Choose Life: Carhill Sisters - Liv Keen - E-Book
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Choose Life: Carhill Sisters E-Book

Liv Keen

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Beschreibung

Das größte Abenteuer seines Lebens ist gleichzeitig seine süßeste Herausforderung. Jake O'Reiley, erfolgreicher Rennfahrer und selbstverliebter Adrenalinjunkie wird nach einem seiner wilden Skandale von seiner PR Agentur in eine Kleinstadt im Süden Englands zwangsversetzt. Dort begegnet er der Künstlerin Emily und ihrer verrückten großen Familie, die ihm unerwartet unter die Haut und auf die Nerven geht. Außerdem weckt sie Sehnsüchte in ihm, denen er unmöglich nachgeben kann, ohne sich seinen Dämonen zu stellen. Emily Carhill trauert immer noch um ihren verstorbenen Mann, als Jake ihre kleine graue Welt auf den Kopf stellt und Gefühle in ihr wachrüttelt, denen sie längst abgeschworen hat. Wie könnte Emily einen Mann lieben, der ständig sein Leben riskiert, wo sie bereits alles über Trauer und Schmerz weiß? Ein romantischer Liebesroman über schicksalhafte Begegnungen, eine verrückte Familie und die ganz große Liebe. Dieses Buch ist der erste Teil einer Reihe. Jeder Band ist jedoch in sich abgeschlossen. Achtung! Dies ist eine Neuauflage und war bereits unter dem dem Titel "Carhill-Sisters: Emily & Jake" und dem Autorennamen Kathrin Lichters veröffentlicht.

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Meiereli

Gut verbrachte Zeit

Kuhl das man jeweils die Sicht von verschiedenen Personen bekommt. Der Schluss wurde mir etwas zu schnell abgehandelt, es wäre schön gewesen ein paar mehr Details zu erfahren.
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CHOOSE LIFE: CARHILL SISTERS EMILY & JAKE

LIV KEEN

Für meine Oma Charlotte,

die toughste Frau, die ich kannte und der Anker in meiner Kindheit. Du fehlst mir jeden verdammten Tag.

INHALT

Vorwort

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Epilog

Nachwort

Bücher von Liv Keen

Danksagung

Über die Autorin

VORWORT

Liebe Leserin, lieber Leser,

dieses Buch ist bereits am 03.08.2016 bei Feelings, dem Imprint Label der Verlagsgruppe Droemer Knaur unter dem Titel Carhill Sisters - Emily & Jake und meinem anderen Autorennamen Kathrin Lichters erschienen. Nach dem Rechterückfall veröffentliche ich dieses Buch neu im Selfpublishing unter meinem offenen Pseudonym Liv Keen. Falls du diesen Band damals bereits gekauft hattest, hast du die Möglichkeit dieses eBook an Amazon zurückzugeben und dein Geld zurückerhalten. Falls du die Carhill Sisters noch nicht kennst, wünsche ich dir ganz viel Lesespaß.

Alles Liebe

Deine Liv

PROLOG

JAKE

Das Gefühl, das mit jedem Herzschlag durch seine Adern raste, war unbeschreiblich. Adrenalin. Er wusste genau, was zu dieser Zeit in seinem Körper los war. Die Ausschüttung des Hormons führte dazu, dass das Blutvolumen anstieg, die Herzfrequenz sich steigerte und der Blutdruck sich erhöhte. Das Empfinden war wie eine Sucht für ihn geworden, und es war kein Geheimnis, dass er dem Hunger nach Ekstase erlegen war. Er war süchtig nach Gefahr. Es gab für ihn nur wenige Pausen zwischen einem solchen Rausch und dem nächsten Kick. Mittlerweile gierte er regelrecht nach diesem Sturm der Gefühle, nach dem Erfolg, danach, das Rennen zu gewinnen. Er liebte den Drahtseilakt seines Alltags und wollte so viel davon mitnehmen, wie er nur konnte. Jake O’Reiley war ein Mann, der Autorennen nicht einfach nur fuhr, er gewann sie, weil er immer zu hundert Prozent bereit war, sein Leben zu riskieren. Er war es gewohnt, ein Leben auf der Überholspur zu führen. Es gab keinen Grund, seine Zeit mit Belanglosigkeiten zu verschwenden, denn ihm würde nicht unendlich viel davon zur Verfügung stehen.

KAPITEL1

EMILY

Die Dunkelheit umgab Emily wie ein dichter Trauerschleier und bewahrte sie vor den Dingen, die sie bei Licht sah: ein Stuhl, der leer blieb; eine Zahnbürste, die seit ewiger Zeit unbenutzt in einem Becher im Badezimmer stand; die Zeitung eines längst vergangenen Tages, der ihre Zukunft völlig auf den Kopf gestellt hatte; eine Bettseite, die kalt und unberührt blieb. Bilder, die aus einem anderen Leben zu stammen schienen. Es war schwer, diese Gegenstände bei Tageslicht zu ignorieren, doch dann wischten der Alltag und die anstehenden Pflichten den Kummer darüber fort, jedoch nur vorübergehend. Am Abend, wenn sie keine Ausrede mehr hatte, noch nicht nach Hause gehen zu müssen, erblickte sie im gedämpften Licht der Straßenlaterne, das durchs große Wohnzimmerfenster fiel, ihr trostloses Dasein. Ihr Leben ohne ihn. Im sanften Schein der Wohnzimmerlampe wog ihre Trauer so viel mehr. Sie war eine Last auf ihren Schultern, die sie niederdrückte und ihr kaum Luft zum Atmen ließ. Die Dunkelheit hingegen nahm ihr nicht nur die Sicht, sondern betäubte auch ihren Körper, der all die Emotionen, die wie eine Welle auf sie zurollten, nicht ertrug. Das Atmen fiel ihr dann leichter – so viel leichter. So war es auch jetzt. Sie wusste, eines Tages musste sie sich den Gefühlen und dem Leben ohne Collin stellen. Sie konnte nur hoffen, dass die unendliche Woge der Trauer sie dann nicht fortspülen würde.

Die Ruhe war in dem Moment vorbei, als es lautstark an der Tür klingelte und ein Geräusch im Schlüsselloch ertönte. Emily erstarrte und machte sich so klein wie möglich, als würde sie das vor den Blicken derer schützen, die sich gerade Zutritt zu ihrem Rückzugsort verschafften. Ein Seufzen entwich ihr, und sie schloss die Augen, als könnte sie dadurch die Welt außerhalb ihres Zuhauses weiterhin von sich fernhalten. 

Die Tür wurde geöffnet, und sie lauschte dem Klacken der Absätze ihrer Schwester Mary, die sicher wieder ein Paar ihrer selbst kreierten Schuhe trug. Der dumpfe Laut schwerer Boots gehörte zu ihrer anderen Schwester, Lucy, die grundsätzlich nur praktisches Schuhwerk trug, weil es ihre Arbeit als Tierärztin um einiges erleichterte. Dann war da noch eine weitere Person, die nicht anhand ihrer Schritte zu erkennen war, sondern aufgrund der hektisch geflüsterten Worte und des Klirrens, mit dem der Schlüssel auf dem Parkettboden landete. Das folgende Kichern gehörte zu ihrem Bruder Luke, und Emily stöhnte auf, als jemand das Licht im Wohnzimmer anmachte. 

„Emily?“, rief Mary laut, und ein großer Schatten schob sich über Emily. Sie öffnete ein Auge und sah in die grinsenden Gesichter ihrer Geschwister. Luke hielt eine Flasche Pernot hoch, während Lucys Haarmähne, die immer so wirkte, als hätte sie in eine Steckdose gefasst, Mary an der Nase kitzelte und sie zum Niesen brachte. 

„Hey, hast du etwa unseren Vorweihnachtsabend vergessen?“, fragte Lucy entrüstet und verschränkte die Arme vor der Brust. 

„Habt ihr meine Nachricht etwa nicht bekommen?“, antwortete Emily mit einer Gegenfrage.

Mary hob eine Augenbraue. „Welche? Die, in der stand, dass du nicht kommen kannst, weil du arbeiten musst? Oder die, die du Luke geschickt hast, in der du was von Migräne faselst?“ Emily biss sich auf die Lippe – ertappt. Normalerweise war sie besser darin, ihre Geschwister zu täuschen – sie hatte in den letzten fünfundzwanzig Jahren schließlich reichlich Zeit zu üben gehabt. Wahrscheinlich war sie so in ihre Gedanken vertieft, dass sie nachlässig wurde. Ein Zeichen von Schwäche. Etwas, dass man in dieser Familie nicht zeigen durfte. Nicht, wenn man mit einer Art Intervention überfallen werden wollte. Ihre Familie war wie immer penetrant und aufdringlich, rechthaberisch und überschritt Grenzen – immer wieder. Dennoch … sie war auch liebevoll, hilfsbereit und selbstlos. Ohne diese Verrückten wäre Emily längst von der Welle, die sie kurz nach Collins Tod erfasst hatte, ins Meer gerissen und dort von den Massen der Trauer ertränkt worden. Einzig ihre Schwestern, ihr Bruder und nicht zuletzt ihr Dad hatten ihr eine Rettungsleine zugeworfen, an die sie sich immer noch klammerte.

„Wir dachten, wenn du nicht zu uns ins Café kommen kannst, kommen wir eben zu dir“, fügte Luke lächelnd hinzu, während er sich neben dem Sofa auf den Boden sinken ließ.

Emily stöhnte. „Ich habe abgesagt, weil ich keine Zeit habe.“

„Weil du so schwer damit beschäftigt bist, in die Dunkelheit zu starren? Wie lange machst du das schon?“ Luke sah besorgt zu ihr hinunter. Ihre Geschwister waren allesamt Nervensägen und akzeptierten ein Nein schlichtweg nicht. Niemals. Das, was ihr aber am meisten missfiel, war die unbequeme Wahrheit, die sie ihr vor Augen führten und die wie ein Stein im Schuh zwickte.

Sie legte den Arm über ihre Augen, um sie auszuschließen, und knurrte: „Haut ab! Lasst mich einfach in Ruhe.“

„Wie lange willst du noch die abgedrehte Witwe spielen? Collin ist immerhin schon seit fast zwei Jahren tot.“ Ihre Schwester Lucy war die Direkteste von ihnen und die, der jegliche Geduld fürs Feingefühl fehlte. Sie hörte, wie Mary nach Luft schnappte und Luke ein schockiertes „Lucy!“ entwich. Emily brauchte sich nicht die Mühe zu machen, die Augen zu öffnen, um zu sehen, dass ihre Geschwister sich mit wilden Gesten über ihren Kopf hinweg zu verständigen versuchten. Zu dieser Jahreszeit war Collins Abwesenheit ganz besonders schlimm für sie, aber sie hatte auch im restlichen Jahr ihren eigenen Weg, ihre Träume und Wünsche, aus den Augen verloren. Das musste sie zugeben.

„Was denn? Jetzt tut doch nicht so entsetzt! Ich sage nur das, was wir alle und das ganze Dorf längst denken. Sie führt sich wie eine verrückte …“ Im Gegensatz zu ihrer Zwillingsschwester hatte Mary eine besondere Fähigkeit: Sie konnte Menschen allein mit einem frostigen Blick aus ihren eisblauen Augen zum Schweigen bringen. So wie offenbar gerade auch Lucy, die abrupt zu sprechen aufhörte. Ihre Worte hingen dennoch unausgesprochen in der Luft. Es war Luke, der nun seine Schwestern fortscheuchte und sich auf den Rand des Sofas zu Emily quetschte. Sanft, wie es seine Art war, nahm er ihre Hand und hob den Arm von ihrem Gesicht. Sie blickte in seine Augen, die so mitfühlend und traurig aussahen, wie Emily sich fühlte. Ihr Bruder war ein schöner Mensch, und es wurde scherzhaft gemunkelt, er wäre das hübscheste Kind der Carhills. Sein Haar war dunkel und wurde durch Gel modisch in Form gebracht. Seine blauen Augen waren nicht so hell wie Marys und Lucys, aber sie wurden von unzähligen dunklen Wimpern umrahmt, sodass sie zu leuchten schienen. Emily liebte sein einnehmendes Lächeln, das seine geraden, weißen Zähne hervorblitzen ließ und seinen Charme, den er ständig verströmte, um die Menschen in seinen Bann zu ziehen. Ein Talent, das ihm in seinem Beruf als Anwalt durchaus zugutekam. Der mitleidige Ausdruck in seinen Augen wich jetzt jedoch einem besorgten. 

„Emily, du weißt, du bist meine Lieblingsschwester …“

„Das sagst du zu jeder von uns, Luke. Diese Masche haben wir längst durchschaut!“, entgegnete sie barsch. 

Er überhörte ihren Einwurf großzügig und fuhr fort, als hätte er sie gar nicht gehört: „Auch wenn Lucy sich vielleicht taktlos ausgedrückt hat …“

Emily unterbrach ihn bissig. „Tut sie das nicht immer?“ Sie bemerkte den trotzigen Ton in ihrer Stimme, der sie schwer an ein Kleinkind erinnerte, das nicht mitspielen durfte. Davon ließ er sich jedoch keineswegs beeindrucken. 

„… hat sie recht! Du machst uns Angst. Ich weiß, Collin fehlt dir. Ich weiß das, weil ich ihn ebenfalls schrecklich vermisse, und ich war nur sein bester Freund. Dennoch, Darling, kann es so nicht weitergehen. Er würde mich verprügeln, wenn ich dich so weitermachen ließe …“ 

„Wie genau?“

„Na so eben!“ Er gestikulierte wild mit den Armen und brachte Emily damit zum Lachen. „Und er hatte einen harten rechten Haken.“ Er grinste, allerdings wurde sein Blick plötzlich leer, als würde er sich an längst vergessene Zeiten erinnern. Dann schien er sich zu besinnen und sagte sanft, wenn auch bestimmend: „Er will nicht, dass du dich hier vergräbst.“

Seine Sanftheit nervte sie auf einmal entsetzlich, wie ein Splitter in der Fingerkuppe. Sie war doch kein trotziges Kind, das mit klaren Worten nicht fertig wurde. Deswegen rief sie: „Du weißt nicht, was er wollen würde, weil er tot ist! Er ist nicht hier, um dich zu verprügeln oder dich anzuspornen, dich um mich zu kümmern, weil er verdammt noch mal tot ist. Keiner weiß, wie ich mich fühle, gerade jetzt …“

Luke zuckte bei ihrem Ausbruch zusammen und richtete sich auf. „Ja, er ist tot, und du hast mit allem recht. Ich bin in erster Linie hier, weil du meine Schwester bist und ich dich liebe. Ich will nicht, dass du uns ausschließt, weil du aus diesem Loch, indem du um ihn trauerst, nicht mehr alleine rauskommst. Du täuschst dich, wenn du glaubst, dass ich nicht weiß, wie du dich fühlst. Er fehlt mir entsetzlich …“ 

Es waren nicht seine Worte, die Schuldgefühle in Emily weckten. Es war seine Miene, die sie umstimmte. Sie wusste, dass sie unfair war. Luke und Collin waren seit der ersten Klasse eng befreundet gewesen. Zuerst hatte es ihre Freundschaft gegeben, lange bevor Collin und sie ein Paar geworden waren. Collin war als Kind der Schwächere von beiden, und dank seiner alkoholkranken Mutter hatte er in ihrem kleinen Ort keinen besonders guten Ruf gehabt, sodass Luke ihn vor ihren Mitschülern verteidigt und beschützt hatte. Später, nach Lukes Outing, hatte Collin die eine oder andere Auseinandersetzung für ihn ausgefochten, weil er damals im Gegensatz zu seinem Freund die Kraft dazu besessen hatte. Er hatte immer zu Luke gestanden und so manche Gerüchte und Witzeleien über sich ergehen lassen müssen, weil man darüber tratschte, dass die beiden vielleicht sogar mehr als das waren. Das war ein Grund gewesen, warum Emily sich in ihn verliebt hatte. Das und die Tatsache, dass er auch irgendwann ihr bester Freund geworden war und fast schon zur Familie gehört hatte. Alles war so leicht mit ihm gewesen. So mühelos, beinahe wie atmen. Es war nur natürlich gewesen, dass sie nach ihrer Zeit am College und seiner Ausbildung zum Polizisten geheiratet hatten. Getreu dem Motto „Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich noch was Besseres findet“ hatten sie sich umgesehen und festgestellt, dass nur sie beide zueinander passten. Collin hatte sich immer als waschechter „Carhill“ gefühlt und deswegen bei der Hochzeit Emilys Nachnamen angenommen, um seine problematischen Familienverhältnisse endlich ganz hinter sich zu lassen. Sie waren wie ein Mechanismus gewesen, - ein Rädchen, das perfekt ins andere passte -, und ohne den anderen nicht funktionierte. Nun war Collin unwiederbringlich fort, und Emily war kaputt. Zerstört. Irreparabel. Sie lief nicht ohne ihn. Unter diesen Umständen gab es für sie keine Aussicht auf Besserung. Das wollte aber niemand außer ihr einsehen.

In dieser Situation war jedoch Diplomatie gefragt. Ihre Geschwister würden es niemals akzeptieren, dass sie sich weiter hängen ließ. Nun hatte sie also zwei Möglichkeiten: Sie konnte sich bockig verhalten und eine Intervention ihrer Familie herbeiführen … Ihre Schwestern tuschelten bereits heftig in der Küche. Oder – und es fiel ihr schwer, sich gänzlich auf dieses Oder einzulassen – sie würde sich aufraffen und den Abend über sich ergehen lassen, damit sie sich anschließend ganz ihrer Verzweiflung hingeben konnte. Sie entschied sich für Letzteres.

„Okay“, murmelte sie, stand auf, ging ins Bad und zog sich ein frisches Shirt an, auf dem „Peace Not War“ stand. 

Als sie in die Küche trat und ihre Geschwister bereits mit einem Glas Wein in der Hand dastehen sah, zwang sie sich zu einem Lächeln. 

„Ich finde diese Einstellung sehr löblich.“ Mary deutete auf ihr T-Shirt. „Lucy war schon richtig zickig und drauf und dran, Dads Schrotflinte hinauf zu holen, und dich damit schlicht aus dem Haus zu jagen.“ 

„Warum ist eine Frau immer gleich zickig, wenn sie eine Meinung hat und diese auch vertritt?“, herrschte Lucy ihre Zwillingsschwester an. 

Mary rollte demonstrativ mit den Augen. „Na, weil du immer sofort so schnippisch wirst. Es geht weniger um die Botschaft, als um die Art, wie du sie rüberbringst“, erklärte Mary gelassen. „Der Ton macht die Musik.“

„Meine Art? Schnippisch? Ich bin eben kein ewig lächelnder Engel wie du. Na und? Ich finde, ich darf durchaus meine depressive Schwester daran erinnern, dass nicht sie gestorben ist, sondern …“ Betreten starrten alle zu Emily. 

„Collin – mein Ehemann“, ergänzte sie daraufhin trocken, und es entstand eine bedrückende Stille. „Wenn du jemals einen Mann haben solltest, tu dir selbst einen Gefallen und erzähl ihm besser nicht, was du mir geraten hast, Lucy.“

Plötzlich brach Luke in hysterisches Gelächter aus und reichte Emily ein Weinglas. „Du meinst, dass du bald wieder in den Sattel steigen sollst?“ Er deutete Reitbewegungen an, und Emily lächelte.

„Diese Pferdemetaphern machen mich noch wahnsinnig!“, kreischte Mary und starrte sie mit offenem Mund an. „Du hast ihr geraten, bald wieder zu vögeln? Kurz nach Collins Tod?“

Lucy sah betont gleichmütig drein, während Emily den Kopf schüttelte. „Auf seiner Beerdigung!“ 

„Nein!“ Alle sahen abwechselnd zwischen Lucy und ihr hin und her.

„Das glaube ich nicht!“

Lucy schnaubte und verschüttete dabei etwas von ihrem Wein. „Das ist völlig aus dem Zusammenhang gerissen und war alles ganz anders.“ 

„Ich kann mich nicht an irgendeinen Kontext erinnern …“, sagte Emily. Nun war es um ihre Geschwister geschehen. Sie kreischten vor Vergnügen, und Emily wechselte einen Blick mit Lucy, die ihr unbemerkt zuzwinkerte. Sie mochte die pragmatischste Schwester von ihnen sein, aber niemand kannte Emily besser. Sie ertrug die Witze auf ihre Kosten, damit Emily sie von ihrer gequälten Seele ablenken und eine Intervention abwenden konnte. 

„Außerdem schadet ein ausgeglichener Hormonhaushalt niemandem. Wer sagt denn, dass du den Kerl, den du bumst, gleich heiraten musst?“

„Du wirst George also nicht heiraten?“ Luke fasste sich ans Herz. „Das erleichtert mich zutiefst, Schwesterherz. Dieser Mann hat weder Geschmack, noch könnte ich ihn öfter als einen Tag im Jahr ertragen.“

„Bist du verrückt geworden? Wenn es nach mir geht, gehe ich diesen Bund nie ein. Die Menschen sind nicht für die Monogamie geschaffen. Die Kerle wollen nur ihre Gene möglichst weit und flächendeckend streuen und ein Frauchen haben, das sich anschließend um ihre Bälger kümmert.“ Das Entsetzen auf Lucys Gesicht wirkte beinahe wie Abschaum.

„Nicht alle Kerle sind so“, erinnerte Mary sie leise und begegnete ihrem scharfen Blick, der Mary zum Schweigen brachte. In vielerlei Hinsicht war Lucy eine Naturgewalt, vor allem wenn es darum ging, ihre Meinung zu vertreten. Sie schwiegen betreten. Marys und Lucys Vorgeschichte mit Männern war kein Thema, bei dem sie mit einer oder zwei Flaschen Pernot auskamen.

Eine Weile später saßen sie im Wohnzimmer auf dem Boden. Zwischen ihnen türmten sich die Geschenke für ihren Vater, zum Teil bereits in Geschenkpapier mit Schleifen verpackt. Rechts und links neben ihnen lagen diverse Pizzakartons und Chinaimbiss-Schachteln verstreut. Der Pernot tat sein Übriges, und die Stimmung wurde heiter und ausgelassen, vor allem aber Lucy und Mary hatten den Anflug ihres Streits vergessen. Sogar Emily genoss das Zusammensein mit ihrer Familie sogar.

„Was soll Dad denn damit anfangen?“ Lucy hob den Nasenhaartrimmer hoch und sah zweifelnd in die Runde. Ihre Wangen waren leicht gerötet und die Augen glasig vom Alkohol. Sie wirkte um einiges gelassener und entspannter, beinahe wild vor lauter Lebensfreude, als hätte der Wein ihr Gemüt gebändigt, wie ein Löwendompteur. Emily beneidete ihre Schwester um ihre Unerschrockenheit und ihre Stärke, dennoch wusste sie, dass unter Lucys rauer Haut, die wie eine uneinnehmbare Festung wirkte, ein ganz verletzliches Wesen ruhte. Manchmal zweifelte Emily daran, dass je ein Mann diese Mauern durchbrechen würde. Dabei wünschte sie sich nichts mehr für Lucy als: Liebe. Genau genommen erhoffte sie sich das für all ihre Geschwister.

Mary riss das Paket an sich und meinte: „Dad ist ein alleinstehender Mann. Er hat niemanden, der ihm die Nasenhaare schneiden könnte. Außerdem bin ich es leid, mir diese Dinge anzusehen.“

„Echt jetzt? Er trägt einen Schnurrbart. Ist das nicht überflüssig?“ 

„Du hast wirklich eine seltsame Einstellung zu Männern.“

„Oder du zu Nasenhaaren.“ Lucy prustete los. Das saß und Mary verzog sich beleidigt in die Küche, um sich Wein-Nachschub zu holen. Emily wechselte einen Blick mit Luke, der tief seufzte. 

So war das immer mit ihren ältesten Schwestern. Jedes Klischee über Zwillingsschwestern wurde bei Lucy und Mary gebrochen. Die besonders intensive Verbindung von Zwillingen, von der man im Allgemeinen sprach, traf bei ihnen nicht zu. Emily wusste nicht mal genau, wann sich das geändert hatte, denn es hatte mal eine Zeit gegeben, da waren die beiden unzertrennlich gewesen. Sie hatten die üblichen „Hanni und Nanni“-Scherze mit ihnen getrieben, hatten dieselbe Frisur, dieselben Kleider getragen und eine Sprache miteinander gesprochen, die ein Außenstehender kaum verstand. Dann war es damit vorbei gewesen – von heute auf morgen. Keiner wusste so recht, wie es dazu gekommen war.

Mary war die Modebewusste in der Familie und besaß ein Café, in dem sie schon ihre Ausbildung zur Konditorin gemacht hatte. Das Backen hatte ihr nicht sonderlich gelegen, und so hatte sie damals all ihr Gespartes investiert und der alten Mrs. Porter das Café abgekauft und einen moderneren Laden eröffnet, in dem Jung und Alt sich trafen. Nebenbei entwarf sie eine Schuhkollektion, die sie ebenfalls in ihrem Café verkaufte. Welch glückliche Fügung für jede Frau: Ein Schuhladen, der auch Kuchen und Kaffee in großen Mengen zur Verfügung stellte. Leider gab es nur wenige gut verdienende Damen in ihrem Ort, und so begnügte Mary sich damit, Spaß an ihrem Hobby zu haben. 

Lucy war das komplette Gegenteil ihrer Schwester. Sie lachte nicht so oft und hatte auf den ersten Blick keine weiche Seite wie Mary. Sie wirkte oft pragmatisch und rational, wobei ihre Geschwister es besser wussten. Lucy war auch sanft und gefühlvoll, nur hatte sie nach dem Fortgang ihrer Mutter deren Rolle übernommen und einiges mehr an Verantwortung getragen als jeder andere in der Familie. Sie hatte kaum Zeit für Teenager-Wutausbrüche gehabt, weil sie dafür sorgen musste, dass ihre Geschwister nicht in Schwierigkeiten gerieten. Bei ihrer Arbeit als Tierärztin blühte sie richtig auf. Sie konnte mit Tieren einfach besser umgehen als mit Menschen, das glaubte zumindest ihr Vater. 

„Wehe, du lässt mir nicht noch was in der Weinflasche drin!“, rief Lucy ihrer Schwester erbost hinterher und eilte ebenfalls in die Küche, wo nun ein lautes Klirren ertönte, dem ein „Ups!“ folgte.

Emily stöhnte, kicherte dann jedoch und musste sich eingestehen, dass ihre Schwestern ein nerviger, aber liebevoller Haufen waren. Sie hatte in den wenigen Stunden des heutigen Abends mehr gelacht als in der gesamten letzten Woche. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und hielt ihr Weinglas in der Hand, während sie aus dem Fenster blickte und dem Schneetreiben zusah. Der Schnee lag schon fünf Zentimeter hoch; wenn das so weiterging, standen ihre Chancen für weiße Weihnachten gut. Sie fröstelte leicht, als sie die Straße entlang schaute und einen mit Tüten bepackten Mann über die Kreuzung gehen sah. Ihr Herz setzte einen Moment aus, doch im nächsten Augenblick erkannte sie den Umriss ihres Vaters. Wie oft hatte sie Collin dabei zugesehen, wie er zu Fuß von seiner Schicht an der Ecke von Marys Café vorbei zu ihrer Wohnung zurückkehrte? Wie oft hatte er dort unten gestanden und ihr zugewunken? Collin konnte es nicht sein, erinnerte sie sich. Er war tot! Ja, das war er, und doch gab es nichts, was Emily sich mehr wünschte, als diesen unbedeutenden und oftmals nicht beachteten Moment seiner Heimkehr erneut zu erleben. Sie spürte die große Hand ihres Bruders, die sich auf ihre Schulter legte und sie ganz selbstverständlich an sich zog. 

„Er ist immer noch hier bei uns – davon bin ich überzeugt“, murmelte er, und Emily war versucht, etwas Wütendes zu erwidern. Sie hatte seit Collins überraschendem Tod vor zwei Jahren zu oft diese sinnlosen Trostsprüche ertragen, die ihr leider gar nicht halfen. Es tat weh, ohne ihn zu sein, und jeder Versuch, das Ausmaß seines Todes abzumildern, kam ihr unglaublich falsch vor. Kurz bevor auch nur ein Wort über ihre Lippen kam, erkannte sie jedoch, das sein Satz weniger darauf abzielte, sie zu trösten als vielmehr sich selbst. Luke hatte seinen besten Freund, seinen Bruder verloren und litt sehr darunter. Emily ergriff seinen muskulösen Arm, den er um sie geschlungen hatte, und streichelte ihn. 

„Du solltest dir einen neuen Freund suchen, weißt du?“, murmelte sie, und Luke lachte laut auf. „Ich meine es ernst, Luke. Nicht nur ich sitze in einem Loch und komme kaum mehr heraus. Du leidest unter seinem Tod, genauso wie ich. Nur, dass du dafür keineswegs wieder in den Sattel steigen musst …“ Sie malte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft und spürte das Glucksen ihres Bruders an ihrem Rücken. „Du musst dafür etwas viel Schwierigeres tun. Du musst einen anderen Mann deinen Freund sein lassen – so wie Collin damals vor all den Jahren.“

Luke atmete spürbar aus. „Collin war eine verlorene Seele – er hat mich mehr gebraucht als ich ihn. Meistens jedenfalls!“ 

„Dort draußen gibt es jemanden, der allein ist und deine Hand brauchen kann. Du musst nur die Augen aufmachen. Sieh dich doch mal um, wer ist denn in dieser Welt nicht verloren?“

Ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen. „Es gibt wenige Männer, die eine Schwuchtel zum Freund haben wollen.“

„Hör auf, dich so zu nennen. Du weißt, ich hasse es. Jeder, der dich so nennt, wird von mir höchstpersönlich verdroschen. Und glaub mir, irgendwo gibt es ihn.“

„Und wo ist der eine Mann für dich?“ Luke wagte kaum, diesen Satz laut auszusprechen, deswegen wisperte er ihn nur, damit die anderen ihn nicht hörten.

Emily sah wieder nachdenklich aus dem Fenster. „Ich habe mein Glück bereits gefunden, Luke. Mein Liebesbarometer ist voll. Ich meine, ich hatte Collin. Jetzt bist du dran. Erzähl mal, wie heißt dein neuer Freund noch gleich? Steve?“

„Der ist doch schon längst Schnee von gestern. Du kriegst auch gar nix mehr mit, oder?“

Emily knuffte ihn mit dem Ellenbogen. „War das nicht der, der Dad nur mit einer Schürze bekleidet die Tür geöffnet hat, als du die beiden bekannt machen wolltest?“

„Genau genommen hat Dad sich selbst eingeladen, aber ja, danach war es irgendwie vorbei.“ Luke grinste wehmütig. „Jetzt habe ich da diesen Klienten, bei dem es funkt. Er heißt Bruce, ist Frauenarzt und wurde wegen sexueller Belästigung verklagt, dabei ist er eindeutig nicht an Muschis interessiert. Also ... rein beruflich natürlich schon, aber ... ach du weißt schon, wie ich das meine.“ Luke hielt sich die Hand vor den Mund und kicherte. „Dieses Wort … Ich muss mich regelmäßig beherrschen, um nicht zu lachen.“

„Wo lernt er diese Typen nur immer wieder kennen?“, fragte Mary, die hinter ihnen erschien. „Ich dachte eigentlich, die Welt sei voll mit Heteromännern, und die Kerle vom anderen Ufer seien vom Aussterben bedroht. Doch mein Bruder schleppt in einem Monat mehr Typen ab als ich im ganzen Jahr.“

„Du musst dir einfach jemanden suchen, der deine Bedürfnisse befriedigt, wenn du verstehst, was ich meine. Dann bist du die glücklichste Frau der Welt.“ Lucy wackelte grinsend mit den Augenbrauen.

Mary pustete ihren Pony aus der Stirn und winkte ab. „Du meinst so einen Kerl wie George? No way!“

„Ihr hackt alle auf George rum, aber er erfüllt seinen Zweck für mich, so wie ich für ihn.“

„Bist du dir da sicher?“ Luke verzog zweifelnd das Gesicht. „Ich glaube, diese zwanglosen Sachen werden irgendwann für einen von beiden ernst.“

Gleichgültig zuckte Lucy mit den Achseln. „Für uns ist das so okay. Er kratzt mich, wenn es mich juckt und gut ist.“

„Ich weiß nicht, da bleibe ich lieber bei meinem Magic Toy!“, eröffnete Mary ihnen lachend. Die anderen prusteten ebenfalls los. „Der macht keinen Stress und muss nicht erst am Ego gekrault werden, ehe es losgehen kann. Bei ihm gibt es keine bösen Überraschungen - außer wenn die Batterie streikt. Doch da hat Mr. Jenkins vom Elektroladen Gott sei Dank ein großes Nachschubfach.“

„Mr. Jenkins, der Arme … ob er weiß, wofür du die ganzen Batterien brauchst?“ Lucy nahm im Sessel Platz, in dem Emilys Kater Mr. Scrooge immer schlief, wenn er nicht gerade auf dem Dachboden Mäuse fing, und zwinkerte ihnen verschwörerisch zu.

„Wenn er das wüsste, wäre er längst einem Herzstillstand erlegen. Ich fürchte immer den Moment, wenn er ins Lager geht und erst Minuten später zurückkommt. Keine Ahnung, wie oft ich schon nach ihm schauen wollte und das Handy griffbereit in der Hand hatte, um den Krankenwagen zu rufen.“

„Wie alt mag er mittlerweile sein? Er war doch schon mindestens hundert, als wir noch Kinder waren, oder?“, überlegte Emily laut.

„Sagen wir es so: Die Nummer des Bestatters steht bereits im Kurzwahlspeicher“, fügte Lucy trocken hinzu, und Mary stieß erneut ein entsetztes „Lucy!“ aus. Verständnislos sah diese sie an. Lucy hatte offenbar keine Ahnung, was sie nun wieder Anstößiges gesagt hatte.

Emily kicherte, um sie auf andere Gedanken zu bringen. „Ich schließe daraus Folgendes: Entweder sind die Heteros vom Aussterben bedroht, oder die Heteros werden alle schwul, weil sie von diesem Dating-Wahnsinn frustriert sind.“

„Oder …“ Lucy schlug die Beine übereinander und lehnte den Kopf gemütlich an die Sessellehne. „… wir sind zu wählerisch. Wenn ich euch nur an die Nasenhaardebatte erinnern darf.“ Mary kreischte und stürzte sich auf ihre Schwester, während alle in lautes Gelächter ausbrachen. 

„Habt ihr gesehen, was für riesige Umzugswagen da anreisen? Wer bitte hat so viel Zeug?“, fragte Emily plötzlich und deutete aus dem anderen Fenster die Straße hinunter, auf der mehrere Laster mit der Aufschrift „For rent“ entlangfuhren. 

„Die Frage lautet eher, wer zieht an Heiligabend um?“ Luke runzelte die Stirn.

„Der Grinch?!“, kam die postwendende Antwort von Lucy, und Mary bewarf sie ausgelassen mit Geschenkpapierresten.

„Habt ihr es etwa noch nicht gehört?“ Mary verrenkte ihren Hals, um ebenfalls einen Blick auf die Wagen zu erhaschen, und stellte sich auf die Zehenspitzen. „Halleberry Castle wurde verkauft. Das wird er wohl sein, der neue Besitzer.“

„Woher weißt du das nun wieder?“, fragte Luke skeptisch.

Mary schenkte ihm einen abschätzigen Blick. „Hast du etwa vergessen, wo ich arbeite? In meinem Café trifft sich jeden Morgen die Klatschzentrale von Jarbor Hydes.“

„Und dieses alte Ding wollte jemand haben?“

„Du kriegst aber auch gar nix mit, Lucy! Die renovieren ‚das Ding‘ schon seit Wochen!“, ereiferte sich Mary. 

Luke schüttelte sich kurz. „War da nicht was mit ein paar geheimnisvollen Morden oder so? Es soll da spuken, hieß es früher immer.“

„Das hat man euch als Kinder erzählt, damit ihr euch nicht dorthin schleicht, du Weichflöte“, rügte Lucy ihren Bruder. „Aber mich würde auch interessieren, wer das Geld hat, dieses riesige Teil zu kaufen“, gab sie dann zu.

„Halleberry Castle ist wunderschön mit dem alten Gemäuer und den großen Räumen. Ich würde alles tun, um dort eine Führung zu bekommen, wenn es wieder vorzeigbar ist.“ Emilys Neugierde war geweckt. Ihre Vorliebe für antike Möbelstücke und Kunst erstreckte sich auch auf historische Liebesromane, in denen Frauen von wohlhabenden Männern erobert wurden, obwohl die Gesellschaft es unmöglich machte.

„Nur eine Verrückte oder eine Künstlerin sieht in diesem Schandfleck was Wunderschönes.“ Luke schüttelte amüsiert den Kopf. Emily war schon früher unerschrockener als die meisten gewesen und hatte sich nicht selten auf dem Anwesen herumgetrieben, das einmal einem Grafen gehört hatte. Als sie älter wurde, pachtete sie sogar einen Hügel mit einem Pavillon auf dem Grundstück, um dort zu malen. Luke hätte sich höchstwahrscheinlich in die Hosen gemacht, wenn er alleine an diesem Ort hätte bleiben müssen.

„Den neuesten Gerüchten nach soll es dieser Formel-1-Rennfahrer gekauft haben“, plauderte Mary aus.

„Na klar, unsere Klatschtante wieder!“ Lucy schüttelte ungläubig den Kopf.

„Was? Ein Rennfahrer?“ Nun wandten sich ihr zwei neugierige Gesichter zu. 

„Ich höre nun mal viel von den Dorfbewohnern. Es soll dieser Motorsport-Star sein. Er macht doch immer Schlagzeilen mit seinen Eskapaden. Wie heißt er noch gleich? Erst neulich habe ich was über ihn gelesen.“

„Erzähl keinen Mist“, entfuhr es Luke, und ihm fielen vor Euphorie beinahe die Augen aus dem Kopf. „Du meinst doch nicht etwa Jake O’Reiley, oder?“

„Ja, doch, ich glaube, diesen Namen hat die alte Mrs. Strottle heute Morgen genannt.“

Emily runzelte die Stirn. „Du schaust dir Autorennen an?“, fragte sie ihren Bruder irritiert.

„Na ja, ich nicht, aber …“

„Collin“, beendete Emily den Satz und schluckte, als ein riesiger Eisklotz in ihrem Magen landete. So war es immer. Für einen Augenblick hatte sie ihren Kummer und ihre Sorgen beinahe vergessen, doch dann benötigte es ein Wort und all die Schreckensmonate tauchten mit einem Fingerschnippen vor ihren Augen auf. Seltsamerweise war es in diesem einen Moment tröstlich, zu wissen, dass Collin tatsächlich immer allgegenwärtig war.

Mary grinste breit. „Du sagst den Namen so, als sei er verdammt heiß …“

„Wie spricht man denn einen Namen aus, als sei er sexy?“ Lucy nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Weinglas und wartete gespannt auf die Antwort, um sich höchstwahrscheinlich danach darüber lustig zu machen. 

„Na, so eben … Jake O’Reiley“, äffte Mary Luke nach.

„Er ist heiß, absolut, aber leider, leider fischt er nicht in meinen Gewässern, soweit man weiß, was also gar nichts bedeutet.“ Bedauern lag in seiner Stimme. 

„Wenn er wirklich Halleberry Castle gekauft hat, dann solltest du lieber ganz sichergehen“, riet Mary ihm lachend und deutete erneut Reitbewegungen an.

KAPITEL2

JAKE

„Du bist ein gruseliger Autofahrer, Jake O’Reiley. Wie hast du dich in der Welt bis jetzt nur zurechtgefunden? Kannst du mir das sagen?“, erklang eine reichlich niedergeschlagene männliche Stimme durch die Freisprechanlage des Autos. 

Jake trommelte ungeduldig mit den Fingerspitzen aufs Lenkrad. „Mann, ich habe mich nur verfahren … ich bin hier in der totalen Pampa gelandet. Außerdem bin ich der verdammt beste Rennfahrer der Welt – schon vergessen?“

„Solange du bloß im Kreis fahren musst, mag das stimmen.“ Höhnisches Gelächter hallte durchs Auto. Jake konnte nicht anders, als zu grinsen. Es war gut, seinen Kumpel lachen zu hören, das tat er in letzter Zeit viel zu selten. Da überstand sein Ego auch den einen oder anderen Witz auf seine Kosten. Wie soll ich dich denn besser leiten können als ein Navi?“

„Du hast mich schließlich in diese verdammte Einöde geschickt! Also hilf mir!“, befahl Jake lachend.

Sein Freund Darrell räusperte sich vernehmlich. „Diese Suppe hast du dir selbst eingebrockt. Wer sich eine Stripperin bestellt, die sich als Typ entpuppt, muss nun mal mit Reportern der üblen Sorte rechnen.“ 

Jake schnaubte und ereiferte sich: „Ich habe dieses Mädchen … äh … den Kerl nicht geordert, Darrell. Ich war nicht mal auf der verdammten Party, sondern hab im Schlafzimmer gepennt. Wie oft soll ich das noch sagen?“

„Es war deine Party, mein Freund. Da gibt’s nix dran zu rütteln. Lass es einfach ein paar Wochen ruhiger angehen, dann ist Gras über die Sache gewachsen. Du wirst schon sehen. Außerdem brauchtest du doch eine weitere Geldanlage, und so hast du gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.“ 

Jake legte die Stirn aufs Lenkrad und knurrte: „Falls ich nicht in meinem Auto festfriere, weil ich den Weg nicht finde.“

„Was siehst du denn gerade vor dir?“

Jake sah aus dem Fenster und sagte hoffnungslos: „Nichts! Absolut nichts. Obwohl, warte: Da ist ein Schaf, das hätte ich fast übersehen. Es hat sich im Schnee versteckt. Ach sieh mal, sogar eine ganze Herde hat sich da getarnt. Meinst du, ich soll die mal fragen, wo es langgeht?“ Unterdrücktes Lachen ertönte erneut aus den Lautsprechern seiner Freisprechanlage, und Jake schnaubte. „Wie soll man sich bei diesen kitschigen Straßennamen auch nicht verfranzen? Winterblossom Road? Im Ernst jetzt? Wo hast du mich hier nur hingebracht, Darrell?“

Sein Gesprächspartner zögerte, ehe er antwortete: „Wenn du in London geblieben wärst, hättest du dich nur gleich wieder ins nächste Abenteuer gestürzt – ich kenn dich doch. So bist du wenigstens weit entfernt von jeglichen Kameras. Jarbor Hydes ist der idyllischste Ort, den ich kenne.“

Jake gluckste abfällig. „Das, was ich bis jetzt davon gesehen habe, waren Wiesen voller Schnee und Viecher. Viele Viecher! Es ist arschkalt hier, Darell. Was hast du mir nur angetan?!“ Er lachte kurz auf, als Zeichen dafür, dass er es nicht ernst meinte. 

Darrell holte tief Luft. „Du musst es morgen früh sehen, sobald die Sonne aufgeht. Ich weiß, du bekommst zu so unchristlichen Zeiten deinen Hintern nur selten aus dem Bett, aber das ist die goldene Stunde in Jarbor Hydes. Es gibt auf der gesamten Welt keinen friedvolleren Ort, und ich war mit dir schon überall, wie du weißt. Außerdem sind die Menschen, wenn sie dich erst mal in ihr Herz geschlossen haben, wahre Freunde.“

„Wie du weißt, will ich weder Freundschaften schließen, noch zwischenmenschliche Beziehungen pflegen.“ Jake hörte ein Klirren im Hintergrund und wie jemand einen tiefen Schluck nahm. Darrell ertränkte seinen eigenen Kummer wohl gerade im Alkohol. „Warum bist du dann nicht mit mir hergekommen, wenn es keinen schöneren Platz auf der ganzen Welt gibt?“

Darrell zögerte erneut. „Es gab gewisse Umstände, weswegen ich damals fortgegangen bin … bislang fehlte mir einfach der Mut, zurückzukehren. Wer weiß, vielleicht komme ich dich, verrückten Kauz, mal besuchen …“

„Genug Schlafzimmer habe ich jedenfalls“, feixte er und spielte vor Ungeduld mit dem Gaspedal. „Ich könnte unsere ganze verdammte Crew da unterbringen.“

Darrell lachte ausgelassen. „Ich fass es immer noch nicht, dass du dir dieses riesige Anwesen geangelt hast. Du mutierst noch zu Bruce Wayne und wirst größenwahnsinnig.“

„Ich bitte dich! Ich habe absolut nichts mit diesem Typen gemein! Na ja, nichts bis auf das viele Geld, das gute Aussehen und die Schwäche für Frauen im Allgemeinen. Aber ich hasse Fledermäuse.“

„O Mann, du bist so was von Bruce Wayne! Du solltest dringend mal die Filme sehen.“

„Als hätte ich Zeit fürs Fernsehen. Mit wem glaubst du, redest du grade?“

„Jake O’Reiley, arrogant, selbstverliebt und vollkommen überheblich …“ 

Er grinste breit und entblößte dabei gerade weiße Zähne. „Und jetzt kommen wir zu meinen schlechten Eigenschaften …“ Er lehnte sich zurück und presste Zeige- und Mittelfinger auf den Mund, während er auf den nächsten Seitenhieb seines PR-Managers wartete.

„Bester und jüngster Rennfahrer der Welt … keiner kann besser mit Autos umgehen als du, und dennoch hast du eine Orientierung wie eine Bockwurst.“ 

„Das liegt nur an diesem verdammten Arsch der Welt …“, ätzte Jake, während er langsam losfuhr. 

„Du solltest dir die Batman-Filme mal von Anfang an ansehen. Zeit genug hast du jetzt jedenfalls“, schlug Darrell vor.

Der Boden war bereits gefroren, doch wenn es etwas gab, das Jake konnte, dann war es bei den ungewöhnlichsten Wetterverhältnissen Auto zu fahren. „Werde ich – sobald Anderson meine Fernsehanlage in Gang gebracht hat. Was soll ich nur bis März mit mir anfangen?“

„Entspann dich endlich mal, Jake. Genieß die Ruhe und die stressfreie Zeit. Vielleicht kannst du mal den Wagen deines Dads reparieren. Das wäre doch die Gelegenheit.“

Jake brummte wenig begeistert. „Ich werde sicher ganz mit diesem alten Haus beschäftigt sein. Anderson hat mich bereits vorgewarnt!“

„Anderson geht auch als Butler durch … Mensch, ich hab da die Idee! Du musst einfach eine Party schmeißen, zur Einweihung, am besten verknüpft mit einem Motto.“

„Hey, du bist zwar mein PR-Berater, aber du hast mir gerade was von einer Auszeit erzählt, erinnerst du dich?“

Die Stimme seines Freundes überschlug sich förmlich, wie immer, wenn er einem guten Einfall auf der Spur war. „So eine Gelegenheit muss man beim Schopfe packen, Jake!“ 

„Die Verbindung bricht ab, ich höre dich gar nicht mehr …“, entgegnete er und lächelte. 

„Ich weiß genau, was du gerade machst … Du kannst dich warm anziehen, wenn du jetzt einfach auflegst!“

„Dazu musst du erst mal über deinen Schatten springen und deinen Arsch hierher bewegen. Ich lege jetzt auf! Feier gut ins neue Jahr, Mate.“ Er drückte die Auflege-Taste der Freisprechanlage am Lenkrad seines ganz brandneuen Aston Martin. Der Schnickschnack des Wagens gefiel ihm, wobei er daran zweifelte, dass er all diese Funktionen je brauchen würde. Er fummelte an der Einstellung des Navigationsgerätes herum und folgte den Anweisungen, während ihm der starke Schneefall weiterhin die Sicht nahm. 

EMILY

Die Feiertage waren geradezu dahingeschlichen, und Emily sehnte sich nach der Betriebsamkeit des Alltags, die sie nicht zur Ruhe und zum Nachdenken kommen ließ. Plötzlich blickte sie auch bei Tageslicht auf den Stuhl ihr gegenüber, der leer blieb. Das Problem war nicht, dass sie allein war, es war so schrecklich, dass sie ohne Collin war. Sie hatten sicher ihre Probleme miteinander gehabt, aber eben auch einen gemeinsamen Plan für ihre Zukunft. Collins tragischer Tod hatte ihr nicht nur den Ehemann genommen, sondern ein ganzes Leben, das sie sich in ihrem Kopf in den buntesten Farben ausgemalt hatte. Nun war all das Geschichte und es fiel ihr zunehmend schwerer, optimistisch auf ihre Lebensplanung zu blicken.

Um den erdrückenden Erinnerungen in dieser Wohnung wenigstens kurz zu entfliehen, zog sie ihren roten Mantel und die cremefarbene Wollmütze an, die sich von ihren dunklen Haaren deutlich abhob. Den passenden Wollschal, den Mary ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, wickelte sie um ihren Hals und warf einen letzten Blick auf den leeren Platz zurück, von dem Collin ihr immer zugezwinkert hatte. Beinahe kam es ihr vor, als könnte sie sehen, wie er dort saß, in der Zeitung blätterte und seinen Kaffee trank. Er lächelte ihr zu, und Emily konnte nicht anders, als traurig zurückzulächeln. Dann verließ sie die Wohnung und ging über den schmalen Flur hinunter ins Erdgeschoss, indem ihr Vater wohnte. Dieses Haus hatte bereits ihren Großeltern gehört, doch seit ihr Großvater gestorben war, lebte ihre Granny mit Tante Harriet in Stockholm. Elvis dröhnte ihr im Flur entgegen, eine der Platten, die ihr Vater so sehr liebte. Er hörte sie nicht oft, weil die Lieder ihn an ihre Mutter denken ließen. Also wurde nicht nur sie gerade von Erinnerungen heimgesucht. Seufzend hielt Emily vor seiner Tür inne. Weihnachten war eine komische Zeit. Es brachte nicht nur die Familie zusammen, sondern erinnerte jeden schmerzlich daran, wie vergänglich das Leben und die Menschen darin waren. Sie klopfte zweimal und wartete geduldig, bis die Musik verstummte, dann trat sie durch die Tür mit der Buntglasscheibe. 

„Dad?“, rief sie, während sie über Mozzi stieg, ihre bereits in die Jahre gekommene Jagdhündin, die ausgestreckt auf dem Läufer im Flur lag. Womöglich hatte ihr Vater sie die Reste vom letzten Festmahl zu futtern gegeben. Emily war es auch so ergangen, weswegen sie mit ihr fühlte. Im Vorbeilaufen bückte sie sich routiniert nach diversen Kleidungsstücken und wunderte sich über die Unordnung im Wohnzimmer ihres alten Herrn. Da tauchte er auch schon in ihrem Blickfeld auf, und sie sah, wie er eilig gebrauchtes Geschirr einsammelte. 

„Hey Emily, schön, dass du noch vorbeischaust. Bist du nicht bei Mary?“ 

Es war Silvester, und wie jedes Jahr gab ihre Schwester in ihrem Café eine Silvesterparty. Das gesamte Dorf tauchte dort gegen vierundzwanzig Uhr auf. Mary lud ihre Geschwister immer zum Feiern ein, wobei daraus in der Regel ein arbeitsreicher Abend wurde, denn was tat man nicht alles, wenn die Kellner total unterbesetzt waren, um der Schwester zu helfen? 

„Doch, ich bin gerade auf dem Weg zu ihr. Was ist hier überhaupt los?“

Ihr Vater sah ertappt aus und rümpfte die Nase, als er eine gebrauchte Socke über einem Teller anhob. „Was meinst du?“, fragte er scheinheilig. 

„Dad, es riecht streng. Was ist das?“

„Keine Ahnung, was du meinst.“

„Es riecht, als verende hier irgendwo ein Tier ... Ist hier etwa eine Bombe eingeschlagen?“

„Darüber macht man keine Witze, junges Fräulein, wie oft soll ich dir das noch sagen?“ Als Polizeichef verstand ihr Dad bei solchen Äußerungen keinen Spaß und ließ das auch jeden wissen. 

„Na gut! Warum sieht es hier so … chaotisch aus? Wo ist Mabel?“ Es war nicht zu leugnen: Robert Carhill war ein Ferkel, zumindest was die Hausarbeit anging. So ordentlich er auch in seinem Job war, so wenig behielt er das in seinem Privatleben bei. Deswegen hatte er seit Jahren eine Haushaltshilfe, die mittlerweile beinahe zur Familie gehörte.

„Mabel hat sich das Bein gebrochen, als ihr Nachbar vergessen hat zu streuen. Der Vollidiot.“ Missbilligend rümpfte ihr Vater die Nase.

„Was? Ach Gott, die Arme, das ist ja schrecklich.“

„Nicht wahr? Wie du siehst, stürzt es mich ins völlige Chaos.“ Er schüttelte streng den Kopf und sein Schnauzbart erzitterte vor Empörung. 

Emily lächelte amüsiert. „Ich meinte Mabel, Dad. Sie hat eindeutig das schlechtere Los von euch beiden gezogen, oder meinst du nicht?“ Er wirkte leicht zerstreut, als er das benutzte Geschirr in die Küche zurückbalancierte. Eilig nahm sie ihrem Vater die Tasse ab, die zu fallen drohte, und trat durch die Schiebetür in die Küche. Emily traf fast der Schlag, und sie blieb abrupt stehen, als sie das Chaos auf der Küchenanrichte betrachtete.

Ihr Vater suchte verzweifelt nach einem letzten freien Plätzchen auf dem Herd und sah seine Tochter ziemlich hilflos an. „Ich bin ein klassischer Junggeselle, oder? Da fällt meine Haushälterin mal aus, und bei mir bricht alles zusammen.“ 

Emily kicherte über seine bekümmerte Miene und brach schließlich in lautes Gelächter aus. Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. „Weißt du was, Dad, mich beunruhigt eher, dass du einen ganzen Haufen Kinder hast, die zum Teil noch im selben Haus wohnen und nicht bemerken, wenn ihr Vater in seiner Unordnung ertrinkt.“ Sie stellte die Sachen auf den Boden und zog ihre Jacke, den Schal und die Mütze wieder aus. „Pass auf, wir regeln das zusammen, damit du morgen nicht verhungern musst.“

„Du wolltest doch zu Mary?“

„Du brauchst meine Hilfe dringender – glaub mir.“ Dann krempelte sie die Ärmel hoch und begann damit, Spülwasser einzulassen. „Außerdem hat Mary noch Nina und die Hilfskellner. Die kommen erst mal alleine klar.“ Emily war es manchmal ein Rätsel, wie ihr Vater es geschafft hatte, fünf Kinder allein großzuziehen, wo er fast unfähig schien, sich um sich selbst zu kümmern. Sie beobachtete ihn heimlich, wie er unbeholfen das Geschirr zusammenräumte. Er war auch mit seinen annähernd sechzig Jahren ein Mann, der allein mit seinem Auftauchen einen ganzen Raum voller Menschen verstummen lassen konnte. Er hatte eine eindrucksvolle Größe, breite Schultern und keinen Bauchansatz. Auch wenn es ewig her war, dass Emily ihren Vater ohne Hemd gesehen hatte, wusste sie doch, dass er kein Gramm Fett zu viel am Körper trug. Er war stets darauf bedacht gewesen, ausreichend Sport zu treiben, damit er weiter dieses ungesunde Zeug in sich hineinstopfen konnte, das er so liebte. 

Für einen Mann seines Alters hatte er sich noch ziemlich gut gehalten. Sein blondes Haar war zwar von einigen grauen Strähnen durchzogen, was es noch heller erschienen ließ, und war so lang, dass er es über die kahle Stelle am Hinterkopf nach hinten streichen konnte. Sein Schnurrbart war voll, und die eisblaue Farbe seiner Augen war Marys und Lucys so ähnlich. Außerdem strahlte er etwas aus, eine überwältigende Präsenz, der sich kaum einer entziehen konnte.