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An einem gewöhnlichen Sommertag kommt es weltweit zu Massenkarambolagen von unzähligen Autos, in deren Bordelektronik offenbar gezielt eingegriffen worden ist. Die Zahl der Toten und Verletzten ist enorm. Federal Agent Dominic Verrazzano wird nicht nur Zeuge der Ereignisse - bald wird er herausfinden, dass hinter der Attacke eine finstere Verschwörung steckt.
Auf der Suche nach den Hackern stößt Verrazzano auf Programmierer, die alle eins gemeinsam haben: Sie wurden brutal ermordet und skalpiert. Was soll das Entfernen der Kopfhaut bedeuten? Die Spur führt Verrazzano nach Europa, nach Deutschland, nach Rüsselsheim. Und zugleich ins Zentrum eines gefährlichen Handelskriegs, ins dunkle Herz Amerikas. Auf Mallorca schließlich kommt es zum furiosen Showdown… Rasant und spannend, atemlos und mit faszinierenden Einblicken in die Welt der Hacker bietet Matt Rees in seinem neuen Thriller beste Unterhaltung.
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Matt Rees
CHINASTRIKE
Thriller
Aus dem Englischenvon Werner Löcher-Lawrence
C.H.Beck
An einem gewöhnlichen Sommermorgen kommt es weltweit zu Massenkarambolagen von unzähligen Auto, in deren Bordelektronik offenbar gezielt eingegriffen worden ist. Die Zahl der Toten und Verletzten ist enorm, Federal Agent Dominic Verrazzano wird nicht nur Zeuge der Ereignisse, bald stellt sich außerdem heraus, dass hinter der Attacke ein finsterer Verschwöungsplan steckt, in den auch seine alten Gegenspieler aus der «Damaskus Connection» verstrickt sind. Auf der Suche nach den Hackern stößt Verrazzano auf Programmierer, die allesamt eins verbindet: Sie werden brutal ermordet und ihre Kopfhaut wird ihnen entfernt. Was soll das bedeuten? Die Spur führt Verrazzano nach Europa, sogar nach Deutschland und Rüsselsheim. Und zugleich ins Zentrum eines gefährlichen Handelskriegs und ins dunkle Herz Amerikas, auch wenn der Showdown auf Mallorca erfolgt …
Rasant und spannend, atemlos und auf der Höhe nicht nur der technischen Möglichkeiten, sondern auch globaler Machtkämpfe liefert Matt Rees in seinem zweiten Verrazzano-Thriller beste Unterhaltung.
Matt Rees, 1967 in South Wales geboren, war Jerusalemer Bürochef der Time und schrieb u.a. vier Omar-Jussuf-Krimis, die auf Deutsch bei C. H.Beck und Heyne erschienen sind und für die er u.a. den John Creasey Dagger der CWA erhielt. Bei C. H.Beck erschien außerdem u.a. der Krimi «Mozarts letzte Arie». Matt Rees lebt und arbeitet in Luxemburg. «Die Damaskus-Connection», der erste Band seiner neuen Thrillerreihe um den ICE-Agenten Domibic Verrazzano, erschien 2018 bei C. H.Beck.
Werner Löcher-Lawrence arbeitete etwa zwanzig Jahre als Lektor in verschiedenen Verlagen. Heute ist er als literarischer Agent und Übersetzer tätig. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören u.a. John Boyne, Anthony Doerr, Patricia Duncker, Nathan Englander, Hilary Mantel, Hisham Matar, Louis Sachar und Colin Thubron.
TEIL 1
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
TEIL 2
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
TEIL 3
Kapitel 29
Für Matthew KalmanundHans-Jürgen Jansen und Monika Trapp
Das Hindernis ist der Weg.
Weisheit des Zen
Alle in diesem Roman vorkommenden Namen, Personen, Organisationen, Orte und Ereignisse entspringen entweder der Phantasie des Autors oder werden rein fiktiv verwendet. Jede Art von Ähnlichkeit mit tatsächlichen Geschehnissen, Orten oder Personen, lebend oder tot, ist nicht beabsichtigt und rein zufällig.
Die Dreckskerle feuerten ihn am Ende der Nachtschicht, nachdem er die letzte Palette Papier und Druckerpatronen auf den Lastwagen geladen und ihm in die Nacht hinterhergewinkt hatte. Gibson zog seine Knicks-Jacke an und lief frierend auf den Parkplatz hinaus. Auf dem Hochgleis brachte der A-Train die ersten noch schlaftrunkenen Büromenschen in einen angespannten, neuen Tag voller Tratsch am Wasserspender und schwachsinniger Anrufe von Leuten, die noch irrer waren als sie selbst. Er legte die Hände aufs kalte Dach seines Wagens und stieß mit zusammengekniffenen Lippen ein frustriertes Geheul aus, das zum Kreischen der Subway auf ihren Gleisen hoch über ihm zu passen schien. Die Leute da oben fuhren in einen neuen Tag, doch der kam noch nicht. Gibson ließ sich auf den Fahrersitz seines Darien Focal sinken und versuchte die Tür zuzuknallen. Sie schloss sich fast geräuschlos, als wüsste sie mit dem Druck umzugehen, mit dem er nicht zurechtkam. Er bog aus dem Tor im Maschendrahtzaun auf die Atlantic Avenue und schaltete den Scheibenwischer ein. Es nieselte.
Die Plastikfrische der Fußmatten in seinem Wagen verhöhnte ihn mit dem sauberen Geruch eines gepflegten Lebens, das er nie führen würde. Er hielt an einer roten Ampel. Hätte er diesen Wagen nicht gekauft, wäre er nur halb so am Arsch, jetzt, wo er seinen Job verloren hatte. Er hatte einen Kredit aufgenommen, um ein neues Auto zu kaufen, statt ein gebrauchtes zu nehmen, das er sich leisten konnte. Aber es hatte ein neues sein müssen, weil er es verdiente. Er verdiente es, in einem Auto zu sitzen, das nach Erfolg roch. Nicht so verstaubt wie der alte Saturn, den sein Vater gefahren hatte, als er noch ein Kind gewesen war. Er konnte sich gut daran erinnern. Der makellose Geruch seines neuen Darien war Teil des Bildes, das er von sich hatte. Es zeigte ihn, wie er nach der Arbeit damit heimkehrte, in ein ebenso schönes Haus mit ebenso makellosen, nach frischer Farbe duftenden Zimmern draußen auf Long Island. Wie er durch die Tür trat und seine Frau und ihr neues Kind begrüßte. Ja, so hatte er es sich vorgestellt. Jetzt wusste er, wie es wirklich aussah. Er war am Arsch. Und, ja, das war es, was er verdiente.
Er zog sein Telefon heraus und scrollte sich zur Nummer seiner Frau durch.
«Hey, Arschloch.» Ein Mann in einem Regenmantel schlug auf die Haube seines Darien, breitete die Arme entrüstet aus und starrte ihn an.
Gibson trat auf die Bremse und sah wieder auf sein Telefon. Er war auf den Fußgängerüberweg gerollt. Mach dir nichts vor, sagte er sich. Du kommst nicht voran, nie und nimmer. Wohin dein Auto auch rollt.
Der Mann kam ans Seitenfenster und schlug dagegen. Sein frisch rasiertes Gesicht war in der morgendlichen Kälte rot angelaufen, und der Gürtel seines Regenmantels spannte sich über der Leibesfülle eines Athleten, der inzwischen auf die mittleren Jahre zusteuerte. Gibson war diesen Mist gewohnt. Auf dem Nachhauseweg von der Nachtschicht begegnete man lauter schlecht gelaunten Leuten, die müde und aggressiv unterwegs zur Arbeit waren, und den meisten schien es egal zu sein, ob sie sich mit einem schwarzen Knapp-zwei-Meter-Mann in seinen Zwanzigern anlegten. Dabei sollten sie Angst vor ihm haben. Aber wenn ein New Yorker angepisst war, blieben Vernunft oder Angst außen vor.
Gibson ließ das Fenster herunter. «Es tut mir leid, Sir. Entschuldigen Sie.»
Der Mann hatte den Scheibenrand gepackt und die Knöchel waren weiß, so sehr krallte er sich fest. «Sie hätten mich verdammt noch mal umbringen können.»
Nur, wenn du einer von denen bist, die wegen eines Kratzers gleich verbluten, dachte Gibson. Aber der Mann im Regenmantel sah ganz und gar nicht aus wie ein Bluter, und Gibson war langsamer gerollt, als der Kerl ging. Die Ampel schaltete auf Grün, und halb New York hinter Gibson stieg auf die Hupe. «Ja, Sir. Es tut mir leid.»
Der Mann wich einen Schritt zurück und trat gegen die hintere Tür des Darien. Gibson hörte, wie das Blech nachgab, worauf der Mann eilig in Richtung der Ralph Avenue Station lief. Der Schaden würde Gibson locker zweihundert Dollar kosten, was er normalerweise in zwei Tagen wieder reinverdient hätte – aber seit Ende der Schicht war er ohne Job. Einen Augenblick lang stellte er sich vor, wie er alle auf der Straße umbrachte, doch dann dachte er an Miranda und schloss das Fenster.
Er ging langsam aufs Gas und rief sie über die Freisprechanlage an.
«Hallo, Schatz. Bist du unterwegs?» Sie klang verschlafen, aber er hatte es noch nie erlebt, dass sie noch im Bett lag, wenn er nach Hause kam. Das ließ sie nicht zu. Sie wachte auf, putzte sich die Zähne, duschte und zog sich für die Arbeit an. Kam er durch die Tür, umarmte sie ihn, gab ihm zu essen und brachte ihn ins Bett, bevor sie zum Pioneer-Supermarkt fuhr, wo sie für acht Dollar die Stunde zehn Stunden hinter der Fleischtheke stand.
«Sie haben mich rausgeworfen.» Er sah zu, wie ihn Personenwagen und Lastwagen links und rechts überholten und durch den Verkehr schlüpften. Er fuhr vorsichtig in seinem neuen Wagen.
«Oh, verdammt, Baby.»
«Ich hab nichts falsch gemacht. Sie bauen einfach Personal ab, weißt du.»
«Sicher, Liebling.»
Er lauschte dem Schweigen. Er war ein Mann, und ein Mann sollte eine Lösung haben. Aber er hatte nichts zu sagen. Wie wäre es also damit: «Mach dir keine Sorgen. Ich besorge mir einen neuen Job, und wir schaffen das mit der Anzahlung auf das Haus in Freeport schon.» Ja, wie wäre es damit? Er wusste das Schweigen genauso wenig zu füllen, noch wie er das Haus in Freeport kaufen konnte.
«Wir schaffen das.» Die Laternen gingen aus. Sieh an, es war nicht das Ende der Welt. Es wurde Tag. «Ich glaube schon.»
«Da gibt’s nichts zu glauben. Wir schaffen es. Der kleine Anthony wird nicht in dieser Mietwohnung mit der Kläranlage und dem Flughafen gleich nebenan aufwachsen.»
«Vergiss die Schnellstraße nicht.» Er lächelte.
«Auch nicht neben der. Der Weg führt nach oben. Hey, du hast gar nichts gegen den Namen gesagt. Ich habe ihn den kleinen Anthony genannt, ohne dass du dich beschwert hast.»
«Du kannst ihn Anthony nennen. Das ist okay. Ich gebe nach.»
Sie lachte leise. «Deshawn ist ein Idiotenname. Glaubst du, ich lasse zu, dass du unserem Sohn einen Idiotennamen gibst?»
Er lächelte. «In Ordnung. Ich sage doch, ich gebe nach. Ich mag deinen Namen. Anthony. Ich will auch, dass unser Baby so heißt.»
Er bekam feuchte Augen. Bei jeder Enttäuschung erinnerte sie ihn daran, dass er sie nicht enttäuschte. Er bog nach Süden auf den Rockaway Boulevard. Eine Lufthansa-Maschine startete vom JFK und schien kurzzeitig direkt auf ihn zuzuhalten, bevor sie die Flügel schräg in Richtung Ozean stellte.
«Wir haben noch die Raten für das Auto», sagte er.
«Verkaufe es. Es ist egal. Es ist nur ein Auto.»
«Aber in Freeport …»
«In Freeport gibt es Busse und die Long Island Rail Road. Ich weiß, du magst das Auto, aber wir kommen auch ohne zurecht.»
«Wenn wir es überhaupt nach Freeport schaffen.»
«Wir ziehen nach Freeport.»
Er überquerte den Woodhaven Boulevard. «Weißt du was? Ich verkaufe den Wagen auf der Stelle.»
«Anthony, komm nach Hause und frühstücke erst einmal.»
Er wusste, sie hörte die Übertreibung in seiner Stimme, den brüchigen Enthusiasmus, um seine Verzweiflung zu übertünchen, die nur in einer Katastrophe enden konnte. «Ich fahre zum Händler, in dieser Minute, und lasse ihn da, egal, was sie mir dafür geben.»
«Es ist sechs Uhr morgens. Die haben noch nicht mal auf.»
«Dann warte ich eben, bis sie aufmachen, verkaufe den Wagen und suche mir einen neuen Job. Aber keine Nachtschicht mehr.»
«Komm einfach nach Hause.»
«Geh du zur Arbeit. Ich krieg das wieder hin.»
«Anthony …»
«Ich sagte, geh arbeiten.» Er fuhr zu schnell. Er nahm den Fuß vom Gas. Er gab seiner Stimme einen besänftigenden Ton. «Miranda, Himmel, ich will doch nur …»
«Ist schon okay. Tu, was getan werden muss, Anthony, und tu es auf deine Weise. Ich vertraue dir.»
«Okay. Ich komme später in den Supermarkt.»
«Bis dann.»
Er legte auf und fuhr südlich um die Aqueduct-Rennbahn herum. Mitten im Beton von Queens leuchteten das Gras der Pferderennbahn und die strahlend weißen Begrenzungen zwischen den Tribünen wie ein Teil aus einer anderen Welt. Der Darien war eine einfache Familienkutsche, aber wenn er in ihm saß, war Gibson ein Jockey auf einem geschmeidigen Rassepferd, der um das Rund preschte. Der Wagen kam von einem Händler in Ozone Park, kaum fünf Minuten entfernt. Gibson würde warten und es noch ein, zwei Stunden genießen können, hinter dem Steuer zu sitzen, bevor er sein Schmuckstück wieder abgab.
Er atmete den Neuwagengeruch ein, der sich sowieso nicht mehr lange gehalten hätte. Bald schon würden sie ein Baby haben, und dann würde es hier drin nach Windeln und heruntergefallenen Krümeln riechen. Nun, das hätte ihm auch gefallen.
Die Musikanlage. Die war super. Er schaltete das Radio ein. Ein sonorer Bariton aus dem mittleren Westen dröhnte aus den Lautsprechern und verlas die Nachrichten, als stünde das Ende der Welt bevor. «Außenminister William Kurtz trifft diese Woche in Wien zu einer neuen Gesprächsrunde mit der chinesischen Handelsdelegation zusammen. Kurtz zufolge bringt Beijing die Verhandlungen durch seine überhöhten Forderungen, was die chinesischen Importe in die Vereinigten Staaten anbelangt, an den Rand des Scheiterns.» Der forciert nobel klingende Oststaatenakzent des Außenministers drang durch das Klicken der Fotoapparate um ihn herum. «Wir gehen mit der Absicht in diese Gespräche, eine gute Lösung zu finden, und hoffen, dass die chinesische Delegation ähnliche Absichten hegt. Wir müssen mit Bedacht vorgehen. Mit Drohungen ist nichts gewonnen. Wer droht, um die Oberhand zu gewinnen, kann nie sicher sein, ob er nicht missverstanden wird und ob er nicht irreversible Reaktionen auslöst, die beiden Seiten nur schaden können.» Der Nachrichtensprecher war wieder dran: «Die Verhandlungen sollen bis Anfang Juli beendet sein. Zum nächsten Thema. Der Verkehr von …»
Gibson drückte den Sendersuchlauf auf dem Lenkrad, und aus dem Radio erklang Jazz. Der Riff von Sidewinder folgte zweimal aufeinander, und Lee Morgan begann sein Solo, die Triolen schnell und gerade synkopisch genug, um unwiderstehlich zu sein. Gibson legte den rechten Arm über die Lehne des Beifahrersitzes und streckte sich in seinem schönen Auto aus. Lee Morgan war ein phänomenaler Trompeter gewesen, aber wegen seiner Heroinabhängigkeit jung gestorben. Anthony Gibson hatte seinen Job verloren und gab jetzt sein Auto zurück, aber er war gesund und hatte sein Leben, und in seiner Frau, die er sehr liebte, wuchs ein neues Leben heran. Vielleicht machten es die Leute, die mit der Subway nach Manhattan hineinfuhren, richtig. Es war ein neuer Tag.
Plötzlich sank die Sohle seines rechten Turnschuhs samt Gaspedal bis aufs Bodenblech durch. Das Pedal bot keinen Widerstand mehr, saß da unten fest, komplett durchgetreten. Der Motor heulte auf, und der Darien beschleunigte.
Gibson trat auf die Bremse. Aber auch da kam kein Widerstand, und die Beschleunigung des Autos drückte ihn in den Sitz. Er sah auf den Tacho, er raste mit fast hundert über die kleine Vorstadtstraße.
Vor ihm lag die Zufahrt zum Expressway. Er riss an der Handbremse. Der Wagen kam etwas ins Schlingern, beschleunigte aber weiter. Gibson fluchte und trat erneut auf die Bremse.
Während er auf den Expressway zusteuerte, näherte sich ein blauer Wagen mit hoher Geschwindigkeit von rechts und hupte so laut, dass Gibson das Saxofonsolo im Radio nicht mehr hörte. Der Fahrer wich einem Ryder-Transporter aus und fuhr hinten auf einen Toyota auf.
«Was um alles …?», schrie Gibson. Er konnte nicht sehen, ob auch von Süden jemand kam; anzuhalten, um zu gucken, war unmöglich. Vielleicht schaffte er es über die Zufahrt hinaus und kam im langen Gras dahinter zum Stehen. Aber vielleicht knallte er auch einfach in einen anderen Wagen hinein.
Ein silberner Darien Cayuse raste auf die Kreuzung. Der Fahrer versuchte, nach links auszuweichen, war aber viel zu schnell, sein SUV kippte auf die Seite und rollte gegen den Ryder-Transporter.
«Oh, Scheiße.» Gibson erreichte die Einmündung. Er fuhr hundertsiebzig.
Das Führerhaus eines riesigen Sattelschleppers rollte vor ihn.
Er riss das Steuer nach rechts und schaffte es fast an dem Riesen vorbei. Da kam ein roter Darien Venturan von der anderen Seite dem Sattelschlepper entgegen, so schnell wie ein Jet auf der Startbahn des JFK. Er traf Gibsons Auto genau dort, wo er saß.
Gibson wurde aus seinem Sitz gehoben und spürte, wie das gesamte Universum über ihm zusammenbrach. Trotzdem flog er, landete im langen Gras und überschlug sich mit dem Gefühl, dass sich einzelne Glieder von seinem Körper lösten und abrissen. Als er schließlich dalag, sah er zum Himmel hoch. Der war dunkel und wurde noch dunkler.
Er konnte die Straße nicht sehen, aber er hörte die Unfälle, einen nach dem anderen. Autos, die ineinanderkrachten, sich überschlugen und wie Hamburgerschachteln von der Hand eines jähzornigen Kindes zerdrückt wurden. Die ganze Welt schien ineinanderzurasen.
Ein großer Mann kam zu Gibson gelaufen und kniete sich neben ihn. «Können Sie mich hören, Sir?»
Gibson blinzelte. Es war schwer, etwas zu erkennen, aber er vermochte blaue Augen und einen schwarzen Haarschopf auszumachen, dann sah er eine Pistole in einem Schulterhalfter. «Nicht schießen.» Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
«Ich bin hier, um Ihnen zu helfen, Sir. Wie heißen Sie?»
Ihm fiel sein Name nicht ein. Sein Gehirn schaltete ab. Die einzigen Namen, an die er sich erinnerte … Miranda, wollte er sagen, dann: «Kleiner Anthony.»
«Anthony, ich werde Ihnen helfen. Mein Name ist Dominic Verrazzano. Ich bin ein Federal Agent. Ich hole Hilfe.»
Ein Federal Agent? Was ist mit mir geschehen? Gibson starrte und blinzelte. Was habe ich getan?
Der Agent rief jemanden mit seinem Handy an. Er schrie gegen das Chaos der Massenkarambolage an, gegen das Schreien der Leute, die klagenden Alarmanlagen und zischenden Kühler. «Nicht alle. Es scheinen nur Dariens zu sein. Aber die sind völlig außer Kontrolle. Jeder einzelne, den ich sehen kann. Ich brauche einen Krankenwagen. Ich habe hier einen Mann, der …»
Einen Mann, der so gut wie hinüber ist, dachte Gibson.
«Ich besorge Ihnen einen Krankenwagen, Anthony.» Der Agent beugte sich zu ihm hinunter. «Es könnte allerdings einen Moment dauern. Die Straßen werden blockiert sein. Halten Sie es noch etwas mit mir hier aus?»
Als er aus dem Auto geschleudert worden und gestürzt war, war auch Gibsons Knicks-Jacke zerrissen. Sein Telefon rutschte aus der Tasche. Der Agent nahm es. «Gibt es jemanden, den ich anrufen kann, damit er mit Ihnen redet, während wir auf den Krankenwagen warten?»
Gibson schnaubte wie ein Pferd auf der Rennbahn, dem die Kraft ausging.
Der Agent tippte ein paarmal auf den Bildschirm des Telefons. «Miranda?» Er hatte den letzten Anruf gefunden. «Wer ist Miranda? Ich rufe sie an. Anthony, Sie reden mit Miranda für mich. Bleiben Sie bei mir.»
Er kam ganz nahe, als er ins Telefon sprach: «Miranda? Ich habe keine Zeit, es Ihnen zu erklären. Sie müssen mit Anthony reden. Er hatte einen Unfall. Er muss Ihre Stimme hören, okay?»
Das Telefon lag auf seinem Ohr, aber Gibson hörte nichts. Das Gesicht des Agenten war nur Zentimeter entfernt. Er sah das Mitgefühl darin.
«Sagen Sie etwas zu Miranda, Anthony. Was wollen Sie ihr sagen, Anthony?»
Sag Miranda, das Auto hat mich umgebracht.
Nachdem Verrazzano dem toten Anthony Gibson die Augen geschlossen hatte, machte er sich ein Bild vom Ausmaß der Karambolage, sah Highways, Boulevards und gewöhnliche Straßen voller zerstörter Autos, voller Dariens und anderer Wagen, in die sie hineingefahren waren. Die Leute versammelten sich in kleinen Gruppen um die Opfer, die sie aus dem Chaos zogen. Andere standen hilflos da und spähten in zerquetschte Karosserien, in denen Menschen feststeckten, tot oder noch am Leben. Es war merkwürdig, dachte Verrazzano, wie perplex die Leute wirkten. Auf den Straßen starben so viele Menschen, dass diese New Yorker eigentlich ungerührt weiter zur Arbeit gehen und über die Toten auf dem Asphalt hätten hinwegsteigen sollen. Es war weniger das Blutbad, das sie schockierte, als die plötzliche Einsicht, dass der Tod immer schon da und so nahe war und sie nie innegehalten und den Schmerz empfunden hatten, den sie mit einer Unachtsamkeit oder Aggression hinter dem Steuer verursachen konnten. Dem Schmerz, der im Bruchteil einer Sekunde ihr oder eines anderen Ende bedeuten konnte, während sie auf ihr Handy sahen und nach einem besseren Sender im Radio suchten.
Für Verrazzano lagen derlei Einsichten lange zurück. Er war bei den Spezialeinheiten gewesen, «Spezial», weil sie darauf trainiert worden waren, in einem so feindlichen Umfeld zu überleben, das ein normaler Soldat minutenschnell darin zugrunde gehen würde. Er vermochte eine Zielperson überall in der Welt aufzuspüren und zu neutralisieren und hatte schon so viel Tod verbreitet, dass er gelernt hatte, darüber hinwegzusehen. Für ihn war ein Toter auf der Straße nichts, was sich anzustarren lohnte. Er war längst zu dem Schluss gekommen, dass die Seele frei und rein war und ihr Leiden bei dem zurückblieb, der den Tod ihrer menschlichen Hülle verursacht hatte.
Er beugte sich über Gibson und legte die Hände auf seinen Leib. Irgendjemand da draußen hatte jetzt an seinem Leid zu tragen, wie viele andere auch. «Ich werde sie finden, Anthony», murmelte er.
Sein Telefon klingelte. Er nahm ab. «Hallo, Schwesterherz? Alles okay? Ich schaffe es heute Abend leider nicht zum Essen. Ich muss sehen, was hier los ist. Was immer es sein mag. Sag der kleinen Prinzessin, es tut mir leid, dass ich sie nicht sehen kann.» Er legte auf.
Die Straßen waren verstopft. Auch die Autos, die es nicht erwischt hatte, kamen nicht mehr weiter. Verrazzano ließ seinen ICE-Wagen am Rand der Highway-Auffahrt stehen und joggte an der Rennbahn vorbei zum A-Train in der Aqueduct Station.
Eine halbe Stunde später kam er aus der Subway auf die Eighth Avenue. Schon auf der Treppe nach oben wusste er, auch hier war nichts, wie es sein sollte. Die Sirenen der Krankenwagen heulten im stockenden Verkehr, waren wie Trauergäste auf einer riesigen Beerdigung. Die Leute, die aus der Subway kamen, blieben erst mal oben an der Treppe stehen und blickten sprachlos auf das Bild, das sich ihnen bot. Verrazzano ließ den Blick über die Schlucht zwischen den hohen Gebäuden an der Avenue schweifen. Überall standen Gruppen um Tote und Verletzte am Straßenrand, die Autos sahen aus wie zerdrückte, weggeworfene Zahnpastatuben.
Er sprintete die 26th Street entlang und hinein in das rote Ziegelgebäude, in dem die New Yorker Dienststelle des US Immigration and Customs Enforcement, der Einwanderungs- und Zollbehörde, kurz ICE, untergebracht war. Im sechsten Stock erblickte er Noelle Kinsella, die durch den Bereich für Innere Sicherheit lief. Das lange rote Haar wehte hinter ihr her wie eine Schleppe, und die Armreifen an ihrem Handgelenk klingelten im Takt ihrer Schritte.
«Meine Fresse, Dom», rief sie. «Was ist denn das?»
«Ist der Leitende da?»
Kinsella zog ihren lila Mantel aus, warf ihn über ihren Stuhl und steuerte den Konferenzraum direkt neben dem Büro des leitenden Special Agent an. «Er hat eine Besprechung mit dem FBI einberufen. Müsste vor fünf Minuten angefangen haben.»
«Davon habe ich nichts mitbekommen.» Verrazzano wedelte mit seinem Handy durch die Luft. Schon Minuten nach dem großen Crash war das System zusammengebrochen, weil sich alle an ihre Smartphones gehängt hatten. «Da ging gar nichts mehr.»
«Ist alles am Boden, nur mein Blutdruck nicht.»
Kinsella drückte die Tür auf und betrat den Konferenzraum. Verrazzano folgte ihr. Drei Leute standen vor dem großen Fenster im hellen, zusätzlich vom Hudson reflektierten Sonnenlicht. Jim Callan lief auf und ab und strich nervös mit der Hand über die Wand. Es war still im Raum, sodass man die Glock in seinem Fußhalfter gegen den Schaft seiner halbhohen Stiefel tappen hörte. Special Agent Roula Haddad, die Computerspezialistin aus Verrazzanos Team, saß am Ende des Tisches. Hinter ihr stand eine Frau Anfang vierzig, die feindselig zu den Neuankömmlingen hinübersah. Das musste die FBI-Agentin sein. Sie hatte hellbraunes Haar, das so geschnitten war, dass es ihr über die Wangen fiel, als wollte sie sich dahinter verstecken.
Callan begrüßte seine Agenten. «Dom, Noelle, setzt euch.»
Kinsella ließ sich auf einen Stuhl sinken. Verrazzano blieb stehen. Er setzte sich kaum einmal, ob es nun darum ging, etwas am Computer zu schreiben oder einen Kaffee zu trinken, und er würde es auch jetzt nicht anfangen, da ihm das Adrenalin derart durch die Adern pulsierte.
Callans Hemd war genauso weiß meliert wie sein Gesicht, die Krawatte so blassblau wie die Adern unter der farblosen Haut. Es war, als könnte man in ihn hineinsehen und das Rückgrat herausgreifen, das bei ihm allerdings gleich unter seinem Kopf begann und bis zu seinen Eingeweiden reichte. Callan deutete auf die Frau hinter Roula Haddad. «Leute, das ist Special Agent Gina Jahn vom New Yorker Büro des FBI.»
Jahn hatte leichtes Übergewicht, aber offensichtlich nur, um einen mit mehr Masse attackieren zu können. Sie machte einen Schmollmund und musterte Verrazzano wie eine sehr enttäuschte Mutter. Ihr Hals neigte sich nach rechts. Verrazzano wusste, warum – so kontrollierte sie das Adrenalin, das ihr in die Nackenmuskeln stach.
Callan deutete auf die beiden Neuankömmlinge. «Die Special Agents Kinsella und Verrazzano.»
«Ich bin die Verbindung zwischen ICE und FBI.» Jahn hielt die Arme verschränkt. «Was immer Sie an das FBI weiterzugeben haben, geht über mich.»
«Und Sie informieren uns von FBI-Seite, richtig?» Kinsellas Sarkasmus war so dick wie ihr Lidschatten.
Jahn gefiel das nicht. «Das FBI leitet die Untersuchung. Wir haben es mit einem Vorfall zu tun, der sich zu einem Terrorfall entwickeln könnte. Möglicherweise handelt es sich auch um die kriminelle Fahrlässigkeit eines Autobauers oder einer seiner Zulieferer. Das ist FBI-Terrain, und wir haben nicht die Zeit, darüber zu streiten.»
Das ICE war eine Behörde mit umfassenderen Aufgaben, als seine Bezeichnung, Einwanderung und Zoll, es annehmen ließ. Das ICE war die zweitgrößte Ermittlungsbehörde der Bundesregierung nach dem FBI, wenn es auch nicht über eine so lange Geschichte wie das Federal Bureau of Investigation verfügte. Es war nach 9/11 mit dem USA PATRIOT Act, einem Bundesgesetz, aus verschiedenen Zuständigkeitsbereichen zusammengesetzt worden. Prinzipiell fiel jetzt alles, was über die US-Grenzen hinausreichte, in den Zuständigkeitsbereich des ICE, von Drogenhandel bis zu Computerkriminalität im Internet. Kinsella wollte gerade einen weiteren Schuss auf Jahn abfeuern, als sie einen Blick von Verrazzano auffing. Er schüttelte kaum merklich den Kopf, und sie biss sich auf die Zunge.
«Bevor wir über die Weitergabe von Informationen diskutieren, sollten wir uns erst einmal darüber klar werden, womit wir es überhaupt zu tun haben. Roula, wie ist der letzte Stand?», sagte Callan. «Damit Dom und Noelle ganz im Bilde sind.»
Haddad schob sich eine schwarze Haarsträhne aus den Augen und klickte sich auf ihrem Laptop durch ein paar Seiten.
«Die Anzahl der Unfälle ist enorm. Wir haben noch keine genauen Zahlen, wie viele Autos daran beteiligt sind, doch der Großteil betrifft Dariens. Natürlich sind auch andere Automarken in die Unfälle verwickelt, aber es sieht so aus, als wären sie nicht die Auslöser. Die Unfälle scheinen sämtlich von Dariens verursacht worden zu sein, die völlig außer Kontrolle geraten sind.» Sie sah auf ihren Laptop. «Die ersten Berichte des NYPD aus Jersey und Long Island besagen, dass sie unkontrolliert beschleunigt haben und nicht zu stoppen waren. Über die Zahl der Toten und Verletzten gibt es noch keine Angaben. Aber die Krankenhäuser sind bereits übervoll.»
Sie drehte den Bildschirm. Zu sehen waren die körnigen Bilder von fünf mal vier Überwachungskameras, alle live. «Das sind die aktuellen Bilder von den Highways in der City, den Brücken und Tunnels nach Jersey und Staten Island. Überall ein einziges Chaos. Da geht nichts mehr.»
Selbst vom anderen Ende des Konferenztisches aus sah Verrazzano die reglosen, schwarzen Striche auf den Straßen, die wie Minuszeichen daliegenden Toten, die zu symbolisieren schienen, dass sie dem Leben abgezogen worden waren.
«Das NYPD kommt nicht zu allen Unfällen durch», sagte Callan. «Es hat wirklich überall gekracht. Für die Krankenwagen ist es das Gleiche. Wenn jemand zu schlimm verletzt ist, um an Ort und Stelle verarztet zu werden … nun, sie sterben, wo sie liegen.»
Die FBI-Frau trommelte mit den Fingern auf die Rücklehne von Haddads Stuhl. «Wie konnten all die Dariens so plötzlich außer Kontrolle geraten?»
«Ich war Zeuge einer Massenkarambolage in Queens und habe die Straßen auf dem Weg zurück nach Manhattan oben von der Subway aus sehen können», sagte Verrazzano. «Es gibt eine Menge Dariens, die keine Unfälle verursacht haben. Die älteren, würde ich sagen. Die Unfallverursacher sahen für mich alle ziemlich neu aus.»
«Haben Sie auch den Eindruck, Roula?», fragte Callan mit einer Geste zu ihrem Laptop hin und beugte sich über sie. «Fahren Sie fort, Dom.»
«Wenn wir einschätzen wollen, was für ein Ausmaß das Ganze hat», sagte Verrazzano, «sollten wir herausbringen, wie viele Dariens, sagen wir, im letzten Jahr im Großraum New York verkauft worden sind.»
Callan nickte Haddad zu. Sie machte ein paar Eingaben. «Etwa hundertfünfzigtausend, in New York, New Jersey und Connecticut.»
«Die Sache fand um sechs Uhr statt. Das ist noch ziemlich früh für Pendler und Eltern, um ihre Kinder in die Schule zu bringen. Sagen wir, dreißigtausend von den Autos waren unterwegs und sind außer Kontrolle geraten. Selbst wenn nur die Hälfte von ihnen schnell genug war, um tödliche Unfälle zu verursachen, sind das eine Menge Opfer.»
Verrazzanos Schätzung ließ alle einen Moment lang verstummen. Kinsella räusperte sich. «Ich verstehe immer noch nicht, wie und warum?»
Die FBI-Frau schlug mit der Hand auf den Tisch. «Das war ein Terrorakt. Was ist daran so schwer zu verstehen?»
«Sollte es ein Terrorakt sein, war die Vorbereitung weit komplizierter als alles, was wir bisher erlebt haben», sagte Verrazzano.
«Diese Dreckskerle werden immer cleverer. Der technologische Fortschritt macht alles einfacher. Nur nicht, sie zu stoppen.»
«Es könnte auch an den Autos gelegen haben, an ihrer Konstruktion», sagte Kinsella. «Die Autokonzerne haben oft schon Probleme an ihren Wagen entdeckt, sie aber nicht offengelegt, weil sie die Kosten einer großen Rückrufaktion vermeiden wollten. Sie lassen lieber ein paar Leute sterben und zahlen den Angehörigen eine Entschädigung.»
«Die Terroristen sitzen also bei Darien? Bei einem der größten Automobilkonzerne der Welt?» Jahns Augen blitzten, und plötzlich lag so viel Befriedigung in ihrem Blick, dass Verrazzano sich fragte, ob sie womöglich vorgeschnellt war und ihm eine verpasst hatte, ohne dass es ihm aufgefallen war. «Das ist doch blanker Unsinn. Ein fehlerhaftes Teil kann nicht der Grund für so eine Sache sein. Wenn die Bremsen versagen oder sich ein Gaspedal verklemmt, dann hin und wieder, aber doch nicht in Tausenden Autos genau gleichzeitig.»
«Da haben Sie recht», sagte Verrazzano. «Es muss an der Software liegen.»
Haddad sah von ihrem Bildschirm auf. «Möglich wäre es. Wir haben keine Vorstellung davon, wie genau es in der Computersteuerung eines Autos aussieht. Ihr erinnert euch doch noch, wie alle möglichen Hersteller ihre Wagen so programmiert hatten, dass sie bei den Emissionstests durchkamen? Die Umweltschutzbehörde ist ihnen jahrelang nicht auf die Schliche gekommen, weil sie keine Programmierer sind. Sie checken schließlich nicht jede Zeile Computer-code, und wenn sie es täten, würde es ihnen auch nicht viel sagen. Am Ende muss die Regierung den Firmen vertrauen.»
«Ich denke, man sollte Autobauern genauso wenig vertrauen wie Gebrauchtwagenhändlern.» Kinsella lachte.
«Roula hat recht, wir wissen nicht, was alles in der Steuerung steht. Aber wir wissen, dass man sich von außen reinhacken kann», sagte Verrazzano. «Wobei immerhin die Möglichkeit besteht, dass Darien bei der Software ein Fehler unterlaufen ist. Zumindest wissen wir, wo wir anzusetzen haben.»
«Wir fahren zu Darien», sagte Kinsella.
«Wir fahren zu Darien.» Jahn zeigte mit dem Finger auf sich. «Die meisten in den USA verkauften Dariens werden im Inland hergestellt. Das macht es zu einem Fall fürs FBI.»
«Moment mal, Gina.» Callan drehte seinen schweren Texas-A&M-Universitätsring um den vierten Finger der linken Hand. «Das FBI mag ja die Führung in dem Fall haben, aber er fällt definitiv auch in den Verantwortungsbereich des ICE.»
Sie neigte den Kopf von einer Seite zur anderen. «Wie das?»
Haddad antwortete ihr. «Wenn es sich um die Tat eines Hackers handelt, steht mit Sicherheit eine größere Organisation dahinter. Das ist nicht irgendein Irrer aus den Wäldern Idahos. Die Autokonzerne haben ihre Systeme ziemlich gut abgesichert, weshalb es sich um eine grenzüberschreitende Sache handeln wird.» Womit es in den Bereich das ICE fiel. Selbst, wenn nur ein Glasfaserkabel oder ein drahtloses Signal über die Grenzen hinausreichte.
Die FBI-Frau stützte die Hände in die Hüften und streckte ihre Ellbogen heraus. «Ich bestehe darauf: Das FBI hat die Führung.»
Verrazzano ging am Tisch entlang zu ihr und sah Jahn in die Augen. «Die Zuständigkeiten sind mir egal. Als die Unfälle geschahen, bin ich aus meinem Wagen gestiegen und zum nächsten Verletzten gelaufen. Bevor die Handynetze ausfielen, habe ich noch seine Frau erreicht. Er starb, ich habe es seiner Frau gesagt und noch eine Weile mit ihr geredet.»
Jahn hob frustriert die Hände, wich Verrazzanos Blick aus und sah Callan an. «Wir haben keine Zeit für …»
«Der Mann hieß Anthony Gibson, seine Frau Miranda Gibson. Sie ist schwanger, und er war heute Morgen aus seinem Job geflogen. Er wollte den Wagen verkaufen, weil sie sich die Raten nicht mehr leisten konnten.»
«Hören Sie, Special Agent …»
«Anthony und Miranda hatten überhaupt nichts.» Verrazzano bewegte sich noch einen Schritt näher auf Jahn zu. Er senkte die Stimme. «Aber jetzt haben sie mich.»
Jahns Gesichtsausdruck sagte Verrazzano, dass sie nachgab, fürs Erste. Das Licht drang in den Haarflaum auf ihrer Wange. Die Haut darunter war von einer tiefen und einigen kleineren Narben durchzogen. Sie sah, dass Verrazzano ihre Entstellung bemerkte, und hob die Hand, um sie zu verdecken.
Schnelle, schwere Schritte näherten sich über den Flur von draußen. Special Agent Bill Todd kam durch die Tür. Einen Moment lang schien ihn die Stille im Raum zu verblüffen, doch dann zeigte er auf die Fernbedienung auf dem Tisch neben Haddad. «Ihr müsst den Fernseher einschalten.»
Callan folgte seiner Aufforderung, worauf der Bildschirm an der Wand zum Leben erwachte. CBS zeigte das Chaos vor ihrem Studio auf der Sixth Avenue.
«Nein, gehen Sie auf CNN», sagte Todd. «Kanal zweiundvierzig.»
«Warum um alles in der Welt müssen wir …» Aber Callan tat, wie ihm geheißen, hielt inne und starrte das Bild an, das sich ihnen bot. Vorm Weißen Haus auf der Pennsylvania Avenue stand ein Doppeldecker-Sightseeing-Bus, umgeben von ineinander verkeilten Autos. Er sah genauer hin. «Das sind Dariens. Ist das denn überall so, Himmel noch mal?» Er schaltete zu CNBC. Straßenkrawalle, Läden wurden geplündert, eine Ladenzeile stand in Flammen. Leute schleppten Kisten aus einem Geschäft. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Er sah auf die Informationen, die unten durchs Bild liefen. Es gab offenbar so viel zu berichten, dass die Worte so schnell und unkontrolliert wie ein Darien vorbeirasten. «Das ist L. A.», sagte Bill Todd. «Nach den Unfällen sind die Leute auf die Straße raus, und dann das.» Er deutete auf die Plünderungen.
«Es reicht von Küste zu Küste.» Haddad bearbeitete ihre Tastatur. «Detroit, Chicago, Boston, Houston, St. Louis, Philadelphia, Phoenix, Columbus, Atlanta. Ich weiß nicht, ob es wirklich überall ist, aber es sieht so aus.»
«Noch was.» Todd streckte den Arm aus und packte Verrazzano an der Schulter. «Tom Frisch hat sich gemeldet.»
«Tom wer?» Jahn zog die Brauen zusammen.
«Jemand, dem eine Security-Firma gehört hat. Im letzten Jahr wollte er Giftgas im UN-Gebäude freisetzen», sagte Callan.
«Dom hat ihn gefasst», fuhr Todd fort. «Er sitzt unter besonderen Haftbedingungen in unserer Strafanstalt in Brooklyn. Viel hat er bislang nicht herausgelassen, aber wir denken, es gibt immer noch einiges, wobei er uns helfen kann.»
«Was zum Beispiel?»
Callan sah Verrazzano an. Er wusste, was dessen heruntergezogene Brauen bedeuteten: Verrazzano dachte an den Mann, der Frischs Attentatsversuch auf den Präsidenten und die UN organisiert und finanziert hatte. Aber selbst Callan wusste nicht, wie sehr Verrazzano hinter diesem Mann her war. Nur Frisch war das klar.
Jahn verschränkte die Arme vor der Brust. «Was zum Teufel hat das mit …?»
«Mit den Dariens zu tun?», fragte Todd. «Frisch sagt, er weiß, was heute Morgen geschehen ist. Warum und wie, meine ich.»
«Vernehmen wir ihn», sagte Jahn.
«Er sagt, er redet nur mit Dom.»
«Es hat keinen Sinn, nach Brooklyn fahren zu wollen.» Verrazzano sah aus dem Fenster auf die kaputten Autos, den Verkehr und die umherlaufenden Fußgänger in der Querstraße hinunter. Er lächelte Jahn zu. «Machen wir einen Spaziergang, wir zwei.»
In der Strafanstalt saßen hauptsächlich gewöhnliche Kriminelle ein, die von der Polizei in den Straßen Brooklyns aufgegriffen worden waren. Ein paar Etagen waren für das ICE reserviert, um mögliche illegale Einwanderer in Verwahrung zu nehmen, bevor sie in die eigentliche Haftanstalt der Behörde knapp hundert Kilometer nördlich der Stadt überführt wurden. Und dann war da noch Frisch. Sein Verbrechen wäre so verheerend für den Staat gewesen, hätte es Erfolg gehabt, dass es einen eigenen Trakt nur für ihn gab, und das ohne einen Vermerk im Computersystem des ICE, wo er festgehalten wurde. Frisch hatte sich seit seiner Festnahme durch Verrazzano nicht mehr rasiert. Sein Bart hing ihm bis über die Brust, braun mit trockenen grauen herausstechenden Locken. Seine Haare waren ebenfalls gewachsen. Er sah so verwahrlost aus wie als Navy-SEAL undercover in Afghanistan. Verrazzano erlaubte ihm weder einen Rasierer, noch eine Schere, damit er sich, falls er es aus dem Trakt hinausschaffen sollte, nicht unter die anderen Häftlinge mischen konnte. Er bekam auch keine Gefängniskleidung, sondern trug Jeans, ein graues T-Shirt und orangenfarbene Crocs, die Verrazzano ihm in einem Wohltätigkeitsladen gekauft hatte. Er saß ruhig da und faltete die Hände auf dem Tisch.
Jahn, neben Verrazzano, kochte innerlich. «Okay, Mr Frisch, wenn wir es recht verstehen, haben Sie Informationen zu den massenhaften Unfällen der Dariens heute Morgen.» Sie schaltete die Aufnahmefunktion ihres Telefons ein und legte es auf den Tisch.
Frischs Bart bewegte sich. Darunter lächelte er, Verrazzano sah es in seinen Augen. Für einen Mann, der seiner Hinrichtung entgegensah, wirkte Frisch sehr Zen-mäßig ausgeglichen. Unvermittelt schob er eine Hand vor, nahm das Telefon und schaltete die Aufnahme aus, und als er die Home-Taste drückte, erschien ein Bild von Jahn und einem Mann mit kahl rasiertem Kopf und Kinnbart hinter den Apps. Sie lächelten und umarmten sich. «Oh, wie süß.»
Verrazzano nahm das Telefon und gab es Jahn. «Was wollen Sie uns sagen?»
Frisch reckte die Arme über den Kopf. «Ich habe darum gebeten, mit Ihnen zu sprechen, Sergeant Major Verrazzano. Warum haben Sie Ihre Mom mitgebracht?»
Jahn ignorierte ihn, wischte mit dem Bildschirm ihres Telefons über ihre Jacke und warf Verrazzano einen Blick zu. Sergeant Major?, fragten ihre Augen.
Es war immer das Gleiche, wenn Verrazzano kam, um Frisch zu befragen. Der Gefangene versuchte ihn in die Zeit in Colonel Wyatts entarteter Spezialeinheits-Truppe zurückzuholen. Zurück in ihr Versteck in Beirut, wo Verrazzano auf Frisch gestoßen war, nachdem sich alles in sein Gegenteil verkehrt hatte. Sein Sergeant Major war die Erinnerung daran, dass einige Informationen den Offizieren vorbehalten blieben.
Frisch zwinkerte, um ihm zu signalisieren, dass er seinen Gedanken folgte. Zähne waren durch den Bart zu erkennen, ein breiteres Lächeln, vielleicht auch ein Zähnefletschen.
«Was haben Sie, Frisch?», sagte Verrazzano.
«Ein Ticket in die Freiheit, Sergeant Major.»