Choose Love: Carhill Sisters - Liv Keen - E-Book

Choose Love: Carhill Sisters E-Book

Liv Keen

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Beschreibung

Wenn deine große Liebe die größte Gefahr darstellt ...  Amy, das schwarze Schaf der Familie Carhill, kehrt nach einer verstörenden Beziehung in ihre Heimatstadt zurück, um in ihrem chaotischen Leben Fuß zu fassen. Das will ihr nur schwer gelingen, als sie ihren neuen Nachbarn Sam kennenlernt, der der nächste Badboy zu sein scheint, der sich in ihre lange Liste von Fehlgriffen einreiht. Sein Kontakt zur heimischen Gang gefällt Amy gar nicht. Es kann doch nicht möglich sein, dass jeder Kerl, den sie anziehend findet, ein schlechter ist? Amy begibt sich schließlich selbst auf die Jagd nach den Henderson Brüdern und scheinbar zu sich selbst. Und ganz plötzlich droht sie ganz tief in Sams Schwierigkeiten abzurutschen, die sie nicht nur das Leben, sondern auch den Mann, den sie liebt, kosten könnte ... Ein romantischer Liebesroman über schicksalhafte Begegnungen, eine verrückte Familie und die ganz große Liebe. Dieses Buch ist der vierte Teil einer Reihe mit ca. 350 Taschenbuchseiten. Jeder Band ist jedoch in sich abgeschlossen. Achtung! Dieses Buch ist eine Neuauflage und war bereits unter dem dem Titel "Carhill-Sisters: Amy & Sam" und dem Autorennamen Kathrin Lichters veröffentlicht.

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CHOOSE LOVE - AMY & SAM

CARHILL SISTERS

LIV KEEN

INHALT

Vorwort

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Epilog

Nachwort

Danksagung

Über die Autorin

Weitere Bücher von Liv Keen

Für meine Freunde,

die meine verrückten Carhills sind.

Danke, dass es euch gibt. Ich liebe euch & all eure schrulligen Eigenschaften so sehr

VORWORT

Liebe Leserin, lieber Leser,

dieses Buch ist bereits am 04.01.2017 bei Feelings, dem Imprint Label der Verlagsgruppe Droemer Knaur unter dem Titel Carhill Sisters - Amy & Sam und meinem anderen Autorennamen Kathrin Lichters erschienen. Nach dem Rechterückfall veröffentliche ich dieses Buch neu im Selfpublishing unter meinem offenen Pseudonym Liv Keen. Falls du diesen Band damals bereits gekauft hattest, hast du die Möglichkeit dieses eBook an Amazon zurückzugeben und dein Geld zurückzuerhalten. Falls du die Carhill Sisters noch nicht kennst oder einfach die überarbeitete Version lesen möchtest, wünsche ich dir ganz viel Lesespaß.

Alles Liebe

Deine Liv

PROLOG

AMY

Bis auf das Lämpchen des Anrufbeantworters, das im Sekundentakt blinkte, war alles dunkel in der Wohnung. Endlich herrschte Ruhe, nachdem sie Mark eine Riesenszene gemacht und er daraufhin seine Party verlegt hatte. Nun saß sie hier in dem üblichen Chaos, ließ das Licht einfach aus, um die unzähligen Bierflaschen, benutzten Kondome und leeren Essensschachteln nicht ansehen zu müssen. Wie um alles in der Welt hatte er sich dieses Essen nur leisten können? Da blitzte eine Ahnung in ihr auf, und sie eilte zu dem losen Dielenbrett, unter dem sie ihr Geld versteckte. Sie hob es an, fasste hinein und … nichts. Es war weg; war gegen Drogen und allerlei unnütze Sachen getauscht worden. Amy schloss gequält die Augen. Tränen der Verzweiflung und Wut liefen über ihre Wangen. Wie sollte sie je einen Neustart schaffen, wenn er sie ständig ausnahm wie eine Weihnachtsgans? Wieder kam das Licht des Anrufbeantworters in ihr Blickfeld. Sie wischte über ihre Nase, trat darauf zu und drückte auf den Abhörknopf.

„Hey Baby, ich bin’s.“ Es war ihre Schwester Mary, die seltsam niedergeschlagen klang. „Ich musste gerade nur an dich denken und wollte hören, wie’s dir geht. Melde dich mal, ja?“ Amy seufzte.

„Hallo Amy, hier ist dein Bruder Luke. Erinnerst du dich noch? Groß, dunkelhaarig, schlank, besonders gutaussehend und eine Granate im Bett … na gut, das kannst du nicht wissen - vergiss das wieder. Jedenfalls wirst du jetzt zum Telefon greifen und mich anrufen, klar? Denn wenn nicht, werde ich zu dir kommen müssen, und dann bring ich Dad mit. Das ist keine leere Drohung, sondern ein Versprechen. Also, los. Das Telefon beißt gar nicht.“

„Mayday, Mayday … Schwester gesucht. Ich möchte gern meine Schwester als vermisst melden. Sie hatte dunkle Haare, daran erinnere ich mich noch. Sie könnten mittlerweile aber auch blau, grün oder rot sein, wer weiß das schon. Ob sie irgendwo gern hingeht? Ähm … tja, ich hab keinen blassen Schimmer. So oder so ähnlich würde sich eine Vermisstenmeldung bei der Polizei anhören, Amy.“ Lucy klang frustriert. „Melde dich doch bei uns.“

Die nächste Nachricht begann, und wie zu erwarten, erklang Emilys Stimme: „Wie du sicher weißt, ist das eine Carhill-Intervention, und mir bleibt nicht viel mehr zu sagen als: Du fehlst uns. Komm bitte heim.“

Tränen liefen über ihre Wangen, während sie sich an der Wand zu Boden gleiten ließ und sich fragte, wessen Leben sie nur gerade führte?

KAPITEL1

AMY

Pipi – sie musste so dringend Pinkeln und die Autos krochen quälend langsam im Stau von Maryport zurück. Sie hätte einfach noch aufs Klo gehen sollen, als sie bei ihrer Freundin die Chance dazu gehabt hatte. Doch alles hatte sie aus dieser Stadt fortgetrieben. Fort von Mark und dem Leben, das sie gehasst hatte. Sie wollte so eilig fliehen, dass es ihr unwichtig erschien, den menschlichen Bedürfnissen nachzugehen. Das hatte sie jetzt davon.

„Um Himmels willen, Amy, du machst mich ganz wahnsinnig mit deiner Zappelei. Deswegen fahren die Autos auch nicht schneller“, stöhnte Jamie, der am Steuer des großen Kombis saß, während ein kleiner Transporter mit Luke, Jake und Emily bereits in der Blechlawine verschwunden war.

Amy lehnte den Kopf an die Scheibe und hielt weiter Ausschau nach dem nächsten Rastplatzschild. „Das ist bestimmt meine Strafe dafür, dass ich mich erst jetzt um meine Angelegenheiten kümmere.“ Die Strecke von Maryport nach Jarbor Hydes war unter normalen Bedingungen in einer knappen Stunde zu bewältigen. Doch das Ende der Herbstferien zog offenbar alle Bewohner von Cumbria nach Hause, sodass der Verkehr sich verfünffacht hatte. „Wo kommen nur all diese Leute her?“, stöhnte sie gequält. „Wohnen die echt alle hier? Das kommt mir sonst weniger vor!“

Jamie grinste teuflisch. „Da vorn ist ein Schlagloch“, entfuhr es ihm, und er steuerte darauf zu.

„Wage es bloß nicht, sonst werde ich Jake nicht von diesen fiesen Gemeinheiten zu deinem Junggesellenabschied abhalten“, warnte sie mit erhobenem Zeigefinger und lächelte über seine entsetzte Miene.

„Das würdest du nicht tun!?“

„Oh doch – ich bin die grausamste aller Carhill-Schwestern, vergiss das nicht.“ Amy streckte ihm die Zunge raus und stützte ihren Ellbogen am Fenster ab.

„Ach was, du kleiner Käfer! Damit kannst du mich nicht täuschen. Ich weiß, du versuchst, dadurch alle auf Abstand zu halten, aber das klappt bei mir nicht. Ich hab dich längst durchschaut.“ Zu ihrer Schande musste sie ihm recht geben. „Außerdem hat Lucy diesen Ruf nicht ganz zu Unrecht erworben, lang vor deiner Zeit.“ Jamie Dougle war in Marys und damit auch in ihr Leben reingeplatzt und hatte sie sofort als kleine Schwester auserkoren, während er Mary übernächstes Wochenende heiraten würde. Amy liebte Jamie auf eine seltsame platonische Weise, und oft erinnerte er sie an Collin, Emilys ersten Mann, der vor über zwei Jahren tödlich verunglückt war und damit ein riesiges, klaffendes Loch im Kreise der Carhills hinterlassen hatte. Collin hatte als Lukes bester Freund bereits in der Kindheit zu ihrer Familie gehört, und deswegen war er nicht bloß ein Schwager, den sie alle verloren hatten: Er war ihr Bruder gewesen. Jamie schaffte es bei Amy, seinen Platz einzunehmen, so wie Jake bei Luke diese Lücke füllte. Leider behandelte Jamie sie auch manchmal wie seine kleine, nervige Schwester.

„Frag nur Luke, ich war immer schon die Rebellin in der Familie und schrecke nicht davor zurück, drastische Maßnahmen zu ergreifen, um zu bekommen, was ich will. Denk nur dran, ich musste mich gegen vier Carhills und Collin durchsetzen.“

Sie machte eine theatralische Pause, in der Jamie hinzufügte: „Deinen verrückten Vater nicht zu vergessen!“

„Lass das ja nicht den Chief hören“, warnte sie ihn und biss sich auf die Lippe.

„Gott bewahre!“, stieß er aus und machte ein übertrieben ängstliches Gesicht. Im Gegensatz zu Amy war Jamies Verhältnis zum Oberhaupt der Familie Carhill sehr gut, was nicht zuletzt daran lag, dass Jamie seine Tochter Mary aus dem Feuer in ihrem Café gerettet hatte. Während die Ermittlungen zu dem Brand andauerten, lebten sie bei Robert Carhill und planten in aller Ruhe ihre Hochzeit, bis ihr Strandhaus in einigen Wochen endlich fertig gestellt war.

Amy hatte kurzzeitig auch im Dachgeschoss desselben Hauses gewohnt, doch die Beziehung zwischen ihr und ihrem Dad konnte man bestenfalls als angespannt bezeichnen. Es war kein Geheimnis, dass Amy und ihr Vater Robert noch nie ein besonders gutes Verhältnis zueinander gehabt hatten, was mehrere Gründe hatte. Der Wichtigste war, dass er einen unerträglichen Kontrollzwang hatte. Er wollte seine Kinder vor allem Bösen bewahren, aber Amys Freiheitsdrang kollidierte immer wieder damit. Das war schlussendlich der Auslöser für ihre Flucht gewesen. Leider musste sie mit eingezogenem Schwanz zurückkehren und sich eingestehen, dass er recht gehabt hatte. Die Welt war grausam, und ihr Exfreund hatte ihr das auf die harte Tour beigebracht. Die passende Bezeichnung für den Zustand ihrer Beziehung lautete also „unüberbrückbare Differenzen“.

Jetzt zog sie zurück nach Jarbor Hydes, den Ort, in dem sie aufgewachsen war und der ihr hoffentlich die Stabilität und Sicherheit verschaffen würde, die sie so dringend brauchte, um sich neu zu orientieren. Denn Amy war auf der Suche, nach dem, was sie sein wollte und was sie tatsächlich war.

Endlich entdeckte sie ein blaues Schild am Straßenrand und rief: „Da!“ Jamie erschreckte sich so, dass er zusammenfuhr. „Klo!“

„Du sprichst also keine zusammenhängenden Sätze mehr, oder? Bist du sicher, dass das ein Rastplatz ist? Was, wenn das nur so ein …“

„Fahr – da – rein!“, knurrte sie mit zusammengebissenen Zähnen und wirkte offenbar bedrohlich genug, dass Jamie sich links einordnete und verhalten lachte.

Ein Rastplatz war es tatsächlich, sogar mit angrenzender Tankstelle, und Jamie hielt direkt vor dem Eingang, sodass Amy quasi nur noch hineinfallen musste. Ein Hinweis an der Tür sagte ihr, dass die Toilettenschlüssel beim Tankwart abzuholen waren. Als hätte sie dafür noch die nötige Zeit. Mit zusammengepressten Beinen lief sie hinein und blieb hinter einer kleinen Ansammlung von Menschen stehen. Wieso um alles in der Welt war hier so viel los? Das konnte doch bloß ein schlechter Scherz sein. Eine Familie nahm die Süßigkeiten für ihre Kinder entgegen, um die quengelnden Mäuler zu stopfen, und eine Frau vor ihr bog noch einmal zum Bücherregal ab, sodass Amy einen weiteren Platz vorrückte. Die Erleichterung überkam sie sofort, da zwischen ihrem Ziel und ihr bloß noch ein Kunde stand. Sie starrte nun auf eine dunkle Lederjacke, die sich um breite Schultern spannte und trat unruhig von einem Bein aufs andere.

Der Mann vor ihr diskutierte gerade über den Preis eines Wegwerfhandys und brach nahezu einen Streit vom Zaun. Ein unzufriedener Laut musste über ihre Lippen gekommen sein, denn er drehte sich langsam zu ihr um und sah sie grimmig an. „Gibt’s ein Problem, Lady?“ Sein hellbraunes Haar war ungewöhnlich voll, hatte in den Spitzen eine hellere Farbe und stand in alle Himmelsrichtungen ab, als hätte er eben noch darin gewühlt. Grüne Augen starrten sie an. Genervte, grüne Augen, die zu schmalen Schlitzen verengt waren. Er hielt seine Sonnenbrille in der Hand und hatte einen Bügel zwischen die Lippen geschoben. „Sagten Sie etwas?“, fragte er noch einmal und hätte auf jeden anderen bedrohlich gewirkt.

Amy hingegen ließ sein Auftritt kalt, zumindest wollte sie sich das einreden. Denn dieser Mann war alles andere als kalt. Erwartungsvoll hob er die Brauen, und Amy schnaubte. „Es kostet an einer Tankstelle immer mehr als im Supermarkt, das ist doch völlig normal.“ Seine Miene nahm einen mörderischen Ausdruck an, und Amy verfluchte ihre große Klappe. Warum musste sie immer und überall ihren Senf dazugeben?

„Und das ist Ihr Problem, weil …?“, fragte er gefährlich ruhig. Amys Blick fiel auf sein getunneltes Ohrläppchen und die Tattoos, die unter dem Rand seines T-Shirts hervorlugten. Er war nicht bloß gutaussehend, er war heiß, und natürlich musste sie sich mit ihm anlegen, als verursachte ihre volle Blase nicht schon genug Probleme.

„Es wird Sie womöglich verblüffen, dass es Leute gibt, deren Nervenkostüm dank des Staus sehr dünn ist und die bloß das Eine wollen …“ Sie trat ungeduldig von einem Bein aufs andere und ergänzte ihren Satz im Stillen: „Aufs Klo!“, sagte aber laut: „Nach Hause!“

„Dann werde ich Sie jetzt mal überraschen! Es ist mir scheißegal, was Sie wollen. Ich lege keinen Wert auf Ihre Meinung, und mir ist völlig schnurz, wie lange Sie warten müssen, während ich meine Angelegenheiten in Ruhe kläre.“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, drehte er ihr wieder den Rücken zu.

„Und ob ich was dagegen habe!“ Sie wandte sich an den Tankwart und sagte: „Ich brauche nur den Toilettenschlüssel – dann bin ich weg und lasse Sie das Leben anderer Menschen schwer machen und Sie alles regeln, wonach sich ihr kleinkarierter Arsch offenbar so sehnt.“ Amy wusste, dass sie zu weit gegangen war, in dem Moment, als die Frau hinter ihr erschrocken nach Luft schnappte, und sich die grünen Augen erneut zu schmalen Schlitzen verengten. Sie begannen ein Blickduell, das Amy unangenehm ins Schwitzen brachte.

Der Verkäufer betrachtete sie beide und griff dann mechanisch zu dem Schlüsselbund mit dem riesigen Holzanhänger, ohne sie aus den Augen zu lassen, als hätte er Angst, einer der beiden würde wie im Wilden Westen eine Waffe ziehen.

Amy machte sich nichts vor, ihr Gegenüber überlegte sich gerade, ob er sie häuten, vierteilen oder anderweitig aus dem Weg räumen sollte, während er plötzlich ein gemeines Lächeln aufsetzte und nach dem Schlüssel griff, den der Tankwart über die Theke reichte. Amys Arm angelte noch danach, als sie seine Absicht erkannte, und ihr Gesicht nahm einen panischen Ausdruck an. Bevor sie jedoch auch nur in die Nähe des Ziels kommen konnte, hielt er ihn außer ihrer Reichweite.

„Tja, meine Fahrt war lang und anstrengend. Ich denke, ich werde so kurz vor meinem Ziel noch ein paar Altlasten los.“ Seine wohlgeformten Lippen, die von einem dunklen Dreitagebart umrahmt waren, verzogen sich zu einem triumphierenden Grinsen.

Amy schluckte und entgegnete: „Sind wir jetzt also im Kindergarten, ja?“

„Sie hätten wohl besser mal einen Kindergarten besucht, um den nötigen Anstand und Respekt vor anderen Leuten zu lernen, aber vielleicht ist bei Ihnen auch Hopfen und Malz verloren. Wer weiß das schon.“

„Ist das Ihr Ernst?“

„Mein völliger Ernst!“, bestätigte er und drehte sich wieder zur Theke um.

Hoffnungsvoll sah sie zum Tankstellenbesitzer. „Ist das Ihre einzige Toilette?“

Er nickte bedauernd, was Amy zum Schnauben brachte, und sie verschränkte die Arme vor der Brust. Am liebsten hätte sie mit dem Fuß aufgestampft und laut losgebrüllt aber damit hätte sie diesem unmöglichen Kerl noch mehr Munition geboten. „Wissen Sie was?“, rief sie plötzlich. „Was kostet das Teil?“ Sie zog ein paar Pfundnoten aus ihrem Geldbeutel und überreichte sie dem Tankwart, woraufhin er gewinnend lächelte. Der Mann vor ihr hob überrascht die Brauen.

„Ich muss pinkeln, und zwar jetzt.“

„Wenn Sie darauf bestehen.“ Er grinste selbstgefällig, lehnte sich mit seinem Hintern gegen den Tresen und beobachtete schadenfroh, wie sie das Rückgeld entgegennahm, ebenso wie sie zum Handy griff.

Während sie beide sich anfunkelten, räusperte sich die Frau hinter ihnen. „Könnten Sie Ihren … äh … Disput dann bitte draußen klären? Wir wollen nämlich auch nach Hause“, sagte sie scharf, und der Fremde hob unschuldig die Arme, als hielte man ihm eine Knarre unter die Nase. Amy schnaubte und lief, ohne sich noch einmal zu ihm umzudrehen, vor ihm her. Als sie die abgasverseuchte Luft einatmeten, wandte sie sich impulsiv zu ihm um, stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn an. „Her mit dem Schlüssel!“

„Sind Sie immer so?“

„Wie genau?“

„Ungeduldig? Besserwisserisch? Vorlaut? Frech? Arrogant? Selbstsüchtig? Mischen sich in Angelegenheiten anderer Leute ein?“ Er macht deutlich, dass er die Liste mit Eigenschaften durchaus noch verlängern konnte, und Amy verdrehte die Augen.

„Nur wenn die Natur ruft“, antwortete sie scharf. „Sie dagegen sind sadistisch veranlagt, oder quälen sie Ihre Mitmenschen einfach bloß gern?“

„Ganz im Gegenteil, ich bin nur gegen Ungerechtigkeiten, und dieses Telefon hier ist mit Sicherheit vom Lastwagen gefallen.“ Mit dem Daumen deutete er auf das Handy in ihrer Hand, das Amy nun verwundert anstarrte.

Sie schnaubte. Wahrscheinlich setzte er sich auch für bedrohte Tierarten ein, die Amy durchaus nicht egal waren, aber die ihre Nöte auch nicht sonderlich interessierten. „Wissen Sie was? Das juckt meine volle Blase nicht. Ich will nur aufs Klo.“ Amy spürte, wie ihre Wangen sich leicht röteten, streckte jedoch die Hand aus und wartete darauf, dass er ihr den Schlüssel gab.

Skeptisch blickte er ihr ins Gesicht. „Gleichzeitig!“

„Das ist lächerlich!“, rief sie, holte aber das Handy hervor. In Zeitlupe ließ jeder von ihnen den jeweiligen Gegenstand in die Hand des anderen sinken, und sie sprangen ein wenig auseinander. Amy wandte ihm bereits kopfschüttelnd den Rücken zu, machte jedoch Halt und sah sich noch mal zu ihm um. „Wer kauft denn heute noch ein Wegwerf-Handy? Im Zeitalter von Flatrates und Smartphones?“

Er sah sie lange an, als müsse er sich seine nächsten Worte ganz genau überlegen. „Sind Sie bloß furchtbar neugierig oder von Natur aus eine Nervensäge?“

„Allein diese vage Antwort und die Ablenkung klingen nach einem Ausweichmanöver.“ Misstrauisch betrachtete Amy ihn genauer. Er legte den Kopf in den Nacken und lachte rau. Fasziniert beobachtete sie seine gutdefinierten Brustmuskeln, die durch den V-Ausschnitt seines Shirts deutlich zu sehen waren. Sein Lachen klang in ihren Ohren auf eine irritierende Weise anziehend. Kurzzeitig vergaß sie die Dringlichkeit, die hinter ihrem Tankstellenbesuch lauerte und sah in seine Augen, die sich auf sie geheftet hatten, als wundere er sich über ihr Verhalten.

„Sagen Sie, sind Sie ein Cop und mussten Sie nicht dringend aufs Klo?“

Sie schüttelte den Kopf, als müsse sie ihre Gedanken neu ordnen, und zuckte bloß mit den Achseln, ehe sie sich von ihm abwandte und rief: „Schönes Leben noch!“

„Freuen Sie sich nicht zu früh, denn in der Regel begegnet man sich immer zweimal im Leben“, hörte sie ihn noch sagen.

Als sie in der Toilette verschwand, drückte sie mit ganzer Kraft die Tür hinter sich ins Schloss und stützte ihren Arm dagegen, als müsse sie ihre verwirrenden Empfindungen aussperren. Der Drang zur Toilette war beinahe nebensächlich geworden, denn ihr Herz trommelte so heftig gegen ihre Rippen, dass es ihr schlicht den Atem nahm. Mit einer Hand auf der Brust und betont gleichmäßigen Atemzügen beruhigte sie es wieder und schüttelte irritiert den Kopf. Männer waren das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Vor allem um Männer wie ihn, die zwar unverschämt gut aussahen, jedoch offensichtlich zwielichtige Züge hatten, sollte sie einen großen Bogen machen. Entschlossen verbannte sie den Gedanken an dieses irritierende Zusammentreffen in eine Schublade ihres Innersten und verrichtete endlich ihre Notdurft. Artig gab sie den Schlüssel wieder in der Tankstelle ab und lief zum Auto zurück, wo ein verwirrter Jamie auf sie wartete. Er lehnte an der Motorhaube und stieß sich davon ab, als sie auf ihn zukam.

„Wo hast du gesteckt? Ich dachte, du wolltest bloß aufs Klo?“

Amy schüttelte grimmig den Kopf. „Frag nicht!“, winkte sie ab und öffnete die Beifahrertür, als ihr Blick sich wie von selbst nach links zur gegenüberliegenden Parkbucht wandte. Dort saß der Mann auf einem Motorrad, hielt seinen Helm in der Hand, lächelte herablassend und zwinkerte ihr zu. Lauthals verkündete sie: „Überall nur Idioten auf der Straße.“ Er zog den Helm auf und klappte sein verblendetes Visier herunter, sodass ein Blick in seine Augen unmöglich war. Dann startete er das Motorrad und brauste davon. „Angeber!“, murrte sie und beobachtete, wie er sich mit einem Affenzahn an den im Stau stehenden Autos vorbeischlängelte.

„Bist du sicher, dass es die richtige Entscheidung war, hier einzuziehen?“, fragte Mary sanft, als sie neben Amy in ihrer neuen Wohnung stand. Skeptisch hatte sie eine Hand auf die Lippen gelegt, während sie die heruntergekommene Einbauküche betrachtete, die ihre Vermieterin Mrs. Rushford Amy großzügigerweise überlassen hatte und die noch aus Vorkriegszeiten zu stammen schien, ebenso wie Mrs. Rushford selbst.

Amy seufzte und entgegnete: „Du meinst, weil ich nicht bei Dad eingezogen bin?“ Ein freudloses Lachen entwich ihr, und sie fügte hinzu: „Stell dir das mal vor! Ihr zieht bald in euer kleines Traumhaus am Strand, und dann wäre zwischen Dad und mir kein Puffer mehr gewesen. Wir hätten uns innerhalb der ersten Woche zerfleischt.“

„Vielleicht hast du recht, aber ich hab kein gutes Gefühl dabei, dass du allein in dieser Bruchbude wohnst.“ Mary stöhnte, als sie den in die Jahre gekommenen Durchlauferhitzer unter dem Spülbecken betrachtete, und fügte zweifelnd hinzu: „Es ist nur, weil du gerade jetzt ein wenig mehr … Schutz gebrauchen könntest, oder nicht?“ Amy beobachtete das Profil ihrer großen Schwester und lächelte, als ihr der hübsche Babybauch ins Auge fiel. Mary war im achten Monat schwanger und, soweit das überhaupt möglich war, noch viel schöner geworden. Sie hatte immer schon die beste Ausstrahlung aller Carhills gehabt, was daran lag, dass sie der beste Mensch war, den Amy kannte. Sie war gutherzig, loyal, selbstlos und eine verdammte Mutter Teresa. Das musste schließlich irgendwie belohnt werden, und so wurde ihre Schwester zur Carhill-Schönheitskönigin. Seit ihrer Schwangerschaft strahlte sie noch mehr, was natürlich vor allem an dem Baby lag, das bald auf die Welt kommen würde. Doch auch die Liebe zu Jamie war ein Grund, weswegen Mary stetig lächelte. Sie hatte endlich den Einen gefunden, und Amy konnte ihre Schwester nur zu gut verstehen.

Jamie war nicht nur ein liebevoller Partner und Vater, er war auch ein ziemlich heißes Genie. Bis vor wenigen Monaten hatte er für die Formel 1 und Jake O’Reileys Radamos-Team gearbeitet und Rennautos zusammengeschraubt, was neben Mary Jamies größte Leidenschaft war. Nach einem ungerechtfertigten Vorwurf, der mittlerweile widerlegt war, wollte Jamie vor allem eins: in Jarbor Hydes und bei seiner Familie sein. Deswegen hatte er an einem Abend, während er mit Jake am Auto seines verstorbenen Vaters geschraubt hatte, begonnen, eine Firma für die Entwicklung innovativer Motoren zu gründen. Innerhalb von Monaten war daraus zwar ein kräftezehrendes, aber lohnenswertes Projekt geworden, was der kleinen Familie nach dem Brand von Marys Café vor allem eins gab: finanzielle Unabhängigkeit.

Der Brand und damit der ganz persönliche Angriff der Henderson-Brüder auf ihre Familie hatte etwas in ihr und allen Carhills verändert. Leider konnte ihnen niemand diese Tat nachweisen, auch wenn Bud vor Robert nie einen Hehl daraus gemacht hatte. Sie hatten gespürt, wie verwundbar sie allein waren, und rotteten sich noch mehr zusammen als ohnehin schon. So kam es, dass Mary und Jamie vorübergehend in Emilys alter Wohnung bei ihrem Vater eingezogen waren, während Lucy und Darrell einige Zeit in Halleberry Castle verbrachten, wenn Jake wegen der diversen Formel-1-Rennen, unterwegs war. Die Saison war jedoch bald vorbei, und der Bau von Lucys und Darrells Haus auf dem Grundstück der Gordons ging gut voran, sodass sie bald ihre eigenen vier Wände haben würden. Deswegen war es fast ein wenig trotzig von Amy, dass sie trotz der angespannten Situation nicht komplett in den Schoß ihrer Familie zurückkehrte, sondern bloß in den gleichen Ort zog.

Seit dem Tag des Brandes, an dem Mary beinahe ihr Leben gelassen hatte, wenn Jamie sich nicht wie ein Superheld in die Flammen gestürzt hätte, um sie zu retten, hatte ihr Vater, der Polizeichef des Ortes, alle Hebel in Bewegung gesetzt und versucht, Bud Henderson, dem Anführer der kriminellen Bande, das Handwerk zu legen. Doch Brandstiftung nachzuweisen war ein langwieriger Prozess, und so war Robert Carhill mittlerweile am Verzweifeln. Es hatte beinahe schon paranoide Züge angenommen, sodass ihr schwieriges Verhältnis sich weiter verschlechterte.

„Er macht sich bloß Sorgen“, versuchte Mary sie milde zu stimmen.

„Du meinst, er will die Kontrolle über mein Leben haben“, korrigierte Amy, und Mary rollte mit den Augen.

Sie begann ein paar Gläser aus dem Abtropfgitter abzutrocknen und in die obersten Hängeschränke einzuräumen. „Du bist sehr melodramatisch, oder? Immerhin hat er allen Grund gehabt, sich zu sorgen, oder etwa nicht?“

„Das ist gemein, Mary, besonders von dir.“ Amy strich durch ihre dunklen, fast schwarzen Haare, die ihr bis zum Po reichten. Die lilafarbenen Strähnen waren fast ausgewaschen, doch Amy brachte es nicht fertig, sich einen neuen Lock auszusuchen. Im Augenblick wusste sie kaum, wer sie eigentlich war und was sie von sich und ihrem Leben erwartete. „Mag sein, aber nur weil ich ein schlechtes Händchen bei der Wahl meiner Freunde habe, gibt es ihm nicht das Recht, mich wie ein Schießhund zu bewachen.“

„Ach Süße, er ist unser Vater, und er liebt uns! Guck nicht so, ich will ihn gar nicht nur in Schutz nehmen. Er schießt durchaus übers Ziel hinaus und übertreibt. Er hätte Marks Akte nicht öffnen und ihn unter Generalverdacht stellen dürfen. Das ist absolut wahr, aber er hat sich entschuldigt, und du bist so schrecklich nachtragend, dass …“

„Er beweist jeden Tag, dass er sich nicht ändert, Mary! Denk nur an seine Reaktion, als ich ihm von der Wohnung erzählt habe.“

Mary stützte sich an der Küchenanrichte ab und schloss gequält die Augen. „Bitte Amy, gib ihm eine echte Chance. Du kannst ihn doch nicht für immer aus deinem Leben ausschließen!“

Bevor Amy etwas dazu sagen konnte, mischte sich eine ächzende Männerstimme ein: „Außerdem hatte er doch den richtigen Riecher, oder nicht?“ Es war Jamie, der mit Hilfe von Jake eine Waschmaschine die Treppe hochschleppte.

Amy rollte mit den Augen. „Mag ja sein, aber ich bin keine fünf mehr. Ich muss meine eigenen Fehler machen dürfen.“

Jamie und Jake kamen aus der winzigen Abstellkammer, als sie die Maschine umständlich hineingestellt hatten. „Da ich bald Vater werde, weiß ich nicht, wie ich damit umgehen sollte, wenn meinem Sohn etwas geschieht. Ich darf gar nicht dran denken, wenn ich eine Tochter hätte …“ Er brach ab, zog Mary an sich und streichelte über ihren gigantischen Babybauch. Zärtlich küsste er ihre Wange, und Amy musste bei so viel Liebe fortsehen.

„Jetzt, wo ich Vater einer achtjährigen Tochter bin, kann ich nur eins sagen …“, mischte sich eine belustigte Stimme ein, die ihrem Bruder Luke gehörte, der einen ganzen Haufen Pizzakartons heraufschleppte. „… sogar als Pazifist überlege ich ernsthaft, mir eine Waffe zuzulegen.“ Er zwinkerte als Zeichen, dass das natürlich Quatsch war, und verteilte die Pizzen. Grace trug ein paar Tüten herauf, in denen der Salat und die Pizzabrötchen waren. Emily und Lucy schleppten noch eine Stehlampe herein, die Marks Zerstörungswut gerade noch so entkommen war. „Deine Nachbarin unten fragt sich schon, was die ganzen gutaussehenden Kerle um diese Zeit in deiner Wohnung wollen. Ich hab ihr gesagt, ich sei dein Bruder, aber das hat sie mir aus irgendeinem Grund nicht abgenommen. Aus welchem Jahrhundert stammt sie schätzungsweise?“

Amy grinste. „Sei nicht so streng mit ihr. Auf jeden Fall aus einer Zeit, in der Anstandsdamen Pflicht waren.“ Sie nahm ihm die Pizzakartons ab. „Wo kommt eigentlich die Pizza her?“, fragte sie verdattert.

„Sie ist also der perfekte Wachhund.“ Luke grinste breit. „Ein Gruß vom Chief höchstpersönlich“, vermeldete er dann und lächelte matt. „Es ist Freitagabend. Normalerweise wären wir jetzt alle bei ihm, und da er nicht helfen konnte, wollte er seinen Anteil beisteuern.“ Seine Erklärung ließ Amys Augen schmal werden.

Emily trat an ihrer Schwester vorbei und streichelte ihr sanft übers Haar. „Jetzt bist du in Sicherheit, meine Süße.“

Amy schluckte, als sie ihre liebevolle und verrückte Familie in ihrem winzigen Wohnzimmer stehen sah und beobachtete wie sie sich über die Pizzen hermachten. Sie sah ihre Geschwister lachen und scherzen, betrachtete ihre Schwestern, die das große Los in der Liebe gezogen hatten, und fragte sich, wie sie in dieses Puzzle hineinpasste? Es war ihr immer schon so vorgekommen, als sei sie ein Teil mit eckigen Kanten, während die anderen runde hatten. Wie ein Fremdkörper kam sie sich vor, der selbst jetzt, wo er das Gute vor Augen hatte, es nicht richtig fassen konnte.

Plötzlich bekam sie schlecht Luft und floh überfordert mit einer fadenscheinigen Ausrede nach unten, um etwas Wichtiges heraufzuholen. In Wahrheit ging sie bloß ein paar Schritte die Straße entlang und ließ sich auf dem Mäuerchen an einem Vorgarten nieder. Was stimmte nicht mit ihr? Amy fröstelte, doch die Kälte belebte ihren Geist und bewirkte, dass diese bösen Gedanken im Keim erstickt wurden. Ihre Familie war großartig, und sie wusste, sie hatte die richtige Entscheidung getroffen, nach Jarbor Hydes zurückzukehren, auch wenn es lange gedauert hatte, sie zu fällen. Es würde ihr noch ewig wie ein elender Rückschritt vorgekommen, weil es ihr vor ein paar Jahren so dringend erschienen war, von hier fortzukommen. Plötzlich hatte sie erkannt, dass sie bisher immer nur geflohen war. Vor dem Streit mit ihrem Vater war sie in Marks Arme geflüchtet, und dann war sie von Mark abgerückt, und zwar in eine Stadt ohne Anker. Sie wollte sich endlich erwachsen benehmen und auch als verantwortungsbewusste Frau wahrgenommen werden. Nicht bloß als die jüngste Carhill-Schwester oder die Freundin von Mark, dem vermeintlich aufstrebenden Star. Es ging ihr doch nur darum, sich selbst zu entdecken, herauszufinden wer sie war und was sie ausmachte, ohne sich nach irgendwem zu richten. Abgesehen davon wollte sie endlich ihren Platz in der Familie einnehmen. Sie waren das unfassbar Beste, was sie besaß. Das durfte sie nicht weiter mit Füßen treten, aber ihrer Verschworenheit zuzusehen, war einfach zu viel.

Sie sah zum Himmel hinauf, wo einzelne Möwen kreisten. Wie hatte sie dieses Geräusch vermisst? Das Kreischen der Möwen wurde durch den Motor eines Motorrads unterbrochen, und Amy richtete den Blick auf das Gefährt, das vor ihr in die Einfahrt eines leerstehenden Hauses fuhr. Sie starrte darauf, ohne sich rühren zu können, und öffnete den Mund, ehe sie ihn wieder zuklappte. Der Mann, der dort vom Motorrad stieg und den Helm abzog, kam ihr verdammt bekannt vor. Bis jetzt hatte er sie noch nicht gesehen, ihr bloß den Rücken zugewandt und das Haus vor ihm betrachtet, ehe er seinen Blick über die Umgebung schweifen ließ, als wolle er sich absichern, dass keiner ihn beobachtete. Er bemerkte sie und erstarrte. Sein Gesichtsausdruck war überrascht, geradezu ungläubig. Das überspielte er jedoch mit einem hinreißenden Lachen.

„Das glaube ich jetzt nicht!“, entfuhr es ihm, und Amy rührte sich immer noch nicht. Geschmeidig kam er auf sie zu. „Man könnte meinen, ich sei ein Orakel.“

Eilig richtete sie sich auf, kniff die Augen zusammen und trat ihm mitten auf der unbefahrenen Straße entgegen. „Sie … was tun Sie hier?“, fragte sie verdattert.

„Ich ziehe gerade ein.“

„Womit genau?“

Er eilte zu seinem Motorrad zurück, wo er aus dem Helmfach eine Pappschachtel zauberte. „Einzig und allein Einstein und ich ziehen ein.“

„Einstein?“, wiederholte sie irritiert und rechnete mit einer Ratte oder Ähnlichem.

Er öffnete grinsend die Schachtel, und Amy sah darin einen Kaktus. „Darf ich vorstellen? Einstein!“

„Wer bitte nennt einen Kaktus Einstein?“ Sie hob herablassend die Brauen und sah ihn skeptisch an. „Wer gibt Pflanzen überhaupt Namen? Ist der Kaktus überhaupt eine Pflanze?“

„Das meint sie nicht so, Einstein! Wir ignorieren diese verrückte Frau einfach.“

Sie überging diese Bemerkung und stemmte die Hände in die Hüften. „Haben Sie keine Möbel oder irgendwelche persönlichen Sachen?“

„Ah - ich vergaß, Sie sind Miss Marple … Mein Umzugsunternehmen hat alle Sachen gestern vorbeigebracht“, erklärte er und zwinkerte ihr gutgelaunt zu. „Zufrieden? Oder wollen Sie noch Name und Adresse der Umzugsfirma haben, um meine Angaben zu überprüfen?“ Der Wind wehte seine Haare in die Stirn, und seine Augen hatten im Licht der Abendsonne eine satte grüne Farbe.

„Ihr Umzugsunterhemen?“, echote sie, und der Fremde sah sie stirnrunzelnd an.

„Ist es bloß der Schock, oder sind Sie einfach ein bisschen … ähm … seltsam?“

Sie kniff ärgerlich die Augen zusammen. „Und Sie? Sind Sie bloß gern ein Arsch, oder haben Sie einen Schaden?“

Er zuckte beiläufig mit den Achseln. „Man sagt mir eine gewisse Unfreundlichkeit nach“, gab er zu.

„Das ist ein Scherz, oder? Ein schlechter noch dazu?“

„Ich muss Sie enttäuschen. Ich mache nie Scherze - zumindest keine schlechten.“ Er trat ein wenig zurück und begann, seine Taschen von der Maschine zu lösen.

„Dann ist es also eher ein Zufall? Das soll ich Ihnen glauben?“, rief Amy ihm nach. „Ernsthaft?“

„Zufall? Zufälle gibt es nicht. Scheinbar hat das Schicksal was mit uns beiden vor!“, sagte er zwinkernd und lief auf die Eingangstür zu. „Ach so, ich bin übrigens Sam, falls Sie eine Personenüberprüfung durchführen wollen. Und wer sind Sie?“ Er grinste breit über seine Stichelei und fand sich offenbar unglaublich komisch.

„Das müssen Sie schon selber rausfinden!“, schnappte sie und errötete, als er lachend erwiderte: „Also muss ich erst auf Ihrem Klingelschild nachsehen?“

Passenderweise rief ihr Bruder Luke in diesem Augenblick nach ihr. „Amy? Wo steckst du denn?“

Sam stieß ein Lachen aus, das Amy sauer machte, und hob die Hand zum Abschied, bevor er die Haustür ins Schloss fallen ließ. Sie sah zu Luke hoch: „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ein ganz schreckliches Timing hast?“

„Das ist ein Carhill-Gen! Wusstest du das noch nicht?“ Er feixte und fügte hinzu: „Als du ungefähr zehn warst, hatte ich diese Nachhilfestunde mit Mick, und als es endlich zur Sache ging, kam meine kleine Schwester rein und hat mir die Tour vermasselt. Dabei war er so ein heißes Sahneschnittchen.“

„Danke Luke für die Auffrischung, ich glaube, die Erinnerung habe ich verdrängt“, murrte Amy schlecht gelaunt und fragte sich, ob sie tatsächlich all ihre Karmapunkte verspielt hatte?

KAPITEL2

SAM

Es war eins, sein Leben gegen ein anderes zu tauschen, aber wenn einen die Einöde traf, tat sie das mit Wucht, dachte Sam und biss die Zähne fest aufeinander, während sich eine Schafherde um ihn und sein Motorrad scharte und sich die größte Mühe gab, ihn abzudrängen. Der Hirte lächelte nur und hob entschuldigend die Arme, während Sam die Augen schloss, um nicht um sich zuschlagen. Er sollte es mit Humor nehmen, das versuchte er sich schon seit einer Weile einzureden. Welche Art von Menschen schaffte es nur, hier zu leben? So idyllisch es auch war, die einfachen Dinge hatten ihn nie gereizt. Er konnte damit nichts anfangen. Es ging nicht um Szene-Restaurants und Clubs, aber er wollte doch nicht von all den normal lebenden Menschen abgeschottet sein, um das Meer oder die Wiesen anzustarren. Damit konnte er seine Zeit noch im Rentenalter vertrödeln, falls er es je erreichen sollte. Bei seiner „Berufswahl“ wusste man schließlich nie, wie lange man es schaffte. Nur die Besten wurden richtig alt. Das Einzige, was ihn an diesem Ort bislang reizte, war tatsächlich seine verrückte Nachbarin, die ihm bereits an der Tankstelle den letzten Nerv geraubt hatte. Eine gefühlte Ewigkeit später war kein Schaf mehr in Sicht und so fuhr er los zu einem geheimen Treffen im Ort mit seinem neuen Boss.

LUKE

Es war tiefschwarze Nacht, als Luke die Augen öffnete und an die Decke blickte, die von der Straßenlaterne nur schwach beleuchtet wurde. Der lange Schatten, der dadurch entstand, erinnerte ihn an die Monsterängste aus seiner Kindheit. Der muskulöse Männerarm, der quer über seine Brust lag, brachte ihn zurück ins Hier und Jetzt. Gequält schloss er die Augen. Sein Blick fiel auf den dunklen Schopf, der neben ihm lag, und Luke betrachtete das Tattoo, das er im Nacken eintätowiert hatte. Es war eine Rose, die kurz davor stand, vollständig zu erblühen. Auf einmal überfielen Luke Schuldgefühle, die ihn zu überwältigen drohten und ihn niederdrückten. Nur mit Mühe kämpfte er gegen den bitteren Geschmack von Verrat an und schob vorsichtig den Arm seiner letzten Eroberung von sich. Leise, darum bemüht, den anderen Mann nicht zu wecken, sammelte er seine Kleidung ein und huschte aus der Schlafzimmertür. Eilig zog er sich an und verließ die Wohnung.

Es war mitten in der Nacht, und er brachte es nicht fertig, in seine Wohnung zurückzukehren. Grace verbrachte das letzte Ferienwochenende bei ihrer Mutter, und Luke fühlte sich so allein gelassen, dass er es keine Minute länger in seiner Wohnung aushielt. Also setzte er sich ins Auto, lauschte bloß dem Motorengeräusch, spürte das sanfte Vibrieren unter sich. Der Windzug, der durch die geöffnete Scheibe hereinwehte, weckte seine Lebensgeister. Er fühlte sich wie ein herrenloses Blatt, das vom Wind durch die Lüfte getragen wurde. Sein Leben war völlig durcheinandergebracht worden, und auch wenn ihm nichts Besseres als Grace hätte passieren können, war er unglücklich. Er lächelte viel seltener, als es seiner Natur entsprach, und sein Herz machte viel zu oft schmerzhafte Sprünge. Zuerst hatte er geglaubt, dass es vor allem Bruces Tod war, der ihn so belastete, aber in Wahrheit dachte er weniger an ihn, als dass er Bay vor sich hatte, sobald er die Augen schloss.

Bays Fortgang hatte ihn schwer getroffen, und obwohl er gewollt hatte, dass er ging, war es nicht so leicht, damit zu leben. In den vergangenen Monaten hatte er jedes Szenario hin und her gewälzt und war immer wieder in dieser Pattsituation gelandet. Hätte er Bay dazu gebracht, zu bleiben, wäre das niemals gut ausgegangen, und wenn er sich nicht getrennt hätte, wäre es ihm ein weiteres Mal wie ein Verlassenwerden vorgekommen. Seine deutliche Weigerung, von Bay kontaktiert zu werden, hatte ihm beinahe das Herz gebrochen, aber er war davon überzeugt gewesen, dass ein klarer Schnitt besser war. Nun … jetzt war er sich da nicht mehr so sicher. Er ertrug es nicht, die Nachrichten zu sehen, weil er wusste, dass Bay mitten im Krisengebiet war, und es gab so viele Anschläge, so viele Tote und Verletzte. Nichts davon zu wissen war aber auch nicht besser.

Ziellos fuhr er weiter durch die Nacht, folgte keinem Straßenschild, sondern bloß seinem Herzen. Als er die Handbremse zog, fand er sich vor dem Krankenhaus wieder. Er blickte auf das Gebäude und blinzelte die aufsteigenden Tränen weg. Wie oft hatte er in den vergangenen Wochen hier gestanden? Es war, als wäre er Bay hier näher. Doch Bay war fort … wann würde er das endlich einsehen? Dennoch blieb er in seinem Wagen sitzen und kämpfte gegen die Tränen an, bis die Sonne aufging.

Der Blick über Jarbor Hydes war jedes Mal aufs Neue atemberaubend, sodass er ausstieg, den frischen Wind auf seinem Gesicht spürte und sich immer wieder fragte, ob er an einer Kreuzung wohl falsch abgebogen war. Das Gefühl, den Fehler seines Lebens gemacht zu haben, indem er Bay verlassen hatte, überwog jede Trauer um Bruce. Weil Bay der Eine gewesen war, antwortete eine leise Stimme tief in seinem Innern. Luke wusste das, hatte es von Anfang an geahnt und deswegen sogar kurz Panik bekommen. Nun war Bay fort, und Luke wischte sich über die Augen, um eine klare Sicht auf den Sonnenaufgang zu haben, als jemand neben ihn trat. Er hielt den Atem an, als er plötzlich eine bekannte Stimme hörte.

„Heulen Sie immer wie ein Baby?“

Überrascht sah er zu der Frau mit der Dauerwelle, die mindestens zwei Köpfe kleiner als er war und immer diese unvorteilhaften Schlappen trug – Tamy. Das war nun ein Gespräch, auf das er gern verzichtet hätte. Immerhin hasste sie ihn. „Oh, und ich dachte, ich würde Sie niemals wiedersehen.“

„Tja, zu früh gefreut. Eine Option wäre, einfach nicht mehr hierher zu kommen“, sagte sie und belauerte ihn aus ihren kleinen Schweinsaugen.

Luke nickte zustimmend. „Ja, das wäre eine Überlegung wert …“ Er fühlte, wie ihm allein dieser Gedanke die Kehle zuschnürte, sodass er wieder gequält die Augen schloss, um nicht loszuheulen, wie ein Baby.

Tamy beobachtete ihn eindringlich, und ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. „Warum bist du dann ständig hier?“ Es entging Luke nicht, dass sie zu einer vertraulichen Anrede wechselte.

„Weil ich ein Idiot bin.“

„Das bestreite ich gar nicht, … aber du kommst fast täglich hierher, und es kann nur einen Grund dafür geben …“

„Dass ich ein Irrer bin, der dringend einen Psychologen aufsuchen sollte?“

Ein Lächeln huschte über Tamys Gesicht. „Auch diesem Vorschlag wäre ich nicht abgeneigt, doch ich glaube, dass es nur einen Grund gibt, warum du hierherkommst und heulst wie ein Baby. Bay!“

Seinen Namen aus dem Mund von Tamy zu hören, war erstaunlich wohltuend. Er blickte ihr das erste Mal ins Gesicht und lächelte traurig. „Mit jedem Tag, an dem ich nicht weiß, wie es ihm geht, fühle ich mich schlechter.“

„Was du verdammt noch mal auch verdient hast!“, sagte sie energisch, doch ihre Entschlossenheit schwand spürbar mit jeder Sekunde, die sie ihn ansah. „Du hast ihm das Herz gebrochen, wie ich es erwartet habe. Ich habe ihn vor dir gewarnt. Ich sollte dich einfach ignorieren und deinem Elend überlassen …“

„Ich habe ihm das Herz gebrochen? Er hat mich verlassen!“ Perplex starrte er sie an und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Du irrst dich, Luke. Er hätte dich niemals verlassen, sondern er ist fortgegangen, um die Welt zu retten. Das ist Bay! Er zieht los, bringt sich in fürchterliche Gefahren, um anderen zu helfen und ihr Leben ein kleines bisschen besser zu machen. Das ist der Mann, der dir sein Herz überlassen hat. Er ist ein Held, und niemand wäre jemals gut genug, um an seiner Seite zu sein.“ Tamy seufzte, ließ ihre Tasche auf den Boden gleiten und lehnte sich neben ihn ans Auto. „Hat er dir je erzählt, wie es dazu kam, dass er und ich Freunde wurden?“

Luke schüttelte bloß den Kopf, weil der Kloß in seinem Hals es nicht zugelassen hätte, auch nur ein Wort zu sagen.

„Als ich Bay vor fünf Jahren kennenlernte, dachte ich nicht daran, dass er mein Leben derart verändern würde. Ich hatte gerade meinen Job verloren, einen schrecklichen Ehemann und große Lust, meinem Leben einfach ein Ende zu setzen. Da begegnete ich Bay, und er besorgte mir diesen Job hier, half mir, mich von meinem Mann zu trennen und eine furchtbare Scheidung durchzustehen. Es war der Beginn einer sonderbaren Freundschaft, aber dieser Mensch, den du bereitwillig mit einem gebrochenen Herzen in den Irak hast gehen lassen, ist der beste Mensch auf dieser Welt.“ Tamy reichte Luke ein Taschentuch aus ihrer Tasche und fuhr fort: „Er wollte sich nicht auf dich einlassen, deswegen hat er dich mit diesem Wisch abspeisen wollen, aber weil Bay nun mal Bay ist, hat er sich trotzdem von dir rumkriegen und innerhalb von Tagen seinen Schutzwall einreißen lassen. Und jetzt sieh dir die Bescherung an.“

Luke schnäuzte in das Taschentuch und holte schließlich tief Luft, während Tamy seine Schulter tätschelte. „Mich von ihm zu trennen war das Schwerste, was ich je getan habe. Ich dachte, ich tue das Richtige, und als ich dann am Flughafen stand, an dem Tag, als Bay geflogen ist …“

„Du warst dort?“, fragte Tamy plötzlich überrascht.

Luke nickte und verzog schmerzlich das Gesicht. „Ich war dort und wusste nicht sicher, warum eigentlich. Wollte ich ihn aufhalten? Wollte ich mich bloß verabschieden? Ich weiß es bis jetzt nicht. Alles, was ich weiß, ist, dass ich ihn nicht darum hätte bitten dürfen, nicht zu gehen.“

„Und warum bitteschön nicht?“

Verdutzt sah Luke sie an. „Hast du nicht eben gesagt, dass er nun mal ein Held ist und …“

Tamy hob die Hand, um seinen Redefluss zu stoppen. „Moment! Ich sagte, er sei ein Held, der viele Gründe hat, warum er gehen wollte, aber nicht, dass du ihm keinen richtig guten Grund geben solltest, hierzubleiben.“

Luke runzelte die Stirn und strich sich überfordert durchs Haar. „Also, du findest, ich hätte ihn aufhalten sollen?“

„Aber sicher doch!“, entfuhr es Tamy voller Überzeugung. „Er hat die Welt bereits mehrfach besser gemacht und ist bloß immer wieder gegangen, weil er nichts hat, was ihn hier hält. Hast du dich nie gefragt, was mit seiner Familie ist?“ Luke schüttelte den Kopf. Er war zu sehr mit sich und seiner Familie beschäftigt gewesen, um Bay ernsthaft nach seiner zu fragen. Er war ein Trottel und nicht nur das: Er war ein schrecklicher Freund und eignete sich nicht wirklich als Partner. „Seine Familie hat ihn verstoßen, weil er schwul ist.“

„Wie bitte?“

Tamy nickte nachdrücklich. „Seine Eltern, vor allem sein Vater, lehnen jede Andersartigkeit kategorisch ab, und als Bays Schwester vor zwei Jahren gestorben ist, durfte er nicht mal zur Beerdigung kommen.“

Verzweifelt schüttelte Luke den Kopf. „Davon hat er nie was erzählt.“

„Hast du je gefragt?“, fragte Tamy sanft, und Luke sah ihr traurig in die Augen.

„Ich bin offensichtlich eher so der egoistische und selbstsüchtige Typ“, entgegnete er streng. „Wie können seine Eltern nur so was tun? Wie können sie einen Menschen wie Bay ausschließen?“ Tamy schüttelte ratlos den Kopf, und sie verfielen in Schweigen. „Er ist der gutmütigste Mann, den ich je getroffen habe.“

Irgendwann fasste Luke den Mut, die eine Frage zu stellen, die er zuvor nicht hatte stellen können. „Hast du von ihm gehört? Geht es ihm gut?“

Sie lächelte und sah ihn nachdenklich an. „Er ist körperlich unversehrt, zumindest, als ich zuletzt mit ihm gesprochen habe. Und bevor du fragst, ich werde ihm nichts von dir ausrichten und eine Art Vermittlerin spielen. Er soll sich dort auf sich konzentrieren und heil wiederkommen.“

„Nein, darum wollte ich dich nicht bitten, aber … könntest du vielleicht noch ein Weilchen neben mir stehen bleiben, Tamy?“

Sie rollte demonstrativ mit den Augen, lächelte dann jedoch und reichte ihm ihre Hand.

AMY

Der Samstag und der Sonntag waren dermaßen verregnet, dass Amy keinen Fuß vor die Tür setzte, was ihre Vorräte zwar auf einen Hauch von Nichts schrumpfen ließ, dafür aber ihre Wohnungseinrichtung vorantrieb. Während dicke Tropfen gegen die Scheiben klatschten, ordnete sie ihre wenigen Habseligkeiten, die ihre Freundin Chloe noch aus Marks Fängen hatte retten können, in die diversen Schränke ein. Am Ende des Tages saß sie auf der Küchenanrichte mit einem ihrer geliebten Früchtetees und blickte aus dem Fenster, das den Blick auf das Haus ihres neuen Nachbarn freigab. Der Himmel war so dunkel gewesen, dass es bereits um sieben Uhr stockfinster war, und Amy liebte die unterschiedlichen Schwarz- und Blautöne, die so düster und unheilverkündend über ihr schwebten. Es tröstete sie deshalb, weil sie sich selbst so fühlte. Ihren Geschwistern zuliebe setzte sie ein Lachen auf, aber in ihr tobte ein steter Kampf, der kaum zu bändigen war. Ihre Gefühlsskala reichte von Entschlossenheit, über Angst bis zu Wut. Die zwei Jahre mit Mark hatten ihr nicht nur wertvolle Zeit geraubt, sondern ihr auch etwas genommen, das sich nicht nur anfühlte, als wäre es vorübergehend verschollen, sondern völlig ausgelöscht.

Sie fragte sich einmal mehr, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie die Warnung ihres Vaters ernst genommen hätte? Sie hatte diese Fehler unbedingt machen wollen. Es war ihr weniger um die großen Gefühle für Mark gegangen, die sie zweifelsohne für ihn gehabt hatte, sondern diese Entscheidung hatte sie vor allem getroffen, um ihren Vater zu verletzen. Ein gestörtes Vater-Tochter-Verhältnis war weit mehr, als sie an diesem Abend ergründen wollte. Die Trennung von Mark war beinahe überwunden, doch der Teil der Gewalt, der Unterdrückung und des Gefühls, niemals genug für einen Menschen zu sein, war etwas anderes. Jede Nacht durchlebte sie denselben Traum, horchte bei jedem unerwarteten Geräusch auf, aus Angst, von Mark überrascht zu werden. Ihr letzter Stand war, dass er mit seiner Band in einem Loch hauste, weil er sich keine Miete leisten konnte. Ihr schlechtes Gewissen meldete sich kurz, denn das größte Problem mit einem drogenabhängigen Partner war, dass man sich verantwortlich fühlte. Das und nichts anderes hatten sie zum Schluss bloß noch dazu angehalten, ihn zu finanzieren. Und das Gefühl, völlig allein auf der Welt zu sein, bis Mary und Jamie an dem einen Tag vor ihrer Tür gestanden hatten.