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Die Zukunft kommt durch die Hintertür ... Die Corona-Epidemie liefert heute schon den Vorgeschmack auf das, was auf die Menschen zukommt. Der Social-Fiction-Roman "Chipsklaven 2050" ist aktueller denn je. Geplant als dystopische Story, ist sie in dieser Zeit, in der sich alles einer Pandemie unterwirft, keine ferneZukunftsmusik mehr. Ob es sich um Telemedizin oder um die marketingmäßige Verbreitung eines Virus' handelt ... die Bühne der "Oberen" wird im Buch real greifbar. Unaufhörlich feilen die Machtgeier daran, die Menschheit zu einer Sklavengesellschaft zu kneten. Das Werkzeug dazu ist der Identitäts-Chip, den sich die Menschen unter die Haut oder ins Hirn schießen lassen sollen. Am einfachsten gelingt es ihnen bei den Neugeborenen und Kindern. Mit dem "Reglement zur Zeugung von Erdennachwuchs" wollen die Welt-Räte künftige Generationen in ihre "Obhut" nehmen. Politische Parteien sind im Jahre 2050 Schnee von gestern. Die Macht geht von Konzernen und Institutionen aus, die sich scheinheilig "Councils of Humanity" nennen. Sie wollen die totale psychische und physische Kontrolle und Steuerung des Menschen. Und die Machtgierigen wissen: Mit Angst lassen sich immer gute Geschäfte machen und Gesetze begründen. Planung und Vermarktung von Katastrophen und Seuchen sind ein Teil der Strategie. Die Social-Fiction-Story spielt auf dem Nährboden der heutigen Realität, die bereits in vielen Bereichen eine verdeckte Kontrolle der Gesellschaft erfährt und dabei ihr Gesicht mit Begriffen wie Nächstenliebe, Gemeinwohl und Lebensqualität tarnt. "Denn selbst der Satan kann sich in einen Engel des Lichts verwandeln. So ist nichts Sonderliches daran, wenn auch seine Diener Masken und Kostüme der Wohltätigkeit tragen."
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Seitenzahl: 411
Veröffentlichungsjahr: 2020
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TACO PALMER
"CHIP-SKLAVEN 2050"
Der Titel
"CHIP-SKLAVEN"
genießt Titelschutz gemäß §§ 5,15 MarkenGesetz
in allen Schreibweisen und Darstellungsformen,
als Einzeltitel und für alle Medien.
Dieser Social-Fiction-Roman erscheint als Print-Book und als E-Book;
außerdem sind die im Buch erwähnten Songs zum Download
und die Kunstwerke von Zsira und Henryo
als Kunstdrucke erhältlich.
Covergestaltung und Druckaufbereitung: diekonzeptagentur.de
Porträtzeichnungen der Hauptakteure: Take Janssen
Website: www.tacopalmer.de
***
Und der erste Engel ging hin
und goss seine Schale aus auf die Erde,
und es ward ein böses und arges Geschwür
an den Menschen,
die das Malzeichen des Tieres hatten
und die sein Bild anbeteten.
(Offenbarung 16,2)
***
Erde vor der Apokalypse gerettet
2038 war ein Freudenjahr. Party global. Tage- und nächtelange Feste, über drei Monate lang. Die Welt hatte eine solche Euphorie noch nicht erlebt. Die Menschen lagen sich in den Armen. Liebe, Sinnestaumel, Freudentränen und Harmonie wo man hinsah. Überall auf dem Globus feierten die Menschen die Rettung unseres Planeten, alle wurden über Nacht zu Freunden – schwarz, weiß, braun, rot, gelb … was zählte die Hautfarbe, die Nationalität, die ethnische Ausrichtung? Was zählte war: Leben!
Eine globale Umarmung ließ die Menschheit in Glückseligkeit schweben, die Liebe zu unserem Planeten verband über alle physischen und psychischen Grenzen hinweg.
Um die sprichwörtliche Haaresbreite war unser Heimatplanet an einer alles vernichtenden Apokalypse vorbeigeschlittert. Der Asteroid "Chikan" raste mit einer Geschwindigkeit von annähernd 12.000 km pro Stunde auf uns zu und würde bei einem Aufprall unseren bisher blauen Planeten in eine rote Feuerkugel verwandeln. Die totale Vernichtung allen organischen Lebens drohte. Eine Kollision schien unausweichlich.
Sieben angstvolle Tage waren es – entweder bis zum Inferno oder bis zum Freudenfest. Praktisch "in letzter Minute" gelang unserer globalen Asteroidenabwehr die Zertrümmerung des gigantischen Gesteinsbrockens mittels Atomraketen gut zweieinhalb Millionen Kilometer vor unserer Hemisphäre.
Alle irdischen Sorgen waren vergessen. Die Medien waren voll von erfreulichen Meldungen. Goodnews statt Badnews. Auch die Wirtschaftswelt hatte sich auf das einmalige Ereignis eingestellt und vermarktete es. Kein Produkt, keine Verpackung, kein Verkaufsvorteil mehr ohne einen Hinweis auf die Freude über den Fortbestand unserer Erde.
Eventfirmen starteten gigantische Kampagnen und offerierten Freundschaftsparties, Länder-, Kontinent- und Weltreisen. "Komm' mit auf unsere Party-Tournee rund um unsere schöne Welt!" - "Genieße unsere einmalige Erde, lass' die Herzen eins werden, fühle den freudigen Pulsschlag des Anderen." - "Jeder Tag ist es wert, ihn in vollen Zügen zu genießen!"
Alle sollten auf ihre Kosten kommen, für jeden war was dabei. World-Joy-Tours macht es möglich! Joy comfort. Joy business. Joy premium. Joy first class.
Doch die Seelen verbindende Freude sollte nur 28 Tage dauern.
Freudenparty mit Feuerregen
"Trip on P's", die Musikformation, war seit einem Monat auf Partytournee. Nach Stationen in Deutschland, Großbritannien, Niederlande, Frankreich, Österreich, Spanien, Italien, Griechenland, Russland war die MusikCrew auf dem Weg zurück in ihr Heimatland Old-Germany.
Seit 2036 gab Trip on P's – mit Bob, John, Asuma, Claire und Emilio – Live-Konzerte, überwiegend in Clubs und vor Privatpublikum. Der Gedanke zu dieser noch auf der experimentellen Stufe befindlichen Musikart kam von Bob, der schon als klassischer, singender Gitarrist seine Sporen verdient hatte, wenn man unter klassisch den Trend der 2030er Jahre verstand, der vornehmlich das melodische Spiel mit eigenen Instrumenten lebendig hielt.
Die P's standen für "Physiologie, Psychologie und Psychedelic", für eine Musikform, die an sich nichts Neues war, denn gute Musik brachte seit je her die körperlichen und die psychischen Seiten und Saiten zum Schwingen, sofern sie natürlich den Geschmack der Zuhörer traf. Neu war der Grad der Intensität, mit der das Publikum in einen psychedelischen Kollektivzustand versetzt wurde. Die für diese Gefühlslage entscheidenden Impulse gingen in erster Linie vom Publikum selber aus, wobei sich in wechselwirkender Folge Stimmen, Gesprächsfetzen und Ambiente, gemixt mit den musikalischen Tönen und Sounds der Band zur raumfüllenden Klangarchitektur aufbauten.
Die Performance entwickelte sich live während des Bühnenauftritts. Meist begann der Auftritt mit einem sachte einsetzenden Ambient-Klang-Gebilde, das sich an der momentanen durchschnittlichen Pulsfrequenz der anwesenden Gäste orientierte. Über deren Köpfen schwirrten Geräusche und Stimmen aufnehmende Mikro-Copter, die die empfangenen Signale an den Rechner weitergaben, um von Emilio, dem Technic-Composer, mit dem variationsreichen Equipment gemixt zu werden.
Begleitet wurden die eingehenden Impulse von Asumas und Claires improvisierendem Scatgesang und ihren über Sensoren vertonten Körperbewegungen, dazu von live bespielten Instrumenten, der Orgel mit John und der Gitarre, die Bob spielte.
Die Ausformung der melodisch und rhythmisch gemischten Fragmente ergaben den charakteristischen Stil der Band. Mit der Vielzahl der Signale und dem allmählich anschwellenden Geräuschpegel steigerte sich die Klanggestalt zu einem mystisch anmutenden Arrangement eines großen Orchesters, denn alle Anwesenden wurden zu MitKomponisten.
Das wesentlich Mystische daran war die allmähliche Anpassung der Herzschlagfrequenzen und der seelischen Gefühlslage zu einem gleichschwingenden Kollektiv. Geschmacksfragen erübrigten sich, weil der Sound unwillentlich als der eigene empfunden wurde. So war der Erfolgsfaktor, sprich das Anwachsen der Follower- und Fangemeinde vorprogrammiert.
In dieser Weltrettungs-Phase und des daraus quellenden euphorischen Hochs stieß die Musikform offene Türen auf. Die Band wurde ausnahmslos bei allen ihren Auftritten bejubelt, obwohl den Bandmitgliedern der auf den Einsatz von Elektronik zurückgehende Erfolg fast unbehaglich war, so alle zwar technikaffine waren, aber dem Ausmaß der in das tägliche Leben eingreifenden Kontrolltechnologie sehr kritisch gegenüber standen. Besonders Bob quälte ein Unbehagen, denn schon die Mikro-Copter, die die Band zum Einfangen der Worte und Geräusche einsetzte, waren ihm ein Dorn im Auge, assoziierte er sie doch mit den allgegenwärtigen, hinterlistigen, staatlich eingesetzten Überwachungsdrohnen. Letztendlich, das war sein beruhigendes Argument, lieferten die Mikro-Copter wichtige Kompositionselemente, nämlich das Tonmaterial vom Publikum, selbstverständlich mit dessen Einwilligung. Das Zusammenspiel, bestimmend aus den akustischen Signalen der Gäste, der gesanglichen und instrumentalen Improvisation und einer modernen Chip-Technologie, wobei letztere nur eine der Werkzeuge im Gesamtklangbild darstellte, kennzeichnete den Musikstil der Band.
Anfragen von Wirtschaftskonzernen, die sich von einer Trip-on-P-Performance gar die psychische Beeinflussung von Mitarbeitern und Kunden versprachen, selbstredend nach Vorgaben der Unternehmen, wurden von Bob, mit Zustimmung der anderen, stets abgelehnt.
Entscheidungen dieser Art standen in diesen Stunden jedoch nicht auf dem Plan. Alle kosteten die schönen Erlebnisse der vergangenen vier Wochen aus. Die sorglose Stimmung hatte, wie fast überall auf der Erdkugel, Besitz ergriffen von den Menschen.
"Flughöhe viertausend Feet", meldete Widger, der Pilot des Oktibus, "Wir sind bald zu Hause Leute, soeben haben wir die Alpen hinter uns ... äh, unter uns gebracht … noch ein paar läppische fünfhundert Meilen."
Die Freundesgruppe flog in einem Oktibus der neuesten Generation, ein Land-Luft-Flugzeug mit kreisförmigem Rumpf, wie eine Torte aussehend, mit acht Rotoren auf dem Dach sowie vier Räderpaaren unter seinem Carbonkörper. Der Oktibus konnte senkrecht starten und landen und besaß ein intelligentes Kommunikations- und Energiemanagement, das den Oktibus zum Beispiel selbständig in die Kette anderer Flugkörper einreihen konnte.
Im Volksmund sprach man bei der gemeinschaftlichen Fortbewegungsart scherzhaft von "Polonaise", benannt nach einem volkstümlichen Tanz, bei dem sich die Leute hintereinander stellten, die Hände auf die Schulter des Vordermannes oder der Vorderfrau legten und sich dann als "Schlange" über die Tanzfläche bewegten. Ende des 16. Jahrhunderts des vorherigen Milleniums entstand die Form als Prozessionstanz an den Höfen des polnischen Groß- und Kleinadels. Die Bezeichnung "Polonaise" kam später, als der Tanz sich zunächst in Frankreich verbreitete und danach in den Ballsälen der europäischen Adelshöfe populär wurde.
Zwar fehlte im Technomanagement der Oktibusse der Lustfaktor eines Tanzes, dagegen war die Energieeinsparung durch Reduzierung des Luftwiderstandes gewachsen und Unfälle sanken praktisch auf Null. Kontinuierlich kommunizierten die Flugkörper miteinander, glichen die Daten, das Ziel, den Flugkanal, die Wunschgeschwindigkeit ab. Ein chinesischer Hersteller von Air-Omnis hatte speziell für das Reisen in Polonaise einen Frontliner entwickelt, der seitlich, oben und unten Flügel ausfahren konnte, wodurch sich der Luftwiderstand für die hinteren Flugkörper verminderte. Der Effekt: Energieeinsparung und Schalldämmung.
Der Ausblick für die Freunde war zu dieser Stunde fantastisch. Panoramafenster ließen einen Rundumblick zu. Neben, unter und über dem Flugkanal flogen weitere Züge, die Gäste winkten einander zu oder luden sich zum Mitfeiern über die Beamerwalls ein.
Zwischen den einzelnen Flugkanälen war ein geringer, etwa einhundert Meter messender Abstand, denn die gps- und chip-gesteuerten Maschinen hielten exakt ihren Kurs. Aus Sicherheitsaspekten wurden die Flugkanäle für die Dauer der Welt-Party um fünfhundert Feet nach oben verlegt, um so außer Reichweite der abertausenden Feuerwerke zu sein.
"Wie viele Milliarden werden wohl in diesem Monat in der Luft verpulvert?", sinnierte John, sein Blick wanderte über das Lichtermeer am Boden. "Soviel, dass die Industrie auch Freudentänze veranstalten kann." Die Antwort kam von Bob. Beide ahnten nicht, dass sich der Freudenfunkenteppich wie ein Kinderspiel ausmachte im Vergleich zu dem Feuerregen, der bald mit überirdischer Macht folgen sollte.
Die Stimmung war entspannt. Vier Wochen Bühnenpräsenz forderten ihren Tribut. Die Freunde relaxten, sie genossen das ruhige Dahingleiten und den Abstand zu der feiernden Menge am Boden. Emilio hatte die Mitschnitte ihrer Gigs zu einem Filmclip zusammengefügt und präsentierte seine Ergebnisse auf der Beamerwall. Sein augenblickliches Publikum verfolgte die Bilder mit gelegentlichen Kommentaren, alle waren froh, dass der Partyalarm vorbei war. Sie hatten es sich bequem gemacht.
"Noch vierhundert Meilen bis zum Heimatdock", tönte es leise aus den Boxen. Claire und Asuma, die beiden jüngsten Crewmitglieder juckte es in den Beinen, sie schauten sich an und wie auf Kommando ergriffen sie ihre Bodymikros, um eine Sondervorstellung zum Besten zu geben.
Soweit kam es nicht, denn statt ihrer tänzerischen Darbietung drängte sich eine eigenartige Klangerscheinung in den Vordergrund.
"He, was ist das, hört ihr das??" Asuma wandte sich an Emilio. "Dreh doch mal den Sound runter!" Sie lauschten einige Sekunden.
"Ach, nur ein Gewitter ...", meinte Claire.
"Nein, nein, seid mal still, Leute ..." Widger, der Pilot, wünschte es sich. Die Diskussionen verstummten.
Ein mächtiges Grollen, das der Warnung eines in seinem Mittagsschlaf gestörten wilden Tieres aus der Tiefe seiner Höhle gleichkam, näherte sich schnell. Begleitet wurde das Dröhnen von unaufhaltsam anschwellenden Vibrationen, die sich bald des gesamten Flugkörpers bemächtigten. Die Stärke nahm zu, steigerte sich bis zum Schütteln der Maschine, das an die Schleudertrommel eines antiken Wäschetrockners in den letzten Umdrehungen erinnerte, die sich jedoch nicht verlangsamten, sondern stärker wurden. Die Schwingungen kontraktierten die Bauchmuskeln, ergriffen die Knie- und Fußgelenke, um dann die Kiefer der Passagiere, die nicht schon ihre Zähne krampfhaft zusammengebissen hatten, klappern zu lassen. Wie von einem Presslufthammer bearbeitet, wollte eine ungestüme Kraft die Flugmaschine in Einzelteile spalten, wollte sie zerreißen.
Angstvolle und fragende Blicke blieben ohne Antwort. Die Bedrohung ohne Gesicht war furchteinflößend. Der einzige Gedanke war: festhalten.
Plötzlich wurde der vor dem Oktibus fliegende Helikopter wie von Geisterhand aus dem Flugkanal gerissen und gut hundert Yards nach oben katapultiert, er überschlug sich auf seinem Schleuderkurs einige Male, prallte gegen das Leitfahrzeug eines anderen Zuges, ein, zwei, drei Explosionen folgten, die brennenden Restteile schossen nach allen Seiten, trafen weitere Flugkörper, welche Feuer fingen oder auseinanderbrachen. Ein Feuerregen, vermischt mit qualmenden Wrack- und zerrissenen Menschenkörpern prasselte auf die darunter fliegenden Maschinen.
Der Oktibus blieb, trotz des Bebens und der anschlagenden Metallstücke, erstaunlich stabil. Ein weiteres Donnern überrollte das Fluggerät. Mit einem Ruck schwang es sich um fünfundvierzig Grad nach rechts in die Schräge, verblieb aber mit seiner Schieflage in der Flugbahn, schloss sogar die Lücke, die der herausgeschleuderte Heli hinterlassen hatte. Das Energie-Management-System war also noch intakt. Jedoch hatte der abrupte Schwenk den Piloten aus dem Sitz geschleudert, er klebte wie eine verbogene Stoffpuppe an der Seitenscheibe. Wer sich nicht festgeschnallt hatte, den zerrte die Gravitationskraft erbarmungslos nach unten. Bob griff mit der rechten Hand nach Asuma, sie krallte sich mit ihren Fingernägeln in seine Handinnenfläche, es schmerzte, aber es tat gut, Asuma zu spüren. Ihre Beine hatte sie fest unter ihren Sitz verankert. Bobs linke Hand grub sich in den Bezug, seine Füße stemmte er gegen die Rückenlehne des Vordersitzes.
John war kopfüber unter einen der vorderen Sesseln gerutscht und war nun zwischen den Sitzreihen eingeklemmt, er zappelte mit den Beinen, konnte sich jedoch nicht aus der misslichen Lage befreien.
Da folgte der nächste Stoß, der den Oktibus mit einer Drehung um die Längsachse nun komplett auf die Seite legte. Die Zentrifugalkraft zehrte an allem. Bob bemerkte, dass er keinen Körperkontakt mehr zu Asuma hatte. Der Platz neben ihm war leer. Mit aller Kraft drehte er den Kopf gegen die Fliehkraft abwechselnd nach links und rechts, doch konnte er seine Freundin nicht erblicken.
Einem in der linksseitigen, oberen Flugtrasse befindlichen Helicopter brachen die Rotoren ab, sie wirbelten nach unten, knapp an der Pilotenkanzel des Oktibus vorbei. Der flugunfähig gewordene Heli folgte mit rasender Geschwindigkeit. Ein Zusammenprall schien unausweichlich und damit der sichere Tod aller. Noch waren es vielleicht achtzig Meter und die Freunde konnten für Bruchteile von Sekunden die zu Fratzen verzerrten Gesichter erkennen. Die gellenden Angstschreie der eigenen Besatzung gingen durch Mark und Bein. Die letzten Schreie im irdischen Leben? Der Oktibus reagierte spontan mit einer knappen horizontalen Ausweichbewegung. Zwei Meter zischte das von oben stürzende Flugteil am Rumpf vorbei und zerschellte zwei Sekunden später zwischen Hunderten von feiernden Menschen am Erdboden. Zu schnell, um den Vorbeirauschenden einen Abschiedsgruß zuzuwinken.
Ohne weitere Vorwarnung zog der Oktibus seine Front nach oben, gepolsterte Schotten fuhren aus und teilten den Innenraum in acht Kabinen. Wie auf einer Abschussrampe stand die Torte nun fast senkrecht in der Luft, erst verhaltend, um dann wie eine fliegende Untertasse nach oben zu schießen, mit ruckartigen Schwenkern, die alles durcheinanderwirbelten, was in der Maschine nicht niet- und nagelfest war.
Mit Spurtgeschwindigkeit erreichte die Flugtorte eine Trasse oberhalb des Höllenszenarios, stabilisierte sich und wechselte langsam in die gewohnte horizontale Position. Die Kabinenschotten fuhren ein und der Oktibus wandelte sich wieder zu einem Großraumflieger mit Reiseatmosphäre – wenn nicht die leeren Sitzplätze wären. Langsam rappelten sich die Reisenden auf, einige verharrten noch benommen am Boden oder auf den Polstern, je nach dem, wo sie die unerwartete Lageveränderung hinbefördert hatte.
Sie befanden sich nun weit über den in Rauch und Feuer gehüllten Flugbahnen. "Flughöhe achttausend Feet", meldete der Autopilot. "Ich begrüße euch zu einem bezaubernden Ausflug. Anschnallen ist nicht erforderlich." Das Schicksal konnte auch ironisch sein.
John schlich sich vom Heck aus nach vorn. Bob kam auf die Beine, er fiel nicht tief, denn das Kabinenschott hatte ihn davor bewahrt. Sein erster Gedanke war: Wo ist Asuma?
"Asuma, Asuma!", schrie Bob. Kein Lebenszeichen. "Asuma!" Da, nur zwei Sitzreihen entfernt, hob sie ihren Arm, sie war unverletzt, bis auf eine Wunde am Kopf, aus dem ein feiner Rinnsal Blut rieselte. Sie umarmten sich.
"Das Schicksal kann uns nicht trennen." Asuma sagte es in ihrem typisch weiblichweichen Ton, der dieser Situation die Härte nahm. Bob schaute auf die Blutspur, die ihre pechschwarze Haarpracht wie eine modische Strähne zierte. "He, warst du beim Friseur?" Galgenhumor.
Asuma, die europäische Asiatin, und Bob, der deutsch-italienische Europäer, waren seit zwei Jahren ein Paar. Bob sah sie auf einer Bühne singend und gestikulierend, wobei ihn ganz besonders ihre ungewöhnliche Gestik interessierte. In seiner Eigenschaft als Journalist bekam er leicht eine Gelegenheit, Asuma näher kennenzulernen und sie zu der merkwürdigen Art ihrer Arm- und Handbewegungen zu befragen. Es handelte sich um die Kommunikation mit Gehörlosen im Publikum. Asuma war die erste Gesangsinterpretin, die die Gebärdensprache in ihre Show einbezog. Schon immer hatte sich Bob für altertümliche Systeme und Techniken interessiert. Natürlich aber war er nicht nur aufgrund seiner beruflichen Funktion und seiner Wissbegierde von Asuma begeistert.
Ihre für eine zierliche Frau etwas zu dunkle, jedoch wohltuende Stimme, ihre geishahafte Erscheinung in einem hochgeschlossenen, eng anliegenden Kleid, bannten seine Aufmerkamkeit. Kleider tragende Frauen waren rar geworden und Bob wertete Asumas Outfit als Zeichen ihres weiblichen Selbstbewusstseins.
Ihr wiederum gefiel Bobs authentische, die im Showbusiness selten anzutreffende, natürliche Art, die fern jeder Weichspülerei überzeugte – mit einer Ausnahme: wenn es um Komplimente ging, konnte Bob recht softie werden.
Das Cockpit war immer noch ohne Pilot. Diese Frage war jedoch, angesichts des Höllenschauspiels ringsherum, zunächst zweitrangig. Doch da kam er auf allen Vieren gekrochen und kreiste einige Male mit dem Kopf, wahrscheinlich um den Stoß abzuschütteln. Auch Claire und Emilio sahen unbeschädigt aus.
"Wir leben!", gellte ein Stimme. Und dann schrien sie alle. "Wir leben!" Wir leben! Wir leben!" Diese Freudenschreie hatten sie vor knapp einem Monat schon zigtausend Mal gehört, doch in diesen Stunden würden sie anzahlmäßig geringer sein.
Viele noch vor wenigen Minuten harmonisch in ihrer organisierten Bahn dahingleitenden Flugkörper brannten, spiehen Feuer aus ihren Bäuchen, kollidierten mit anderen Maschinen oder umherfliegenden Wrackteilen, um dann wie metallene Fackeln auf dem Erdboden aufzuschlagen. So musste es in der Empfangshalle der Hölle aussehen, Rauchfontänen, die ihr Gift hoch in die Atmosphäre pusteten und im Sekundentakt immer wieder Detonationen, berstende Flugkörper, es regnete Metall und menschliche Körperteile, Arme, Beine, Torsen von bis vor einer Viertelstunde noch in Freuden taumelnden, fröhlichen Menschen.
Das Tageslicht hatte sich weitgehend verabschiedet, zwischen den schwärzlichen Rauchwolken drang ab und an ein heller Fleck durch, der einen fernen, blauen Himmel erahnen ließ. Das Anlanden in der Heimatregion war unmöglich. Niemand von den Freunden wusste zur Stunde, was genau sich abgespielt hatte. Dass eine Katastrophe mit gigantischem Ausmaß fast ein halbes Land in Mitteleuropa dem Erdboden gleichgemacht hatte, würden sie erst viel später erfahren.
Das geschah 2038, vor zwölf Jahren.
* DYSTOPIE *
Im Jahre 2050 ist die Erdbevölkerung auf mehr als dreizehn Milliarden Menschen angeschwollen. Die großen Städte, so genannte Gravitations-Centren, wachsen auf zwanzig Millionen Einwohner an. In diesen Mega-Stadtmetropolen verdichtet sich das Volumen zu einer undefinierbaren Masse, die kein gesundes Sozialgefüge mehr zulässt, die psychische Verfassung der Menschen ist krankhaft verzehrt, die Verhaltensweisen und das Zusammenleben sind entartet, sie gleichen dem wilden, unkontrollierbaren Wachstum von Krebsgeschwüren. Egoismus, Einzelgängertum, Abgesondertheit und Gartenzaundenken blähen sich in nie gekanntem Ausmaß in allen privaten Bereichen auf und die ätzende Säure wird immer noch mit den Worthülsen "Individualismus und Selbstverwirklichung" gelobt. Allein die Machtbesessenen nutzen dieses Blendwerk für ihre Absichten.
Im Kleinen wie im Großen. Was das schemenhafte Leben der Mehrzahl der Einzelnen prägt, macht sich ebenso in den größeren Organismen, den Nationen der Erde, bemerkbar. Der Schritt zu einer "übergeordneten" Kraft ist auf dieser Ebene jedoch vollzogen. Viele ehemals selbständige Nationen gingen per "freundlicher" Übernahme in die vier alles beherrschenden Großmächte auf. Schon in den frühen Dreißigern entglitt den Kleinen ihre Majorität in eine führungsschwache Bedeutungslosigkeit, weltweit, aber auch innerhalb ihrer eigenen Völker. Überdies konnten sie ihre unvorstellbar hohen Schuldenberge nicht mehr tilgen, die Folgen waren Kollaps, Absturz in den Ruin und schließlich der Verlust ihrer Selbständigkeit.Regierungen gibt es in dem Verständnis der Jahrzehnte zuvor nicht mehr. Nach der Weltwährungsreform im Jahre 2033 erfuhr die Mächteverteilung eine neue Gewichtung. Aus ihr gingen die "Räte der Menschheit" hervor.
Vier Großmächte
Unser Planet Erde wird 2050 von vier Großmächten gesteuert, die sich übereinstimmend "Councils of Humanity" nennen.
Erstens: Die "USW United States of the World", wozu die damalige USA, die Länder und Nationen Südamerika, Alaska, Australien, Großbritannien, Japan und Kanada gehören;
Zweitens: Die "UFA – United Folks of Asia", die von China, Russland, Indien, Korea, Vietnam und Iran gestellt wird;
Drittens: Die "SAA – States of Africa Arabica" bestehend aus Afrika, den Arabischen Staaten und seinen Anrainern;
Viertens: Die "AOE – Alliance of Europe", die sich aus den europäischen Ländern und denen jenseits der "SAA" bis zum Nordpool rekrutiert.
Die "Councils of Humanity" werden aus Vertretern und Gesandten weltweit agierender Interessengruppen gebildet, sie schwingen das Zepter, größtenteils miteinander, doch auch konkurrierend. Seit Jahren sind Bestrebungen der UFA im Gange – beispielhaft sind die Etablierung eigener, autarker Kapital- und Handelsmärkte, Weltbanken und Börsen – sich mit den "States of Africa-Arabica" zu verbünden, um somit als vereinigte "AAA – Asia-Africa-Arabica" die absolute Topstellung in der Weltherrschaft anzustreben.
In immer schärfer werdender Konkurrenz treffen besonders die USW und die UFA bei dem Besitzanspruch auf die Arktis und Antarktis aufeinander, denn die Kontinente um Nord- und Südpol gelten als die letzten unausgeschöpften Erdöl- und Gas-Reservoires des blauen Planeten.
Energieformen und Rohstoffe
Die schwindenden "oberflächlichen" Ressourcen zwingen dazu, andere Wege zu suchen, nämlich zu den tiefer liegenden Energiereserven. Das Erdinnere mit dem ewigen Magma ist Ziel von waghalsigen Experimenten, aber waghalsig waren die "oberflächlichen" Atomkraftwerke auch.
Vulkane sind mit ihren Schloten der direkte Draht zu einer ewig währenden Energiequelle. Neue Kraftwerke auf den Vulkanen wandeln die schier unerschöpfliche Hitze des Erdkerns, die Gase in den Magmakammern sowie den Wasserdampf in anwendbare Energie um. Auch sind die Vulkankraftwerks-Betreiber bestrebt, seltene Metalle und sogar Gold aus dem Vulkangestein zu lösen.
Ehemals wirtschaftlich im Abseits gestandene Regionen, wie die des Schwarzen Kontinents oder die Tausende von Inseln umfassende Pazifikregion, nehmen den Platz der ehemaligen Ölförderländer ein und wachsen zu starken Wettbewerbern auf dem Energieweltmarkt.
Der nähere Weltraum wird langsam erobert. Edelmetalle wurden schon früher in einer Vielzahl von Asteroiden vermutet und der wirtschaftliche Ehrgeiz führte im letzten Jahrzehnt zum Bau der ersten planetaren Minen.
Klima
Der mediale Hype um den Klimawandel, um die bedrohliche Ederwärmung, beginnend bereits in den 90ern des vorigen Jahrtausends und vor rund drei Jahrzehnten in Hysterie ausufernd, wurde durch die Erde selber ab absurdum geführt. Zwei kurz aufeinander folgende Vulkanausbrüche waren dafür verantwortlich, dass sich Teile unseres Planeten in frostige und düstere Landschaften verwandelten. Jahrelang in der Atmosphäre schwebende Aschewolken behinderten die Sonneneinstrahlung, mit dem Effekt, dass die Temperaturen sanken. Jedoch begünstigte die globale Abkühlung auch das Wiederaufblühen von Population und Vegetation in anderen Erdteilen wie in den Weltmeeren.
Politik ohne Parteien
Politische Parteien sind längst Geschichte. Deshalb macht der parlamentarische Lobbyismus keinen Sinn mehr; die Einflussnahme fließt nun direkt. Es werden keine Personen mehr als Volksvertreter gewählt. Stattdessen kann das Volk mitentscheiden, welche der vorgegebenen Themen und Programmen sie favorisieren. Gestaltet und vorgelegt werden die Programme von Finanzkonsortien, Wirtschaftskonzernen, Hightech-Formationen, IT-Giganten, Wohltätigkeits-Stiftungen, Religionsgemeinschaften oder Einzelunternehmen. Ganz bewusst wird die Vielzahl der Themen hochgetrieben, um sie für den einzelnen Wähler unüberschaubar zu halten. Vermarktet wird dieser nebulöse Umstand als das "Recht auf detaillierte Mitbestimmung und Mitgestaltung".
Die enormen Auswahlmöglichkeiten und deren Selektion zwingen zum Einsatz von weltweit vernetzten Quantenrechnern der Informations-Wirtschaft und folgend daraus zur Anwendung der personifizierten Chip-Technologie.
Menschen ohne diese technische Ausstattung – also ohne ID-Chip - wird die politische Mitbestimmung und soziale Mitgestaltung unmöglich gemacht, ebenso wird ihnen der Zugang zu allen anderen so genannten Annehmlichkeiten des Erdenlebens erschwert.
Würde des Menschen
Aufgrund des zunehmenden Verlustes der politischen Regierbarkeit, besonders der Mega-Ballungsräume, sehen sich die "Councils of Humanity" zu neuen globalen Konzepten genötigt. Sie verkünden pathetisch und überschwänglich ein "ehrenhaftes gesellschaftliches Verständnis zum Wohle der Menschheit".
Laut internationaler Verfassung ist die Würde des Menschen immer noch unantastbar, der Passus hat jedoch eine Erweiterung erfahren, wonach sich die Würde nunmehr an der "Entwicklung und dem Wohlergehen der Menschheit als Kollektiv" orientiert. Das Recht des Individuums wird zwar noch gepredigt, aber am Nutzen oder Schaden für die Gesellschaft als Ganzheit gemessen. So werden Menschen ohne ID-Chip als Gegner der "Kollektiv-Würde" gebrandmarkt. Der Chip wird als das zentrale Instrument zum Erreichen des sozialen und wirtschaftlichen Wohlstands gepriesen.
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Denn selbst der Satan kann sich
in seiner Gestalt in
einen Engel des Lichts verwandeln.
Es ist also daran nichts Sonderliches,
wenn auch seine Diener
Masken und Kostüme
der Gerechtigkeit tragen werden.
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Völkerwanderung und Religion
Obgleich auf fast identischen Grundmanifesten fußend, ist die Welt, insbesondere die europäische, in zwei große Religionsgemeinschaften gespalten: Christen und Moslems. Welche der beiden Richtungen sich behaupten und zur beherrschenden Weltreligion aufsteigen wird, erahnen nur wenige. Auf einem gesellschaftlichen Segment hat die "interkulturelle Zusammenführung" den größten Effekt erfahren, nämlich bei der Annäherung an die Kulturen, die der "reizenden" Weiblichkeit schon seit biblischen Zeiten einen züchtigen Vorhang diktierten. Naturgegebene weibliche Attribute zu zeigen, ist gefährlicher denn je. Erst durch die Anpassung der abendländischen Sichtweise an die verhüllende Kleiderordnung sind Frauen gegen die alltäglich gewordenen Bedrohungen, Belästigungen und Schändungen einigermaßen gewappnet.
Bereits vor fünfunddreißig Jahren begann eine auf Europa überschwappende Flüchtlings- und Asylantenwelle, vornehmlich aus Krisengebieten des afrikanischen und orientalischen Kontinents kommend, die unaufhaltsam zu einer Völkerwanderung anwuchs. Von einem hypertoleranten Verhalten der abendländischen Völker und einer pervertierten Jung-Generation begünstigt, entglitt die Willkommenskultur zu krankhaft-masochistischem Gebahren und der Strom von Flüchtigen, Vertriebenen, Asylsuchenden mutierte zu einer Maskerade, der sich kriminelle und terroristische Subjekte untermischten.
Ein zwischen vielen Nationen der Welt getroffenes "globales Migrationsabkommen" gegen Ende des zweiten Jahrzehnts sollte die Flüchtlingsströme international geordneter und sicherer machen, doch die Fluchtursachen wurden damit nicht behoben.
Bis in die dreißiger Jahre hinein waren sich die Regierungen uneins mit dem Umgang der dramatischen Übervölkerung.
Manche Nationen sahen im Zusammenstoß der Kulturen ein großes gesellschaftliches Zukunftsproblem, andere hießen "Refugees" als Mitbürger willkommen. Ein harmonisches Mitbürgertum, gedacht in der Form einer friedlichen Koexistenz, wurde nie erreicht.
Ein Rückblick in die Geschichte zeigt - mit zeitlich angepassten Nuancen - die Unvereinbarkeit. Im sechsten Jahrhundert (nach westlicher Zeitrechnung) begannen muslimische Kriegsheere, das südliche bis mittlere Europa zu erobern, keineswegs um zu missionieren, sondern mit der Entschlossenheit, den ihrer Ansicht nach ungläubigen Okzident zu enthaupten – im "Namen des Propheten". Friede sei mit ihm.
Fünf Hundert Jahre später folgten die christlichen Kreuzzüge, mit dem Auftrag, die Länder zurückzuerobern, mit nicht minderem "Missionseifer" und ebensolcher Brutalität. Viel Leid überzog Jahrhunderte lang Orient und Okzident.
Heute, mit Beginn des fünften Jahrzehnts des dritten Jahrtausends, bemühen sich Opinionleader und staatlich beaufsichtigte Medien geflissentlich, das Bild von brutalem Gemetzel und länderübergreifenden Eroberungsschlachten allseits in das Land der Siencefiction zu verbannen. Größere kriegerische Glaubensschlachten seien, abgesehen von immer noch schwelenden Kleinkriegen, unwahrscheinlich. "Gott und Allah sei gedankt."
Den Councils, die mit allen Religionsrichtungen geschickt kooperieren, gehen Allah und Gott an der Hutschnur vorbei. Für sie ist jede Menschenmenge willkommen, weil sie Kundenpotenzial für den Chip-Absatz darstellt. Auch mit dieser Absicht werden Gesetze geschaffen, die allen Menschen eine "ausreichende Identidität" mittels ID-Chip vorschreibt. Somit können Fluchtbewegungen, Handelswege und Reiserouten jederzeit überwacht und gesteuert werden.
Bargeld adé
Losgetreten wurde die Diskussion bereits um das Jahr 2000. Kriminalität, Geldwäsche, Terrorismus, Schwarzarbeit, Steuerhinterziehung ... das waren präsentable Themen, die endlich den bargeldlosen Zahlungsverkehr forderten. Ein zusätzliches Argument lieferte der sonst sehr pragmatisch eingestellte Handel selber, indem er das Bargeldhandling nun als eine kostenintensive Belastung reklamierte.
Es liegt auf der Hand, dass Regierungen den uneingeschränkten elektronischen Zahlungsweg unterstützen, so doch jede einzelne Geldbewegung nachvollzogen und überprüft werden kann. In mehreren Ländern war das Transfervolumen von physischem Geld bereits limitiert. Bargeld lacht nicht mehr.
Großangelegte Kampagnen hämmern den Menschen ein, dass Geldscheine und Münzen nicht nur altmodisch, sondern auch unpraktisch und sogar gefährlich seien. Vertraglich gebundene Wissenschaftsteams bestätigen, dass mit den "Blüten" auch Krankheitserreger übertragen würden.
Hinter den Pseudoargumenten für ein Bargeldverbot lässt sich das Bestreben nach schrankenlosem Ausspähen gut verstecken. Unangetastet bleibt auch die Tatsache, dass die Finanzindustrie und damit die Globalplayer Riesenumsätze wittern, denn sie verdienen an jeder virtuellen Transaktion.
Eine Weltwährung
Die vier Weltmächte einigen sich auf die Einführung von nur einer Währung, die ausschließlich in virtueller Form besteht. Physische Zahlungsmittel sind vom Tisch. Das virtuelle Zahlungsmittel bekommt den Namen "Viron".
Ein Viron entspricht etwa dem Wert eines US-Dollars zum Zeitpunkt der Weltwährungsreform im Jahr 2033.
Tauschbörsen gewinnen viel Zuspruch und sprießen allerorts aus dem Boden. Nur sie bieten noch eine geringe Chance, den in allen Phasen total registrierten, kontrollierten und verchipten Handel teilweise zu umgehen. Doch auch die Tauschwege sind selbstverständlich gesetzlich geregelt und die Menschen gehen immer ein Risiko ein, wenn Güter und Dienstleistungen eine bestimmte Größenordnung erreichen.
Einheits-Sprache für alle
Alle Menschen sind seit 2045 verpflichtet, neben ihrer angestammten Sprache, das "Unics", ein Mix aus chinesisch, russisch, spanisch und englisch, zu erlernen und im öffentlichen Leben sowie bei allen geschäftlichen Aktionen anzuwenden. Durch die Einführung von Unics sollte das "babylonische Zeitalter" der tausend Sprachen verschwinden, aber in erster Linie versprechen sich die Globalplayer einen gigantischen Produktions-, Dienstleistungs- und Absatzmarkt.
Alle Bereiche, in denen die Sprache als verbindendes Element auftaucht, erfahren eine Umgestaltung. Jegliche Korrespondenz, Lehrmittel, Verbraucherhinweise, Gebrauchsanleitungen, Verträge, öffentliche Verkehrs- und Informationsflächen müssen neu produziert werden. Eine unerschöpflich sprudelnde Geldquelle ist aufgetan.
Nur im privaten Umgang ohne vertragliche Verpflichtung ist die Pflege der National- und Muttersprache weiterhin erlaubt.
Telemedizin
Die Gesundheitsindustrie hat sich zu einer der einträglichsten Wirtschaftszweige gemausert. Medizinische Maßnahmen erfordern generell eine ausreichende Identität des Patienten. Sofern ein Identitäts-Chip nicht vorhanden ist, muss der Patient der Chip-Implantation zustimmen; wird die Zustimmung abgelehnt, trägt der Patient das volle Risiko des Eingriffs. Versicherungskonzerne sehen zudem bei einer Chip-Verweigerung Gründe für ein Haftungsrücktrittsrecht. "Friss oder stirb" heißt die Losung.
Klagen von Interessenverbänden und Bürgern gegen den Zwang zum Mikro-Chip hatten und haben wenig Aussicht auf Erfolg, denn die Gerichtshöfe für Menschenrechte, die im Hintergrund von den Kommissionen der "Councils" gezügelt werden, verdeutlichen mit ihren Urteilen immer wieder, dass die physische Einbringung eines ID-Chips weder als Körperverletzung, noch als Einschränkung der persönlichen Freiheit oder als Verletzung der Menschenrechte zu sehen ist. Grundlage dieser Rechtsprechung ist die neue Verfassung, die die Entwicklung und das Wohlergehen der Menschheit "am Kollektiv" bemisst und sie somit über den Anspruch des Individuums stellt.
Scharen von bei den Pharma- und Versicherungskonzernen in Lohn und Brot stehenden Juristen lassen sich listige Reglementierungen einfallen. So steht die bei einer Operation angewandte Technik künftig unter Patentschutz, wobei der Patient zwar das Eigentumsrecht an seiner ureigenen Anatomie, an den – noch eigenen – Organen oder Gliedmaßen behält, hingegen bei einer so bezeichneten "Reparation", unter der nun alle medizinischen Eingriffe fallen, nur eine zeitlich begrenzte Lizenz beanspruchen kann. Wohl räumen die Gesetze eine Art Mithilfe des Patienten bei seiner Genesung ein, den Hauptanteil an dem Wiederherstellen der Gesundheit wird jedoch der Medizintechnik zugeschrieben.
Die ausführenden Mediziner, Chirurgen und Klinikbedienstete dürfen nur unter Lizenzvergaben der privatwirtschaftlich geführten Kliniken praktizieren. Chip-Trägern gewähren die Patent- und Lizenzinhaber ein erweitertes Recht an den erfolgreich behandelten Organen und Körperteilen, die sich auf die Nutzung bis zum klinischen Tod bezieht.
Wer seine Organe und andere Körperteile bereits zu Lebzeiten freiwillig für eine Spende im Falle des Ablebens zur Verfügung stellt, genießt in der Regel eine bevorzugte medizinische Behandlung, da sie dem Erhalt der Funktionalität dient und somit den gewinnträchtigen Organhandel anschiebt.
Noch mehr Anreize bieten Versicherungen in Kooperation mit Medizingesellschaften durch spezielle Verträge, nach denen die Versicherten die Rechte an ihren Organen und Gliedmaßen gegen eine monatliche Rente vorzeitig verkaufen können; eine Art Vorschuss auf die spätere Inbesitznahme durch die Rechteinhaber, also den Versicherungs- und Medizinkonzernen.
Wie etliche andere Branchen hat auch dieser Bereich einen neuen Berufszweig hervorgebracht: den des kommerziell ausgerichteten Organ-Maklers. Und wie in anderen Wirtschaftszweigen auch, ist die Ausübung der Tätigkeit von bestimmten Bedingungen und einer Zertifizierung abhängig, deren Ausgestaltung wiederum Kapitalgesellschaften der Medizin und der Versicherungen stark beeinflussen, wenn nicht gar diktieren.
Verweigerern der subkutanen Chip-Injektion werden vor einem medizinischen Eingriff zur jederzeitigen Organspende verpflichtet. Begründet wird diese Forderung mit dem Lizenz-Anspruch der Medizin-Technik, der allein die wiederhergestellte Funktionalität zuzusprechen ist. Die "Reparation" verändert so die Eigentumsverhältnisse zugunsten der Lizenzgeber. Der erfolgreich behandelte Patient verliert damit das Recht an seinem Organ und ist nur Nutznießer einer Lizenz – bis zum Zeitpunkt der Organspende.
Bei einem Austausch von komplexen Organen, wie zum Beispiel bei einem Herzen oder einer Niere, verbleibt das Eigentumsrecht ohnehin bei den Lizenzinhabern, die gleichzusetzen sind mit den Verkäufern und Händlern, mithin bei den global agierenden Konzernen. Updates und Laufzeit in Bezug auf die Nutzung der Organe müssen in vertraglich festgelegten Abständen vom Patienten erneuert und honoriert werden.
Bei Reparationen, die von den Versicherungskonzernen bezahlt werden, beanspruchen diese außerdem einen Eigentumsanteil, weil sie bereits eine generelle Gebühr an die Lizenzinhaber entrichtet haben.
Letztlich ist dieser Umstand unerheblich, da die verschiedenen Gesellschaften und Firmen der Gesundheitsindustrie im Endeffekt auf eine Leitkuh in der Matrix hinsteuern.
Des Volkes Freuden
Linientreue BürgerInnen und Unternehmen dürfen sich an Erleichterungen und Annehmlichkeiten ihres Alltagslebens erfreuen. So sind sie zum Beispiel von Steuerklärungen befreit, denn schließlich werden alle privaten und gewerblichen Bewegungen, jeder Einkauf, jedes Geschäft, praktisch jede Aktivität in allen Lebensbereichen automatisch aufgezeichnet. Der Wegfall der Steuererklärung wird als Steigerung der Lebensfreude und als Präventionsmaßnahme in der Korruptionsbekämpfung gelobt.
Glitzernd aufgepeppte Unterhaltungsshows auf den regierungstreuen Kommunikations-Kanälen glorifizieren vorbildliches Staatsbürgertum. Der "Bürger-Oscar" ist eine begehrte Volkstrophäe und wird Bürgerinnen und Bürgern verliehen, bei denen über ein Jahr hinweg keine Verstöße gegen die Gesetze registriert worden sind. Selbstredend sind die "Ausgezeichneten" komplett verchipt.
Satisfact-Sex
Zufriedenheit ist das Thema der Zeit. Und der Trend gebärt in der westlichen Sphäre neben anderen "friedliebenden" Strömungen eine stetig größer werdende Genderbewegung, deren Ziel es ist, die endgültige Sozialisierung und die Loslösung von der naturgegebenen Geschlechterzugehörigkeit und -identität zu erreichen.
Parallel dazu wächst die Unterwanderung der vermeintlichen Männerdomäne. Ein Begriff durchtränkt den Forderungskatalog der Ultra-Feministinnen: 'SFS', der SatisFactSex. Er entspringt dem aggressiveren Zweig der Frauenbewegung und fordert das Recht des weiblich-anatomischen Geschlechts auf sexuelle Befriedigung – entweder durch den männlichen Part oder auf anderem Wege. Mit Hilfe des Subkutan-Chips soll die Einhaltung der Vorgaben kontrolliert werden. Heterosexuelle Männer ohne diesen Überwachungs-Chip werden als frauenfeindliche Wesen angeprangert.
Eine ebenso bedrohliche Gruppierung legt die Forderungen der Feministinnen nach eigenen Regeln aus: es sind die Hardcore-Vertreter der "Verhüllungs-Kultur", die nun durch die westliche Welt ihr Recht bestätigt sehen, jederzeit die "Befriedigung des Weibes" vornehmen zu dürfen – auch gegen deren Willen.
Künstliche Intelligenz
Die Künstliche Intelligenz ist massiv auf dem Vormarsch. Androiden, Humanoiden, Gynoiden und Cyborgs stellen bereits zahlenmäßig ein Zehntel der Weltbevölkerung. Sie sind in den Alltag der natürlichen Menschen integriert und gelten nicht mehr als seelenlose Maschinen, sondern genießen inzwischen den Status von Halbwesen mit individuellen Rechten.
Ziel der "Councils of Humanity" ist es, jedem Menschen mindestens eines der KI-Wesen zur Seite zu stellen … im Haushalt, im Büro, im Gesundheitswesen, in der Touristik, in der Kranken- und Altenpflege, in der sozialen Betreuung von Kindern, von Alleinstehenden und von straffällig gewordenen BürgerInnen. Konsequenterweise bieten sich auch auf dem Vergnügungssektor Gynoiden und Androiden als Freudenpartner an.
Der Begriff "Prostitution" findet hier keinen Widerhall mehr, da die Klon-Industrie ihre Patent- und Gebrauchsrechte auch auf diesem zwielichtigen Marktsegment durchsetzt. Halbwesen sind allgegenwärtig, gesellschaftlich akzeptiert und konsolidiert.
Identitäts-Chip
Immerhin ist für die Implementierungpflicht eines ID-Chips noch eine Übergangszeit bis 2060 vorgesehen. Bürgerinnen und Bürger ohne Subkutan-Chip verfügen jedoch nach den Statuten über keine ausreichende Identität und werden grundsätzlich des Terrors und des Unterwanderns sowie des Widerstandes gegen das Allgemeinwohl verdächtigt.
Der Zwang zur totalen Offenlegung der Identität und der Kontrolle per ID-Chip führt zwangsläufig zu illegalen Auswüchsen, wie Datendiebstahl und Datenhandel und damit zu äußerst gefährlichen und kriminellen Handlungen. Bei Überfällen werden den Menschen die Chips aus dem Körper geschnitten, meist werden sie dabei grobschlächtig verstümmelt.
Untergrundaktive Gruppierungen sind technisch und organisatorisch bestens aufgestellt, so gut wie die Organisationen der Councils. Die Kriminalität ist der so genannten Law-and-Order-Liga, die im Grunde kein Deut besser ist, oft einen Schritt voraus.
Fingerscans sind noch up to date. Zwar analysieren Scanner den Sauerstoffgehalt des Blutes und die Blutwerte, sie erkennen, ob Finger künstlich hergestellt oder ob eine abgetrennte Fingerkuppe, zum Beispiel aufgrund eines Raubes oder durch Tod bereits abgestorben ist, doch kriminelle Gruppen hantieren mit Geräten, die Blutwerte simulieren. Ein gravierender Nachteil von Fingerscans jedoch ist die körperliche und örtlich übereinstimmende Anwesenheit von Fingerträger und Scanner. Deshalb soll das umständliche System durch den komfortableren Chip ersetzt werden. Der große Vorteil des ID-Chips liegt in seiner Korrespondenz mit fernen ortsunabhängigen Impulsgebern oder übergeordneten Satelliten.
Kontrolle und Manipulation sind die Ziele. Das Medizin-Business, die Pharmaindustrie, die Produktionsabläufe, die Logistik, die Energie- und Rohstoffgewinnung sind Einsatzfelder der Überwachungs- und Registrier-Technologie … nichts soll im Verborgenen bleiben, bis in die Privat- und Intimssphäre dringen die Datenspürhunde.
Während die Globalplayer die Sicherung ihrer Billionengeschäfte mit List und Tücke verfolgen, wird die Chip-Technologie in der Öffentlichkeit als die größte menschenfreundliche Errungenschaft aller Zeiten propagiert. Der hochgelobte Chip soll den Segen engelsgleich bringen.
Doch dieser Engel hat den kalten Blick.
***
Und ich sah ein zweites Tier
aufsteigen aus der Erde;
das hatte zwei Hörner wie ein Lamm
und redete wie ein Drache.
Und es übt alle Macht des ersten Tieres aus
vor seinen Augen und es macht,
dass die Erde und die darauf wohnen,
das erste Tier anbeten,
dessen tödliche Wunde heil geworden war.
Und es tut große Zeichen, so dass es auch Feuer
vom Himmel auf die Erde fallen lässt
vor den Augen der Menschen und es verführt,
die auf Erden wohnen, durch die Zeichen,
die zu tun vor den Augen des Tieres ihm Macht gegeben ist.
Und es sagt denen, die auf Erden wohnen,
dass sie ein Bild machen sollen dem Tier,
das die Wunde vom Schwert hatte
und lebendig geworden war.
(Offenbarung 13)
***
Was geschah im Jahre 2038
Bob Ariano macht es sich in seinem Cyberroom bequem. Auf dieser Etage seines Schwimmhauses werden alle technischen Abläufe koordiniert. Über sein CyberCap und dem Multifunktions-Relaxsessel kann er akustisch und sensorisch fast alle Anwendungen im Haus ansteuern, von der Bedienung seines Holografic-Books über verschiedene Kommunikationsarten mit der Außenwelt bis zur Funktion der App- und Picturewall und der Lichtdurchlässigkeit der umlaufenden raumhohen Fensterfront. Jetzt am frühen Nachmittag hat Bob es gerne, wenn die Sonne gedimmt einstrahlt.
In der Liegeposition kann er gut überlegen und seine Einfälle diktieren. Bob aktiviert sein Holografic-Book. Dass es ein geheimes Innenleben besitzt, weiß nicht einmal Brenda, Bobs heutige Partnerin. Er erwarb es auf dem Tauschmarkt mit einem zusätzlichen, aber illegalen Feature: dem Gehirn einer Ratte. Dadurch kann er eine geografische Ortung verschleiern und Schlupflöcher finden, die wenigen Lücken, die nicht per Satellit zu lokalisieren sind. Ein weiterer Vorteil dieses Rattenorgans liegt darin, dass es nicht von dem regionalen Chip-Überwachungs-Tower ermittelt und beeinflusst werden kann. Zwar müssen alle Haus- und Zuchttiere mit Chips markiert sein, doch Ratten fallen noch nicht in diese Kategorie. Außerdem werden diese speziellen, mittlerweile technologie-kompatiblen Tiere an gut getarnten Orten hochgezüchtet. Bob nimmt an, dass die Zuchtstationen auf einer der Tausenden von Inseln im Pazifik betrieben werden und er denkt über ein eigenes Vertriebsnetz der Hightech-Organ-Books nach, was nach der heutigen Gesetzgebung natürlich unerlaubt ist. Erschwerend kommt hinzu, dass diese HOB's nur über Tauschbörsen zu handeln wären, da Bargeldgeschäfte sowie der Handel mit nicht chipregistrierten Gütern strafbar sind.
Was noch vor zwei Jahrzehnten die illegalen Drogengeschäfte waren, ist heute der Handel mit der intelligenten organischen Substanz. "back to nature", sagen die Nons lakonisch.
Bob steht auf. Die Liegeposition ist für ihn immer ein guter Anfang, um geistig in ein Thema einzusteigen, doch nach einer gewissen Weile kriecht eine undefinierbare Unruhe in ihm hoch, er muss aufstehen, sich bewegen. In der warmen Jahreszeit springt er zwischendurch in den Paternoster und fährt bis in den Pool hinunter, um eine paar erfrischende Schwimmzüge zu machen. Heute bleibt er im Schreibmodus und ordnet seine Notizen zur Memo.
"Memo 2038 öffnen!"
Aus der Communicationswall beamt die Seite und platziert sich in Raumhöhe vor, seitlich und hinter ihm. Auf den mehrdimensionalen Ebenen sind seine Notizen, Fotos und Recherchen angeordnet. Er steht mittendrin in dieser Infoarchitektur.
"Schreibe im Textmodus! Im Jahre 2038 stand unsere Erde vor einer alles vernichtenden Bedrohung aus dem Weltall. Ein Asteroid raste auf uns zu und würde bei einem Aufprall alles Leben auf unserem Planeten auslöschen. Mit einer Geschwindigkeit von etwa 12.000 km pro Stunde näherte sich der Asteroid "Chikan". Die globale Asteroiden-Abwehr erkannte zwar die Gefahr, informierte die Weltöffentlichkeit jedoch erst spät und versuchte, den galaktischen Brocken - nur noch vier Millionen Kilometer entfernt – aus seiner Bahn zu werfen. [Setze Marginalie: Die Strecke entspricht etwas mehr als zehn Mal der Entfernung zu unserem Erdtrabanten, dem Mond.]
Mehrere Versuche zur Kursänderung scheiterten. "Chikan" war schon bis auf drei Millionen Kilometer nahe gekommen und bis zur Kollision hätte es nur zehn Tage gedauert um dann die Erde in einen Feuerball zu verwandeln. Schließlich konnte der Asteroid mittels Atomraketen in einem Abstand von zweieinhalb Millionen Kilometer zertrümmert werden. Unsere Erde war gerettet und eine unglaubliche globale Euphorie versetzte die Menschen mehrere Wochen lang in einen Taumel der Dankbarkeit.
Achtundzwanzig Tage später kam die Antwort. Die Rache eines Jahrmillionen alten und nun zerstörten Reisenden im Kosmos? Nach der geglückten Zertrümmerung des Asteroiden schlugen die zerstreuten Überreste auf die Erde ein, zwar zum Teil verglüht, aber andere immerhin noch zig Tonnen schwer. Mit einer Dichte, die dem Fünffachen von irdischem Fels oder Beton entsprach, hatte das außerirdische Material eine unbändige Kraft; die knapp ein bis drei Meter großen Brocken verursachten im früheren Zentral-Europa, der jetzigen "Alliance of Europe", ein Erdbeben und einen langanhaltenden Schauer aus Feuer, Asche, Gestein und Zivilisationsmüll.
Zwar wurde dieses ungewöhnliches Ereignis zuvor abermals von dem rund um den Globus installierten Frühwarnsystem und von der Weltallwarte registriert, aber eben nur registriert. Niemand wollte eine zweite Bedrohung in einer solch kurzen Zeitspanne wahr haben. Eine Fehleinschätzung mit fatalen Folgen. Die Warnhinweise privater Beobachtungsstationen verkauften die Regierungen gegenüber der Öffentlichkeit als harmlose Nachwehen der Asteroideneliminierung.
Innerhalb einer Fläche von zweihundert mal dreihundert Kilometern wurden Städte und Ortschaften mit der Gewalt mehrerer Atombomben dem Erdboden gleichgemacht. Vierzig Millionen Menschen starben. Die gesamte Tier- und Planzenwelt wurde vernichtet. Der mittlere Teil des europäischen Kontinents glich nach dem Erlöschen des Feuer- und Dampfregens einer zerklüfteten Mondlandschaft, nur die Krater waren sehr viel tiefer, als man sie von der Mondoberfläche her kennt. Fünfzehn kilometerweite Krater rissen die Brocken in den Boden. Die Menschen verbrannten oder atomisierten zu Staub. Meine engsten Angehörigen waren darunter, sie waren in ihrer Heimatstadt geblieben, um mit Nachbarn und Freunden die Rettung der Welt zu feiern. Das nenne ich Schizophrenie des Glücks.
Acht Jahre lang lag diese Geisterlandschaft abgeschirmt von der Zivilisation, nur Forscherteams hatten Zugang zu dem unwirklichen Areal. Einige Einschlaglöcher füllten sich mit Wasser und in den Kratern entwickelte sich eine üppige Flora und Fauna.
Pause Memo 2038!"
Die Geschehnisse von 2038 laufen im Zeitraffer an Bob vorüber. Er hört das aus der Ferne kommende Grollen, die Angstschreie seiner Freunde, blickt in das Weiß weit aufgerissener Augen, spürt die Vibrationen in seinem Bauch und die unbändige Kraft, die den Oktibus wie ein Presslufthammer bearbeitete, brennende Flugmaschinen, Wrackteile und abgetrennte Gliedmaßen prallen vor seinem geistigen Auge wieder auf die Erde.
Symbiose Natur und Technik
Damals rettete das blitzschnelle Ausweichen des Oktibus ihn und seine Freunde vor einem todbringenden Zusammenprall mit einem abstürzenden Helicopter. Doch diese meisterliche Leistung konnte nicht der Pilot für sich verbuchen, Bob wusste es in dem Moment, als er seinen Freund kopfüber an der Scheibe gepresst wahrnahm. Die Gegenkorrektur war nicht dessen Verdienst, sondern die reaktionsschnelle Übernahme der Steuerung durch das Gehirn einer Krähe – einer in dieser realen Gefahrensituation gelungenen Symbiose von Natur und Technik.
Ein japanischer Fluggeräte-Hersteller hatte bereits 2034, ein Jahr nach der Weltwährungreform, mit einer Revolution für Furore gesorgt und die Koppelung von elektronischen und mechanischen Steuerungselementen mit Gehirnen von Rabenvögel präsentiert. Die positive Marktaufnahme führte zunächst zur Produktion von Freizeitfliegern und Sportmaschinen und im Jahr 2037 zur Markteinführung von kleineren Passagier-Flugzeugen und Privatjets, wie das Modell "Oktibus".
Ebenso wie die KI, die Künstliche Intelligenz, gilt die Gattung der Rabenvögel sehr lernfähig – und sie ist kulturell hoch entwickelt. Erfahrenes und Erlerntes wirken sich als Vorteilsmuster aus und werden innerhalb der eigenen Spezies und sogar von Generation zu Generation weiter vererbt. Die den Rabenvögeln von Natur aus mitgegebene Monogamie war ein weiterer Aspekt, der die natürliche Substanz mit der Soft- und Hardware erleichternd zusammenwachsen ließ. Die Frage der Kompatibilität von Technik und Natur war demnach nicht das Problem, sondern das ausgeprägte Naturell der Vogelart, sich auf nur einen Partner einzulassen. Im Endeffekt akzeptierte das Rabengehirn die Steuerungstechnik der Maschine als EhePartner. Hinreichend begründet werden konnte das Ergebnis nicht, blieb somit eine Wissenslücke. Die Wissenschaftler vermuteten die Kooperationsbereitschaft in der Begabung der Vögel, sich neuen Umständen anpassen zu können, obgleich diese unprogrammierbare Abhängigkeit ein Risiko darstellte. Deshalb wurde versucht, als Sicherheitsvorkehrung zwei parallel arbeitende Rabengehirne netzwerkartig zu installieren. Der Test scheiterte, weil mit dem Dreiergespann eine Art Eifersucht unter den beiden tierischen Einheiten auftauchte; die Konstellation einer "Ehe zu Dritt" und die damit einhergehenden unberechenbaren Auslöser hatten Fehlfunktionen in der Flugsteuerung hervorgerufen.
Das Problem der emotionsgeladenen Natursubstanzen führte zu einem weiteren Entwicklungsschritt: zum Bau einer Farm, die sich auf das Züchten von natürlichem Gewebe spezialisierte, welches wie ein intelligentes Netzwerk agiert. Die Injektion des Zuchtgewebes in eine Essenz mit embryonalen Nervenzellen entwickelt selbständig ein neuronales und expansives Leitsystem, dessen Zellkörper auch in eine Elektrodenarchitektur einzudringen vermag und diese zu beeinflussen sucht.
Wie immer in der so genannten "Synergie von Forschung und Industrie" sollten auch hier die Ergebnisse – das Zeitalter der RFID-Chips ablösend – eine neue Ära in der Chip-Technologie einläuten, eine, die das menschliche Gewebe zu manipulieren imstande ist. Insbesondere "forscht die Wissenschaft zu Gunsten der Gesundheit", so die publicityträchtige Message der Industrie. Der Öffentlichkeit bleibt jedoch aus nur den Insidern bekannten Gründen verschlossen, dass eine global agierende Wirtschaftsmacht dabei punktuell das Gewebe im menschlichen Hirn in ihrer Schusslinie hat.
"Weiter mit 2038! Das Höllenspektakel vor nunmehr zwölf Jahren hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Immer wieder schrecke ich aus meinen Träumen hoch. Im Halbwachzustand drängen sich die Fragen auf, die keiner beantworten kann oder will: Warum konnte man den Asteroiden zertrümmern – natürlich, weil die Asteroiden-Abwehr ihn frühzeitig sichtete und seinen Kurs berechnete – aber warum wurde die spätere Katastrophe nicht verhindert? Es gab keinen Versuch, die Trümmer im All zu eliminieren. War es ein von den Councils zugelassener Angriff auf die Erde mit einigermaßen kalkulierbaren Folgen? Ich gebe mir selber eine Erklärung, die ziemlich gespenstisch ist: die Katastrophe wurde von den drei Großmächten bewusst in Kauf genommen, denn es ist kein Geheimnis, dass die Alliance of Europe als vierte Weltmachtinstanz unerwünscht geworden ist. Irgendwann wird es sich aufklären, welche dunklen Umstände die Katastrophe zugelassen haben."
Jeder normal veranlagte Mensch würde Bobs Vorstellungen in das Land der finsteren Fantasien jagen. Bei objektiver Betrachtung kann jedoch kein Experte die Fakten von der Hand weisen. Mit seinen Freunden, den Nonkonformen, hatte Bob seine Thesen besprochen, ohne jedoch auf ungeteilten Zuspruch zu stoßen. John, der Aquabilien-Architekt und sein engster Vertrauter, kann der These viel abgewinnen, jedoch ist ihm das Ausmaß der Katastrophe für ein planmäßiges Handeln zu absurd.
Sean, der Informatiker, konnte sich vorstellen, dass hier ein Präzedenzfall durchaus erwünscht war, von dem sich einige Wirtschafts- und Wissenschaftszweige Vorteile erhofften, denn eine der – allerdings nicht neuen – Erkenntnisse ist, dass sich Katastrophen sehr gut für kommerzielle Strategien ausschlachten lassen.
Bob diktiert weiter. "Ganz offensichtlich ist, dass der Absatz von Under-Skin-Chips in dem Freudenmonat der Erdenrettung in astronomische Höhen geschnellt war. Nach der Katastrophe, die natürlich in aller Welt Aufmerksamkeit erfuhr, waren die meisten Menschen noch verrückter nach Sicherheits-Chips, angestachelt von der Propaganda der Councils, die der Masse vorgaukelte, dass nur der Under-Skin-Chip ihnen den Wunsch nach einem friedlichen und stressfreien Leben erfüllen konnte.
Friede, Freude, Feierlaune nach der Erlösung. Die Menschen waren glücklich und die Industrie verstand es, die Hochstimmung für ihre Zwecke zu nutzen. Die Werbemaschinerie lief auf Hochtouren. Mit Schlachtrufen wie 'Wir sind eins!' oder 'Sei Teil unserer Erdengemeinschaft!' oder 'Zeige Deine Freude!' wurden die Massen zu unkritischen Konsumenten geformt.
Es genügte nicht, Dankbarkeit und Freude mit einem natürlichen Lächeln zu zeigen, es musste mehr sein, nämlich das uneingeschränkte Einlassen auf die Verheißungen der Absatzstrategen.
Anfänglich war das unschuldig daherkommende Daten-Tattoo der große Renner. Verborgen in den schönsten Designs übernahmen sie als Vorstufe bereits die grundlegenden Funktionen eines ID-Chips. Raffiniert sind sie, die Councils, das muss ich mir bei aller Antipathie eingestehen. Jungfräulich fing das an, sie priesen die Daten-Tattoos zunächst als Hautschmuck an, die sich in beliebigen Designs besonders junge Leute in die Haut stechen ließen und sie trugen sie mit Stolz, diese Kontroll-Male mit Bank- und Versicherungsdaten, Kreditwürdigkeit, Bonität bei größeren Einkäufen. Der nächste Schritt war dann ein weiteres Tattoo oder ein Code mit mehr persönlichen Infos, dem Lebenslauf, den Vorlieben, mit verführerischen Mitteilungen an die scanfreudige Umwelt, wie 'Ich mag dich' oder 'Ich bin heute frei'. Die Masche zog besonders die jüngere Generation in ihren Bann, aber auch ältere Semester wollten mit dem Körperschmuck hippe Jugendlichkeit demonstrieren. Alles war teuflisch schön verpackt in modischem Schnickschnack, in Schmetterlingen, in Blüten, Blümchen oder gar in niedlichem Kinderspielzeug. Ein Schuft, wer Böses dabei dachte.
Besonders widerwärtig war für mich die Beeinflussung der Kinder durch die Radiofreqenz- und Digital-Technik, die in Lernmitteln und Spielzeug bereits integriert war. Zudem wurde in Schulen und Kitas das Interesse am Haut-Chip angeheizt. Alle Informationen flossen über Accounts der IT/ID-Anbieter, die an das Netz der Councils angeschlossen waren. Somit wurde gespeichert, wer wen wann und wo gescannt und wer wen in seine Privatsphäre gelassen hatte. Bei den Kindern wurde über ihr Spielzeug deren Spiel- und Sozialverhalten ausspioniert. Jeder Schritt wurde festgehalten, archiviert und dem Research-Team zugeführt, die auf dieser Grundlage wiederum Trends entdeckten und steuerten.
Der Teufel kam auf leisen Sohlen durch die Hintertür, mit einem hämischen Grinsen und nur Wenige erkannten das Schmierentheater. Schließe Memo 2038!"
So sachlich-analytisch Bobs Gedankengänge auch sein mögen, er kann nicht verhindern, dass sich seine Aversion gegenüber jedweder Obrigkeit immer tiefer einfräst. Immer schon widerstrebte es seinem Naturell, eine von 'oben' diktierte Doktrin unkritisch anzunehmen. Er, der Freigeist, der schon in jungen Jahren konfessionslos aufgewachsen, freiberuflich tätig, immer bereit war, zu hinterfragen, analytisch auf Geschehnisse und Medienberichte reagierend, wurde oft, auch von seinem eigenen Bekanntenkreis einer Fobie verdächtigt.
Die Zeiten, in denen Bob seinen Widerwillen gegen die von "oben" diktierten Verbote und Gebote und gegen allzu fremdorganisiertes Leben mit einem besonders lässigen Erscheinungsbild kundtat, sind vorbei. Seine blonde Mähne ist einer für ihn sauber geschnittenen Kurzhaarfrisur gewichen, die nach hinten gekämmt nur hinter den Ohren noch eine kleine Überlänge aufweist. Der knöchellange Militärledermantel aus dem vorigen Jahrhundert ist verschwunden, aber gerne noch trägt er einen fast knielangen, zweireihigen Gehrock und dazu spitze Cowboystiefeletten. Seit er die ersten Speckansätze in der Hüftgegend bemerkte, steht wieder Kampfkunsttraining auf dem Plan, wobei er vor allem Ambitionen für die geistige und philosophische Ausrichtung der fernöstlichen Disziplin hegt.