Chiemseegewitter - Gretel Mayer - E-Book
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Chiemseegewitter E-Book

Gretel Mayer

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Beschreibung

Es hätte alles so schön sein können. Lisbeth fährt mit ihrem Lebensgefährten, dem pensionierten Kriminaler Joe, an den geliebten Chiemsee, um ihm die Schauplätze ihrer Kindheit zu zeigen. Doch kaum angekommen, wird die Vermieterin ihrer Ferienwohnung ermordet in der Räucherhütte des Anwesens aufgefunden. Joe steht seinem örtlichen Kollegen Ottl Kerber sofort mit Rat und Tat zur Seite. Tatverdächtige gibt es viele und so hat das Ermittlerduo - inmitten der Schönheit des Chiemsees - alle Hände voll zu tun.

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Seitenzahl: 279

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Gretel Mayer

Chiemseegewitter

Kriminalroman

Zum Buch

Mord am Chiemseeufer Inmitten des sommerlichen Trubels wird die Frau des Chiemseefischers Bergwieser erschlagen in der Räucherhütte des eigenen Anwesens aufgefunden. Statt während des gemeinsamen Urlaubs – wie geplant – die Schauplätze der Kindheit seiner Lebensgefährtin Lisbeth zu besuchen, steigt der pensionierte Kriminaler Joe Kotteder sofort in die Ermittlungen seines Rosenheimer Kollegen, Kriminalkommissar Ottl Kerber, ein. An Verdächtigen mangelt es dem Duo nicht. Hat der eifersüchtige, stark verbitterte Ehemann der Toten etwas mit dem Mord zu tun oder etwa die Chiemsee-Töpferin, die von der Toten fast in den Ruin getrieben wurde? Auch ein schwerreicher Antiquitätenhändler und lokaler Baulöwe, der mit dem schwungvollen Handel mit Chiemseemalerei und dubiosen Immobiliengeschäften sein Geld verdient, könnte in den Fall verstrickt sein …

Gretel Mayer, geboren 1949 in München, war als Fremdsprachensekretärin, Übersetzerin und jahrelang als Buchhändlerin tätig, bevor sie ihre Leidenschaft fürs Schreiben entdeckte. Obwohl ihr Lebensmittelpunkt schon seit Jahrzehnten in Unterfranken liegt, schlägt ihr Herz noch immer für das Alpenvorland und ihre Geburtsstadt München.

Impressum

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München)

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Kufner-Foto / iStock.com

ISBN 978-3-7349-3274-8

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Chiemseekind

Der Morgenblick auf

dunstige Berge,

den glitzernden See

und das Silbergrün

der alten Pappeln,

das ferne Läuten

der Rimstinger Kirche,

die gleißende Mittagssonne

auf den heißen Bohlen

des Badestegs,

sonnenverbrannte Glieder,

die eintauchen

in die Kühle des Sees,

die bunten Röcke der Tante,

schwingend im Sommerwind,

der morsche, alte Kahn,

durch spiegelglattes

Wasser gleitend,

eiskalter Apfelsaft

aus kleiner Glaskaraffe,

unschuldige, ahnende Spiele

mit den Sommergefährten,

schaukelnde Lampions

in der Sommernacht,

das unbeschwerte

Lachen der Mutter.

Unvorstellbar, dass es jemals endet.

Prolog

Was ist das Klebriges, Feuchtes an meiner Stirn und unter meinen Haaren?

Irgendetwas in meinem Körper ist verdreht, meine Beine gehorchen mir nicht, und ein brennender Schmerz steigt auf von meinen Hüften. Ich muss aufstehen, jetzt gleich, aber ich schaffe es nicht.

Ich liege hier und durch die Tür sehe ich den See im ersten Morgenlicht. So oft in meinem Leben hab ich das gesehen. Den See, den Kahn, den Vater mit den Reusen, den Kurt, aufrecht, stark und lachend und voller Freude über einen guten Fang.

Die Lisi ist gestern gekommen, und ich hab mich nicht gefreut. Nein, voller Neid bin ich gewesen auf das Glück in ihren Augen und auf das schöne Seidentuch um ihren Hals. Seide und Glück, das will ich auch haben, es steht mir doch auch zu!

Ich muss etwas tun, damit ich nicht ganz untergehe in diesem Elend, hab ich mir gedacht und ihn angerufen Und wirklich ist er dann gekommen, aber er hat nur gelacht über mich. So geringschätzig, so spöttisch! Aber dann war da plötzlich Wut in seinen Augen, kalte, mörderische Wut.

… ich seh uns Kinder am Ufer spielen; die Lisi mit der bunten Bluse und den roten Backen, den Maxl mit dem Zylinderhut und die Anni im Ballettröckchen. Da waren wir glücklich, da war noch kein Neid, da waren wir noch alle gleich …

1

Schau da vorn, Joe, schau!«, rief Lisbeth aufgeregt.

»Da vorn gleich hinter Hittenkirchen, da sieht man dann den See!«

Joe, am Steuer neben ihr, bremste gemächlich ab und lachte.

»Du bist ja aufgeregt wie ein Kind am Ferienanfang!«, meinte er amüsiert, legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter und bog in eine kleine Parkbucht am Rande der Landstraße ein.

Und da war er auch schon, der See! Ihr See! Im Dunst eines Spätsommerseptembertages lag er vor ihnen; einige Segelboote malten weiße Tupfer in sein kräftiges Blau, und ein Stück weit draußen zog ein Ausflugsdampfer seine Bahn. War das der alte Ludwig Fessler aus ihren Kindertagen; gab es den denn überhaupt noch?

Lisbeths Herz klopfte heftig, und eine uralte Erinnerung stieg in ihr auf. Fast 60 Jahre war es nun her, dass sie mit ihrem Vater an fast derselben Stelle gestanden hatte, und er hatte nach unten gedeutet und gerufen »Schau doch mal, Lisbeth, wie schön es da ist. Das ist der Chiemsee da unten, und da drüben wohnt die liebe Tante Johanna!« Die ganzen Tage vor ihrer Fahrt an den Chiemsee hatte Lisbeth geweint und getobt und schreckliche Angst gehabt; vor dieser Tante Johanna, die sie kaum kannte, vor diesem blöden Dorf und dem blöden See. Sie wollte da nicht hin. Sie wollte in München bleiben, bei Papa und der Oma Hedwig im Haus in Harlaching ganz nahe des Tierparks Hellabrunn, bei ihren Freundinnen in der Pechdellerstraße und so nahe wie möglich bei der Mama am Ostfriedhof. Doch es war nicht möglich gewesen. Papa war beruflich viel auf Reisen, und Oma Hedwig war viel zu alt, um sich ständig um eine lebhafte Sechsjährige zu kümmern.

Und obwohl Lisbeth sich anfangs so sehr gewehrt hatte gegen alles, war innerhalb kurzer Zeit die Tante Johanna ihre geliebte Hannitantl, der kleine Ort am See ihr Zuhause und der Chiemsee ihr See geworden.

Lisbeth sprang aus dem Auto.

»Schau nur, Joe. Von hier aus sieht man den ganzen See! Da vorn die Herreninsel mit dem Schloss vom verrückten Ludwig, dahinter die Fraueninsel – na ja, die ahnt man nur – und den ganzen Weitsee bis nach Chieming hinüber. Weißt du, Joe, dass der Chiemsee auch das Bayerische Meer genannt wird? Er ist der größte See Bayerns und am Ende der Würm-Kaltzeit vor ungefähr 10.000 Jahren entstanden. Aus der Ausschürfung eines Gletschers! Ich kann’s gar nicht glauben, dass du noch nie hier warst!«

Joe steckte sich genüsslich eines seiner geliebten Zigarillos an und gab zu bedenken, dass er ja aus dem tiefsten Niederbayern stammte und als Kind und Jugendlicher eigentlich nie weiter als bis nach Altötting gekommen war.

»Einmal war ein Betriebsausflug an den Chiemsee geplant«, erinnerte er sich. »Doch der ist dann wegen Starkregen abgesagt worden.«

Joe, ein Jahr älter als Lisbeth, war seit knapp zwei Jahren in Pension und mehr als 40 Jahre als Kriminalbeamter tätig gewesen, davon über 25 Jahre bei der Mordkommission in der berühmten Ettstraße, dem Münchner Polizeipräsidium.

Vor zwei Jahren hatten sich Lisbeth und Joe auf dem Münchner Beamtenball kennengelernt. Beide waren sie sehr unwillig und nur dem sie dazu drängenden Freundeskreis zuliebe hingegangen. Doch schon um Mitternacht hatten sie mehr als ein Dutzendmal miteinander getanzt, und beiden war schnell klar geworden, dass die Entscheidung für den Beamtenball richtungsweisend für ihr kommendes Leben gewesen war. Seitdem waren sie, die Witwe Lisbeth Heller, 66, pensionierte Gymnasiallehrerin für Deutsch und Französisch, und Joe, eigentlich Josef Kotteder, seit Jahrzehnten geschieden, ein Paar. Ein jeder von ihnen hatte seine eigene Wohnung behalten, was sie aber nicht daran hinderte, etliche Tage und Nächte der Woche gemeinsam zu verbringen und eben auch, so wie es im Moment der Fall war, einen Urlaub miteinander zu genießen.

Lisbeth musterte ihren Joe von der Seite, wie er da sein Zigarillo paffend vor dem zauberhaften Chiemseepanorama stand, und spürte ein starkes Glücksgefühl in sich aufsteigen. Da waren sie nun beide vereint, der geliebte neue Mann ihres Lebens und der seit Langem ebenso geliebte uralte See.

»Wie weit haben wir noch? Ich bekomme langsam Hunger«, meldete sich Joe in seiner oft recht direkten, unverblümten Art. Doch auch diese liebte sie an ihm, wusste sie doch auch sehr genau um seine anderen Seiten, seine so aufmerksame, zugewandte Art, seine Fähigkeit zuzuhören, seine romantische Ader und seine Zärtlichkeit und Leidenschaft. Niemals hätte sie nach Werners Tod vor sieben Jahren gedacht, dass so etwas noch einmal in ihrem Leben passieren würde.

»In zehn Minuten sind wir in Prien unten, da können wir zu Mittag essen, und dann fahren wir zur Ferienwohnung«, schlug Lisbeth vor.

Schon vor Monaten hatte sie im Netz die Ferienwohnung Seeblick in dem kleinen Ort in der Nähe von Prien angemietet und dort angekündigt, dass sie am frühen Nachmittag ankommen würden. Die Wohnung war mit allen Schikanen wie einer luxuriös ausgestatteten Küche, einer Schlafgalerie und einem offenen Kamin sowie mit einem bezaubernden Blick auf den See angepriesen worden, und Lisbeth, die sich in dem kleinen Ort ihrer Kinderzeit ja noch recht gut auskannte, glaubte auch zu wissen, wo sie lag. Sie hatte eine schwache Erinnerung an ein großes Haus in einem noch größeren Garten, in dem sie als Kind ein paarmal gespielt hatte. Irgendwie kamen ihr auch die Semmeln, die mit den berühmten Chiemseerenken belegt waren und die ihr als Kind gar nicht so besonders geschmeckt hatten, in den Sinn; doch diese Erinnerung war sehr verschwommen und unklar, und es fiel ihr schwer, sie irgendwo einzuordnen.

»Wann besuchen wir die Tante?«, wollte Joe nach dem Essen wissen.

Lisbeth lachte.

»Morgen Nachmittag ab 17 Uhr hat sie Zeit, vorher geht nichts! Vormittags geht sie zum Bogenschießen auf die Klosterwiese und mittags hat sie ihr wöchentliches WG-Treffen.«

Tante Johanna, die Hannitantl, mittlerweile 86, lebte seit einigen Jahren in einer Wohngemeinschaft für Senioren auf der Fraueninsel. Ein idyllisches, etwas in die Jahre gekommenes Anwesen beherbergte dort zwischen vier und sechs Senioren, die alle ziemlich autark und selbstständig lebten, sich jedoch eine große Küche und einen Garten sowie eine Haushaltshilfe und eine Pflegekraft teilten. In der schrecklichen Zeit nach Werners Tod, als tiefe Verzweiflung und maßlose Trauer ihre stetigen Begleiter gewesen waren, hatte Lisbeth daran gedacht, nach ihrer Pensionierung zu Tante Johanna in eben diese Seniorenwohngemeinschaft zu ziehen. Doch dann war Joe gekommen, und Seniorendasein und Altersruhesitz waren vollkommen aus ihren Gedanken entschwunden. Es war schön, so wie es war, und zuweilen verspürte Lisbeth tatsächlich wieder die Leichtigkeit und Unbekümmertheit ihrer Jugendzeit in sich.

Therese Bergwieser glättete noch die frisch bezogenen Bettdecken im Schlafzimmer des Seeblick, prüfte, ob noch irgendwo ein Staubkörnchen zu entdecken war, und stellte schließlich den kleinen selbst gebackenen Gugelhupf, den alle Gäste ihrer Ferienwohnung zur Begrüßung bekamen, auf den Küchentisch. Beim Gedanken an die für heute angekündigten Gäste hatte sie zwiespältige Gefühle. Die Wohnung war von einer Lisbeth Heller und einem Josef Kotteder gebucht worden, und wie fast jedes Mal bei einer Reservierung informierte sie sich im Netz über die neuen Gäste. Das war ja schließlich ihr gutes Recht nachzuschauen, wen sie sich da ins Haus holte. Über Josef Kotteder fand sie nur ein paar ältere Einträge, darunter den Bericht über seine Verabschiedung in den Ruhestand nach mehr als 40 Jahren als Kriminalbeamter im Polizeipräsidium München. Beamter, dachte sich Therese Bergwieser zufrieden, da muss ich mir keine Sorgen um die Bezahlung machen. Einfach aus Neugierde schaute sie dann auch noch nach dieser Lisbeth Heller und stellte fest, dass ihr diese, die sehr rührig im Netz unterwegs war, irgendwie bekannt vorkam. Bei einem älteren Eintrag im Schulportal eines Münchner Gymnasiums dämmerte es ihr. Lisbeth Heller, geboren in München, im Chiemgau aufgewachsen, hatte in München und Avignon studiert, war Jahrzehnte als Oberstudienrätin für Deutsch und Französisch an diesem Gymnasium tätig. Mittlerweile müsste sie pensioniert sein, überlegte Therese, und plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Das war doch die Lisi, die fast ums Eck hier bei ihrer Tante aufgewachsen war. Sie waren in der Volksschule in der gleichen Klasse gewesen, und diese Lisi war Therese immer etwas unheimlich gewesen, weil sie sich alles so gut und so schnell merken konnte und ihre Hausaufgaben schon erledigt hatte, wenn andere gerade erst damit begannen. Ein paar Mal war die Lisi zum Spielen hier im Garten gewesen, zusammen mit dem Maxl und der Anni. Während der Maxl immer noch ganz in der Nähe wohnte, war die Anni vor einigen Jahren bereits verstorben. Therese hatte die Lisi später vollkommen aus den Augen verloren; sie war aufs Gymnasium und dann nach München zum Studium gegangen. Therese hatte sie nie besonders vermisst, denn die Lisi war immer so ein besserwisserisches Gscheithaferl gewesen, das immer das große Wort führen wollte. Aber an eines konnte sich Therese Bergwieser noch genau erinnern. Eine Zeit lang war diese so supergescheite Lisi, die immer so extrem kurze Röcke trug, der Schwarm von Florian Schlögel, dem Sohn des reichen Antiquitätengeschäftsbesitzers in Prien gewesen. Der heute noch wohlhabende Unternehmer und Baulöwe Florian Schlögel, der nun ein Riesenprojekt auf ihrem Nachbargrundstück plante, das ihr höchstwahrscheinlich den Hals brechen würde, und die Lisi waren miteinander auf dem Gymnasium gewesen. Auf dem Gymnasium, das Therese nie von innen kennengelernt hatte, weil ihr Vater trotz ihrer guten Noten der Ansicht gewesen war, dass es das für ein Mädchen wirklich nicht brauche. Was hatte sie die beiden beneidet, denn da hatten sich wirklich Reichtum und Klugheit gefunden, und Therese wäre gern an der Stelle der Lisi gewesen. Letztendlich war dann doch nichts geworden aus der Lisi und dem Florian, doch wieder einmal, wie so häufig in diesen letzten so schlechten Jahren, stiegen Neid und Missgunst in Therese Bergwieser auf.

Und nun kam sie wieder daher, diese gescheite Lisi mit einem gut betuchten Beamten an ihrer Seite, und hatte wohl selbst auch eine ansehnliche Pension. Die hatten bestimmt keine Sorgen und es im Gegensatz zu ihr zu was gebracht im Leben! Es war alles so ungerecht!

Lisbeth und Joe tranken noch einen Espresso nach dem Essen, und Joe rauchte sein nächstes Zigarillo draußen auf dem Priener Marktplatz. Lisbeth wunderte sich immer wieder, dass sie so gut mit diesem Laster zurechtkam, bei Werner hätte sie sich schrecklich darüber aufgeregt. Doch diese Zigarillos in Joes schmalem kantigen Gesicht, die elegante Geste, mit der er sie mit dem schon in die Jahre gekommenen silbernen Feuerzeug anzündete, das alles gefiel ihr ungemein. Für einen Moment spiegelten sie sich im Schaufenster des alteingesessenen Trachtenmodengeschäfts, und Lisbeth war ziemlich zufrieden mit dem, was sie dort sah. Ein groß gewachsener schlanker Mann mit vollem grauem Haar, das er etwas zu lang trug und das sich um seinen Hemdkragen lockte, der seinen Arm um eine wesentlich kleinere, ein wenig zur Üppigkeit neigende Frau mit aparter silberner Kurzhaarfigur und markanter rot umrandeter Brille gelegt hatte. Im Schaufenster des Geschäfts lag ein sehr edel wirkendes dunkelrotes Seidenhalstuch mit langen silbernen Fransen, und Lisbeth stellte fest, dass es genau den gleichen Rotton wie ihre Brille aufwies. Fünf Minuten später war das Tuch gekauft und dekorativ um Lisbeths Hals geschlungen. Auf der Fahrt zur nahe gelegenen Ferienwohnung hielten sie noch kurz unten an der Schiffsanlegestelle, und es war tatsächlich der alte Raddampfer Ludwig Fessler, der dort gerade Passagiere aufnahm und mit dem Lisbeth als Kind oft unterwegs gewesen war.

»Der ist aus den 20er-Jahren, also wesentlich älter als wir«, erklärte sie Joe. »Die nächsten Tage fahren wir mit ihm mal hinüber nach Herrenchiemsee.«

Joe wusste genau über den Verfassungskonvent von 1948 Bescheid, bei dem auf der Insel Herrenchiemsee die erste deutsche Verfassung nach dem Krieg ausgearbeitet worden war. Von Schloss Herrenchiemsee war ihm nur bekannt, dass der verrückte König Ludwig II., der bayerische »Märchenkönig«, während die bayerische Bevölkerung teilweise großen Hunger litt, Unsummen von Steuergeldern in dessen protzigen Bau investiert hatte.

Für zehn Minuten saßen sie noch am Seeufer, ein paar Möwen steuerten kreischend auf das als Nächstes anlegende Schiff zu, um es bei seiner Abfahrt dann unter großem Getöse wieder ein Stück weit hinaus auf den See zu begleiten. Es roch nach Seetang, Dampfermotorenöl und dem Puderzucker des Waffelverkäufers am Seeufer. Der See lag glatt und blau vor ihnen, und die milde Herbstsonne wärmte ihre Glieder.

Kurze Zeit später erreichten sie das Haus Seeblick, und Lisbeth wusste sofort, dass sie es von früher kannte. Natürlich war das damals in den 60er-Jahren schon etwas heruntergekommene Haus mittlerweile von Grund auf renoviert und mit schlichten Holzbalkonen, die dicht mit Geranien bepflanzt waren, ausgestattet worden. Der große Garten war im Gegensatz zu damals äußerst gepflegt, doch an die kleine nackte Steinputte am Rande des Gartenwegs, über deren winziges »Zipferl« sie als Kinder immer gekichert hatten, konnte Lisbeth sich genauestens erinnern.

Eine Frau etwa in ihrem Alter in einem schlichten, doch äußerst gepflegt und teuer wirkenden Dirndl, die vollen Haare zu einer Zopfkrone hochgesteckt, kam ihnen entgegen. Im Gegensatz zu ihrer sonstigen Erscheinung wirkte ihr Gesicht fahl und zerquält, so als wäre sie krank gewesen oder von starken Sorgen geplagt.

»Servus, Lisi«, sagte die Frau zu Lisbeth, streckte ihr aber keine Hand zur Begrüßung entgegen. »Ich hab a bissl gegoogelt, dann hab ich auch schon gewusst, dass du das bist.«

Lisbeth spürte, wie ihr heiß wurde. Nichts machte sie unsicherer, als Menschen zu begegnen, die sie offenbar kannten, bei denen sie selbst aber beim besten Willen nicht wusste, wohin mit ihnen.

»Ich bin d’ Buchner Theres«, sagte die Frau ohne den Hauch eines Lächelns im Gesicht. »Volksschule Prien, ich bin zwei Reihen hinter dir g’sessn, und a paarmal warst zum Spielen bei uns«, und sie deutete etwas unbestimmt hinter sich.

Lisbeth fiel es wie Schuppen von den Augen.

»Theres«, rief sie. »D’ Fischertheres; freilich, ich war immer mit der Anni und mit dem Maxl bei euch, stimmt’s?«, und spontan trat sie auf die Frau zu, um sie zu umarmen. Therese jedoch wich rasch einen kleinen Schritt zurück, und statt eines engeren Körperkontakts nahm sie Lisbeth ihre Reisetasche aus der Hand und wandte sich Richtung Eingangstür. In dieser war mittlerweile ein dunkelhaariger etwas gebeugter Mann in Jogginghose aufgetaucht, der leicht missmutig nickte und einen Gruß murmelte.

»Mein Mann Kurt«, stellte ihn Therese kurz angebunden und ohne weitere Erklärung vor. Der Kurt grummelte etwas Unverständliches und verschwand sehr rasch wieder im Inneren des Hauses.

Lisbeth sah plötzlich die sieben- oder achtjährige Therese mit den langen dicken Zöpfen vor sich, die laut kreischend und lachend auf einer Schaukel hinten im Garten wild hin und her schwang. Zirkus hatten sie damals gespielt. Der Maxl war der Zirkusdirektor, die Anni die Kunstreiterin und die Therese die Akrobatin gewesen. Was sie, Lisbeth, in dieser Manege verkörpert hatte, war im Dunkel der Vergangenheit entschwunden.

Therese Bergwieser, geborene Buchner, führte ihnen äußerst sachlich und professionell die Wohnung vor, und mit den knappen Worten »Frühstückskörberl kommt morgen um 8 Uhr«, war sie auch schon verschwunden.

Lisbeth setzte sich an den wunderbar abgeschliffenen alten Holztisch in der Küche und sah Joe draußen auf dem großen Balkon rauchend den Seeblick genießen. Es war alles perfekt hier, und trotzdem fühlte sie sich nicht recht wohl. Was war nur los mit dieser ehemaligen Schulfreundin? Warum war diese so kurz angebunden, ja geradezu abweisend gewesen? Das musste sie morgen gleich der Hannitantl berichten; gut möglich, dass ihr die immer bestens informierte Tante ein wenig mehr über die Bergwiesers erzählen konnte.

»Die werden schon noch warm«, meinte Joe, als er vom Balkon wieder hereinkam.

»Du musst mal schauen, da wohnt ein sehr zutrauliches Eichkatzerl in dem alten Baum vor dem Balkon. Der allerdings versperrt ein gutes Stück vom Seeblick. Aber das Viecherl trainiere ich mir noch, so lange wir hier sind.«

Und so saßen sie eine Stunde später bei einer Tasse Kaffee auf dem Balkon, stellten fest, dass es fast noch sommerlich warm war, und lauschten dem Rauschen des alten Ahorns, in dem das Eichkatzerl eine nahezu perfekte Sprung- und Turnvorstellung ablieferte. Die Bergwiesers waren jedenfalls für den Moment vergessen.

Am Abend lagen sie im Bett mit der so typischen oberbayerisch klein karierten weiß-blauen Bettwäsche. Lisbeths Kopf lag an Joes Schulter, und ihr linkes Bein umschlang liebevoll sein rechtes.

»Wenn ich denke, dass ich vor fast 60 Jahren hier, hier genau an diesem Ort herumgesprungen bin«, meinte Lisbeth nachdenklich.

»An das Innere des Hauses kann ich mich kaum erinnern, nur an eine alte Küche, in der die Großmutter, oder war’s eine alte Tante, ständig Fisch einsalzte. Der Fischgeruch war im ganzen Haus, und mir hat’s als Kind immer ein wenig gegraust davor. Auch die Semmeln mit den Chiemseerenken, die uns immer angeboten wurden, haben mir nicht geschmeckt. Der Maxl hat dann immer den Rest gegessen.«

Thereses Vater war der Buchnerfischer gewesen, und die ganze Familie Buchner hatte mit der Fischerei zu tun. Lisbeth konnte sich erinnern, dass der Buchnerfischer manchmal am Nachmittag auf der wackligen Holzbank vor seinem Räucherhäusl gelegen und geschnarcht hatte.

»Um viere in der Früh steht er immer auf, mein Papa«, hatte Therese dann stolz erklärt.

Lisbeth konnte sich genau erinnern, dass Tante Johanna seinerzeit dem gut aussehenden Fischer Florian aus Chieming, der ihr heftige Avancen gemacht hatte, einen eindeutigen Korb gegeben hatte.

»Der fischlt immer, auch wenn er sich noch so sehr wäscht«, hatte sie erklärt. »So was kann ich nicht in meinem Bett brauchen.«

Tante Johanna war, nachdem sie ihre einzige und große Liebe durch einen Motorradunfall in den frühen 50er-Jahren verloren hatte, zur überzeugten Junggesellin geworden. Das war in den damaligen Zeiten nicht einfach und wurde äußerst misstrauisch beäugt.

»Das ist mir so was von wurscht«, hatte die Hannitantl gemeint und das Leben genossen. Mal mit einem Lateinlehrer des Traunsteiner Gymnasiums, dann mit einem Rosenheimer Zahnarzt, und auch ein Radrennfahrer von irgendwoher war einige Zeit im Spiel gewesen. Doch nie hatte Lisbeth das Gefühl gehabt, dass diese Herren wichtiger als sie waren; für die Hannitantl hatte immer sie an erster Stelle gestanden.

Morgen wollte sie Joe das Haus zeigen, in dem sie mit der Tante und der schrulligen Haushälterin Greti gelebt hatte. Ein uraltes Bauernhaus aus dem 17. Jahrhundert, das sich ein Münchner Künstler behutsam umgebaut und dann kaum mehr bewohnt hatte. Seine Witwe, der das ganze Gemäuer zu alt und zu unbequem war, hatte es dann an die Tante verkauft. Es geschah noch manchmal, dass Lisbeth von ihrem Kindheitszuhause träumte, und alles stand ihr dann klar und deutlich vor Augen. Die große alte Küche im Erdgeschoss mit dem riesigen Holzherd und dem Küchenbüfett mit den Porzellanschubern für Zucker, Salz, Mehl und Reis. Am großen Küchentisch mit den vielen Kerben hatte sie ihre Hausaufgaben gemacht, und meistens war ihr Tante Johanna gegenübergesessen und hatte gelesen. Den Chiemgau-Anzeiger, die Süddeutsche Zeitung oder einen dicken Schmöker, vorzugsweise »Herz-Schmerz oder fremde Länder«. Am Herd stand oft grummelnd und grantelnd Greti in immer der gleichen geblümten Kittelschürze und kochte. Aus der Düsternis der niedrigen Küche, die nur ein kleines Fenster besaß, war Lisbeth dann durch den großen Ern, in dem immer ein heilloses Durcheinander aus Schuhen, Taschen und rasch hingeworfenen Kleidungsstücken herrschte, hinaus in den Garten gelaufen. Zwei uralte, knorrige Zwetschgen- und drei Apfelbäume, die kaum mehr Früchte trugen, standen dort, und in einem der Apfelbäume hatte Lisbeth ihr windschiefes Baumhaus, von dem aus man zum vielleicht 100 Meter entfernten See blicken konnte. Dort war der kleine Badesteg, der zum Haus gehörte und den man auf einem schilfgesäumten schmalen Weg erreichte; dort konnte man in der Sonne braten, die Beine ins Wasser baumeln lassen oder über die wacklige Leiter in den See steigen.

»Das Wasser«, erzählte Lisbeth ihrem Joe verträumt und schon ein wenig schlaftrunken und verlagerte ihr Bein ein wenig höher hinauf zu seinem behaarten Männerbauch, »das Wasser war jedes Mal eine Überraschung, jedes Mal anders und neu. Sanft und weich, prickelnd kalt und eisig, manchmal aber auch fast so warm wie die Luft an der Oberfläche und etwas tiefer dann doch erstaunlich kühl. An den Seerosen vorbei bin ich hinausgeschwommen, und nach einigen Zügen kam dann immer diese kalte Strömung und ich konnte an der Schilfinsel vorbei hinüber nach Schafwaschen und zum Seehof schauen. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich schwimmen gelernt habe … ich glaube, ich konnte es schon immer.«

Joes Augen waren geschlossen, und seine Atemzüge gingen regelmäßig. Hatte er das mit dem Schwimmen und dem Wasser noch mitbekommen? Lisbeth küsste ihn sanft auf die Schulter, kuschelte sich unter ihr Federbett, und bevor der Schlaf ganz zu ihr kam, sah sie noch einmal die Seerosen mit ihren zarten Blüten vor sich. Der berühmte französische Maler Monet hatte doch so einen Garten mit einem riesigen Seerosenteich besessen und diesen immer und immer wieder gemalt?

2

Der nächste Morgen war sonnig, klar, aber doch schon etwas herbstlich kühl. Joe machte irgendwelche seltsamen Dehnübungen auf dem Balkon und wartete auf sein Eichkatzerl; der Kaffee gluckerte in der Maschine.

»Es ist 8 Uhr vorbei, ich schau mal nach dem Frühstückskörberl«, rief Lisbeth. Doch an der vereinbarten Stelle im Treppenhaus war noch kein Frühstückskörbchen zu sehen. Noch vor ein paar Jahren, in ihrer Zeit als Oberstudienrätin, die immer sehr viel Wert auf Ordnung und Pünktlichkeit gelegt hatte, hätte Lisbeth sich nun schon geärgert. Doch mittlerweile hatte sie sich eine nahezu fröhliche Gelassenheit zugelegt. Auf eine halbe Stunde hin oder her kam es doch jetzt nicht mehr an!

Als das Frühstückskörbchen um 8.30 Uhr immer noch nicht geliefert war, beschlossen sie nachzusehen. Auf ihr Klopfen an der Bergwieserschen Wohnungstür öffnete niemand, und trotzdem hatte Lisbeth das seltsame Gefühl, dass da jemand in der Wohnung war. Sie gingen hinaus in den Garten, und erst jetzt stellte Lisbeth fest, dass an dem alten Ahorn, genau wie zu ihren Kinderzeiten, immer noch eine Schaukel hing. Ganz gemächlich und leise bewegte sie sich im frischen Morgenwind hin und her. »Therese«, rief Lisbeth mehrmals, doch niemand war zu sehen oder antwortete. Sie gingen weiter in den zum See abfallenden Garten hinein, , passierten ein paar ordentliche Gemüsebeete und eine romantische Bank mit Rosenhecke. Sicher für die Feriengäste, dachte Lisbeth, die sich das spröde Ehepaar Bergwieser beim besten Willen nicht darauf vorstellen konnte. Sie erreichten das Seeufer, an dem zwei morsche Kähne lagen, die eindeutig schon bessere Zeiten gesehen hatten, und gingen vorbei an einem Berg von unordentlich aufeinandergestapelten Netzen, Reusen, Körben und anderem Fischereigerät auf das kleine Räucherhaus zu, vor dem noch die Bank stand, auf der der Buchnerfischer seinerzeit immer geschnarcht hatte. Plötzlich nahm Lisbeth in Joe, der dicht neben ihr stand, eine deutliche starke Anspannung wahr. Rasch trat er vor sie zum Eingang der Hütte.

»Bleib da stehen«, sagte er mit einer strengen rauen Stimme, die sie nicht an ihm kannte, und wollte sie festhalten. Doch es war zu spät.

Gleich im Eingang der Hütte lag in seltsam verdrehter Haltung Therese Bergwieser. Während ihr Kopf und ihr Oberkörper dem Betrachter direkt zugewandt waren und ihre offenen Augen unter einer großen blutigen Stirnwunde Lisbeth verwundert anstarrten, waren ihr Unterleib und ihre Beine zur Seite gedreht. Ihr Dirndlrock – sie trug das gleiche Kleid wie am gestrigen Nachmittag – war etwas hochgerutscht und zeigte für ihr Alter noch sehr schlanke und makellose Beine.

Lisbeth schrie auf – ein merkwürdig dumpfer heiserer Schrei – der nicht aus ihr zu kommen schien und sank vor ihrer Schulfreundin auf die Knie. Sicher war Therese unglücklich gestürzt, man musste sofort einen Arzt rufen.

»Therese«, rief sie und streckte die Hand nach ihr aus. Da zog Joe sie vehement und, wie es ihr erschien, nahezu brutal zurück.

»Lass«, sagte er mit der immer noch so strengen unbekannten Stimme, »da ist nichts mehr zu machen. Sie ist tot, Lisbeth!«

Die nächsten Stunden waren wie ein Film; wie einer dieser schlechten Krimis im Fernsehen, die man kopfschüttelnd und skeptisch betrachtet und sich fragt, wie nur so viel Durcheinander, Unsinn und Ungereimtheit auf einmal hatte entstehen können.

Erst als Lisbeth etwas später auf ihrem Balkon vor einer Tasse Tee saß, die ihr die nette Nachbarin Irmi Dobler gebracht hatte, ergriff die Wirklichkeit allmählich wieder von ihr Besitz. Es war kein schlechter Film. Dort unten im gepflegten Garten der Bergwiesers wimmelte es von Polizei und Spurensicherern, rote Absperrbänder waren kreuz und quer durch die Wiese und vor dem Räucherhäusl gespannt, und gerade trugen zwei Männer in dunklen Anzügen vorsichtig einen Zinksarg an der romantischen Rosenbank vorbei. Inmitten all dieses doch irgendwie geordneten Chaos stand Joe mit einem kräftigen Mann mit Vollbart, der mit seiner Kniebundhose und seinem karierten Hemd ein wenig so aussah, als würde er gerade zu einer Wanderung aufbrechen. Der Kniebundhosenträger hatte sich als Ottfried Kerber von der Mordkommission Rosenheim vorgestellt.

»Griaß Eana, gnä’ Frau«, hatte er Lisbeth mit ein wenig aufgesetzter Höflichkeit und etwas unbeholfen begrüßt und Lisbeths Hand geschüttelt, so als würden sie sich gerade zufällig auf dem Priener Marktplatz oder bei einem sonntäglichen Weißwurstfrühstück begegnen.

»I bin der Ottl«, hatte er sich Joe vorgestellt und schien schon darüber informiert zu sein, dass er da einen Mann aus seinem Fachgebiet vor sich hatte. Ottl Kerber und Joe Kotteder jedenfalls machten nun bereits den Eindruck, als wären sie alte Kollegen und würden sich schon sehr lange und sehr gut kennen. Lisbeth schlürfte den Ingwertee der Nachbarin und stellte fest, dass sie nun nach zwei Jahren Bekanntschaft doch noch eine neue Seite an ihrem Joe kennenlernen durfte, von der sie noch nicht recht wusste, ob diese ihr wirklich zusagte. Dass Joe sofort nach Entdecken der Toten sein Erschrecken so schnell im Griff und so professionell gehandelt hatte, bewunderte sie an ihm, doch seit Eintreffen dieses Kerber hatte sich etwas an Joe verändert. Sie wagte es sich zuerst noch nicht einzugestehen, doch da waren ein seltsames Leuchten in seinen Augen und eine Spannung in seinem Körper wie bei einem Beute witternden Raubtier. Er hat Blut geleckt, erkannte Lisbeth und ahnte, dass dies nun nicht mehr der Urlaub werden würde, den sie sich erträumt hatte.

Unten auf der Bergwieserschen Terrasse saß neben einem Polizisten und einem vorsorglich herbeigerufenen Notarzt Kurt Bergwieser. Der eh schon gebeugte Mann war vollkommen in sich zusammengesunken und stieß seltsame Laute aus, die zwischen Schluchzen und Würgen angesiedelt waren. Kurz nach Lisbeths Schreien vor dem Räucherhäusl war Kurt Bergwieser aufgetaucht, im Schlafanzug, leicht schwankend und mit einer sehr eindeutigen Alkoholfahne. Seine Reaktion auf seine tot daliegende Gattin war bemerkenswert gewesen.

»Des derf ja ned wahr sei! Wos isn des jetzad wieda für a Scheiß?«, hatte er geflucht, so als hätte er einen größeren Defekt an der Fischereiausrüstung entdeckt.

Dann war er zum See gewankt, hatte sich lautstark ins Wasser erbrochen und sich dann auf die alte Bank vor dem Häusl gesetzt, so als warte er darauf, dass nun gleich seine Frau auftauchen und ihm eine Tasse Kaffee kredenzen würde.

Von Irmi Dobler hatte Lisbeth erfahren, dass Kurt Bergwieser nach der Heirat mit Therese in die Buchnerfischerei mit eingestiegen und diese dann nach dem Tod des alten Buchner übernommen hatte. Die Geschäfte, vor allem mit den geräucherten Chiemseerenken, waren glänzend gelaufen. Kurt hatte mit einem Angestellten den Fang und die Räucherei bewerkstelligt, und Therese hatte den Verkauf der Fische und der Renkenbrotzeiten von einem winzigen Laden aus betrieben, den sie sich im Eingangsbereich der Wohnung eingerichtet hatte. Wanderer, Badegäste und Radfahrer hatten angehalten und sich an Stehtischen im Vorgarten rings um die kleine Steinputte mit diesen typischen Chiemseeköstlichkeiten versorgt.

»Ois war guat«, berichtete Irmi Dobler. »Aba dann is vor sechs Joa der Unfall passiert. Ab do is obwärts ganga!«

Eines Morgens, als er gegen 6 Uhr vom See zurückkam, war Kurt Bergwieser beim Aussteigen aus dem Kahn ganz unglücklich über einen Berg sehr nachlässig und an falscher Stelle platzierter Reusen gestürzt. Da sein Mitarbeiter in dieser Woche in Urlaub war, konnte niemand anderes als Therese für das Missgeschick verantwortlich sein. Dass er selbst womöglich unter Einfluss von zu vielen Bieren am Abend zuvor daran Schuld hatte, kam ihm nicht in den Sinn. Jedenfalls zog er sich eine sehr komplizierte Bein- und Wirbelsäulenverletzung zu, lag acht Wochen im Krankenhaus und kam danach nie wieder ganz auf die Beine. Nach einem Jahr wurde er für berufsunfähig erklärt, und obwohl Therese und sein Mitarbeiter alles taten, um den Laden am Laufen zu halten, musste ein Jahr später Insolvenz angemeldet werden. Kurt bekam das Angebot, halbtags in der Fischereiverwaltung in Traunstein zu arbeiten, doch nach einem Jahr verlor er nach einer Alkoholfahrt den Führerschein und damit die einzige Möglichkeit, nach Traunstein zu kommen. Während Therese fast 40 Stunden in der Woche in der Trachtenmodenfabrik Kofler Biesen und Schleifchen an Dirndlkleider applizierte, stand bei Kurt das erste Bier schon morgens auf dem Tisch, und der Fernsehapparat lief pausenlos.

»Furchtbar war’s, wenns g’strittn ham«, berichtete Irmi Dobler. »Oamoi hamma sogar d’ Polizei holn müssn! Der Kurt hod d’ Theres voll die Schuld an seim Unfall gebn. Sie hätt ned aufg’räumt am Obnd; sie wär a Hex, die sei Lebn kaputt g’macht hod. Sie wollt ’n ausm Weg ramma, weil s’ an andern hod.«

Lisbeth hatte die Irmi Dobler sofort hinuntergeschickt zu Ottl Kerber und Joe, um das alles zu Protokoll zu geben. Als Kurt Bergwieser die Nachbarin erblickte, begann er zu brüllen, dass dieses Weib doch mit der Hex’ unter einer Decke stecken würde und dass man der doch nichts glauben dürfe.

Lisbeth hatte genug, schloss trotz des milden Wetters alle Fenster und auch die Balkontür und zog sich ins Schlafzimmer zurück. Plötzlich wurde sie von einer bleiernen Müdigkeit befallen und hatte nur noch den Wunsch zu schlafen. Doch kaum lag sie unter der Decke, zogen die Bilder der letzten Stunden wieder und wieder an ihr vorbei. Die offenen Augen der toten Therese, deren hochgerutschter Rock, die Sargträger im Garten und der zuerst so stoisch reagierende, dann schreiende und wütende Kurt Bergwieser.

Ich muss zur Hannitantl und ihr alles genau erzählen, dachte sie; die nimmt mich dann tröstend in den Arm, und wie immer wird auch diesmal nach einem Gespräch mit ihr alles viel klarer und einfacher sein.

Sie musste dann doch eingeschlafen sein. Als sie verschwitzt und mit dem bitteren Geschmack des Ingwer­tees auf der Zunge wieder zu sich kam, saß Joe draußen auf dem Balkon, rauchte und unterhielt sich ganz offensichtlich mit dem Eichkatzerl. Lisbeth setzte sich zu ihm und stellte fest, dass sie ja beide den ganzen Tag noch nichts gegessen hatten.