscheinlich auch. Und zwar darüber, was mit ihrer Tochter los war.

Ich kicherte.

Tante Chloe nahm das als Zeichen dafür, dass ich auf die Pointe gekommen war, und bevor ich es rückgängig machen konnte, prustete sie laut los: »Genau! Sie sagt: Habt ihr mich mit Einstein verwechselt?«

Tante Chloes lautes Lachen zog Aufmerksamkeit auf uns. Während ich noch zutiefst verwirrt versuchte, aus ihren Worten schlau zu werden, gesellte sich Onkel Ben zu uns und verwickelte Tante Chloe geschickt in ein angeregtes Gespräch über Gartenzwerge (ihr Lieblingsthema), woraufhin sie mich komplett zu vergessen schien. Dankbar lächelnd stahl ich mich davon und Onkel Ben zwinkerte mir im Vorbeigehen gut gelaunt wie immer zu.

Ohne damit groupiemäßig klingen zu wollen, aber Onkel Ben war ganz schön cool für sein Alter. Er war Mitte dreißig, unverheiratet und freier Musiker, weswegen er das ganze Jahr die Welt bereiste. Außerdem war er der einzige männliche Nicht-Geheimniskrämer der Familie. Das würde auch gar nicht zu seinem Lebensstil passen – so lautete zumindest seine Erklärung. Schon allein deswegen mochte ich ihn am liebsten.

Nun, da ich Tante Chloes Fängen entkommen war, wusste ich nicht viel mit mir anzufangen. Der Salon war viel zu voll mit Leuten, die ich größtenteils gar nicht kannte. Daher entschied ich, ein wenig frische Luft zu schnappen. Mein Hintern tat vom Sofaalbtraum weh und meine Beine fühlten sich vom langen Sitzen ganz taub an, also ging ich steifer als normal. Nichts von der sonstigen Grundeleganz.

Ich seufzte. Erst wenige Stunden sechzehn und ich kam mir schon uralt vor.

Je weiter ich mich vom Salon entfernte, umso leiser wurde es und ich entspannte mich endlich ein wenig. Ich trat in den Hauptflur, ließ mit einem tiefen Seufzer meine Schultern nach unten sinken und drehte den Kopf, um meinen verspannten Nacken zu lockern.

Tief durchatmend, lehnte ich mich aus einem der hohen, geöffneten Altbaufenster und genoss die zarten Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht. Solche Ruhe wie hier auf dem schottischen Land erlebte ich im Internat in London selten. Hier war es so idyllisch, es fehlten nur noch Heidi und Peter, die mit ihren Ziegen durch den Garten tanzten.

»Das kannst du nicht machen!«

Erschrocken fuhr ich zusammen. Ich erkannte die harsche Stimme meines Vaters und dachte im ersten Moment, er meinte mich und meine Ziegen-Tagträume. Doch außer mir war niemand im Flur.

»Natürlich, uns bleibt doch gar nichts anderes übrig«, sagte nun mein Großvater.

Spät, aber doch registrierte ich, dass sie im Garten redeten. Vermutlich, um ungestört zu sein. Wie immer halt.

Sie gehörten beide zu den Geheimniskrämern. Genau genommen waren sie sogar die Anführer dieser obskuren Geheimgesellschaft, soweit ich das mit meinen spärlichen Informationen vermutete. Deshalb war die Gelegenheit auch einfach zu verlockend. Seit Jahren hielten sie mich von all ihren Geheimnissen fern. Das stachelte mich nur noch mehr an, zu erfahren, was sie zu verbergen hatten.

»Ginevra ist noch ein kleines Mädchen. Es war abgemacht, sie komplett herauszuhalten. Wofür wären sonst die letzten Jahre der Sicherheit gut gewesen?«, fragte Dad mit unverhohlenem Zorn in der Stimme.

Überrascht schnappte ich nach Luft. Sie sprachen über mich.

Dads blonder Haarschopf tauchte hinter einem Hortensienstrauch auf und ich duckte mich schnell. Mit angehaltenem Atem kauerte ich mich unter das Fenster und lauschte weiter dem Gespräch.

»Nonsens. Sie ist sechzehn. In dem Alter habe ich meinen ersten Dämon getötet!«

Besorgt runzelte ich die Stirn.

Um Gottes willen, was redete Grandpa da? Ich war immer davon ausgegangen, er sei in bester geistiger Verfassung, doch seine wirren Worte ließen gerade anderes vermuten. Mir wäre nicht aufgefallen, dass er senil wurde, aber nun ja, vielleicht ging es ihm doch nicht so gut wie gedacht. Außerdem war ich auch schon lange nicht mehr hier gewesen …

»Niemand weiß, wo der Junge ist. Geschweige denn, ob er wieder zurückkommt«, fuhr Grandpa fort.

Natürlich ging es um meinen Bruder Christian. Auch wenn wir nicht mehr im 16. Jahrhundert lebten und für den Erhalt einer Blutlinie zuständig waren, vergötterten mein Vater und Großvater Christian und Jonathan. In ihren Augen waren die Zwillinge Goldsterne und ohne Zweifel ihre Lieblinge. Das sollte nicht eifersüchtig klingen, ganz und gar nicht.

Als ich noch jünger gewesen war, hatte ich die zwei geradezu angebetet. Sie hatten immer Streiche parat gehabt, um meinen Eltern das Leben schwer zu machen. Mit ihnen als Vorbild und meiner grenzenlosen Fantasie hatte ich ihnen wenige Jahre später jedoch gewaltige Konkurrenz gemacht und die Nerven unserer Eltern mindestens genauso strapaziert. Hier auf dem Land wäre einem kleinen Mädchen ansonsten viel zu langweilig gewesen. Da konnte man nur eines sagen: Nieder mit allen Vorurteile schindenden Heimatfilmen, die Idylle und Friede, Freude, Eierkuchen vorgaukelten.

Aber mit der Zeit waren Jon und Chris älter, langweiliger und spießiger geworden. Genau genommen hatte Dad sie ebenfalls zu Geheimniskrämern gemacht und ich war zur Außenseiterin meiner eigenen Familie geworden. Das mochte weinerlich klingen, aber ich hatte mich trotz eines vollen Haushaltes oft einsam gefühlt. Hunderte neunmalkluge Psychologen würden mir zustimmen, dass Alleinsein für Kinder ungefähr so schlimm war wie Wasser für Katzen.

Erst nachdem ich die dritte Anstandsdame vergrault hatte, hatte sich alles geändert. Zugegeben, nicht jeder hatte einen Magen (oder eine Psyche), der (oder die) stark genug war, um Insekten zu vertragen. Ich könnte noch heute laut loslachen, wenn ich daran dachte, wie Miss Tinny gekreischt hatte, als ein Tausendfüßler nach dem anderen aus ihrem Salat geklettert war. Wenn es bis dahin noch keinen Menschen mit einer Salat-Phobie gegeben hatte, hatte ich mit dieser Aktion den ersten gefunden.

Nun, jedenfalls hatten meine Eltern mich in ein Internat nach London geschickt und beschlossen, mich nur noch in den Ferien, an Feiertagen und zu besonderen Anlässen wie heute nach Hause zu holen. Daher hatte ich hier auf dem Land auch keine Freunde mehr und das war auch der Grund, warum ich in meiner eigentlichen Heimat eine Fremde war. Die Partygäste meiner Sweet-Sixteen-Party waren bloß Verwandte und Freunde meiner Eltern. Mit meinen Freunden im Internat würde ich die Feier nachholen, sobald ich wieder in London war.

Ein kleiner Teil meines Herzens hatte wohl dennoch gehofft, Ethan (Jons und Chris’ besten Freund) würde heute auftauchen. Aber vermutlich hatte er meinen Geburtstag vergessen, schließlich hatten wir uns schon lange nicht mehr gesehen. Oder er hatte geahnt, dass die Party alles andere als ein Brüller werden würde, und blieb dem Spektakel absichtlich fern.

»Ich sage: Sie muss eingeweiht werden! Und ich erlaube keinen Einwand!«, riss Grandpas Stimme mich aus meinen Gedanken. Er klang ernst und wirkte nicht in der Stimmung für Diskussionen.

Vorsichtig lugte ich ein paar Zentimeter über das Fenstersims in den Garten. Die beiden wandten mir den Rücken zu. Dad hatte die Schultern resigniert gehoben und schien sich deutlich unter Druck gesetzt zu fühlen. Grandpa neben ihm stützte sich zwar auf einen Stock, stand jedoch aufrecht und elegant wie immer.

Manchmal war er einfach nur extrem respekteinflößend. Mit seinem grauen, nach hinten gestriegelten Haar und den eisgrauen Augen vermittelte er den Eindruck eines Wolfes. Meine Mum hatte oft gescherzt, dass kein Wind der Welt es wagen würde, eine seiner Haarsträhnen in Unordnung zu bringen. Sogar sein schwarzer Gehstock mit dem silbernen Löwengriff war auf den grauen Anzug abgestimmt und ich wusste, dass auch die Manschettenknöpfe einen Löwenkopf abbildeten. Mit aller Wahrscheinlichkeit das Werk meiner Großmutter, sie war die reinste Perfektionistin.

»Das hast nicht du zu entscheiden. Sie ist meine Tochter«, entgegnete Dad überraschend energisch.

Aber Grandpa schlug dieses Fünkchen Aufbegehren sofort nieder. »Ich bin das Oberhaupt unseres Clans. Damit liegt die Entscheidung ganz allein bei mir.«

Die zwei schienen vollkommen in ihr Gespräch vertieft, doch plötzlich klirrten einen Gang weiter in der Küche Teller. Mit einem Ruck und einer Schnelligkeit, die ich ihm gar nicht zugetraut hätte, fuhr Grandpa herum.

In Sekundenschnelle hechtete ich auf den Boden.

Hoffentlich hatte er mich nicht gesehen. Schwer atmend stützte ich mich mit den Ellbogen auf den kalten Fliesen ab. Um nichts in der Welt hätte ich den Mut aufgebracht, nun aus dem Fenster zu spähen.

Draußen knirschte Kies und erleichtert atmete ich aus. Doch nur eine Sekunde später keuchte ich panisch, denn die Eingangstür in der großen Halle öffnete sich mit einem Quietschen, das mir durch Mark und Bein ging. Kurz darauf hörte ich die schroffen Schritte meines Vaters und Großvaters auf dem Marmorboden der Eingangshalle. Von dort aus führten zwei Treppen in einer eleganten Biegung hinauf in das erste Stockwerk. Da man über die linke Treppe zum Westflügel, wo die Zimmer meiner Großeltern lagen, gelangte, war nicht schwer zu erraten, wohin sie ihre Füße trugen. Direkt zu mir, denn ich kauerte kurz hinter der Treppe vor dem Fenster.

Ohne zu zögern sprang ich auf und sprintete auf Teufel komm raus los. Irgendjemand musste auf dem glatten Fliesenboden ein Getränk verschüttet haben, denn als ich eine Biegung zu scharf nahm, geriet ich ins Schlittern. Nur mit Mühe hielt ich mich auf den Beinen und legte keine Bruchlandung ein. Ich warf einen Blick über die Schulter, zwar sah ich weder Dad noch Grandpa, aber groß genug war mein Vorsprung noch nicht.

Auf dem Flur begegnete ich einigen Gästen, aber erst im Salon bremste ich erleichtert ab und stellte mich neben eine Gruppe Verwandter.

Einfach stur lächeln und winken, Männer!, dachte ich und setzte ein strahlendes Lächeln auf, wie es sich für ein Geburtstagskind gehörte. Mit der einzigen Schwierigkeit, dass ich kein Pinguin war (schon gar kein Pinguin aus Madagascar), weswegen ich meine Hand schön unten ließ.

Erst jetzt bemerkte ich, dass ich neben Leuten stand, die ich gar nicht wirklich kannte. Eine Großtante aus Alaska und vielleicht ein Cousin? Ganz sicher war ich mir da nicht. Die unverkennbaren Katzenaugen der Folletts hatte er auf jeden Fall nicht geerbt.

Ich öffnete gerade den Mund, um mein Sinnieren über Pinguine zu unterbrechen und mich alibihalber in das Grüppchen zu integrieren, da stand plötzlich mein Großvater neben mir.

»Scheiße«, rutschte es mir vor Schreck aus dem Mund.

Reflexartig schlug ich eine Hand vor den Mund und versuchte, eine möglichst entschuldigende Miene aufzusetzen, aber das Wort war draußen.

Grandpa verengte die Augen. Nun glichen sie nicht mehr denen einer Katze, sondern viel eher denen einer Schlange.

»Entschuldigung, ich habe mich erschreckt«, murmelte ich möglichst reuevoll.

Erschreckt war wohl die Untertreibung des Jahrhunderts. Mein Herz raste, als wäre ich einen Marathon gelaufen. Ein Wunder, dass ich nicht wie ein erschrockener Hase umgekippt war. Grandpa nickte. Er kniff die Lippen fest zusammen und in seinen Gesichtszügen spiegelten sich keine Emotionen wider. Irgendwie unheimlich.

»Ginevra, würdest du bitte mit uns kommen?«, vernahm ich die Stimme meines Vaters hinter mir.

Schwer schluckend drehte ich mich zu ihm um. Dad wirkte geradezu gequält, das tat er in den letzten Tagen eigentlich ständig. Ich riskierte einen Blick zu meinem Großvater. Ein Wort, um seinen Gesichtsausdruck zu beschreiben: grimmig. Was auch immer sie mit mir vorhatten – ich war so was von geliefert.

»Ja, natürlich«, erwiderte ich zaghaft.

Mit gesenktem Kopf folgte ich Dad und Grandpa hinaus in den Flur. Mein schlechtes Gewissen, gelauscht zu haben, nagte an mir und gerne hätte ich mich entschuldigt, brachte jedoch in meiner Aufregung keinen zusammenhängenden Satz zustande.

Wir entfernten uns immer weiter vom großen Salon. Dabei herrschte ein Schweigen der Sorte, bei dem man sich unsicher die Haare um die Finger wickelte und vor Nervosität an den Fingernägeln knabberte. Da natürlich weder Dad noch Grandpa eines dieser Dinge taten, lag es an mir, meine Frisur zu zerstören und meine Finger zu malträtieren.

Im Gänsemarsch gingen wir durch den Hauptgang zur großen Eingangshalle, die Treppe hinunter, die uns abwärts in Richtung Keller führte. Sie lotsten mich durch die versteckte Tür unter dem linken Treppenabgang in den Keller, wo ich mich nur sehr selten aufhielt, da das Labyrinth aus Gängen an einen Irrgarten erinnerte und ich ohnehin einen schlechten Orientierungssinn hatte. Außerdem war der Keller der einzige Teil des Gebäudes, der nicht in Prunk erstrahlte. Seit der Gründungszeit des Anwesens hatte sich nicht viel verändert und von den nackten Steinwänden ging eine beklemmende Kälte aus, bei der ich fröstelte. Für eine Weil folgte ich ihnen durch die Gänge, bis wir ein Kellerabteil erreichten, das sie offenbar gesucht hatten.

»Hereinspaziert!« Dads gute Laune wirkte aufgesetzt. Sein falsches Lächeln kannte ich nur allzu gut.

Er hielt eine unauffällige Tür auf und ließ uns eintreten. Die kleine Kammer glich dem Vorraum einer schmuddeligen alten Wohnung: dunkel und schummrig.

Grandpa trat hinter mir in den Raum, die Tür fiel mit einem endgültigen Knall ins Schloss und Dunkelheit verschlang uns. Ich zuckte zusammen. Einer der beiden betätigte den Lichtschalter und das Licht einer Glühbirne flackerte auf. Wir befanden uns in einem fensterlosen Raum, den ich noch nie zuvor betreten hatte. Zunehmend beschlich mich Unbehagen, gemeinsam mit der Sorge um Grandpa. Augenscheinlich gab es keine Zeichen von Demenz, aber seine Worte von vorhin hatte ich nicht vergessen. Dämonen … Ich schlang schützend die Arme um mich selbst.

»Vielleicht sollten wir besser wieder zurückgehen, immerhin ist das Haus voller Gäste«, meinte ich unsicher und nestelte nervös am Saum meines Kleides.

»Nichts da! Wir haben einiges zu besprechen. Du musst mehr erfahren als vage aufgeschnappte Wortfetzen«, entgegnete Grandpa standhaft.

Heilige Mutter Gottes! Selbst im fahlen Licht der flackernden Glühbirne erkannte ich den Ernst in seinen eisgrauen Augen und eine Spur von Ärger. Das war eine Andeutung auf mein Lauschen! Bestimmt war er bitterböse.

Zittrig holte ich Luft, stieß diese aber sogleich wieder in einem Hustenanfall aus. Die Kammer war stickig und die abgestandene Luft brannte in meinem Hals. Es machte ganz den Anschein, als ließen die zwei keine Putzfrau der Welt in ihre Geheimzimmer.

»Dein Großvater hat recht. Wir haben dich lange genug in Unwissenheit gelassen.«

Ach was, wirklich? Da kamen sie aber früh drauf.

Skeptisch hob ich die Augenbrauen.

»Es ist an der Zeit, dass du mehr erfährst.«

Ihr mysteriöses und unverständliches Geplapper ging mir langsam auf die Nerven. Sie sollten endlich Klartext reden! Am besten ohne wirre Metaphern mit Dämonen wie vorhin im Garten. Es würde schon nicht so schlimm werden. Immerhin waren wir eine Familie! Allerdings … so richtig kannte ich die beiden auch nicht mehr. Ich hatte mehr als die Hälfte meines Lebens im Internat verbracht und war kaum zu Hause gewesen.

»Komm, wir wollen dir etwas zeigen«, sagte Grandpa und durchquerte die Kammer.

Blinzelnd beobachtete ich, wie er eine bisher in der Dunkelheit verborgene Tür öffnete, die in einen verlassenen Gang führte. Dad nickte mir ermutigend zu, also folgte ich Grandpa vorsichtig.

Dieser Gang war nicht wie die Flure des restlichen Hauses. Es gab keine Fenster, die Wände waren niedrig und in einem dunklen Braun, fast wie nackte Erde. Hinzu kam der Geruch nach Moder und es war unbeschreiblich kalt. Ich konnte mir gut vorstellen, dass hier unten früher die Lebensmittel gelagert worden waren. Alles in allem kein Platz, an dem man seinen sechzehnten Geburtstag feiern wollte. Nun befanden wir uns definitiv unter der Erde.

»Achtung, Stufe!«, durchbrach Dad die schaurige Stille. Die Warnung erreichte mich gerade noch rechtzeitig, bevor ich gestolpert wäre.

An den Wänden waren alte Fackelhalter montiert, womit das Ganze eine viel zu große Ähnlichkeit mit einem Verlies oder einem Kerker hatte. Das Ambiente passte in einen Horrorfilm und als ich am Boden eine Kellerassel erspähte, kreischte ich auf, als wäre mir ein Gespenst begegnet.

Grandpa warf Dad einen säuerlichen Blick zu, als hätte er in eine Zitrone gebissen – dieses hohe Maß an Mitgefühl trug auch nicht gerade dazu bei, dass ich mich besser fühlte.

Der gerade Gang endete nach einigen Metern und machte einem noch schmaleren Durchgang Platz, der für Tante Mathilda und ihren Hintern ein schreckliches Hindernis gewesen wäre. Hektisch zwängte ich mich hindurch. In meiner Fantasie hatten sich derweil Hunderte kleine Spinnen auf meinem Kopf festgesetzt. Der Ekel schüttelte mich, weswegen ich erst mit verspäteter Faszination den neuen Raum bestaunte.

Verblüfft blieb ich stehen. Hier gab es keine Spinnen und Asseln, stattdessen blitzte alles in glänzendem Marmor. Der Kontrast war überwältigend und ich kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Ich hatte den Eindruck, in der Eingangshalle eines Nobelhotels gelandet zu sein. Grandpa gab mir aber keine Zeit zum Staunen und strebte auf eine Treppe aus blankpoliertem Stein zu, die im Zentrum der Halle lag und abwärts führte. Bis vor einer Minute hatte ich noch gedacht, dass sich unter unserem Haus lediglich Erde, Steine, Mist, ein paar Regenwürmer und schlimmstenfalls eine mysteriöse Leiche befänden. Aber das hier überschritt meine Vorstellung bei Weitem.

Dad deutete meine weit aufgerissenen Augen richtig. »Schön, nicht?«, fragte er vergnügt. »Was du hier siehst, ist seit Generationen der Hauptstützpunkt der Jäger unseres Clans. Unter dem Anwesen befindet sich ein gewaltiges Labyrinth aus Gängen und Räumen.«

Ach, was du nicht sagst, dachte ich baff und folgte ihnen mit schnellen Schritten.

Soweit ich das beurteilen konnte, führten von der mysteriösen Eingangshalle aus unendlich viele Treppen in die Tiefe. Unweigerlich begann ich mich zu fragen, ob man einen Aufprall vernehmen würde, wenn ich einen meiner Schuhe das Treppenhaus hinunterfallen lassen würde. Vermutlich eher nicht. Bei dem pikierten Blick, den Grandpa mir zuwarf, war es wohl auch am besten, meinen Einfall gar nicht erst auszuprobieren.

Davon bekam Dad allerdings nichts mit, viel zu sehr war er in seine Erzählung vertieft. »Das Haus wurde erst später errichtet, die Gänge hier unten bestehen schon sehr viel länger.«

»Die unteren Hallen dienen vor allem dem Training. Auch Jonathans und Christians Ausbildung fand hier statt«, schaltete sich nun überraschend Grandpa ein.

»Ich schätze, bei diesen Trainingsräumen handelt es sich nicht um einen normalen Fitnessraum mit Hometrainer, Beinpresse und Gewichten«, meinte ich trocken.

Mein Selbsterhaltungstrieb schrie Alarmstufe Rot und zu sagen, ich fühlte mich bei dieser ganzen Sache ziemlich unwohl, wäre die Untertreibung des Jahres. Das war doch kompletter Unsinn. Nur ein paar Meter unter meinem Zimmer erstreckte sich eine ganze Stadt!

Dad lachte unsicher. »Nein, normal ist wohl nicht das richtige Wort.«

»Warum sehe ich diese Räume heute zum ersten Mal?«, fragte ich vorsichtig und packte meine Verwirrung, meinen Ärger und das Gefühl des Ausgeschlossenseins – also gar nicht mal so wenig – in eine unbeholfene Geste.

Dad blickte zerknirscht zu Boden, während Grandpa mein Gejammer mit einem genervten Blick quittierte.

»So war es am besten. Für deine Sicherheit!«, meinte er kühl.

Das war die blödeste Ausrede, die ich je gehört hatte! Mein Inneres kochte. Als müsste man mich beschützen.

Etwa vor imaginären Dämonen, die meine Hausaufgaben fressen?

»Und warum zeigt ihr mir das ausgerechnet jetzt?«, fragte ich mit zusammengebissenen Zähnen.

»Die Situation hat sich geändert. Dein Bruder ist verschwunden. Wir wissen nicht, wo er ist, geschweige denn, ob er wieder zurückkommt.«

Das war so was von klar. Natürlich ging es wieder um meine Brüder. Es war ja nicht so, als wäre Chris von einer Gruppe Terroristen entführt worden, die jetzt Lösegeld forderten. Der aufmerksamkeitssüchtige, pubertierende Schnösel war einfach für eine Auszeit auf ein Abenteuer abgehauen.

Innerlich rügte ich mich für meine eifersüchtigen Gedanken, äußerlich riss ich mich zusammen. Dad sollte sich meinetwegen nicht auch noch Gedanken machen. Stattdessen machte nun ich mir Sorgen um ihn. Er wirkte nicht nur betrübt, sein sonst so jugendliches Gesicht war von Falten durchzogen, die blauen Augen müde und erschöpft. Alles an ihm schien ausgelaugt.

Chris war seit knapp einer Woche wie vom Erdboden verschluckt, zumindest hatte mir Dad das mit melancholischer Stimme erklärt. Als ich anlässlich meines Geburtstages nach Hause gekommen war, hatten sie mir mit fünf Tagen Verspätung von seinem Ausbüchsen erzählt. Ganze fünf Tage! Wer weiß, ob sie es mir überhaupt anvertraut hätten, wäre ich nicht nach Hause gekommen. Auf mich wirkte es rückblickend eher wie ein schlechter Scherz, immerhin war Chris nicht gerade für sein verantwortungsbewusstes Verhalten bekannt. Doch von meinem Bruder fehlte noch immer jede Spur und sie taten einfach nichts. Irgendwie musste also Chris’ Verschwinden mit ihren Geheimnissen zusammenhängen.

»Erklärt ihr mir jetzt endlich, warum ihr die Polizei noch nicht eingeschaltet habt? Oder einen Privatdetektiv. Das kann doch nicht so schwer sein.«

Sowohl Grandpa als auch Dad blieben still.

Ich seufzte.

»Gut, ihr scheint euch keine echten Sorgen zu machen. Also was habe ich damit zu tun? Was kann nicht bis nach meiner Geburtstagsfeier warten?«, bohrte ich weiter nach und machte keinen Hehl aus meinen überstrapazierten Nerven.

Es war Grandpa, der sich schlussendlich dazu herabließ, mir zu antworten. Wie beiläufig zog er seine Krawatte zurecht und räusperte sich verhalten, als hätte er eine lange Ansprache zu halten, dabei waren es nur wenige Worte. Wie das Abreißen eines Pflasters, schnell und schmerzhaft.

»Ginevra, du wirst an die Stelle deines Bruders treten und seinen Platz in unseren Reihen einnehmen«, sprach er geschwollen und hochtrabend. Seine Wortwahl war auf jeden Fall alles andere als zeitgemäß. Trotzdem lösten sie eine Flut an Emotionen in mir aus.

Da musste ich erst mal hart schlucken. Seine Worte waren für mich zwar reinstes Kauderwelsch, dennoch beschlich mich eine Gänsehaut. Für ihn und Dad schien alles klar zu sein. Etwas Feierliches lag in seiner Stimme, nur war mir gerade gar nicht mehr zum Feiern zumute. Grandpas Miene war so entschlossen.

In diesem Moment war ich mir zu hundert Prozent sicher, dass er für seine Ziele über Leichen gehen würde. Egal ob Familie oder nicht, ich war mit ihnen allein in irgendwelchen unterirdischen geheimen Kellergängen, obwohl ich sie erst wenige Minuten zuvor über Dämonen hatte reden hören, und jetzt wollten sie mich auch noch in ihre Sekte aufnehmen.

Das war alles ganz und gar nicht gut.

Zum ersten Mal bekam ich richtig Angst.

Vor Aufregung wurde mir schwindelig und ich musste mich am Treppengeländer festhalten. Wir waren auf der Treppe, die uns tiefer unter die Erde führte, stehen geblieben. Ich fragte mich, wie viele Stockwerke wir bereits hinter uns hatten und ob ich den Weg laufend zurückschaffen würde, ohne zu hyperventilieren. Doch das Bestreben, weit weg zu gelangen, würde mir die notwendige Energie liefern.

»Hier seid ihr. Ich habe euch schon gesucht«, hörte ich auf einmal meinen Bruder Jon rufen.

Gut gelaunt kam er von einem Stockwerk über uns die Treppe nach unten gejoggt. Die blonden Haare standen ihm zu Berge und seine Brust hob und senkte sich vor Anstrengung schnell. Statt sich hechelnd und vollkommen außer Atem über das Geländer zu hängen, wie ich es vermutlich getan hätte, schaffte er es, mich anzustrahlen.

Vom einen auf den anderen Moment legte sich meine kurzzeitige Panik und mein Fluchtinstinkt verschwand. Augenblicklich fühlte ich mich um ein Vielfaches besser und sogar ein kleines Lächeln schlich sich auf meine Lippen, auch wenn dieses genauso als Vorzeichen für einen lautstarken Nervenzusammenbruch interpretiert werden könnte.

»Hey, Schwesterherz«, begrüßte er mich neckend. »Wie steht’s? Hältst du uns schon für verrückt genug, um uns in die Klapse zu stecken?«, fragte er locker und legte mir einen Arm um die Schultern.

»Jonathan!«, entrüstete sich Dad. »Wir waren noch nicht so weit, es ihr zu sagen.«

»Mir was zu sagen?«, fragte ich ungeduldig. Aber wieder bestand die Antwort aus drückendem Schweigen. »Vielleicht solltet ihr endlich reinen Tisch machen, langsam wird mir das nämlich zu blöd«, murrte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.

Deutlicher ging meine abwehrende Haltung wohl nicht mehr, aber bekanntlich waren subtile Andeutungen für Männer nicht gut genug.

Grandpa seufzte und ich wollte gerade zu einer erneuten Tirade ansetzen, da packte er mich am Oberarm und bugsierte mich vorwärts. Durch die abrupte Bewegung stolperte ich beinahe die letzten Stufen der Treppe hinunter. Zum Glück blieben wir nun auf dem erreichten Stockwerk und schlugen nicht den Weg weiter in die Tiefe ein. Stattdessen führte Grandpa mich einen breiten Flur entlang. Ich versuchte, seinen Arm abzuschütteln, aber der Griff war zu fest.

Ein entrüstetes Aufbrausen blieb mir jedoch im Hals stecken, als wir um die nächste Ecke bogen und vor der wohl atemberaubendsten und majestätischsten Holztür aller Zeiten hielten. Detaillierte Ornamente und Zeichen waren in das dunkle Holz geschnitzt. Bestimmt hatten sie eine Bedeutung und ich brannte darauf, sie genauer unter die Lupe zu nehmen.

Während ich noch die Tür angaffte, zog Grandpa einen altmodischen Schlüsselbund aus seiner Jackentasche. Ohne zu zögern, wählte er einen der unzähligen Schlüssel aus und steckte ihn in das Schloss der Holztür. Grandpa drehte den Schlüssel dreimal, dann vernahm ich ein leises Klicken und die doppelflügelige Tür sprang auf, gefolgt von einem mystischen Knarren.

»Oh mein Gott! Das kann unmöglich Wirklichkeit sein!«, rief ich fassungslos aus, während Jon und Dad einen belustigten Blick wechselten.

Mir fiel die Kinnlade herunter. Hinter der Tür lag ein gigantischer Raum und selbst ich, die absolut keine Ahnung von Architektur oder Kunst hatte, wusste, dass sich hier ein architektonisches Meisterwerk zeigte. Auf den ersten Blick sah ich nur Bücher, vollgestopfte Regale, so weit das Auge reichte. Erst auf den zweiten Blick stellte ich fest, dass das Gewölbe rund war. Gewaltige Regale aus schwerem, dunklem Holz türmten sich bis zur Decke. Da mein Wortschatz in Bezug auf die Beschreibung von Bauwerken nicht gerade immens war, musste ich mich auf Einfaches besinnen: Der Raum war absolut gespenstisch und dennoch atemberaubend. Man mochte mich einen Bücherfreak nennen, aber bei diesem Anblick hätte mir wohl jeder zugestimmt: Die Bücher waren der absolute Hammer! Alt, mit Ledereinband, staubig und trocken, mit muffigen, modrigen Seiten. Richtige Antiquitäten.

Ich wanderte gebannt die Regale entlang, den Kopf geneigt, um die Titel zu lesen. Just in diesem Augenblick zog ein unangenehmer Luftzug meine Aufmerksamkeit auf sich. Wie eine eisige Hand kroch er mir von hinten über die Schultern und mich überlief ein Schauder. Ich wandte dem Regal den Rücken zu und fing die Blicke meiner Familie auf, die mich neugierig musterte. Jedoch drehte ich mich sofort wieder um, denn erneut spürte ich die kühle Berührung, doch nun von der anderen Seite.

Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete ich die Wand ganz genau. Natürlich stand niemand hinter mir, dennoch wurde ich das Gefühl, beobachtet zu werden, nicht los. Mal abgesehen von Grandpa, Dad und Jon, die ich hierbei ausnahmsweise mal nicht im Verdacht hatte. Vielmehr lag es an den Büchern. Sie schenkten dem Raum nicht nur ihre persönliche Note und ein wahrlich magisches Flair. Meiner Intuition nach waren sie viel mehr als reine Dekoration.

Gebannt trat ich einen Schritt näher. Mir war, als würde pulsierende Energie von ihnen ausgehen. So grotesk es auch klingen mochte, diese Bücher vermittelten das Leuchten von Leben. Je genauer ich mich konzentrierte, hinhörte und meinen Ohren befahl, jede noch so unscheinbare Schallwelle aufzunehmen, umso lauter wurde das von ihnen ausgehende Pochen – wie von schlagenden Herzen.

Mein Mund formte sich zu einem erstaunten O und ich streckte den Arm aus, um über die ledernen Buchrücken zu streichen. Sie rochen nicht nur alt, sie fühlten sich auch zart und zerbrechlich an. Nur geschützt durch eine dünne Staubschicht.

»Nicht!«, rief Grandpa entsetzt aus und schreckte mich damit aus meiner Trance. »Fass sie nicht an. Sie sind gefährlich.« Mit geweiteten Pupillen erwiderte Grandpa starr meinen Blick.

»Fass sie unter keinen Umständen an, schlag sie nicht auf, lies sie nicht. Egal, ob du uns glaubst oder nicht, sie sind gefährlich«, pflichtete Dad ihm bei.

Natürlich, jetzt waren Bücher auch noch gefährlich.

Diese absurden Worte brachten mich wieder in die Realität zurück. Ich konnte mir ein erleichtertes Lachen nur schwer verkneifen. Der Bann war gebrochen und der Spuk zu Ende. Offenbar ging er davon aus, dass mir jeden Moment Romeo und Julia von Shakespeare mit Mordabsichten auf den Kopf stürzen würde.

»Und warum nicht?«, fragte ich, auch wenn ich nicht sicher war, ob ich eine Antwort darauf wollte.

Mein Gehirn ratterte und mir schoss eine Erkenntnis ein, die mein Blut nur noch mehr in Wallung versetzte. Mir dämmerte, was ich zuvor übersehen hatte. Das Buch hieß nicht Romeo und Julia. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um die verschnörkelten Wörter zu entziffern.

Romeo von Jellinek.

Ich ließ meinen Blick über die Buchreihen wandern: Claudius Dimic, Fiona Dimic, Raphael Maresch … und so ging es weiter und weiter. Keine Buchtitel – sondern Namen. Namen von Menschen.

Dieser Raum kochte geradezu über vor Geheimnissen und diese Verzückung verbreitete in meinem Magen ein angenehm kribbeliges Gefühl. Das hier war Wahnsinn! Zwar spürte ich in meinem Rücken die gespannten Blicke meiner Familie, aber es war mir nicht möglich, mich von der knisternden Atmosphäre loszureißen. Ganz in der Situation gefangen, ging ich wie hypnotisiert weiter diesem Gefühl nach, das wie eine leise innere Stimme nach mir rief.

Es herrschte ein unglaubliches Lichtverhältnis. Mein Verstand sagte mir zwar, dass es töricht war, so weit unter der Erde von Sonnenlicht zu sprechen, aber ich hatte das wahnsinnig überwältigende Gefühl, dass ich es hierbei mit mehr als herkömmlicher Technik zu tun hatte. Auf mich wirkte der Raum magisch, und auch wenn ich mich damit wie ein vierjähriges Kindergartenkind anhörte: Vor mir lag Magie!

Ginny, nicht gleich so überreagieren!, rief mir mein Verstand in Erinnerung.

Da hatte wohl jemand zu viel Harry Potter gelesen. Schließlich wartete ich auch noch vergebens auf meinen Brief aus Hogwarts. Es gab keine Magie!

Dennoch verzauberten mich die hellen Strahlen, die von der Kuppel hoch über uns kamen. Staubpartikel tanzten im goldenen Lichtkegel. Gebannt legte ich den Kopf in den Nacken und schritt in die Mitte des Raumes, bis ich gegen etwas Hartes, Hölzernes stieß. Erschrocken keuchte ich laut auf – es war ein Geländer, das mich davor bewahrte, in die Tiefe zu stürzen. Der runde Raum bestand offensichtlich gar nicht nur aus einem Raum und dem Kuppeldach.

Mit weit aufgerissenen Augen blickte ich in die Tiefe und alles, was ich sah, waren unzählige Stockwerke. Die Mansarden verliefen in die Tiefe, bis sie als kleiner schwarzer Punkt mit der Dunkelheit verschmolzen. Und auf jeder dieser Etagen befanden sich Regale mit Büchern. Abrupt wandte ich mich um und fokussierte Grandpa mit einem stechenden Blick.

»Ich denke, jetzt wäre ein toller Zeitpunkt, mir endlich zu erklären, was um alles in der Welt hier vor sich geht.« Meine Stimme klang matt. »Sagt mir, was das zu bedeuten hat. Wo sind wir?«

Mit einem resignierten Seufzer wandte sich Grandpa ab und bedeutete mir, ihm zu folgen. »Setzen wir uns besser.«

Er ging voran und steuerte gemächlich auf einen Tisch mit Sitzgelegenheiten zu. Aber mir reichte es!

»Ich will mich nicht setzen. Ich will endlich wissen, was ihr mir sechzehn Jahre lang verschwiegen habt. Schluss mit den Geheimnissen«, brauste ich auf.

Damit brachte ich Grandpa jedoch lediglich zum Schmunzeln. Mit einer höflichen Geste deutete er auf den Sessel neben sich, aber ich blieb trotzig stehen und verschränkte abwehrend die Arme.

»Du willst also wissen, was das Geheimnis ist? Deine Eltern wollten dich beschützen.« Mit einem dunklen Lachen setzte er sich in einen der Ledersessel. »Ich habe mir damals den Mund fusselig geredet. Denn das hätten sie nicht tun müssen.«

Mein Blick wanderte zu Dad. Er senkte den Kopf, um mir nicht in die Augen zu sehen.

»Schließlich kannst du auf dich selbst aufpassen. Nicht wahr?« Grandpa kräuselte die Lippen zu einem düsteren Lächeln. »Ich schätze, wir werden es bald herausfinden.«

»Was soll das heißen? Wovor wolltet ihr mich beschützen?«

»Vor ihnen!«, rief Dad, breitete die Arme aus und machte eine ausschweifende Geste in den Raum hinein.

»Was? Vor Büchern?«, fragte ich spöttisch, innerlich jedoch schlotternd.

Dad hob den Kopf und sah mich endlich an. Er holte tief Luft und ich wusste, er würde mir nun die Wahrheit sagen. Innerlich bereitete ich mich auf das Schlimmste vor.

»Vor den Dämonen.«

Zähneknirschend bedachte ich ihn mit einem ungläubigen Blick. Das mit der Wahrheit hatte ich mir ein wenig anders vorgestellt.

»Hört auf mit diesem Blödsinn«, verlangte ich, aber Dad blieb davon ungerührt.

Mit weit aufgerissenen Augen fixierte er mein Gesicht. Ich bemerkte, dass er zitterte. Er blinzelte nicht ein einziges Mal und seine blauen Augen starrten müde ins Leere. Ich erschauderte.

»Hörst du ihre Seelen nicht? Fühle ihre Präsenz!«, zischte Grandpa.

Nein, ich hörte nur die verwirrten Worte von Verrückten.

Doch schlagartig schoss eine Erkenntnis in mein Bewusstsein. Ich hörte sie. Sie waren die pulsierende Energie, die mir aufgefallen war. Die Kraft eingesperrter Seelen.

»Es wäre mir lieber, wir müssten dich nicht einweihen, denn wer das Geheimnis kennt, ist nicht sicher«, sagte Dad sanft.

Er löste sich aus seiner Starre und machte Anstalten, mich in eine Umarmung zu ziehen, aber ich blockte ab. So selten seine Zuwendung auch war und egal, wie oft ich mich nach einer Umarmung gesehnt hatte, ertrug ich die Nähe in diesem Moment einfach nicht.

Ein enttäuschter Zug erschien für einen Moment auf seinem Gesicht, dann fing er sich wieder und er sprach entschlossen weiter. »Wir sind Jäger.«

Ich runzelte die Stirn. Dass Grandpa den einen oder anderen Hirsch auf dem Gewissen hatte, war mir schon klar gewesen, doch damit hatte ich nichts zu tun und mir war ein Rätsel, wen er in das wir einschloss.

»Seit Generationen jagen wir sie.« Dad setzte kurz ab und holte tief Luft. »Wir jagen sie. Im Schatten der Nacht, bis zum bitteren Tod. Es ist unsere Bestimmung, unser Schicksal – unser Familienfluch. Dämonen gehören nicht auf diese Welt. Durch Portale sind sie aus der Unterwelt gekrochen, wie Würmer aus der Erde.«

Voller Abscheu verzog er das Gesicht. Auch ich hatte meine Mimik nicht länger unter Kontrolle. Seine Worte ängstigten mich. Das milderte nicht mal die Tatsache, dass ich bei seiner Ausführung über Würmer automatisch an die Kellerassel von vorhin dachte.

»Dämonen sind keine Fantasiegeschöpfe, Ginny. Sie existieren wirklich. Als mich dein Großvater vor dreißig Jahren in das Familiengeheimnis eingeweiht hat, wollte ich ihm auch nicht glauben, aber ich habe sie mit eigenen Augen gesehen, gegen sie gekämpft. Glaub mir, es gibt keine gefährlicheren Gegner. Sie sind schnell und stark und am schlimmsten – sie können ihre Gestalt verändern.« Die Vergangenheit holte ihn ein und offenkundig war Dad vom Wahrheitsgehalt seiner Worte überzeugt.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich fühlte mich plötzlich furchtbar klein.

»Die Pforten waren so lange geschlossen, doch mit ihrer Öffnung brach das totale Chaos aus«, fuhr Dad fort. »Es gab keinen Weg daran vorbei. Es lag in der Verantwortung unserer Familie, unsere Pflichten als Jäger wieder aufzunehmen. Denn die Menschheit ist in Gefahr. Dämonen sind die Ausgeburt des Bösen, sie erfreuen sich an Gewalt und Krieg, wollen die Menschen dafür bestrafen, dass sie in die Unterwelt verbannt wurden, und das Morden ist für sie ein einfacher Zeitvertreib. Sie sind gefährlich, gerissen, absolut tödlich. Es ist unsere Pflicht, sie zu jagen und zu töten.«

Seine Stimme brach ab, aber das Funkeln in seinen Augen war mit jedem Wort gewachsen. Dad so hingerissen für eine Sache einstehen zu sehen, machte mich innerlich so baff, dass ich einige Sekunden brauchte, bis ich registrierte, was die drei gerade so taktvoll zu erklären versuchten.

Dämonen! Dass ich nicht lache.

Das war doch wohl ein Scherz. Ein, zugegeben, ganz schön schlechter.

»Wir sind Dämonenjäger«, schloss er und zerstörte damit all meine Hoffnungen, ich hätte seine vorherigen Worte nicht richtig verstanden.

Mir war übel vor Angst und ich klammerte mich an den Gedanken, dass es sich nur um einen furchtbaren Streich handelte. Doch Grandpa war definitiv keine Person, die zu Scherzen aufgelegt war. Alles schien immer mehr Sinn zu ergeben. Das war also das Ende der ewigen Geheimnisse. Mir wurde schlecht.

»Nun, jetzt sind wir wohl an dem Punkt angekommen, an dem sie uns für irre hält«, meldete sich Jon zu Wort, einfühlsam wie ein Troll.

Aber wo er recht hatte, hatte er recht. Erschöpft fiel ich in einen der Sessel neben Grandpa.

»Wie ist das möglich?«, flüsterte ich, ohne wirklich zu wissen, was ich damit meinte. »Warum ausgerechnet unsere Familie?«

»Warum ist Queen Elizabeth unsere Königin?«, entgegnete Grandpa und seufzte resigniert. »Jede Familie hat ihren Platz im Leben, ihre Pflichten, ihre Geheimnisse …«

Er richtete sich auf und rutschte auf seinem Sessel nach vorn. Links und rechts die Arme aufgestützt, den Oberkörper nach vorn gebeugt. Auf mich machte er den Eindruck eines sprungbereiten Raubtieres.

»Du wirst den Platz deines Bruders einnehmen, Ginevra. Eigentlich ist es Tradition, die zwei ältesten Söhne einzuweihen, zu trainieren und einem von ihnen schlussendlich den Platz im Rat weiterzugeben.«

Es fiel mir nicht schwer, mir zusammenzureimen, warum jeweils zwei Söhne eingeweiht werden mussten. Wenn der eine bei der Dämonenjagd starb (ich konnte nicht fassen, dass ich gerade selbst davon ausging, dass es Dämonen wirklich gab), stand noch immer ein zweiter Sohn bereit, der den Clan vor dem Aussterben bewahrte. Allein der Gedanke jagte mir einen Schauer über den Rücken.

»Aber Christian ist weg und es wäre gegen unsere Gesetze, Jon allein auszubilden. Wir werden dich auf gar keinen Fall in Gefahr bringen. Sieh es einfach als Notlage aufgrund der Formalitäten.« Grandpa lächelte schwach.

Fassungslos sah ich ihn an. Jahrelang hatten sie mich belogen und nun weihten sie mich lediglich der Formalitäten wegen ein und stellten mein ganzes Leben auf den Kopf. Empört riss ich den Mund auf, doch er schien mein Entsetzen falsch zu deuten.

»Keine Angst, du bist nun offiziell eingeweiht und damit ist gesichert, dass das Wissen zur Not an die nächste Generation weitergegeben werden könnte. Du wirst an den Ratssitzungen teilnehmen und wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um dich weiterhin zu beschützen. Mehr werden wir nicht von dir verlangen und mehr musst du auch nicht wissen. Genau genommen: Je weniger du weißt, umso sicherer bist du«, wandte Dad einfühlsam ein.

Erzürnt sprang ich von meinem Platz auf.

»Das ist doch ein Witz! Erst lasst ihr diese Bombe platzen und nun wollt ihr mir nicht einmal erklären, was das zu bedeuten hat?« Mit in die Hüfte gestemmten Händen funkelte ich wütend auf ihn hinunter.

Einige meiner blonden Haarsträhnen hatten sich nach vorn verirrt und kitzelten mich an der Nasenspitze. Mit letzter Kraft pustete ich sie mir aus dem Gesicht und sah dabei vermutlich aus wie ein Ballon kurz vor dem Zerplatzen.

»Also nicht, dass ich euch glauben würde«, fügte ich unsicher hinzu.

Grandpa winkte ab und lächelte mir gutmütig zu. »Deine Sicherheit geht vor. Ich weiß, dieses Geheimnis ist eine große Last. Viele sind an ihm zugrunde gegangen, aber das wirst du nicht.« Er klang versöhnlich, dennoch schwang eine Schärfe in seiner Stimme mit, die jede Diskussion sofort im Keim erstickte.

Hilfesuchend wandte ich mich meinem Vater zu. »Dad, bitte. Sagt mir wenigstens eines: Ist Chris deswegen gegangen?« Meine Augen füllten sich mit Tränen, mir wurde alles zu viel.

Mein Vater schüttelte den Kopf und nickte gleichzeitig. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder, wie ein Kugelfisch – es fehlten nur noch die Blubberblasen. Doch anstatt Blubberblasen sprudelten Worte aus seinem Mund hervor. Verärgerte Worte.

»Schluss mit den Fragen. Chris hat für sich selbst entschieden. Wir wollen dich doch nur beschützen. Dämonen sind schrecklich gefährliche Kreaturen. Deshalb musst du uns vertrauen. Wir wissen, was das Beste für dich ist«, versuchte er, zu mir durchzudringen.

Doch sobald ich das Wort Dämon hörte, schaltete ich bereits auf Durchzug. Gott, diese Männer raubten mir noch das letzte bisschen Verstand.

»Wer sagt, dass ich euch glaube? Das Ganze hört sich nach einer Geschichte an, die Verrückte erfinden.«

Ärger und Zweifel gewannen nun wieder die Oberhand.

Grandpa lachte wissend auf. »Du weißt genau, dass wir die Wahrheit sagen. Ich sehe es in deinen Augen. Du wusstest es schon immer und jetzt haben wir deine Vermutungen bestätigt.«

Ich schauderte. Das Einzige, was ich schon immer vermutet hatte, war, dass sie griesgrämige Geheimniskrämer waren, und das dazugekommene verrückt war nur ein weiterer Punkt auf der Liste. Dennoch wurde ich das sich ausbreitende begreifende und akzeptierende Gefühl nicht mehr los.

»Jetzt weißt du zumindest alles Nötige, damit du dich an den Gedanken gewöhnen kannst. Wenn die Zeit reif ist, wirst du mehr erfahren. Du musst noch viel lernen, bevor …«, setzte Dad unbeholfen an, stockte dann jedoch mitten im Satz.

»Bevor was?«, fragte ich, obwohl ich ohnehin nicht mit einer Antwort rechnete.

Grandpa warf Dad einen warnenden Blick zu.

»Vertraue uns. Wir wissen, was das Beste für dich ist, und können dich beschützen. Schließlich sind wir eine Familie«, sagte er und machte damit klar, dass das Gespräch für ihn beendet war.

Dad wich meinem suchenden Blick aus. »Wir sollten wieder nach oben gehen. Immerhin haben wir Gäste.«

Ich nickte schwach. Die Feier war mir völlig egal, ich wollte nur weg von hier. Da nahm ich sogar in Kauf, erneut Tante Chloe zwischen die Finger zu geraten.

Auf dem Weg nach oben sagte ich kein Wort und auch sonst sprach niemand. Jeder schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Und so war es auch am besten, andernfalls hätte ich meine Vorwürfe und Zweifel nicht länger zurückhalten können. Dabei wollte ich das alles einfach nur vergessen. Meine Gedanken rasten und Fragen nahmen Form an, die ich mich nicht traute, laut auszusprechen. Statt mir Klarheit zu verschaffen, stapelte sich auf jede einzelne Frage eine zweite.

Wir verließen die dunkle Kammer und ich beobachtete, wie Dad einen Schlüsselbund hervorzog und die Tür hinter uns abschloss. Überraschenderweise erkannte ich daran den goldenen Löwenanhänger, den ich ihm zu seinem vierzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Ich hatte jenen Schlüsselbund tausende Male bei ihm gesehen und nie geahnt, was er damit vor mir verschloss.

Als wir aus dem Keller kamen, wäre ich vor Erleichterung fast zusammengeknickt. Meine Beine zitterten fürchterlich und ich fühlte mich schwach. Als wir uns jedoch wieder dem gefüllten Salon näherten, tankte ich Kraft. Im warmen Sonnenschein der Realität kam mir das Geheimnis aus der Tiefe gleich um einiges weniger beängstigend vor. Auch wenn ich genau wusste, dass das nicht passieren würde, erwartete ich dennoch, dass Grandpa, Dad und Jon jeden Moment aufspringen und »April, April« rufen würden.

Ach, hätten wir doch nur nicht Juni.

Am Abend lag ich im Wohnzimmer ausgestreckt auf der Couch. Im steinernen Kamin prasselte ein Feuer, dennoch war ich in eine warme Wolldecke gewickelt. Ein Unikat, das meine Omi aus Frankreich vor guten Ewigkeiten für mich gestrickt hatte. Behaglich kuschelte ich mich tiefer in die Decke und blätterte eine Seite des Buches um, das ich auf meinem Schoß hielt.