Chicken Impossible - Anne C. Voorhoeve - E-Book

Chicken Impossible E-Book

Anne C. Voorhoeve

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Beschreibung

Nur die Hühner waren Zeuge! Ein herrlich witziger Krimispaß. Der Mord einer alten Dame an ihrer eigenen Schwester erschüttert die beschauliche Waldsiedlung. Niemand will bemerkt haben, was hinter dem hohen Tor, das die Schwestern von der Außenwelt abschnitt, vor sich ging. Wirklich niemand? Nicht ganz: Vier Hühner haben sogar eine ganze Menge gesehen. Und eins von ihnen will reden.

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Seitenzahl: 431

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Anne C. Voorhoeve, geboren 1963, hat sich nach rund zwanzig Jahren als Autorin historischer Romane für junge Leser von vier eigenen Gartenhühnern zu ihrem ersten Krimi inspirieren lassen. Schauplatz ist Spandau, der grüne, wasserreiche Berliner Stadtrand, wo sie selbst seit 2010 lebt, arbeitet und nicht mehr wegmöchte. Ihre All-Age-Romane wurden vielfach ausgezeichnet, u.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen beziehungsweise Hühnern sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2025 Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, 50667 Köln

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Lektorat: Marit Obsen

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-234-5

Ein Krimi aus dem Hühnerstall

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur Schuldes, Ravensburg.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b

Do not go gentle into that good night,

Old age should burn and rave at close of day;

Rage, rage against the dying of the light.

Dylan Thomas (1914–

Berliner Morgenpost, 1.Oktober

Immer noch Ratlosigkeit in der Waldsiedlung

Es gibt sie noch: Berliner Kieze, die so weit vom Trubel der Großstadt entfernt sind, dass sich der Spaziergänger in ein brandenburgisches Dorf versetzt fühlt. Katzen bummeln über die Straße, ihr einziger Feind der Fuchs. Hinter mannshohen Hecken schlagen Hunde an, sobald jemand vorbeigeht. Mehrmals am Tag weht das helle Geläut des katholischen Seniorenheims über die Gärten hinweg, bei Westwind, aus Richtung des Waldes, das der Glocken des evangelischen Johannesstifts.

Häuser verschiedenster Stile sind seit Beginn des letzten Jahrhunderts hier entstanden, der Ursprung als Arbeitersiedlung noch gut erkennbar: einstöckige Reihen- und Doppelhäuschen, viele mit Spitzdächern, Erkern und liebevoll gepflegten alten Holztüren und Fensterläden. Jedes hat einen Garten, schmal und lang wie ein Handtuch, dahinter führen Stichwege – hier Wirtschaftswege genannt – kreuz und quer durch die Siedlung und bieten Ausblicke auf Holzschuppen, Schaukeln und Gemüsebeete. Denkmalgeschützte Mehrfamilienhäuser wurden aufwendig restauriert, die Wohnungen sind teuer und gelangen nur selten auf den Markt; es soll Wartelisten in der Siedlung geben. Junge Leute, die hier aufgewachsen sind, kehren mit ihren eigenen Familien zurück.

Der Wohlstand der fünfziger Jahre zeigt sich am Rande der Siedlung: Einfamilienhäuser mit Gartenflächen, auf denen ein halber Straßenzug der alten Reihenhäuschen Platz gehabt hätte. Gras- und Sandstreifen ersetzen die Gehwege, als wäre dieser Abschnitt der Siedlung bereits der Beginn des Wanderweges durch den Spandauer Forst, der an einem Ende der Straße einen viel genutzten Zugang hat. Am anderen Ende führt ein holpriger, unbefestigter Weg zum Zaun der JVA Hakenfelde. »Justizvollzugsanstalt des offenen Vollzuges Berlin«, steht am Tor. Villenähnliche Gebäude, viel Grün, Gartenteich. Egon Krenz und Günter Schabowski saßen hier ein und der wegen Betrugs verurteilte Brandenburger Hotelier Axel Hilpert, der vor drei Jahren überraschend in der JVA verstarb. Eines natürlichen Todes, wie sich herausstellte.

Hier die friedliche Siedlung, dort der Luxusknast – zwei Welten, wie es scheint. Doch wer kann schon hinter all die Hecken schauen? Der Mord an einer alten Dame, umgebracht von ihrer eigenen Schwester, ausgerechnet hier, in der beschaulichen Waldsiedlung Hakenfelde, gibt den Ermittlern seit dem Auffinden der Toten am vergangenen Mittwoch Rätsel auf. Niemand hat es kommen sehen. Die Täterin schweigt. Ihr Anwalt ebenfalls, seit seine erste Stellungnahme zur Tat in der Öffentlichkeit für Befremden und Kopfschütteln sorgte: Man solle die Hühner befragen, die die beiden alten Damen sich in diesem Frühjahr angeschafft haben.

Ratlos sind auch die Nachbarn, die vorbeigehen und am Zaun stehen bleiben. Hinter der undurchdringlich dichten Hecke und dem hohen Tor hört man es rascheln und gackern, als hätte das immer noch auf dem Grundstück lebende Federvieh in der Tat etwas zu erzählen.

Eine Tragödie, da sind sich alle einig. Zwei gepflegte, freundliche alte Damen lebten hier. Helene F. (72) hat ihre Mutter bis zu deren Tod vor drei Jahren gepflegt. Ihre Schwester Hildegard M. (77) zog erst danach ein, beide hatten das Grundstück gemeinsam geerbt und wollten ihren Lebensabend zusammen verbringen. Hilde, die verwitwet war »und das nötige Geld mitbrachte«, wie Anwohner berichten, und die unverheiratete Helene, die das Grundstück in Schuss hielt. In diesem Sommer ersetzte plötzlich ein mannshohes Tor den bisherigen Eingang. Danach wurden die Schwestern kaum noch gesehen, obwohl vor allem Helene F. zuvor ein geselliger Mensch gewesen sein soll. Wieso das Zusammenleben der beiden alten Damen mit einem gewaltsamen Tod endete, kann sich keiner der Anwohner erklären.

Was ist passiert? Die Ermittler werden es nicht leicht haben, so viel steht für die Nachbarn fest.

1

Wir haben ja eine Weile gebraucht, um die Gesichter zu unterscheiden – vor allem, wenn nur eine der beiden vor uns stand. Sie sahen für uns so gleich aus, wie meine Schwester und ich für ihre Art schwer zu unterscheiden sind. »Diese Hühner ähneln sich wie ein Ei dem anderen«, hörten wir sie zu Beginn oft sagen.

Man muss genauer hinsehen, bei uns wie bei ihnen. Bei uns sind es kleine Details, die bald zu erkennen sind, wie etwa ein krummer Zacken im Kamm. Bei ihnen waren es vor allem die Stimmen, die ganz eigene Weise, sich zu bewegen, und eine unterschiedliche Ausstrahlung, die uns von Anfang an auffiel. Hinzu kam: Nur eine von ihnen redete mit uns. Das war die, die gleich bei unserer Ankunft von Namen sprach.

Einen Namen zu bekommen, war beruhigend. Wir wussten damals noch nicht, warum das so wichtig sein sollte, aber Mutter hatte es uns eingeschärft, und als sich die beiden fremden Gesichter über unseren Karton beugten, fiel es uns wieder ein: Wenn sie euch Namen geben, habt ihr gewonnen.

»Und hier«, begrüßte uns die hellere Stimme, »haben wir Rocky und Amy.«

Wir hatten gewonnen, noch bevor wir überhaupt aus dem Karton heraus waren!

Die Gesichter, die über uns schwebten – oder vielmehr die Hauben –, waren hingegen eine echte Überraschung. Mutter hatte uns von den Menschen erzählt, aber dass es unter ihnen Artverwandte der Rasse Paduaner gibt, hatte sie nicht erwähnt. Die Federn dieser beiden Exemplare waren eine echte Pracht. Sie standen in allen Richtungen vom Kopf ab. Die Farben Grau, Weiß und Braun überwogen.

Mutter, das wurde mir in diesem Augenblick klar, konnte nicht alles wissen. Sie war in ihrem Leben selbst nur auf zwei Höfen gewesen, und wir würden möglicherweise Dinge erleben, die sie nie gesehen hatte.

Auf der Stelle wollte ich Mutter erzählen, dass es unter den Menschen Hühnerartige gab – eine wichtige Information für künftige Generationen, die sie aufziehen würde! Aber dann fiel mir ein, dass ich Mutter nicht wiedersehen würde, nicht unser vertrautes Gehege und auch nicht die anderen Schwestern bis auf diese eine, mit der man mich – ruck, zuck von der Stange gegriffen, in der Reihenfolge, in der wir am vergangenen Abend schlafen gegangen waren – aus reinem Zufall in den Karton gesteckt hatte.

Erst im Karton hatten wir erkannt, wer die andere war, mit der wir unser restliches Leben teilen würden. Wir waren ganz zufrieden, nachdem wir einander identifiziert hatten. Sie stand in der Rangordnung ein klein wenig unter mir, ich würde das beim Fressen immer wieder verteidigen müssen, aber alles in allem würden wir gut miteinander klarkommen. Doch meine Lieblingsschwester war eine andere gewesen. Sie hatte zwar auch an meiner Seite gesessen, aber an der anderen, der falschen. Sie würde ich nicht wiedersehen.

Ein Anflug von Sehnsucht ergriff mich, der mich tief auf den Boden des Kartons drückte. Dabei hatte ich gewusst, dass auf Freundschaften unter Junghühnern keine Rücksicht genommen wird, wenn es um den Tiertransport geht. Der Tiertransport war kein Geheimnis; schon als Küken hatten wir erfahren, dass man die meisten von uns an andere, unbekannte Orte bringen würde, wenn wir vier Monate alt waren. Mutter hatte erklärt, dass das kein Grund zur Sorge sei, im Gegenteil. Alles, was sie uns beibrachte, bereitete uns darauf vor, woanders ein gutes Leben zu führen.

Wir lernten, Würmer und Käfer aufzuspüren und Insekten aus der Luft zu fangen. Wir lernten, die Formen der Schatten zu unterscheiden, die über uns auftauchen konnten, und auf jedes Geräusch, jede kleinste Veränderung in unserer Umgebung zu achten. Manchmal ist es nur ein Lufthauch, der den Fuchs ankündigt.

Wir lernten, wie die Welt beschaffen ist: Es gibt Oberhühner und Hühner, die ihnen Platz machen müssen. Es geht eigentlich immer um einen Platz. Den wärmsten Platz zwischen den Geschwistern, den besten Platz am Futtertrog, den gemütlichsten Platz auf der Stange … Darum zu kämpfen, lernten wir voneinander, nicht von Mutter. Sie half höchstens einmal nach, wenn eine von uns es übertrieb, und sorgte mit einem scharfen Schnabelhieb für Ordnung.

Wir lernten, dass es solche und solche Orte und Menschen gibt und dass wir auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein hatten. Ein Huhn weiß erst, welche seiner Fähigkeiten es brauchen wird, wenn es am Ort seiner Bestimmung angekommen ist. Dann gilt es, die Lage richtig einzuschätzen, sich auf das zu konzentrieren, was möglich ist … und alles andere am besten zu vergessen. Nur das Huhn selbst weiß, was es unter anderen Umständen noch draufgehabt hätte.

Was den Tiertransport betrifft, hatte Mutter uns geraten, darauf zu achten, mit wem wir abends auf die Schlafstange gingen. Ausgerechnet die Stange, der Platz, an dem wir uns am sichersten fühlten, würde der Ort sein, an dem sie uns packen würden, da wir schon im Halbdunkel nicht mehr genug sehen, um entwischen zu können. Meine Lieblingsschwester und ich hatten uns Abend für Abend eng aneinandergedrückt. Aber trotzdem hatte eine Hand dazwischengepasst und uns auseinandergeschoben, und das war das Letzte, was wir voneinander gespürt haben.

»Rocky und Amy?« Die Mundwinkel des zweiten Gesichts, das über uns schwebte, waren tief nach unten gezogen, die Stimme heiser und dunkel. »He, Lene! Jetzt mach dich nicht lächerlich. Du willst doch nicht ernsthaft nach ihnen rufen?«

»Wie wollen wir uns denn sonst mit ihnen verständigen?«, erwiderte die andere, und die beiden blickten einander auf eine Weise an, die ich später noch oft gesehen habe. Als spräche eine von ihnen eine Sprache, die die andere nicht kennt.

»Ich habe nicht die Absicht, mich mit einem Huhn zu verständigen, und ich hoffe, du ersparst mir diese Peinlichkeit ebenfalls. Man kann ›Tuck, tuck‹ rufen, wenn es unbedingt sein muss. Darauf hören sie.«

»Wir werden sehen«, erwiderte die Erste und griff in den Karton, um uns endlich herauszuheben.

Darauf hatten wir lange gewartet, trotzdem stimmte meine Schwester, die als Erste an der Reihe war, ein Riesengeschrei an. Und wenn Ihnen eine von meiner Rasse ins Ohr trompetet, spüren Sie das bis in die Zahnwurzeln, das kann ich Ihnen versichern! Dieses Überraschungsmoment wissen wir dann blitzschnell zu nutzen, um uns aus Ihrem vor Schreck gelockerten Griff zu befreien.

Klappt oft. Diesmal jedoch nicht. Das Flügelschlagen, das auf ein erfolgreiches Abhauen hingedeutet hätte, blieb aus, das Trompeten meiner Schwester entfernte sich. Wohin, konnte ich nicht erkennen, weil der Deckel über mir sofort wieder zugeklappt worden war und ich erneut im Dunkeln saß. Aus Leibeskräften begann nun auch ich zu brüllen, damit sie mich nicht etwa vergaßen. Die letzte Nacht saß mir noch ganz schön in den Knochen. Das Rumpeln des Transporters, das Schwanken der Kiste, der Geruch der Angst. Es waren noch andere Kisten dabei gewesen, aus denen gänzlich unbekannte Geräusche und Gerüche drangen; Stimmen, die wir nie zuvor gehört hatten. Die Transporte finden bei Nacht statt, weil wir dann angeblich nichts davon mitbekommen und »stressfrei reisen«. Pustekuchen! Wenn Sie nichts sehen, heißt das nicht, dass Sie keinen Stress haben, das können Sie sich ja wohl selbst ausmalen.

Ich blieb also im Karton zurück, hörte, wie die Stimme meiner Schwester sich entfernte – und vernahm plötzlich noch etwas anderes.

»Jessas, nai«, erklang eine Piepsstimme. »Sin des eddwa Amrocks?«

Stand da noch ein Karton? Ich verstummte, spitzte die Ohren und hörte, wie ein zweites Stimmchen ängstlich wisperte: »Oh nee! Bidde nee! Bidde koi Amrocks!«

Danach schrie auch ich, so laut ich konnte. Das mit den Namen mochte ja geklappt haben, aber dieser nächste wichtige Punkt ging eindeutig nicht an uns! Jedes Huhn träumt davon, mit seinesgleichen eine starke Schar zu bilden. Und uns, meine Schwester und mich, mussten diese Anfänger ausgerechnet mit zimperlichen Sundheimern zusammenstopfen?

Die Sundheimer jammerten mit. Da hatte, das war auch ihnen klar, jemand seinen Hühnerratgeber nicht sorgfältig gelesen, und welche weiteren Überraschungen daraus folgen konnten, wagte sich keine von uns auszumalen.

Der Boden vibrierte, die Frauen kamen zurück. »Ich glaube, sie streiten«, sagte die eine. »Von Karton zu Karton.«

»He-Lene«, antwortete die andere, »manchmal frage ich mich wirklich, was in deinem Kopf vorgeht.«

So hat es angefangen. Trotzdem soll keiner sagen, man hätte das Ende schon ahnen können.

Der Deckel klappte wieder auf, und zwei Hände packten mich, drückten meine Flügel fest an meinen Körper und hoben mich ins Freie. Sie müssen wissen: Wenn man uns so anfasst, ergeben wir uns fast sofort und fangen gar nicht erst an, uns zu wehren. Es ist ein Reflex, der uns nicht immer zum Vorteil gereicht.

Als Nächstes fühlte ich, wie man mich unter den Arm klemmte und an einem grauen Gebäude vorbeitrug; mehr konnte ich, geblendet von Sonnenlicht, nicht erkennen.

Die atemlos werdende Stimme der Missmutigen folgte uns. »Ein Fehler, ein ganz großer Fehler! Es gibt Eipulver, das hätten wir monatelang lagern können. Aber nein, meine Schwester bestellt Hühner!«

Die Schritte wurden schneller, als versuchte die Frau, die mich trug, der Stimme zu entfliehen. Schwestern waren sie also, genau wie wir! Und die Rangordnung unter ihnen schien geklärt, was ein friedliches Zusammenleben versprach. Das rangniedere Huhn weicht.

»So, da wären wir«, verkündete die helle Stimme.

Ich blinzelte – zuerst probehalber, dann voller Staunen. Meine Mutter hatte von den unterschiedlichsten Ställen berichtet, die auf uns warten konnten: von riesigen Mobilheimen, die von einem Wiesenstück zum nächsten gezogen wurden, bis zu zugigen Kleinstmodellen aus dem Baumarkt. Manche Hühner übernachten sogar in Autowracks! Auch diese spannende Frage hatte mich und meine Schwestern in den letzten Wochen beschäftigt: Wie würde unser künftiges Zuhause aussehen?

Was ich nun erblickte, hatte ich in meinen kühnsten Träumen nicht erwartet. Hinter dem Haus stand ein Traum auf hohen Stelzen, blau angestrichen, nagelneu, großes Frontfenster. Ihn umgab eine große geschlossene Voliere mit Komposthaufen, Holundersträuchern und mehreren dicken Sitzästen; unter dem Stall befand sich eine Sandbadestelle.

Auf der Stelle nahm ich alles zurück, was ich meinen neuen Halterinnen über das fehlende Studium von Hühnerratgebern unterstellt hatte. Ich war so entzückt, dass ich nun doch anfing zu strampeln, weil ich sofort alles erkunden wollte. Leider öffnete die Menschenschwester, die mich trug, mit ihrer freien Hand das große Fenster und entließ mich in den Stall. Das Fenster verschloss sie so schnell hinter mir, dass die Scheibe klirrte.

Ich brauchte einen Moment, um meine Schwester zu finden. Sie hockte zusammengekauert in einer der beiden mit Stroh ausgelegten Boxen, die ich korrekt als unsere künftigen Legenester identifizierte, und hatte Schnappatmung. Wenngleich aus einem anderen Grund als ich.

»Amy, what the heck!«, rief ich. »Kannst du mir sagen, wovor du Angst hast? Wir haben Namen, wir haben diesen absoluten Traum von einem Stall! Was willst du mehr?«

»Du hast gut reden!«, entgegnete sie bibbernd. »Du bist schließlich nicht als Erste ganz allein hier reingesetzt worden.«

Ich schlüpfte zu ihr ins Nest, um sie zu beruhigen.

»Und überhaupt«, sagte sie, »woher wissen wir, dass ich Amy und nicht Rocky bin?«

»Ich muss dir sagen«, erwiderte ich, »dass wir ein ganz anderes Problem haben.« Ich stupste sie an, als Aufforderung, mit mir zum Fenster zu kommen. Die Menschenschwestern waren gerade dabei, den zweiten Karton zur Voliere zu tragen, wohl um sich einen weiteren Weg mit einem kreischenden Huhn zu ersparen. Dass die braven Sundheimer keinen Pieps von sich gegeben hätten, konnten die beiden ja nicht wissen.

Amy wurde ganz aufgeregt, als sie den Karton erblickte. »Noch mehr Schwestern? Wonderful! Wer ist da wohl drin?«

»Wart’s ab«, erwiderte ich nur.

Wir waren auf dem Hühnerhof mit unterschiedlichen Rassen aufgewachsen, aber durch einen Zaun getrennt, sodass wir die anderen nur beobachten konnten. Unsere Mutter war eine Große Brahma, die der Sundheimer gleich nebenan eine Orpington gewesen, die rund und gemütlich hinter ihren Küken herkullerte, während wir Amrocks versuchten, mit dem Tempo unserer langbeinigen Mutter Schritt zu halten.

Sie müssen wissen: Wenn ich von »Mutter« rede, meine ich unsere Glucke. Wir Amrocks, und das gilt auch für die Sundheimer, legen ein Ei, dann stehen wir auf und gehen. Wir haben keine Lust, Küken aufzuziehen, deshalb kommt in der Regel ein Brutkasten zum Einsatz, oder wir werden fremden Glucken unter die Flügel geschoben. Wer unser Ei gelegt hat, werden wir nie erfahren. Für uns ist das aber keineswegs traurig, im Gegenteil. Eine bessere Mutter als eine Große Brahma kann es gar nicht geben!

Und während ich bereits früh im Leben zufrieden erkannte, dass wir Amrocks in unserem Auslauf viel schneller unterwegs waren als andere Küken, stellte ich noch etwas fest, das mir überhaupt nicht gefiel: Unsere direkten Nachbarn, die weißen Hühner, wuchsen schneller als wir. Diese Sundheimer konnten am Ende durch den Maschendraht auf uns herabschauen. Und wäre der Zaun nicht gewesen, wir hätten ihnen schon gezeigt, was wir davon hielten.

Nun, das konnten wir jetzt nachholen, so viel stand fest!

Verstehen Sie mich nicht falsch: Wir Amrocks sind friedliche Hühner, das können Sie überall nachlesen. Aber wir wollen nun mal die Größten sein, wir ordnen uns freiwillig allenfalls Brahmas und Jersey Giants unter.

»Darf ich vorstellen«, rief die Menschenschwester, nachdem sie das Fenster geöffnet hatte, »hier kommen Susi und Heidi!«

Die Frau hielt den Karton vors Fenster und wartete darauf, dass die Hühner in den Stall hüpften.

»Sundheimer«, sagte Amy mit flacher Stimme.

Einige Sekunden vergingen. Aus dem Halbdunkel des Kartons starrten uns zwei bleiche Gesichter an. Wir hielten die Mitte des Stalls und blickten so bedrohlich, wie wir konnten.

Das wirkte überraschend kurz. Auf einmal tat das erste Sundheimer einen großen Schritt in unseren Stall, schüttelte die Flügel und blieb vor uns stehen. Mit seinem sanften, freundlichen Antlitz schaute es uns direkt in die Augen und gab eine Erklärung ab: »Grüß Godd, zusamme. Mir san aa ned begeischtert. Aber mir alle müsse jetzt wohl ’s Beschte draus mache.«

War die lebensmüde? Hatte die noch nie etwas von Sicherheitsabstand gehört?

»Guck doch mal, wie süß!«, rief He-Lene. »Diese Federfüßchen! Und die Halskrause, grau-weiß wie das Gefieder der Amrocks! Haben wir die nicht perfekt ausgesucht?«

Aus der Nähe entdeckten Amy und ich unterdessen die nächste Provokation: Das Sundheimer war nicht nur größer als wir, ihm wuchs sogar bereits ein kleiner blassrosa Kammstreifen auf dem Kopf! Auch der Ansatz der Kehllappen war zu erkennen. Bei uns Amrocks wuchs noch gar nichts, weder auf dem Kopf noch unterm Schnabel.

»Duud jetzt nix Unübberleegtes.« Das Sundheimer las völlig korrekt an unseren Gesichtern ab, was gleich passieren würde. »Mir werdde Schweschtern werdde, ob’s uns passt oder net. Verwandde kamma sich ned aussuche.«

Schwestern? Das war das Wort, das gerade noch gefehlt hatte, um das Unvermeidliche einzuleiten. Amy sprang mit gespreizten Krallen auf die Diplomatin zu, ich holte die andere aus dem Karton. Die war fett und schicksalsergeben und wehrte sich fast überhaupt nicht, von ihrem nervenzerfetzenden Gequieke einmal abgesehen. »I bin e g’fährdete Rass! I bin e g’fährdete Rass!«, rief sie, während die Diplomatin, das muss ich zugeben, einen respektablen Kampf hinlegte.

Die Menschenschwestern schrien wie am Spieß, rissen das Fenster wieder auf und trieben uns auseinander. He-Lene krabbelte kurzerhand zwischen uns in die Einstreu und fuchtelte mit beiden Armen, bis sie über und über mit Buchenholzgranulat bedeckt war. Die Missmutige rannte fort und kam mit einem Stück Volierendraht zurück, das sie hektisch zwischen uns nagelten. Die Sundheimer bekamen die Stallseite mit den Nestern, somit mehr Platz als wir, dafür hatten wir Zugang zum Fenster.

So verbrachten wir die ersten drei Tage. Es war unerhört. Der Hühnerratgeber, den man diesen Frauen angedreht hatte, gehört vom Markt genommen! Wir finden unsere Schlafstange, auch ohne tagelang drinnen eingesperrt zu werden, das will ich hier mal ausdrücklich festhalten. Wir sind nicht doof.

2

Von ihrem Balkon im ersten Stock des Hauses hatte Helene Faber – über einen gepflegten Rasen, eine akkurat beschnittene Sichtschutzhecke und ein niedriges Gartentor hinweg – Ausblick auf die einst wie ausgestorben wirkende Straße und konnte sich nicht darüber freuen, dass Spaziergänge in Mode geblieben waren. Vor einiger Zeit, als es draußen vorübergehend nichts anderes zu tun gegeben hatte, als spazieren zu gehen und Fahrrad zu fahren, und als die nächste Umgebung die einzige gewesen war, in der man sich überhaupt aufhalten durfte, war die Waldsiedlung als Ausflugsziel entdeckt worden, und sie war es bis heute geblieben.

Die meisten, die an ihrem Grundstück vorbeiliefen, hatte Helene schon oft gesehen: vorwiegend Rentner wie sie selbst, in beigem Freizeitlook und mit betont forschen Schritten den Schmerzen in Knien und Hüften trotzend, aber auch Liebespaare jeden Alters, Väter und Söhne, ins Gespräch vertieft, Freundinnen mit und ohne Hund. Nur die schlendernden Jugendlichen waren rar geworden.

Und ihre Freundin Ingeborg. Im früheren Leben klug, patent und witzig, verließ Ingeborg dieser Tage kaum noch ihre Wohnung und verbrachte ihre Zeit damit, ihre Zipperlein zu zählen. Ingeborg war zutiefst davon überzeugt, dass die guten Jahre unwiederbringlich vorbei waren und es für sie beide nur noch eine Richtung geben konnte: steil bergab.

Helene hatte es mit gutem Zureden versucht. Sie hatte es mit Spott versucht. Sie hatte Ablenkung durch Ausflüge zu zweit, das Abonnement einer weniger pessimistischen Tageszeitung, sogar einen Sprachkurs angeregt. Vergebens. Mittlerweile hatte sie Ingeborgs Klagelieder so satt, dass sie kaum noch ans Telefon ging, wenn die Nummer ihrer Freundin auf dem Display erschien.

Doch es verging kein Tag, an dem sie Ingeborg nicht vermisste. Zum Beispiel dann, wenn sie mit ihrer Tasse Kaffee auf dem Balkon saß und fremde Leute beobachtete, die allesamt jemanden zum Spazierengehen hatten.

Wenn ich nicht bald etwas Abwechslung bekomme, werde ich verrückt. Das war eins ihrer geplanten Argumente gewesen, um ihre Schwester zur Hühnerhaltung hinter dem Haus zu überreden, aber sie hatte es gar nicht gebraucht, da ein anderes sofort überzeugt hatte: die Aussicht auf frische Eier und nahrhaftes Fleisch. Hildes größte Sorge war ein bevorstehender Versorgungsengpass. Seuchen, Kriege, Cyber-Attacken … jederzeit konnte Chaos über das Land hereinbrechen, und wehe dem, der nicht vorbereitet war!

Selbstredend hatte Helene nicht die Absicht, ihre lieben Hühner zu essen, aber das war eine der Brücken, die sie überqueren würde, wenn sie davorstand. Die Hühner waren jung und würden noch lange Eier legen – mindestens vier Jahre, hatte der Züchter am Telefon versprochen, und wer wusste heute schon, was in vier Jahren sein würde?

Als hätte der Gedanke ans Essen ihn herbeigerufen, rollte in diesem Augenblick der Kleinbus des lokalen Supermarktes in die Einfahrt, und der Fahrer, ein stets gut gelaunter junger Mann mit Rastalocken, stieg aus, öffnete die Ladeklappe und hob eine schwere Kiste heraus.

Was in aller Welt hatte ihre Schwester da wieder bestellt? Die Vorräte in der Garage mussten sich längst bis zur Decke stapeln! Nicht dass Helene je einen Blick darauf hätte werfen dürfen – die Garage, die vorn an der Straße lag und eine zwischen Wildem Wein versteckte Seitentür zum Garten besaß, war für sie tabu. Der Schlüsseldienst Hakenfelde hatte eine Verriegelung an der Seitentür angebracht, die einem Regierungsbunker Ehre gemacht hätte, und die Absperrung zur Straße übernahm nun schon im dritten Jahr Helenes alter Twingo, der so dicht vor dem Tor geparkt werden musste, dass die Klappe nicht mehr zu öffnen war.

Seit ebenso langer Zeit sah Helene das Lieferfahrzeug mehrmals wöchentlich vor dem Grundstück halten und den jungen Mann seine Last zum Haus schleppen. Hilde erwartete ihn an der Tür. Einfacher wäre gewesen, er hätte den Karton gleich vorn neben der Garage abgestellt, in der der größte Teil des Inhalts schließlich ausgepackt werden würde, aber Hilde bestand darauf, so zu tun, als ob das Gebäude gar nicht existierte. Nur Helene war – notgedrungen – eingeweiht, konnte sie ihre doppelt hüftoperierte Schwester doch alle paar Tage mit Dosen, Tüten und Kartonagen zur Garage humpeln sehen, sobald der Lieferwagen wieder abgefahren war.

Nach Einbruch der Dunkelheit bemerkte Helene häufig einen dünnen Lichtschein, der durch einen Spalt in der Seitentür flackerte. Sie wusste nicht, ob Hilde spätabends ihre Vorräte zählte oder still für sich daran knabberte; sie wusste nicht einmal, wo der Schlüssel versteckt war. Wenn Hilde etwas zustieß, würde sie das Haus auf den Kopf stellen oder die Garagentür sprengen müssen.

Sie hatte es an einem dieser langweiligen Nachmittage sogar schon gegoogelt: Dynamit legal erwerben. Erstaunt – und fast ein wenig enttäuscht – hatte sie festgestellt, dass es gar nichts Besonderes war, Sprengstoff zu kaufen. Es gab ihn sogar als Partyzubehör!

Der junge Mann rief einen Gruß zu ihr herauf, sie winkte ihm lächelnd. Jakob Mecklenburger, Künstlername »Curly« – seine rote Mütze trug die Aufschrift der Website, die Videos seiner mäßig gebuchten Jazz-Combo verlinkte. Helene klickte jeden Tag eins davon an; ihr kleiner Beitrag zu seiner Existenzgrundlage.

Auf einmal durchzuckte sie eine Eingebung: im ersten Stock junge Künstler aufzunehmen, die durch die hohen Mieten in Berlin in Not geraten waren und vom eigentlichen geliebten Beruf nicht mehr leben konnten. Es gab ein helles Dachstudio, das sich wunderbar als Arbeits- oder Probenraum eignen würde, und drei weitere kleine Zimmer. Den Garten würde man gemeinsam nutzen, sie, Helene, mittendrin, wenn gefeiert und Musik gemacht wurde. Und mehrmals pro Woche würde sie für alle kochen und die jungen Leute auf ihre Terrasse einladen!

Einen Augenblick lang war ihr schwindlig vor Aufregung und Begeisterung, dann fiel ihr ein, dass sie doch selbst im ersten Stock lebte – und das nun schon seit über zwei Jahren. Das Studio war ihr Wohnzimmer.

Verdammt. Schon wieder! Was war bloß los mit ihr?

Es kam in letzter Zeit häufiger vor, dass Helene ihre Lebensumstände für einige Augenblicke vergaß und Pläne schmiedete – um sich jedes Mal verblüfft und irritiert darauf zu besinnen, dass Mutter ihr Versprechen nicht gehalten hatte und ihr Ruhestand ganz anders geworden war, als sie hatte erwarten dürfen.

Konnte es sein, dass der Schock sie doch noch einmal einholte, nachdem sie ihre Gefühle jahrelang so gut unter Kontrolle geglaubt hatte? Dass es keine Pläne mehr gab, dass sie für den Rest ihres Lebens mit ihrer älteren Schwester in einem immer gleichen, nicht von ihr selbst bestimmten Tagesablauf feststeckte, sickerte jedes Mal, wenn es ihr nach einem dieser kurzen Tagträume wieder einfiel, brutaler denn je in ihr Bewusstsein.

Sie beugte sich vor und lauschte ungeniert, während Hilde und ihr Lieferant an der Haustür die Bestellung durchgingen.

Er: »Zwei Pfund Beste Bohne, zwei Packungen Irische Butter, zwei Packungen Kräuterfrischkäse …«

Sie: »Nicht so laut, junger Mann.«

Er: »Sorry. Ein Dinkelbrot, eine Packung Drillinge, Heringsfilet in Dillsoße, Romana-Salatherzen, Cocktailtomaten, eine Gurke, Lauchzwiebeln …«

Heute gab es also Frischware. Helene lief das Wasser im Mund zusammen, obwohl mit einer Einladung zum Mittagessen nicht zu rechnen war. Sie und Hilde teilten sich zwar Haus und Garten, aber eine WG, gemeinsames Hauswirtschaften, war nie Teil der Abmachung gewesen. Dafür musste wohl wirklich erst etwas passieren.

Es sei denn, Ingeborg behielt recht mit ihrer Prophezeiung:

»Die gibt dir nichts ab, wenn es drauf ankommt. Die konnte dich noch nie leiden.«

»Nun hör mir aber auf. Wir sind Schwestern!«, hatte Helene protestiert.

»Na und? Hast du vergessen, dass sie versucht hat, dich zu ermorden?«

Helene schüttelte leicht den Kopf, als ihr das Gespräch wieder in den Sinn kam. Vom Heringsfilet zum Mordversuch – wie flatterhaft ihre Gedanken geworden waren! Dabei konnte sie sich weder an einen Mordversuch erinnern, noch hatte sie je ernsthaft daran geglaubt – es war ein Gerücht, weiter nichts, ein Gerücht, das sie und ihre Schwester ihr Leben lang begleitet hatte wie eine Erbkrankheit.

An der Haustür verabschiedete Hilde ihren Lieferanten, und Helene hörte ihn »Ach, danke!« und »Das ist doch nicht nötig!« sagen, obwohl er sicherlich nicht mehr als fünfzig Cent Trinkgeld erhalten hatte. Einige Sekunden vergingen, in denen sie darauf wartete, dass der lockige Mecklenburger auf dem Weg zur Gartenpforte wieder in ihr Blickfeld trat.

Da erklang überraschend noch einmal seine Stimme. »Sagen Sie, halten Sie etwa Hühner? Hab ich da gerade ein Gackern gehört?«

»Ich, Hühner?« Hilde lachte erschrocken und gekünstelt. »Natürlich nicht!«

»Ach, dann kam es wohl von einem Nachbargrundstück. Mehrere Familien in der Siedlung halten jetzt Hühner, wissen Sie? Sie hätten hier auch genug Platz.«

»Ich bitte Sie. Was soll ich denn mit Hühnern? Ich habe im Übrigen auch kein Gackern gehört.«

»Ich schon. Ich bin mir sicher, denn mein Opa hatte … da! Da ist es doch wieder! Vielleicht ist ein Huhn von einem Nachbargrundstück zu Ihnen ausgebüxt. Soll ich mal nachsehen? Es scheint hinterm Haus zu sein.«

»Hinter dem Haus ist der Wald. Da ist ein Zaun, da kommen Sie gar nicht rüber. Vielen Dank für Ihre Hilfsbereitschaft, aber Sie müssen doch jetzt bestimmt weiter?«

»Na schön.« Curly klang leicht beleidigt. »Aber die Hausnummer 18 hat Hühner, da fahre ich jetzt vorbei und frage, ob eins vermisst wird. Schönen Tag noch! Und bleiben Sie gesund.«

Helene sah ihn den Rückweg antreten, sich noch einmal umdrehen, lauschen, am Kopf kratzen … da erklang am Fuße der Treppe auch schon die alarmierte Stimme ihrer Schwester: »He, Lene!«

Hörte nur sie das, oder hatte Hilde wirklich eine besondere Aussprache für ihren Namen? Wenn Hilde nach ihr rief, klang es immer wie ein Kommando.

Folgsam ging sie zum Treppenabsatz und blickte nach unten. Hilde schaute zu ihr herauf, eine Hand am Geländer, der erschrockene Blick dramatisch verstärkt durch die wirren Haare. Nachdem ihre Friseurin in den Ruhestand gegangen war, hatte Hilde mit der Nachfolgerin ein solches Desaster erlebt, dass sie zu Hause kurzerhand zur Schere gegriffen und eine Korrektur vorgenommen hatte. Danach blieben ihr nur noch zwei Möglichkeiten: die Haare stoppelkurz zu schneiden oder das Ergebnis ihres Selbstversuchs herauswachsen zu lassen. Sie hatte sich zähneknirschend für Letzteres entschieden und knurrte nun schon seit Wochen: »Langsam seh ich aus wie du.« Was an Helene allerdings abprallte – sie mochte ihre Naturlocken, auch in Grau.

»He, Lene!«, wiederholte Hilde. »Deine Hühner sind zu hören! Was jetzt?«

Langsam ging Helene die Treppe hinunter. Es war ihr nicht entgangen: Die Hühner verliehen ihrem Unmut darüber, dass sie seit drei Tagen im Stall eingesperrt waren, ausgesprochen lautstark Ausdruck.

»Wenn das so weitergeht, haben wir bald Gesindel auf dem Grundstück, das herumschleicht und stiehlt. Es gibt mehr zu finden als die Hühner, wie du sehr wohl weißt. Sie machen auf uns aufmerksam. He, Lene! Das muss aufhören. Wir beide sind hier allein!«

Hilde wirkte ehrlich verängstigt.

»Ich wollte sie sowieso heute rauslassen«, erwiderte Helene und schlüpfte in ihre Gartenschuhe, die neben der Haustür standen. »Auch wenn der Züchter sagt, man soll sie zu Beginn eine Woche einsperren.«

»Und wenn sie draußen noch lauter sind?« Lamentierend folgte Hilde ihr zum Stall, so dicht, dass Helene sie förmlich an ihren Hacken spürte. »Wir haben einen großen Fehler gemacht. Wir müssen jetzt schon einen Schlachter finden. Ich bestelle noch eine dritte Tiefkühltruhe.«

»Sei still, sie hören dich!«, zischte Helene. »Und was du gesagt hast, kommt nicht in Frage. Nur über meine Leiche!«

»Sie hören mich? He, Lene! Du solltest dich wirklich einmal durchchecken lassen.«

Den Stall und die Voliere hatten zwei Freunde von Ingeborgs Nichte nach Plänen aus dem Internet für sie gebaut. Hinter dem Fenster an der Vorderseite drängten sich die dunklen Leiber der beiden Amrocks ans Glas. Sie wichen zurück, als Helene das Fenster öffnete, und ließen ihre empörten heiseren Schreie hören.

»Diese Hühner haben Stimmen wie die Trompeten von Jericho«, sagte Hilde schaudernd.

Helene musste zugeben, dass sie mit dieser Art der Lautäußerung auch nicht gerechnet hatte. Im Rasseporträt auf YouTube hatten die Amrocks nicht so viel gesagt. Sie waren bei »Happy Huhn« allerdings auch nicht eingesperrt gewesen.

»Also gut, Hühner«, verkündete sie. »Wir haben verstanden. Wir lassen euch raus. Ich öffne gleich die kleine Hühnerklappe da vorne«, sie zeigte durch das Fenster auf die Stelle in der Stallwand, »und da seht ihr dann schon die Leiter …«

»Vielleicht möchtest du vorankriechen und es ihnen zeigen?«, fragte Hilde sarkastisch.

Helene versuchte, sich zu konzentrieren. Auf keinen Fall sollten die Hühner spüren, wie nervös sie war. Was, wenn der Züchter doch recht hatte und drei Tage Stallgewöhnung zu kurz waren? Aber ein Wort war ein Wort, auch gegenüber einem Huhn.

»Ich gehe jetzt um den Stall herum zur Klappe«, rief sie, um die Amrocks zu übertönen. »Wenn sie offen ist, kommt ihr ganz vorsichtig die Leiter runter. Der Stall ist etwa achtzig Zentimeter über dem Boden, ihr seid jetzt nämlich in Berlin, und da gibt es Waschbären.«

»He, Lene!«, schrie ihre Schwester. Woraufhin die Amrocks sich augenblicklich in Bewegung setzten. Geschrei schien das zu sein, was sie am besten verstanden – sie warteten Helenes Erläuterungen nicht ab, sondern flatterten kurzerhand an ihr vorbei aus dem Fenster und fingen gleich da, wo sie aufschlugen, zu scharren und zu picken an. Eine halbe Minute später plumpsten die Sundheimer, die vorschriftsmäßig die Hühnerklappe genutzt hatten, links und rechts von der Leiter und begannen mit der gleichen Tätigkeit.

Es war … rührend. Alle vier Hühner strahlten mit einem Mal eine innere Ruhe und Zufriedenheit aus, die auch Helene erfasste.

»Wie leicht es doch für ein Huhn ist, glücklich zu sein«, sagte sie zu Hilde. »Es braucht nur ein wenig Platz und etwas zu tun. Wir sollten uns ein Beispiel an ihnen nehmen.«

»Da könntest du recht haben. Wenn du so weitermachst, brauchen wir für dich nämlich auch einen Platz«, erwiderte Hilde düster.

3

Zu den lebendigsten Kindheitserinnerungen von Hilde Mattern, geborene Faber, gehörte der rot angelaufene Kopf ihrer Mutter, die sich zu ihr hinunterbeugte, und der übergroß im Gedächtnis gebliebene, hysterisch schreiende Mund, der Hildes Gesicht mit giftigem Nebel besprühte. Seitdem konnte sie es nicht ertragen, wenn ihre persönliche Distanzzone verletzt wurde; auch in ihrer Ehe hatte sie es kaum ausgehalten und leider nicht immer verbergen können, dass fremder Atem und fremde Spucke sie anekelten. Sie erinnerte sich an den tiefen Schrecken, den sie damals empfunden hatte; noch mit fast achtzig Jahren träumte sie mitunter davon. Eben noch weitestgehend unsichtbar, stand sie plötzlich im Zentrum der Aufmerksamkeit, alle Aufregung richtete sich auf sie. Etwas Dramatisches schien geschehen zu sein – etwas, wofür sie offenbar verantwortlich war –, aber niemand redete mit ihr, erklärte ihr, was gemeint war. Da waren nur Vorwurf, Geschrei und danach Schweigen.

Hilde war fünf, als ihre Schwester geboren wurde, und sie hatte sich wie verrückt darauf gefreut. Die anderen Kinder in der Siedlung hatten längst Geschwister, die sie stolz im Wagen durch die Gegend schoben und um die sie ein großes Gewese machten. Die heißesten Völkerballspiele wurden unterbrochen, wenn ein Brüderchen oder Schwesterchen in seinem Kinderwagen am Straßenrand zu schreien begann. Dann standen alle Kinder um den Wagen herum und behoben gemeinsam das Problem. Zumindest fast alle. Gisela, Rosemarie oder Waltraud gaben fachmännische Ratschläge, und selbst Günter, Hermann und Willi hatten etwas zu sagen. Nur Hilde und Ursula, das einzige andere geschwisterlose Mädchen, konnten nichts anderes beitragen, als die Freunde stumm um ihre große Verantwortung zu beneiden.

Es waren denn auch die anderen Kinder, die Hilde darauf aufmerksam machten, dass sie bald selbst eine große Schwester sein würde. Sie schmückten diese Behauptung mit Details aus, die Hilde ihnen nicht abkaufte, aber diese eine große Nachricht stimmte: Ihre Mutter, beseelt lächelnd, bestätigte die Schwangerschaft, wenn auch erst auf Nachfrage. Eifersüchtig fragte sich Hilde, warum die Freundinnen es schon vor ihr gewusst hatten und wer es ihnen verraten haben könnte.

Eine Antwort erhielt sie, als Waltraud, in den Schwitzkasten genommen, schrie, ihre eigene Mutter habe schon vor Wochen davon gesprochen.

»Bist du doof, Hilde.« Waltraud war nicht einmal böse, als Hilde sie wieder losließ. Sie strich sich den Rock glatt und sah Hilde mitleidig an. »Bei Frauen wächst der Bauch, wenn sie ein Kind kriegen. Hast du gar nicht gemerkt, wie dick deine Mutter geworden ist? So was sieht man doch.«

Hilde war zutiefst beschämt. Schon die Nachricht von Helenes bevorstehender Ankunft war von einer Demütigung begleitet.

Der unbefriedigende Auftakt, der Hilde noch eine Weile beschäftigt hatte, war vergessen, als sie ihr Schwesterchen zum ersten Mal erblickte. Sie sah das schlafende Gesichtchen, die zarten Wimpern, das Stupsnäschen, die unfassbar winzigen Fäuste und wurde von einer gewaltigen Emotion ergriffen, die sie nie zuvor gespürt hatte.

Ihre Schwester! Ihr Baby! Ihr kleiner Mensch, den sie von dieser Sekunde an beschützen und behüten und für dessen Wohlergehen sie alles, wirklich alles tun wollte. Sie würde sich vor ihr Schwesterchen werfen, wenn Gefahr drohte; sie würde ihr Leben geben, wenn es sein musste. Und dieses kleine Baby, es würde sie lieben, es würde als Erstes ihren, Hildes Namen sagen und ihr überallhin folgen.

Leider spielte Mama nicht mit. »Nein, Hilde, du darfst Lenchen nicht mit nach draußen nehmen. Sie ist noch viel zu klein.«

»Aber Gisela steht draußen mit dem Heiko. Wir wollen so gern zusammen mit den Kinderwagen fahren.«

»Du kannst den Wagen doch gar nicht allein schieben, Hilde.«

Hilde schob die Unterlippe vor. Warum hatten ihre Eltern bloß so einen großen, schweren Kinderwagen gekauft? Den Wagen von Giselas Brüderchen Heiko konnte sie schieben und mühelos darüber hinweg auf die Straße blicken. Und wie! Aber an Hilde hatten Mama und Papa bei der Anschaffung anscheinend überhaupt nicht gedacht.

Der Sommer endete, und Hilde war nicht ein einziges Mal allein mit ihrer kleinen Schwester vor dem Haus gewesen, obwohl Helene wie viele andere Babys in der Siedlung im Frühjahr zur Welt gekommen war. Ihre Wagen standen am Straßenrand aufgereiht, während die Großen Himmel und Hölle spielten. Nur der Wagen, den Hilde dorthin gestellt hätte, war nicht dabei. Die kleine Helene wurde ihr nicht anvertraut.

Hilde sah die Wagen dort stehen und hätte weinen mögen. Im letzten Jahr war sie beschämt gewesen wegen ihrer Ahnungslosigkeit; das jetzt war viel schlimmer, weil sie tief in sich spürte, dass sie bereit war, dass sie nicht anders war als die anderen.

Es war so ungerecht! Es fühlte sich an, als wäre ihr etwas gestohlen worden – etwas, von dem anscheinend nur sie selbst der Überzeugung war, dass sie einen Anspruch darauf hatte.

Wie sie diesen Anspruch geltend machen konnte – sie wusste es nicht. Dabei war Hilde stets als Erste am Kinderbettchen, wenn die kleine Helene weinte, und sah mit eigenen Augen, wie froh das Baby war, sobald sie auftauchte. Wenn Lenchen sie erblickte, zu weinen aufhörte und unter Tränen zu lächeln begann, war es das absolute Glück.

Für die paar Sekunden, bis Mama ins Zimmer kam und ihr das Baby ungeduldig aus dem Arm nahm.

»Du sollst sie doch liegen lassen, Hilde, wie oft soll ich es noch sagen?«

»Aber sie hat doch geweint!«

Jetzt weinte auch Hilde. Aber Mama tröstete und wiegte nur das Lenchen, obwohl es schon längst wieder zufrieden war, gab ihm ein Küsschen und legte es zurück ins Bett.

»Siehst du? Schon schläft sie wieder ein. Lenchen braucht ihren Mittagsschlaf, du darfst sie nicht stören.«

Stören, dachte Hilde, und das Wort fraß sich tief in sie hinein.

Heinrich Faber, ihr Vater, war zwei Jahre vor Hildes Geburt auf nur noch einem Bein aus dem Krieg gekommen. Er arbeitete lange Stunden in der Verwaltung bei Siemens und war auf der Warteliste für ein Arbeiterhäuschen in der Waldsiedlung schnell nach oben gerückt, da andere Bewerber weniger Glück beim Überleben gehabt hatten. Die zweite Hälfte des Doppelhauses bewohnte die fünfköpfige Familie Sauter mit den Kindern Gisela, Ingeborg und Heiko; Gisela Sauter ging in Hildes Klasse und war ihre beste Freundin.

Einen Kriegsversehrten zum Vater zu haben, war nichts Besonderes. Das Besondere war, dass überhaupt noch ein Original-Vater da war. Viele Kinder in der Siedlung hatten, sofern sie nicht allein mit ihren Müttern aufwuchsen wie Hildes zweitbeste Freundin Ursula, Stiefväter. Die kleinen Geschwister waren also nicht einmal zur Gänze mit ihnen verwandt. Und trotzdem hatten sie mehr Rechte an den Babys als Hilde.

Mama war nicht mehr dieselbe wie früher. Die Tage, an denen Elisabeth Faber den Abwasch stehen ließ, ihr Töchterchen an beiden Händen nahm und mit ihr um den Küchentisch tanzte, während das Radio Schlager von Rita Paul oder Johannes Heesters spielte, waren vorbei. Die Ausflüge ins Café Fester, wo sie bei einem Stück Kuchen zusahen, wie die Trümmer der Altstadt abgeklopft und aus den Steinen neue Häuser gebaut wurden. Die Abende, an denen sie aneinandergekuschelt Hörspiele hörten, während Mama stopfte oder strickte.

Hilde versuchte zu verstehen, was passiert war, was zwischen sie geraten war. Warum war Mama so ungeduldig, warum konnte sie ihr einfach nichts mehr recht machen? Stets war da ein harter Ton in ihrer Stimme, wenn sie mit Hilde sprach, Hilde duckte sich vor diesem Ton. Alles, was Mama ihr zu sagen hatte, waren Ermahnungen wie: Hab ich dir nicht gesagt …? Hast du nicht verstanden …? Hilde, zum letzten Mal …

Und alles endete damit, dass Hilde weinte und Mama noch ungeduldiger wurde.

Eines Tages hörte Hilde, wie sie zu Giselas Mutter sagte: »Hilde ist unausstehlich, seit wir das Lenchen haben. Was soll ich bloß mit ihr machen?«

Sie bekam nicht mehr mit, was die Nachbarin antwortete, sie floh in blankem Entsetzen. Die Erde bebte, Risse überall, vor ihr nichts als ein schwarzes Loch.

Sechs Stunden später fand ihr Vater sie im Ziegenstall der Nachbarn auf der anderen Straßenseite. Weiter hatte sie sich nicht weggetraut, und während sie die nach ihr Suchenden draußen ihren Namen rufen hörte und zunehmend hungrig und beschämt darauf wartete, gefunden zu werden, hatte sie die Wahl ihres Fluchtorts zutiefst bereut. Sie sehnte sich nach einer Umarmung, nach Worten wie: »Mein Hildchen, ich bin so froh, dass du wieder da bist!« Aber wer würde sie auch nur anfassen wollen, wenn sie nach Ziege stank?

Und noch etwas fiel ihr auf: Unter denen, die sie riefen, erkannte sie die Stimmen von Papa und den Nachbarn und ihren Freunden, aber Mamas Stimme hörte sie nicht. Sie hatte sich nicht auf die Suche gemacht.

War Mama vielleicht sogar froh, dass sich ihr Problem von selbst gelöst hatte und sie gar nichts mehr mit ihrmachen musste?

Papa ließ sich vom Gestank nicht abschrecken, er schob die Ziegen beiseite, deren Aufmerksamkeit abzuwehren Hilde aus Erschöpfung längst aufgegeben hatte, und nahm seine Tochter in den Arm. Eigentlich war es beinahe so, wie sie es sich gewünscht hatte. Papa war nicht ganz die richtige Person, mit Papa hatte sie keine Probleme, die es zu verzeihen und wiedergutzumachen galt. Aber zumindest er hatte sie lieb.

Hilde, stinkend, verdreckt und das Gesicht vom Weinen verquollen, begann laut zu schluchzen: »Mama will … Mama will …«

Auf keinen Fall wollte sie in diesem blamablen Zustand ins Freie getragen werden, wo jeder sie sehen konnte. Sie wollte hier sprechen, im Ziegenstall, Papa sollte Mama holen, und sie, Hilde, würde erst nach draußen kommen, wenn alles wieder gut und ihre Ehre wiederhergestellt war. Und Mama, Mama sollte schwören, dass sie nichts mit ihrmachen würde, dass sie Hilde weder in ein Heim steckte noch zu Verwandten und erst recht nicht zu fremden Leuten!

Hilde schluckte und würgte verzweifelt an ihren Schluchzern, um die Worte herauszubringen, aber es war zwecklos, Papa hob sie hoch und trug sie ins Freie, und die halbe Nachbarschaft stand auf der Straße und sah sie verständnislos an. Einige hielten sich die Nase zu.

Das Donnerwetter von Mama blieb aus. Schweigend ließ sie kaltes Wasser in die Wanne und schrubbte Hilde mit einer Bürste, die sie normalerweise zum Putzen benutzte. Hilde schrie und heulte und konnte hinterher kaum glauben, dass ihre Haut nicht für alle sichtbar in Fetzen hing.

Man schickte sie ohne Essen ins Bett, wo sie ängstlich und schlaflos eine Weile liegen blieb, bis sie es nicht mehr aushielt, die Zimmertür einen Spalt öffnete und lauschte. Wie erwartet, redeten die Eltern leise im Wohnzimmer, und als sie sich die Treppe hinunterstahl, um herauszufinden, was sie mit ihr vorhatten, hörte sie Papa sagen: »Hilde ist nicht böse. Sie war nur viel zu lange Einzelkind, und jetzt muss sie eben lernen, dass sich nicht mehr alles nur um sie dreht. Ich hab damals auch eine Weile gebraucht, bis ich den Otto akzeptiert hatte.«

Seine Stimme zitterte ein wenig. Onkel Otto, Papas kleiner Bruder, war nicht aus dem Krieg zurückgekommen. Hilde hatte ihn nicht einmal kennengelernt.

»Vielleicht«, überlegte Papa, »solltest du sie mehr einbeziehen. Bettelt sie nicht dauernd, das Lenchen zum Spielen mitnehmen zu dürfen?«

»Das Lenchen ist noch viel zu klein«, wehrte Mama ab. »Und Hilde auch!«

»Ihre Freundinnen sind doch dabei. Die kennen sich aus. Für die ist es ganz normal, auf die Kleinen aufzupassen.«

»Ja, eben. Für ihre Freundinnen ist es normal. Hilde ist anders, sie ist eifersüchtig, und wozu sie fähig ist, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, hat sie heute ja deutlich gezeigt. Nein, Heini, ich werde das Lenchen ganz bestimmt nicht für Experimente zur Verfügung stellen!«

Am nächsten Tag musste sich Hilde von ihrer Freundin Gisela erst einmal erklären lassen, was das neue Wort bedeutete: eifersüchtig.

»Deine Eltern denken, dass du das Lenchen nicht leiden kannst.«

»Das stimmt doch gar nicht! Ich hab das Lenchen lieb!«, rief Hilde bestürzt.

»Dann musst du es wohl zeigen«, meinte Gisela.

In den folgenden Wochen bemühte sich Hilde nach Kräften, brav zu sein, nicht jedes Mal zu heulen, wenn ihr danach war, und keine Widerworte zu geben, um möglichst nicht aufzufallen. Mitunter fühlte es sich an, als wäre sie tatsächlich nicht mehr da, aber wenn man die Älteste war, musste es wohl so sein: Irgendwann hatte man die Mutter an jüngere Geschwister weiterzugeben, wie abgelegte Kleidung. Es tat weh, aber es war normal. Und Mama schien zufrieden, und vielleicht sagte sie jetzt abends zu Papa: »Ich habe mich geirrt, Hilde ist doch ganz anders, als ich dachte.«

Wenn Mama dabei war, durfte Hilde ihre Schwester in einem Kissen auf den Schoß nehmen und sie verliebt anschauen. Das war nicht gespielt, das Baby zu lieben war leicht – Lenchen war hübscher als eine Puppe mit ihrem dunklen Haarschopf und dem herrlichen zahnlosen Lächeln.

In solchen Momenten war Hilde versöhnt. Dem Lenchen ging es gut, das konnte jeder sehen, und Hilde trug eben auf andere Weise dazu bei, als sie es sich gewünscht hatte.

Sie begleitete Mama, wann immer diese mit Lenchen spazieren ging. Mama schob den Kinderwagen, Hilde lief nebenher und legte seitlich ihre Hand an den Griff. Sie nahm die Hand auch nicht herunter, wenn Bekannte in den Wagen schauten, um sich daran zu erfreuen, wie süß das Lenchen war. Hilde erinnerte sich, dass die Leute das noch im letzten Jahr über sie gesagt hatten. Aber dass Babys niedlicher waren als Sechsjährige mit Zahnlücke, war klar.

Auch das: normal. Kein Problem. Und auf gar keinen Fall Lenchens Schuld. Das Lenchen kann nichts dafür, dachte sie oft, wenn sie die Welt als ungerecht empfand, und auch wenn die Erwachsenen später etwas anderes behaupteten: Sie wusste es besser. Sie hatte dem Lenchen nie etwas vorgeworfen.

Als die Blätter von den Bäumen fielen und die Tage kürzer wurden, sagte Mama: »Ich muss in die Stadt, Hilde, ich werde zwei Stunden weg sein. Aber Giselas Mama weiß Bescheid und hat ein Auge auf euch beide. Wenn irgendwas ist, klingelst du bei Sauters.«

»Ich könnte doch mit Lenchen nach draußen gehen«, schlug Hilde begeistert vor. »Dann haben alle ein Auge auf uns.«

»Das tust du nicht. Du verlässt auf keinen Fall das Haus, hörst du? Du bleibst mit deiner Schwester hier. Wehe, ich höre nachher etwas anderes!«

Hilde hatte keine rechte Vorstellung, wie lange zwei Stunden dauerten, aber eines verstand sie: Während Mamas Abwesenheit gehörte das Lenchen ihr – und sie war fest entschlossen, aus dieser Gelegenheit so viel wie möglich herauszuholen.

Als Erstes hob sie ihre Schwester, die fest geschlafen hatte, aus dem Gitterbett, das im Elternschlafzimmer stand, und setzte sich mit ihr auf den Fußboden. Sie legte dazu wie immer ein Kissen auf ihren Schoß, und das Lenchen rutschte ihr nur ganz kurz aus dem Arm, während sie versuchte, das Kissen unter den Babypopo zu ziehen. Es waren bloß ein paar Zentimeter bis zum Fußboden, und das Lenchen heulte fast überhaupt nicht.

Das bisschen Weinen rechtfertigte auf keinen Fall, dass Giselas Mutter sofort angeschossen kam, um nach dem Rechten zu sehen.

Die Wand zwischen den Haushälften war dünn. Auf der anderen Seite hörte Hilde den kleinen Heiko bereits aus Leibeskräften brüllen und ahnte, dass seine Mama gerade auf dem Weg zu ihr war, aber es blieb keine Zeit, das Lenchen zurück ins Bett zu legen.

»Hilde! Was machst du denn? Du weißt doch, dass du das Lenchen nicht aus dem Bett nehmen darfst. Und auf dem Fußboden ist es sowieso zu kalt, auch für dich.«

Frau Sauter nahm das Baby von Hildes Schoß, legte es wieder in sein Bettchen und deckte es zu. Hilde mochte Frau Sauter, aber als sie zusehen musste, wie ihr nun auch noch eine fremde Mutter dazwischenfunkte, wurde sie von einem Schwall heißer Wut erfasst.

»Ich darf überhaupt nichts!«, schrie sie und bewarf Frau Sauter mit dem Kissen.

»Sag mal, spinnst du?« Resolut packte Frau Sauter Hilde an den Armen, zog sie hoch und schüttelte sie leicht. »Das machst du kein zweites Mal, mein Fräulein!«

Hilde brüllte: »Es stimmt doch! Ich darf hier überhaupt nichts! Das ist ungerecht!«

»Was darfst du denn nicht? Was wolltest du mit Lenchen auf dem Fußboden?«

»Ich wollte ihr nur eine Geschichte erzählen!«, schrie Hilde. »Ist das jetzt auch nicht mehr erlaubt?«

»Du kannst ihr eine Geschichte erzählen, während sie im Bett liegt. Pass mal auf, wir nehmen jetzt den Kommodenstuhl und stellen ihn hierher, und dann setzt du dich drauf und kannst mit deiner Schwester durchs Gitter reden, solange du willst.«

Hilde verschränkte die Arme und spürte, wie ihre Unterlippe beinahe die Nasenspitze berührte.

»Hör auf zu schmollen und setz dich auf den Stuhl«, befahl Frau Sauter. »Ich sag deiner Mutter nichts, versprochen. Soll Gisela kommen? Dann könnt ihr zusammen auf Lenchen aufpassen.«

»Nein«, sagte Hilde mürrisch und setzte sich, damit Frau Sauter Wort hielt und nicht petzte. Die neunmalkluge Gisela sollte bloß bleiben, wo sie war. Das waren ihre zwei Stunden mit Lenchen! Womöglich war die Hälfte davon schon um.

»Na schön. Mach, was du willst, aber lass das Baby im Bett. Kann ich mich darauf verlassen?«

Hilde nickte.

Kaum war die Nachbarin gegangen, sprang sie vom Stuhl und beugte sich wieder über das Gitter. Lenchen strahlte sie an. Eine süße kleine Träne hing noch an einer ihrer Wimpern, Hilde streckte den Finger aus und wischte sie zärtlich ab. Wieder ergriff sie dieses warme Glücksgefühl, an das sie sich so gern erinnerte.

Über dem Gitter hängend, Lenchens kleine Finger zwischen ihren, erzählte sie dem Baby ein paar Geschichten, zumindest bis zu den Stellen, wo sie nicht mehr weiterwusste, aber Lenchen machte es nichts aus, dass die Geschichten keinen richtigen Schluss hatten. Sie hörte aufmerksam zu, gluckste und gurgelte und freute sich.

Sie freute sich auch, als Hilde auf die schöne Idee kam, Lenchens und ihr Gesicht mit Hilfe von Mamas Farbkasten zu verzieren. Hilde hatte Mama oft genug dabei zugesehen, um zu wissen, wie Gesichter bemalt wurden, und sie machte es ganz vorsichtig, damit es keine Sauerei auf dem Bettzeug gab.

Frau Sauter war perplex. Sie stand erst in der Tür und starrte Hilde an, dann beugte sie sich über das Babybett und betrachtete Lenchen. Im nächsten Augenblick fing sie fürchterlich an zu lachen. »Du wirst keinen Schönheitssalon eröffnen, Herzchen, so viel steht fest«, meinte sie.

Hilde war beleidigt. Sie hatte extra Mamas Lieblingsfarben ausgewählt, um ihr eine Freude zu machen! Das waren die Farben, von denen jetzt nicht mehr sehr viel da war, was Hilde allerdings erst auffiel, als Frau Sauter die Palette inspizierte und seufzte.

»Oh, Hilde. Weißt du, wie schwer so was zu bekommen ist? Nein, wahrscheinlich nicht …«