Choral am Ende der Reise - Erik Fosnes Hansen - E-Book
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Choral am Ende der Reise E-Book

Erik Fosnes Hansen

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Beschreibung

Die Geschichte beginnt am 10. April 1912. An diesem Tag gehen im englischen Southhampton sieben Musiker an Bord der Titanic, die auf ihrer fünftägigen Jungfernfahrt mehr als zweitausend Menschen nach New York bringen soll. Sie sind für die musikalische Unterhaltung zuständig. In den fünf Tagen, die ihnen noch an Bord verbleiben, lernt man ihre höchst unterschiedlichen Lebensgeschichten kennen – fiktive Biografien voller Hoffnungen und Niederlagen, voller Leidenschaft und Verzweiflung. Selten treffen in einem Roman literarisches Können, historische Recherche und spannende Unterhaltung so zusammen wie in diesem Buch. »Ein meisterhaft komponierter Ideenroman. Weltklasse.« Jostein Gaarder

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Seitenzahl: 673

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Erik Fosnes Hansen

Choral am Ende der Reise

Roman

Aus dem Norwegischen von Jörg Scherzer

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Erik Fosnes Hansen

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Motto

Besetzung

Mittwoch, 10. April 1912

Am selben Morgen

9 Uhr 25. Southampton

Jasons Geschichte

Am selben Tag

Am selben Abend

Donnerstag, 11. April 1912

Intermezzo

Am selben Tag

Alex’ Brief

An Bord der R.M.S. Titanic, 11. April 1912

Freitag, 12. April 1912

Spots Geschichte

Samstag, 13. April

Davids Geschichte

Sonntag, 14. April 1912

Am selben Abend

Petronius’ Geschichte

Nachwort des Autors

Inhaltsverzeichnis

A te Katerina, perché ci sei.

Inhaltsverzeichnis

Der Harfner

Wer nie sein Brot mit Tränen aß,

Wer nie die kummervollen Nächte

Auf seinem Bette weinend saß,

Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.

Ihr führt ins Leben uns hinein,

Ihr lasst den Armen schuldig werden,

Dann überlasst ihr ihn der Pein:

Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.

J. W. v. Goethe

Inhaltsverzeichnis

DAS ORCHESTER

an Bord der

R. M. S. TITANIC

10. bis 15. April 1912

Jason Coward – Kapellmeister

London

Alexander Bjeschnikow – Erste Violine

St. Petersburg

James Reel – Bratsche

Dublin

Georges Donner – Cello

Paris

David Bleiernstern – Zweite Violine

Wien

Petronius Witt – Bass

Rom

»Spot« – Klavier

Herkunft unbekannt

Inhaltsverzeichnis

Die Jahrhunderte verrinnen wie ein träger Fluss aus Klängen und Bildern. Gesichter und Städte ziehen vorbei.

Manche Bilder sind vollständig und klar, andere verschwinden, wie im Nebel.

Jede Zeit hat ihre Bilder und ihre Geräusche.

 

Manche Zeiten hallen wider von Hymnen, von Tönen, die aufsteigen unter Steingewölben. Doch auch Geräusche von Eisen gibt es, von Feuerschreien oder von leisen Lauten, die stilles Weinen sind. Langsam gleiten sie dahin, wie Eisgang auf einem Fluss.

 

Und du kannst sie nicht einfangen.

Fast wie heimliche Traumbilder; verlorene Ikonen, auf die mit alten Farben fremde Zeiten und Gesichter gemalt sind. Jede Zeit hat ihre Bilder und ihre Geräusche.

 

Wie ein Gedicht, das man vergessen hat.

Inhaltsverzeichnis

Und er sprach: Lass mich gehen,

denn die Morgenröte bricht an!

Aber er antwortete: Ich lasse dich nicht,

du segnest mich denn.

1. Mos. 33,27 [26]

Inhaltsverzeichnis

Mittwoch, 10. April 1912

London, kurz vor Sonnenaufgang

Er trat aus dem Haustor und ging in den Morgen. Er dachte: Durch solche stillen morgendlichen Straßen zu gehen, allein, Abschied nehmend, ist merkwürdig. Es ist noch früh, du hörst noch den Widerhall der eigenen Schritte auf dem Pflaster. Noch ist die Sonne nicht aufgegangen.

Zur Themse hin fällt die Straße ab. In der Hand trägst du einen kleinen Koffer und unter dem Arm den Geigenkasten. Mehr nicht. Und es geht sich leicht. Wenn du um die Ecke kommst, wirst du den Himmel im Osten sehen.

Er ging. Die Gebäude der Stadt umgaben ihn; in der Morgendämmerung wurden sie leicht und durchsichtig. Fast schwebten sie. Und im Straßenraum, zwischen den Häuserreihen, floss das Licht der Dämmerung, so blau, wie es nur im April ist, unfassbar, wie ein unbekanntes Intervall. Zu so früher Stunde waren nicht viele Menschen unterwegs: Ein paar Straßenmädchen, ein Gemüsehändler oder zwei, mit Handkarren, ein morgendlicher Spaziergänger und er selbst. Schritte auf Stein. Die Gesichter ebenso durchsichtig wie die Stadt bei diesem Licht. Er dachte: Auch mein Gesicht sieht jetzt so aus.

Bald hatte er die Straßenecke erreicht.

Er wusste: Heute bin ich aufgestanden und habe die Pension verlassen. Die Bettwäsche war klamm und schmuddelig. Ein weiteres Logis, ein weiteres Bett, in dem du nie mehr schlafen wirst. Vor dir liegt alles – was, weißt du nicht. Lange ist es so gewesen. Zu vielen Jahreszeiten hatte es viele solcher Morgen und stille Straßen gegeben. Du gehst durch Städte und siehst, wie die Menschen leben, du siehst Unterwäsche und Bettzeug, das von der Nacht getrocknet wird und wartend auf Leinen hängt. Hinter den Fenstern schlafen sie, die Kinder, die Frauen, die Männer. Du weißt das. Wenn du dich bemühst, kannst du sie fast atmen hören. Du weißt es. Doch du verstehst es nicht. Es gehört nicht dir. Nie hast du das erlebt. Früher hat es dich wütend oder ängstlich gemacht, du konntest schreckliche Dinge sagen oder fortlaufen. Heute ist das nicht mehr so. Du siehst nur dein eigenes Rätsel, das dich traurig und glücklich macht.

Er stand einen Augenblick still: Es war wie in einem Spiegel.

Dann bog er um die Ecke. Farblos und ruhig sah er dort die Themse. In der Mitte trieb dünner Nebel. Der Himmel war erfüllt von diesem geheimnisvollen blauen Licht, im Osten war er rot. Dort an der Ecke blieb er stehen und schaute. Das war sein Fluss, er war an der Themse aufgewachsen und kannte die Farben, die Geräusche, die Gerüche. Er wusste: Es ist gut, an einem großen Fluss Kind gewesen zu sein.

Dann ging die Sonne auf. Geigenkasten und Koffer stellte er ab. Er sah, wie sich langsam alles veränderte, die Umrisse wurden scharf und tief, der Fluss nahm Farbe an.

Eine ganze Weile sah er auf all das Rote.

 

»Sie müsste sich rechts unterhalb der Sonnenscheibe befinden.«

Die Stimme des Vaters.

»Ist es noch weit?« Seine eigene Stimme, hell, fragend. Das ist sehr lange her, er ist zehn Jahre alt. In sehr großer Ferne ist das, und zugleich kommt es jetzt näher.

»Nur noch fünf Minuten.« Der Vater sieht auf die Uhr. Was zeigte sie? Die ehrwürdige alte Uhr, die der Vater immer bei sich trug, sie hatte einen Deckel und ein Monogramm und zeigte stets auf die richtige Zeit.

»Wie viel Uhr ist es?« Wieder er selbst.

»Fünf Uhr siebenundvierzig einhalb.« Ja. Dann war es also die richtige Zeit. Der Vater blinzelt auf die Uhr. Dann schiebt er die geschwärzte Glasscheibe in den Halter vor der oberen Linse des Teleskops. Nun können sie geradewegs in die Sonne sehen, ohne ihre Augen zu schädigen. Es ist ein Sommermorgen, im Freien, auf einer Wiese. Es riecht nach Gras und Klee, und die Vögel haben gerade mit ihrem Gesang begonnen. Er und der Vater sind ein paar Stunden gefahren, um hierherzukommen. Um einen Venusdurchgang zu sehen. Noch ist die Sonne rötlich, jetzt aber steigt sie sehr rasch.

»So. Jetzt kannst du anvisieren und fixieren.« Und mit ungeübten Händen, die dennoch schon gelernt haben, was sie tun müssen, und die dies alles bald selbstständig tun werden, mit seinen blassen, ein wenig kalten Kinderhänden, visiert er die Sonne an, dreht an Schrauben und bringt das Teleskop in die richtige Position. Dann schaut er ins Okular, justiert, fixiert. Der Vater sieht auf die Uhr, sie zeigt die richtige Zeit.

»Fünf Uhr achtundvierzig dreiviertel. Siehst du etwas, Jason?« Und Jason sieht. Gold-bräunlich hinter der geschwärzten Linse, scheint die Sonnenscheibe das ganze Blickfeld auszufüllen. Es dauert ein paar Sekunden, bis er sich ganz daran gewöhnt hat, dann aber sieht er kleine Flimmerhaare und ein paar winzige, braune Flecken auf der Sonne.

»Papa! Ich kann Sonnenflecken sehen. Und Portuberanzen!«

»Protuberanzen.«

»Ja!«

»Lass mich schauen.«

»Ja!«

Der Vater schaut. Dann überlässt er Jason wieder das Fernrohr. Er selbst holt erneut die Uhr heraus, es ist seine Doktoruhr.

»Jetzt kommt sie gleich. In einer Minute und fünfunddreißig Sekunden. Pass genau auf. Ganz unten rechts. Sie hebt sich deutlich von den Sonnenflecken ab.«

 

Und der erwachsene Jason, der dieses Bild in seinem Inneren betrachtet, fern, nah – wie in einem Teleskop –, weiß genau, dass die Uhr des Vaters die richtige Zeit angab. Es war die einzige richtige Zeit.

 

»Nur ein paar Sekunden noch!«

Und schon gleitet die Sonne aus dem Objektiv, sie steigt und bewegt sich aufwärts, geradewegs weg vom Horizont.

»Papa, wir müssen justieren!«

»Wir können warten, bis der Planet vor die Sonnenscheibe kommt. Jetzt musst du ihn sehen können.«

In all der Schwärze wirkt die Sonne wie eine brennende Leuchttonne. Und dort, ganz richtig, in der rechten Ecke, kriecht ein runder Flecken auf die Sonnenoberfläche zu. Es ist ganz deutlich eine kleine, absolut kreisförmige Kugel, und kein Sonnenfleck.

»Jetzt sehe ich sie!« Die helle Stimme. Die Wiesen duften.

»Bist du sicher? Lass mich sehen, dann justiere ich gleich.« Der Vater justiert und ruft »Tatsächlich!«. Jason kann fast nicht stillstehen, das ist sein erster Venusdurchgang, nervös und ängstlich haben sie wochenlang bei bedecktem Himmel gewartet; ein Venusdurchgang ist ein seltenes Ereignis, wie der Vater zu sagen pflegt. Was ist, wenn die Wolken bis Sonntag nicht verschwinden? Aber die Wolken waren am vorhergehenden Abend verschwunden. Und sobald der Vater justiert hat, kann Jason wieder sehen. Der Planet hat schon ein gutes Stück auf der Sonnenoberfläche zurückgelegt, bald passiert er die Mitte.

»Seltenes Ereignis«, ruft Jason andächtig, und der Vater lacht aus vollem Hals.

Bald ist es vorbei, bald ist die Venus vorüber. Sie trotten über eine Landstraße mit matschigen Pfützen, im Gasthaus wollen sie frühstücken. Der Vater trägt das Teleskop, Jason das Stativ. Es ist schwer, darum gehen sie langsam.

Die Stimme des Vaters, brummend:

»… und aufgrund der Parallaxe kommen die beiden Beobachter zu etwas abweichenden Resultaten, und so kann man mithilfe der Geometrie die Entfernung zur Venus berechnen. Aber damit nicht genug. Mit den keplerschen Gesetzen kannst du, wenn du die Entfernung Erde–Venus kennst, die Entfernung zwischen allen anderen Planeten berechnen. Es verhält sich nämlich so, dass das Quadrat der Umlaufzeit proportional ist zur dritten Potenz der mittleren Entfernung des …«

Es war wie ein Lied.

Im Gasthaus treffen sie auf zwei andere Amateurastronomen. Über Eiern, Toast, Marmelade und Tee gehen die Gespräche hin und her. Jason versteht nur Bruchteile. Einer der beiden Fremden ist so begeistert, dass er Eikrümel und Tee im Bart hat.

»Heute ist sie über die Sonne gekrochen, die Göttin der Liebe!«

Tee und Krümel fallen auf das Tischtuch.

»Und wie deutlich sie zu sehen gewesen ist!«

»Und das nächste Mal?«, unterbricht Jason. Die Fremden lachen leise in sich hinein.

»Es gibt kein nächstes Mal«, sagt der Vater. »Jedenfalls nicht für einen von uns hier.«

Jason versteht nicht.

»Aber im Jahr 2004. Dann kommt sie zurück zur Sonne. In 120 Jahren.«

Bei diesem Gedanken friert Jason. Dann wird es ihn nicht mehr geben. Er betrachtet seine Hände. Für einen kurzen Augenblick steht die Welt still; haben nicht die Planeten ihren Lauf für eine Sekunde unterbrochen? Dann aber sieht der Vater auf die Uhr, es wird Zeit, wenn sie den Zug noch erreichen wollen.

 

Dies ist in Jason zurückgeblieben. In weiter Ferne sieht er das, wie in der Entfernung des Weltraums. Eine Sekunde. Eine Sekunde der richtigen Zeit.

Jason richtete sich auf. Noch immer roter Sonnenaufgang … Das rote Licht. Daran aber wollte er jetzt nicht denken. Nicht an das rote Licht. Deshalb nahm er den Geigenkasten und den Koffer wieder auf und ging weiter die Straße hinunter. Jetzt nicht an das andere denken. Erinnerst du dich an den Venusdurchgang. Er erinnert sich an ihn.

 

Ja. Aber da ist mehr. Kühle Abende, die er im nach Süden liegenden Dachfenster verbrachte, Winterabende mit funkelnden Sterntrauben am Himmel, mit Schwindel und Atemnot, wenn er die Entfernung zwischen Milchstraße und Schnee bedachte. Dort, im Fensterrahmen, freundete Jason sich mit allen Planeten an. Das Teleskop hatten sie im Zimmer vor dem Fenster aufgestellt, es wies in die Nacht.

»Dort, in den Zwillingen, siehst du den Saturn. Wenn heute Abend die Luft klar ist, können wir den Ring erkennen.« Und als der Saturn so hoch gestiegen war, dass er auf der gleichen Höhe mit den Schornsteinen des gegenüberliegenden Hauses stand, war die Luft klar genug, und der Ring wurde sichtbar. Was vorher ein unscharfer, flimmernder Fleck im Objektiv gewesen war, wurde nun zu einem klaren, runden Punkt, und dieser Punkt lag inmitten eines Rings. Das Licht war gleichmäßig und gelb. Der Ring war wie eine kreisförmige Brücke, die den Saturn umschloss.

»Er sieht ziemlich einsam aus«, flüsterte Jason, als habe er Angst, den Planeten zu stören.

»Es ist ein sehr weit entfernter Himmelskörper.« Auch die Stimme des Vaters war leise. »Seine Entfernung zur Erde beträgt über eine Milliarde englische Meilen.« In Jasons Innerem war wieder dieses leichte Schnappen nach Luft, ein kleiner Schwindel vor dem All, dem leeren, unbegreiflichen. Oft träumte er nachts, er reise durch das Nichts, und um ihn herum seien die Sterne und die Planeten. Stets erwachte er dann mit dieser kleinen Atemnot, die in seiner Brust bebte.

»Und der Ring, woraus ist der gemacht?«

»Eigentlich sind es zwei Ringe. Aber unser Instrument ist nicht gut genug, um sie zu unterscheiden. Wenn man das Licht eines Planeten analysiert, kann man herausfinden, woraus seine Oberfläche womöglich besteht. Die Oberfläche des Saturn besteht wahrscheinlich aus giftigen Gasen, Ammoniak und Methan. Aber sie ist schön.«

»Die Ringe. Was ist mit den Ringen?«

»Eis vermutlich.«

»Eis.«

Und es gab mehr Planeten: Merkur – den Reisebegleiter, wie der Vater ihn nannte. Jason freute sich sehr über diesen kleinen, flinken Merkur, meist aber konnte man ihn nur mit Mühe erkennen, und dann gab es die Venus, den Morgen- und Abendstern. Im Teleskop wirkte sie manchmal wie eine kleine, silberklare Mondsichel.

Dann gibt es den roten Mars, der aussieht wie ein Edelstein. Vielleicht war der Mars Jasons wirklicher Liebling unter den Planeten. Ein halbes Jahr lang verfolgte er ihn jeden Abend und trug seine Bahn auf der Sternkarte ein.

Und dann: Der große, schöne Jupiter mit dem roten Flecken, der an ein Auge erinnerte, und vor dem Jason grauste.

»Das rote Auge«, sagte der Vater ruhig, »ist vielleicht eine große Insel, die auf der Oberfläche schwimmt. Vielleicht eine Insel, vielleicht ein riesiger, wilder Sturm, der seit Jahrhunderten unaufhörlich tobt.«

Und dann der Mond – der Mond der Erde – der völlig fremd wirkt, wenn er ins Teleskop tritt. Er kommt so nahe und wird so groß. Die Landschaft, die er auf dem Mond sieht, ist ihm wohlbekannt, trotzdem aber fremd. Das Licht ist gelblich-weiß und blau-weiß, sehr stark. Es strengt sehr an, wenn man den Mond zu lange betrachtet. Der Vater sagt, das gehe fast allen so, das nenne man Mondschwindel, und es sei ein weitverbreitetes Phänomen unter den Astronomen. Dann erklärt er Ebbe und Flut, etwas, das ihnen von der nur ein paar Häuserblocks entfernten Themse wohlbekannt ist. Zusammen gehen sie hin und notieren die Uhrzeiten des Tidenhubs und vergleichen sie dann mit den Bewegungen und Phasen des Mondes. Besonders interessant wird es bei Springflut, wenn die Überschwemmungen kommen.

Das Seltsamste am Mond aber sind seine Auswirkungen auf das menschliche Gemüt. Der Vater ist Arzt und weiß, dass es solche Dinge gibt. Man nennt es Lunatismus: Mondsüchtigkeit.

 

An der Eingangstür des Hauses hing das Messingschild, das jede Woche poliert wurde: John M. Coward, M. D.

Jasons Vater teilte seine Zeit zwischen der Arbeit im Missionskrankenhaus von Whitechapel, wo er Seuchenarzt war, und seiner eigenen Privatpraxis zu Hause, ein paar Blocks entfernt von der Königlichen Münze.

Im Arbeitszimmer hatte der Vater all die Instrumente, die Tafeln und Bücher. Dort standen in der Ecke auch das große Skelett und der verschlossene Glasschrank, in dem die Arzneien aufbewahrt wurden.

Wenn der Vater keine Patienten hatte, sondern dasaß und arbeitete, durfte Jason oft hinunterkommen und ihn besuchen, vorausgesetzt, er war still. So war es von früher Jugend an gewesen. Der Vater gab ihm immer ein Buch, oft eines der großen, in Leder gebundenen, mit den kolorierten Illustrationen, auf denen man durch eine Öffnung im Bauch sozusagen in den Körper sehen konnte. Es waren merkwürdige, farbige Zeichnungen, und die aufgeschnittenen Menschen zeigten keine Anzeichen, dass ihnen die Öffnung im Bauch wehtat. Im Gegenteil, sie standen aufrecht da, ohne Kleider zwar, aber mit offenen Augen, und starrten einen genau an, ohne sich darum zu kümmern, dass man ihre Leber sehen konnte. Die Leber war lila. Jason fand das spannend, er konnte lange dort sitzen und einfach alle Bilder betrachten. Als er größer wurde, in die Schule ging und lesen konnte, versuchte er auch, sich durch das hindurchzubuchstabieren, was darunterstand, aber das war Lateinisch, und selbst das Englische dazwischen war schwierig. Deshalb nahm sich der Vater allmählich immer häufiger Zeit, sich mit ihm hinzusetzen und ihm zu erklären, was er auf den Tafeln sah.

Auch oben im Wohnzimmer gab es ein Buch, in das Jason oft hineinsah – doch dieses Buch war anders. Es war die große Bilderbibel mit den Kupferstichen. Die Mutter las ihm immer daraus vor. Nach und nach kannte er alle Bilder: Das düstere Loch, in dem Sarah begraben wurde, den Untergang der furchtbaren Echse Leviathan, den Sieg über die Philister.

Und die Bilder von der Sintflut. Das Wasser, das stieg und stieg, und all die nackten, verängstigten Menschen, die auf die Bäume und die Klippen geklettert sind, um den Wellen zu entkommen. Im Hintergrund die Arche, schwarz und verschlossen. Die Menschen sehen sie nicht. Und dann, das nächste Bild, auf dem das Wasser bis an die höchsten Berggipfel gestiegen ist. »Und das Gewässer nahm überhand und wuchs so sehr auf Erden, dass alle hohen Berge unter dem ganzen Himmel bedeckt wurden. Fünfzehn Ellen hoch ging das Wasser über die Berge, die bedeckt wurden.« Auf dem Bild sah man ein Tigerweibchen, das wild ist vor Angst, es sitzt ganz oben auf der Klippe und hält sein Junges im Maul. Ein Vater zerrt sein ertrinkendes Kind auf einen Felsen – wo schon ein kleiner Junge sitzt; er hat vor dem Wasser Angst und ist müde und erschöpft. Unbarmherzig wird das Wasser weiter steigen, und er scheint sich danach zu sehnen.

»Und das Wasser stund auf Erden hundert und fünfzig Tage.«

Auf dem nächsten Kupferstich ist das Wasser zurückgegangen. Überall liegen nackte Leichen, und der Gestank von verfaulender Feuchtigkeit ist grauenhaft. Die Arche steht auf einem Berggipfel, und hinter ihr leuchten die Sonne und der Regenbogen.

Jason fragt die Mutter. Sie aber gibt keine Antwort darauf, ob Gott böse ist. Stattdessen liest sie, dass Noah dem Herrn ein Brandopfer gebracht hat, und es war Ihm angenehm. Und Noah und der Herr schlossen einen Pakt, einen Pakt auf ewige Zeiten, dass Gott die Menschheit nie mehr verderben werde. Und als Zeichen dafür setzte Gott den Regenbogen an den Himmel. Und dort steht er noch heute.

Die Kupferstichbibel war fast genauso schön wie die Bücher mit den Tafeln. Und es schien Jason, dass sie sich in gewisser Weise ähnelten. Die Bilder begleiteten ihn durch das Leben.

Der Vater war groß, mit braunem, nach hinten gekämmtem Haar und Backenbart. Wenn er arbeitete, trug er eine runde Brille. Er stellte früh fest, dass Jason Anlagen für die Naturwissenschaften besaß, und beschaffte Präparate, Bücher und Tafeln, die er zusammen mit dem Jungen betrachten konnte. Als Jason dann etwas mehr als neun Jahre alt war, hatte der Vater den Einfall mit dem Teleskop. In seiner Jugend hatte Doktor Coward großes Interesse an Astronomie gehabt, und dies war nun etwas, an dem er und Jason gemeinsam Vergnügen haben konnten. Aber teuer war es, sein Gehalt war nicht das größte, und nachdem er Jason in die Pläne eingeweiht hatte, musste er die Erlaubnis seiner Frau einholen. Dies geschah an einem Sonntag, beim Nachmittagstee.

»Alice«, sagte der Vater. »Erinnerst du dich, wie sehr ich mich für Astronomie interessiert habe, als wir uns kennenlernten?«

Jason spitzte die Ohren. Jetzt kam es.

»Ja«, sagte die Mutter und lächelte. »Du bist mit einer Sternenkarte in der Brusttasche herumgelaufen. Die anderen jungen Männer hatten immer eine Taschenausgabe von Shelleys Werken.«

»Das muss ja sehr – hm – romantisch gewesen sein!«

»An sich schon«, sagte die Mutter, »aber sie konnten nicht viel damit anfangen. Herrgott, wie hatte ich Shelley satt. Aber du, mit deiner Sternenkarte …«

»Hm. Hm.« Der Vater lächelte verlegen. »Aber ich glaube, ich habe dir nie erzählt, wodurch mein Interesse für Astronomie geweckt wurde?«

»Nein, das hast du nie erzählt.« Die Mutter merkte, dass sie etwas im Schilde führten, davon war Jason überzeugt.

»Nämlich als ich Zeuge eines Sternenwahnsinns wurde.«

»Wirklich? Sternenwahnsinn?«

»Damals, als ich beim Uhrmacher Crick war.«

Doktor Coward stammte aus recht bescheidenen Verhältnissen und hatte neben der Schule für Kost und Logis arbeiten müssen. Eine Zeit lang war er bei einem Uhrmacher gewesen.

»So lang ist das schon her?«

»Ja, es war so: Eines Abends, ich saß im Wohnzimmer, Frau Crick hatte schon das Abendessen aufgetragen, kam Crick nach Hause. Er war äußerst aufgeräumt und rot im Gesicht. ›James, mein Lieber, bist du wieder in einem dieser Vorträge gewesen?‹ Crick ging nämlich gern in naturwissenschaftliche Vorträge für Laien, und sie begeisterten ihn heftig. An diesem Abend aber war er ganz ungewöhnlich exaltiert. Er atmete schwer.

›Ja!‹, schrie er, ›ich bin in Doktor Birds Vortrag über das Sonnensystem gewesen! Es war ganz … ganz …‹, und dann kam er, sein Lieblingsausdruck: ›… ganz extraordi – när!‹ Das sprach er immer so aus. Und dann berichtete er über alles, was er gehört hatte, über Planeten und Monde, und je länger er erzählte, desto stärker stieg seine Erregung; schließlich schrie er: ›Ich kann euch das nur mit einem Mopp demonstrieren.‹ Wobei er nach Mrs. Cricks Mopp griff, der in einem Eimer Wasser neben der Tür stand. Er tauchte ihn gründlich ein. Dann hielt er ihn senkrecht in die Höhe und wirbelte ihn unaufhörlich herum, sodass das Wasser in alle Richtungen von ihm wegspritzte.

›Dieser!‹, brüllte er, ›dieser Mopp ist die Sonne! Und die Spiralbewegungen des Wassers sind die Bewegungen der Planeten um die Sonne. Wir sind Zeugen der Erschaffung des Weltalls!‹«

»Und seine Frau, was sagte die?«

»Sie war natürlich sehr besorgt. Teils um die Wohnzimmermöbel, teils um den Mann, der von seiner populärwissenschaftlichen Vorführung im Gesicht ganz lila angelaufen war. Der aber rief mit bebender Stimme: Wenn dieser Doktor Bird so etwas machen kann, warum nicht ich?‹ – So hat es angefangen.«

»Und wie hat es geendet?«

»Nun ja, Crick war ein einfacher Mann, ohne eigentliche Ausbildung, und ich, der Naturwissenschaften studierte, musste ihm helfen. Seine neue Leidenschaft, die Astronomie, kostete den Uhrmacher immer mehr Zeit; er dachte an nichts anderes mehr – und um mein Zimmer zu behalten, musste ich mich mit der Sache vertraut machen. Schließlich gab er den Laden auf und opferte sich ganz den Sternen. Ich weiß nicht, wie oft ich ihm geholfen habe, das Fernrohr bis hinaus nach Greenwich zu schleppen. Dort stellte er sich am Anfang immer hin, um in der Nähe des ›Herzens der Astronomie‹ zu sein, wie er das Observatorium nannte. Allmählich nahm er Geld dafür, andere in das Fernrohr sehen zu lassen, nach dem Prinzip ›ein Penny der Blick‹, und verdiente sich auf diese Weise so einigermaßen den Lebensunterhalt. Ich sah mich dann nach einer anderen Behausung um. Eines Tages hielt er einen Vortrag in einem amateurastronomischen Verein und sagte konsequent Konsternationen statt Konstellationen. Das kam nicht sehr gut an. Die Mitglieder der Gesellschaft waren regelrecht konsterniert und riefen hört, hört!, doch das konnte ihn nicht beirren. Er bildete sich weiter fort und wurde schließlich durch seine Vorträge für Laien tatsächlich wohlhabend. Er schrieb sogar ein kleines Buch. Da aber wohnte ich schon längst nicht mehr bei ihm. Komischerweise habe ich aber das Interesse für Astronomie behalten.«

»Der erste Vortrag muss eine sehr starke Wirkung gehabt haben?«

»Ich wäre selbst gern dabei gewesen. Es hatte den Anschein, als sei er das Opfer einer charismatischen Erweckung geworden. Aber die ganze Geschichte bedeutet ja – einfach gesagt – nichts anderes, als dass die Wissenschaft begeistert.«

Die Mutter lächelte.

»Und was war mit seiner Frau?«, fragte sie.

»Die bekam Herzkrämpfe.«

Einen Augenblick war es still.

»Gut«, sagte die Mutter, »was willst du eigentlich?«

»Alice, ich verspreche, dass ich nie nasse Mops im Wohnzimmer herumschwenke.«

»Ja?«

»Ja, das verspreche ich. Es ist nur so, ich habe gedacht, ich kaufe ein Teleskop. In erster Linie für Jason, selbstverständlich.«

»Selbstverständlich.«

»Ich meine, es wird ihm nützen.«

»Ganz bestimmt, John.«

»Es gibt nichts, was so diszipliniert und entwickelt wie exakte, wissenschaftliche Beobachtungen. Mit einem exakten Instrument.«

»Und wie viel soll das kosten?«

Der Vater schwieg. Dann sagte die Mutter:

»Geh einen Augenblick hinaus, Jason.«

Jason sah den Vater an.

»Tu, was deine Mutter sagt.«

 

Draußen im Vorraum konnte er hören, wie die Stimmen der Eltern in Bruchstücken und Wellen aus dem Wohnzimmer drangen. Er begreift, dass sie den kritischen Punkt erreicht haben; jetzt fällt die Entscheidung.

» – – – nicht infrage – – – das Haus – – renovieren – – Wissenschaft – – Die Wissenschaft! – – – aber viel? – – – alles deutet darauf hin, dass – – Entwicklung des Jungen – – und die Schule? – – – die zunehmende Bedeutung der Wissenschaft in einer Zeit, in der – – die – – – frische Luft – – – Bedingung – –«

Schließlich werden die Stimmen leiser. Dann hört er sie lachen und weiß, es gibt ein Teleskop. Einen Augenblick später geht die Tür auf. Dort steht der Vater, er lächelt über das ganze Gesicht.

»Deine Mutter ist verrückt geworden«, sagt er. Die Stimme der Mutter aus dem Zimmer:

»Aber John!«

»Du bekommst ein Teleskop. Und eine Geige.«

»Eine Geige?«

»Das ist eine Bedingung, verstehst du.« Der Vater geht in die Knie, um mit Jason in Gesichtshöhe zu kommen. »Und ich glaube, sie hat recht«, fügt er hinzu. »Sie meint, du hast schon so viele Präparate und Schautafeln, wenn wir jetzt noch ein Teleskop dazuwollen, dann musst du wenigstens auch jeden Tag fleißig Geige üben, verstehst du?«

Jason nickt.

*

Er blieb stehen. Genau vor sich sah er sich selbst, sein Spiegelbild, in einem Schaufenster. Groß und kräftig, der Anzug ein wenig zu klein unter dem Mantel. Kastanienbraunes Haar, blaue Augen. Unter dem Arm den Geigenkasten. Nicht dasselbe Instrument wie damals, sondern eine Geige, die er sich später, als er schon über zwanzig war, angeschafft hatte. Sie ist seitdem selbstverständlich einmal restauriert worden, denn sie hat viel mitgemacht.

Er sieht sich selbst, wie er gewesen ist: Ein ziemlich großer Junge mit rotem Haar und großen Augen. In der richtigen Zeit war alles, alles anders gewesen. Jason glaubte, eine gewisse Erinnerung an sein eigenes Gelächter von damals zu haben, rieselnd, leicht – wo ist es jetzt, dieses Lachen?

Er hatte gern Geige gespielt, aber das Teleskop war aufregender gewesen.

Von seinem Standpunkt aus konnte er die Kuppel von St. Pauls sehen, jetzt, im Sonnenaufgang, war sie etwas fleischfarben.

Aber an das andere wollte er jetzt nicht denken!

 

Ist Gott böse?

 

Jason lächelte ein wenig über diese kindliche Frage, während er dort stand.

Nur der Schatten eines Lächelns, gutmütig fast.

*

Im Winter kamen die Attacken der großen Krankheiten. Die Armenviertel ächzten unter ihnen, zitterten vor ihnen. Man sah, wo hinter den grauen, zerbrochenen Fensterscheiben die Angst wohnte. In den Straßen fiel der Regen. In den Kellern und den engen, überfüllten Wohnungen setzte sich die Krankheit fest. Sicher wie Ebbe und Flut kam die Diphtherie. Auch der Typhus. Tagsüber kämpften sich die Menschen durch die Straßen, mit sich selbst beschäftigt, wie immer gab es abends in den Wirtshäusern Gesang. Der Vater kam jeden Abend spät nach Hause. Sein Gesicht war weiß gestreift vor Müdigkeit. Draußen Regen oder Nebel. Immer Regen oder Nebel. Er sprach leise mit seiner Frau, seine Stimme war tiefer als sonst, sie kam offenbar von weiter unten aus dem Hals. Er sprach, kurz und abgerissen, über die Zustände. Die Zustände sind fast nicht mehr zu ertragen, sagte er. Heute, bevor er nach Hause ging, hatte er wieder Statistik geführt. Es war schlimmer denn je. Hatte er doch – zusammen mit der übrigen Kommission – ein Neunzimmerhaus in Spitalfields besucht, in dem sich dreiundsechzig Menschen neun Betten teilten. Sage und schreibe dreiundsechzig! Sogar die Wände waren infiziert. Das Rohrsystem war total verrottet. Es ist überall verrottet. Als wenn er sich nicht an den Sommer des Jahres achtundfünfzig erinnerte, als man wegen des Gestanks nur mit einem feuchten Taschentuch vor Mund und Nase die Westminster Bridge überqueren konnte. Der Fluss war grün und schleimig. Die Gezeiten spülten den Dreck nur hin und her. Und die Ratten. Ganz London wimmelt von Ratten, sogar im Buckingham Palace sollten sie ab und zu aus den Toiletten kommen.

Jason hatte sie selbst gesehen. Wie graue, wogende Klumpen Entsetzen, die über einen Hinterhof oder manchmal mitten am helllichten Tag durch die Straßen liefen. Wenn er an sie dachte, kribbelte ihm die Kopfhaut.

»Das Einzige, was noch fehlt«, sagte der Vater, »ist die Cholera. Wir warten nur auf den ersten Fall. An manchen Stellen wohnen die Obdachlosen in den Latrinen – weil sie sonst kein Dach über dem Kopf haben. Wir beten zu Gott und führen Statistiken. In London leben Tausende von Menschen von dem, was sie von der Straße auflesen. Manche haben sich spezialisiert, sie kriechen in die Kloakenabflüsse an der Themse und kratzen mit Harken im Schlamm nach Metall oder nach anderem, was sich verkaufen lässt. Nur die Hälfte aller Kinder geht regelmäßig in die Schule.

Wir machen uns Sorgen um das Trinkwasser. Sogar das Wasser der öffentlichen Wasserstellen muss abgekocht werden. Wir können Gott danken, dass es wenigstens regnet.«

Ein wenig beschämt sah Jason in seine Schularbeiten. Eigentlich hatte er den Vater fragen wollen, ob sie die Skizzen der Mars-Bahn auf die neue Sternkarte übertragen konnten, aber er wusste jetzt, dass das nicht ging. Der Vater war zu müde. Und Jason schämte sich, weil er trotzdem enttäuscht war. Der Vater kämpfte gegen ein vielköpfiges Ungeheuer, eine Hydra, über die er und alle Kommissionen niemals siegen konnten. Warum tat er das, wenn er wusste, dass er verlieren würde? Jason schämte sich.

»Soll ich dir einen Brandy einschenken?«, fragte die Mutter. Der Vater nickte abwesend.

»Wir haben heute auch noch ein anderes Haus besucht«, sagte er. Die Stimme sickerte aus ihm heraus wie schwarzer Rauch. »Ein Zimmer. Iren. Sechs Kinder, vier davon Mädchen, die älteste dreizehn. Die beiden Jüngsten hatten Diphtherie. Im Zimmer gab es ein Bett, einen Tisch und ein wenig Stroh in einer Ecke. Für das jüngste Kind konnte man nichts mehr tun, es starb, während wir noch dort waren. Die Mutter mit Skorbut im Frühstadium.«

»Hier«, sagte die Mutter, »der ist für dich.« Sie reichte ihm das Glas.

»Die drei Ältesten – zwei Mädchen und ein Junge – arbeiten in der Zündholzfabrik. Du hättest ihre Hände sehen müssen. Fast wünscht man sich, die Töchter gingen auf die Straße. Dann würden sie wenigstens lernen, sich zu waschen.«

»John!«

Die Mutter warf einen raschen Blick zu Jason, der schnell in seine Bücher sah.

»In London gibt es siebentausend Prostituierte, sagt die Polizei. Lügen. Es sind wenigstens achtzig-, vielleicht sogar neunzigtausend. Aber die waschen sich immerhin.«

»John …«

»Wir hätten machen sollen, was sie in Paris machen. Dort beaufsichtigten die Ärzte die öffentlichen Häuser. Zweimal im Monat ist Kontrolle. Neulich hatten wir ein Mädchen, sie lag im Sterben. Sie wollte keinen Priester. Gott war ein diffuser Begriff für sie. Welche Gedanken hätte sie sich über so etwas machen sollen, wo sie noch nicht einmal ihren Nachnamen kannte? Aber sie sagte: Ich glaube, ich kann richtig von falsch unterscheiden. Und was ich gemacht habe, war falsch, sagte sie. Es ist falsch. Schulbesuch? Nein. Keine Familie, soweit sie wusste oder sich erinnern konnte. Sie war in einer dieser Anstalten aufgezogen worden oder wie man diese ungesetzlichen Nester nennen soll, die Kinder ausbrüten für –« Er bemerkte, dass seine Frau ihn ansah. »Sie musste sterben«, sagte er, »und das musste sie ohne Religion schaffen und ohne lesen zu können. Aber sie lag da, und ihre Augen waren von einer Frage erfüllt. Was ich getan habe, ist falsch gewesen, sagte sie. Bis zum allerletzten Moment klammerte sie sich an meinem Arm fest.«

Doktor Coward trank aus. Die Mutter goss sofort noch einmal ein. In der Regel blieb es bei zweien, solange keine Cholera herrschte. Sie und Jason wussten, wie solche Abende ausgehen konnten. Er konnte über die letzten schlimmen Tage des Abdominaltyphus erzählen oder von ganzen Sälen mit Kindern in Atemnot, von Krankenschwestern, die mit Schüsseln voll dampfenden Wassers hin- und herliefen, und über das Abkratzen von Schleim. Und er erzählte – einige Male – über das stadium algidum der Cholera, von den Krämpfen und den bleigrauen Gesichtern.

So konnte er sein, wenn er nach Hause kam. Eine Stunde oder vielleicht zwei konnte die Stimme aus ihm heraussickern, ohne dass die Mutter oder Jason viel sagten. Aber sie wussten, es war ihm wichtig, dass sie beide bei ihm waren. Später würde der Vater sich im Sessel zurücklehnen, müde, aber mit normaler Gesichtsfarbe. Und seine Stimme wäre wieder die alte.

Was hält ihn in Gang?, dachte Jason. Was geschieht mit ihm, wenn er die Statistiken für den Stadtarzt und für all die Kommissionen führt, in denen er sitzt?

Beschämt dachte Jason an die Marsbahn – der Vater erzählte ihm von Keplers Entdeckungen, dabei spielte das Studium der Marsbahn eine wichtige Rolle.

Der Vater leerte das zweite Glas.

Was hielt ihn in Gang?

»Man kann die Bedeutungslosigkeit des einzelnen Menschen nicht genug unterstreichen.«

Ein früher Sonntagmorgen.

»Der Einzelne bedeutet nichts, sein Beitrag bedeutet etwas.«

Stumm hörte Jason zu und wusste nicht, ob er verstand.

Die Mutter setzte den Hut auf, sie wollten in die Kirche.

Der Regen hatte für einen Augenblick aufgehört. Stattdessen kam sachte rinnend der Nebel. Die Familie ging durch die Straßen. Von fern sah Jason, mit der Neugier und dem Ekel des beschützten Kindes, die Straßenmädchen und die kleinen Jungen, mit Armen und Beinen, die so dünn waren wie die Zündhölzer, die sie verkauften. Er sah einen Krüppel mit vor Dreck rußglänzender Haut, er sah einen Straßenmusikanten und seinen Jungen, sie trugen schwere Harfen und hatten beide rote Bänder um die Gamaschen gewickelt. Alle Gesichter aber waren ausgelöscht, eins geworden mit dem Nebel.

»Der Einzelne ist nur ein Teil, nur ein kleiner Stein in einem großen Mosaik. Und dieses Mosaik ist der Boden der Zukunft.«

Wenn es nur schneien würde, dachte Jason. Wie lang soll es so bleiben – Nebel und Regen, Regen und Nebel. Wenn nur der Schnee bald käme.

»Das schönste Muster, das Herrlichste und Wahrste in diesem Mosaik ist die Wissenschaft. In den Laboratorien, den Anatomiesälen und den Observatorien wird Stein auf Stein für den Fortschritt des Menschen gelegt. Das ist eine lange und mühevolle Arbeit. Aber sie wird uns voranbringen. Und das Individuum, derjenige, der sich an dieser Arbeit beteiligt, bedeutet nicht mehr, als eben das, was er tut; sein Leben und seine Seele bedeuten nichts – er ist wie ein Novize im Tempel, er trägt Opfer zum Altar, demütig und selbstlos. Das ist alles. Mehr ist es nicht. Ob er es in Trauer oder mit Freude tut, spielt für die Kontinuität keine Rolle.«

Jason warf einen verstohlenen, ein wenig besorgten Blick herauf zum Vater. Das Männergesicht war blass; es war offensichtlich, dass er ständig müde war.

»Dieses Jahrhundert hat uns Dampf, Elektrizität und Gas gebracht. Arbeiten, die früher eine langwierige und mühevolle Schinderei waren, kann man heute fünfzig- oder hundertmal rascher erledigen. Eines Tages wird die gezähmte Natur uns mithilfe der Wissenschaft so viel Kraft geben, dass wir ernstlich vom Wohlstand der Massen sprechen können. Von der Kultur der Massen, dem Jahrhundert der Massen.«

»Die Kultur der Massen«, sagte die Mutter. »Glaubst du denn wirklich, dass alle Menschen irgendwann einen Nutzen davon haben –«

»Das muss so sein!«, rief der Vater. »Kein Weg führt daran vorbei. Dahin müssen wir kommen. Heute ist Bildung noch etwas, das nur für eine Minorität da ist. Eines Tages aber werden wir so weit kommen, dass Technik und Wissenschaft Erleuchtung bringen, Erleuchtung und Aufklärung für –«

Jason packte den Vater vorsichtig am Arm. Der Vater sah zu ihm hinab: einen Augenblick noch wirkte er völlig abwesend, dann aber lächelte er, fast so wie immer.

»Morgen«, sagt er, »morgen gehen wir in einen Laden für exotische Tiere. Dort kaufen wir Larveneier. Larven von Seidenspinnern. In einem Monat spinnen die Larven Kokons, und der Faden, mit dem sie spinnen, ist aus Seide, aus reiner Seide.«

»Seide …«, sagt Jason leise.

»Einen der Kokons werfen wir in kochendes Wasser, sodass der Spinner stirbt und seinen Kokon nicht durchbricht und den Faden zerstört. Dann kann man den Faden aufwickeln.«

Der Vater sah sonderbar erleichtert aus, während er dies sagte.

Die Kirche war voll. Die Eltern beteten. Jason sah, wie der Vater die Hände so fest faltete, dass die Knöchel weiß wurden.

Am nächsten Tag aber registrierte das Hospital den ersten Cholerafall, und die Seidenspinner mussten warten.

Jason nahm Geigenkasten und Koffer auf und ging weiter die Straße hinunter.

Gib mir die Zeit zurück, dachte er. Gib mir die richtige Zeit zurück. Damals, als alles erfüllt war von Beständigkeit und Ewigkeit. Damals, als jede Handlung, jeder Mensch – auch ich selbst – erfüllt war von Ewigkeit und von Sinn.

Gib mir das zurück.

Dann schüttelte er seine Gedanken ab. Er überquerte die Southwark Bridge. Nach und nach befanden sich auch viele andere Menschen auf den Straßen. Das angenehme Gefühl von Leichtigkeit war verschwunden, und er konnte seine eigenen Schritte nicht mehr hören. Vielmehr fühlte er ein schwaches, säuerliches Ziehen im Magen.

Du hast nicht gegessen, dachte er. Du hast Zeit genug. Du brauchst noch lange nicht auf dem Bahnhof sein. Du musst etwas essen, bevor du weitergehst nach Waterloo.

Inhaltsverzeichnis

Am selben Morgen

London, Waterloo Station, 7 Uhr 05

Das große Glasdach der Bahnhofshalle zitterte unmerklich über dem Lärm von Menschen und Zügen. Hoch oben, von Stahlträger zu Stahlträger, liefen die Tauben, ganz unbeeindruckt vom Gewimmel unten im Bahnhof. Myriaden von Glasquadraten des Daches wurden langsam weiß, je mehr das Tageslicht draußen zunahm und durch sie hindurchfiel.

Unten im Bahnhof, an eine Plakatsäule gelehnt, stand David. Ein sehr junger Mann, fast noch ein Junge, und man sah ihm deutlich an, dass er noch etwas grün war. Er hatte dichte, schwarze, krause Haare, die viel zu stark und wuschelig für ihn wirkten. Seine Züge waren fein und durchsichtig und seine Schultern schmal. Der Eindruck des Unreifen wurde zusätzlich verstärkt durch die Kleider, die eine Spur zu schmuck waren, beste Konfektionsware und offensichtlich von einer liebevollen Mutterhand für ihn ausgesucht. Den Hut trug er unter dem Arm. Zwischen seinen Beinen stand das Gepäck: ein Geigenkasten und ein Koffer. Die ganze Zeit gähnte er. Er dachte: Wenn er nicht bald kommt, werde ich auf der Stelle ohnmächtig.

Wenn David die Augen schloss, war es, als befinde er sich in einer Glocke aus dröhnenden Geräuschen. Um ihn herum die Eisenbahngerüche, Kohle, Rauch, Öl und Teer. An diesem Morgen aber schien er sie zum allerersten Mal zu riechen – stark und unbekannt und vermischt mit all den Geräuschen.

David war ein wenig übel. Um sich herum hörte er die Ausrufe der Zeitungsjungen in dieser fremden Sprache, aber er verstand keine Silbe von dem, was sie sagten. Aus den lang gezogenen Rufen wurde ein einziges monotones, rätselhaftes Klagelied. Und gerade weil er es nicht verstand, aber wusste, dass es etwas bedeutete, war es für ihn voll neuer, gefährlicher Hinweise mit sonderbaren Bedeutungen, die sich dem Verständnis verweigerten und ihn nervös machten. Seine Angst setzte sich wie eine kleine Spitze in seinem Zwerchfell fest.

Es war sein erster Besuch in England, streng genommen im Ausland überhaupt. Aber er hatte sich niemals vorgestellt, dass es ein solcher Unterschied zu dem sein würde, was er kannte. Es war, als komme er auf einen fremden Stern. Selbst gewöhnliche Dinge wie Bäume oder Häuser hatten etwas Fremdartiges an sich, als werde die Wirklichkeit ein wenig gedreht. Die Farben sahen anders aus, das Licht war anders. Ihm fiel auf, dass er alles sehr viel bewusster aufnahm als sonst. Die Eindrücke trafen tief in sein Inneres.

So war es seit dem allerersten Abend in London, drei Tage zuvor, gewesen. Mit Schrecken dachte David daran zurück. In einer engen Straße hatte ihn ein kleiner Mann mit verbeulter Melone aufgehalten und angesprochen. Er sprach, während er ihm eine flache Schachtel mit irgendeinem Inhalt hinhielt. Wollte er etwas verkaufen? Wollte er ihm etwas schenken? Es war unmöglich gewesen, zu verstehen, was er sagte, und David hatte nicht gewusst, wie er den Mann loswerden sollte. Das Gesicht dieses kleinen Mannes, seine Stimme und sein Mund waren von einer aufdringlichen Deutlichkeit. Die Schachtel enthielt irgendwelche schwarzen, unförmigen Klumpen, und der kleine Mann griff nach einem davon und hielt ihn David genau vor das Gesicht. Es roch scharf, und ängstlich versuchte David zu entkommen. Der Mann mit den Klumpen aber hängte sich an ihn, redete immer weiter, redete und redete, folgte ihm, während er die ganze Zeit mit einem dieser Klumpen fuchtelte. Zuletzt gab es keinen anderen Ausweg, als vor ihm wegzurennen wie ein Dieb, unter den Armen Geigenkasten und Koffer.

Später am selben Abend hatte ihn ein junges, mageres Mädchen mit nackten, in der Aprilluft fast blauen Armen aufgehalten. Auch sie wollte etwas von ihm, diesmal aber begriff David, worin die Absicht bestand. Rasch entfernte er sich von ihr und von ihren großen, grauen Augen. »Please, Sir«, murmelte sie hinter ihm. »Please.« In der kleinen, schäbigen Pension – oder nannte man das Absteige? –, in der er sich eingemietet hatte, hatte er nicht viel mehr als den Preis verstanden. Es war eine elende Unterkunft, mit Ungeziefer an den Wänden und allerlei Aktivitäten im Nachbarzimmer, die die ganze Nacht über anhielten. Er hatte in London schlecht geschlafen. Und mehr und mehr bereute er, überhaupt diesen Einfall gehabt zu haben. Was mache ich hier?, dachte er. Warum um Himmels willen habe ich die Idee gehabt, hierherzufahren? Als er den Grund dieser Reise überdachte und das, was er nun tatsächlich im Begriff stand zu tun, schien es David, als müsse er verrückt geworden sein. Sinn und Zweck des Ganzen, der ursprüngliche Reiz, schienen mit einem Mal fern und unwichtig, wenn man sie mit der Angst und dem Unbekannten verglich, die sie mit sich brachten. Und was in aller Welt hätte ihn daran hindern sollen, wegzulaufen, sich in den ersten Zug nach Dover zu stürzen und hinüberzufahren auf den Kontinent, nach Hause. Am selben Morgen, als er in seiner Unterkunft das Frühstück eingenommen und in seiner halb verzehrten Portion wässrigen Rühreis einen abgeschnittenen Fingernagel gefunden hatte, da hatte er ernsthaft erwogen, die Flucht zu ergreifen. David war nicht besonders weltgewandt und fasste darum den Nagel als schlechtes Vorzeichen auf. Was ihn zurückgehalten hatte, war, dass er kaum noch Geld besaß und nicht glaubte, es könne für den langen Weg bis nach Hause, nach Wien, reichen. Und er hatte sein Wort gegeben, sogar einen Vertrag unterschrieben. Der wichtigste Grund dafür, dass er hier stand, um sein Vorhaben auszuführen, war die Angst vor dem Eindruck, den es machen würde, wenn er jetzt mit hängenden Ohren wieder nach Hause käme. Das wäre schändlich und peinlich, ja unerträglich, nach dem Abschied, den er von der Stadt seiner Väter genommen hatte. Zu einem solchen Canossagang fehlte David der Mut. Außerdem, dachte er, außerdem soll man ausführen, was man sich vorgenommen hat, dadurch reift man. Alles andere wäre feige. Und so feige war er nicht.

David entschied sich also für das, wofür er Mut genug hatte, war aber nicht sicher, ob es sich dabei um wirklichen Mut handelte. Um die Wahrheit zu sagen, er kam sich ziemlich kläglich vor, während er dort stand. War das seine eigene Entscheidung gewesen oder war es Bauernfängerei, was mit ihm in dem kleinen Büro des Impresarios in der Whitechapel High Street am vorangegangenen Tag geschehen war?

Das Büro hatte sich in der dritten Etage befunden, und Davids Mut war mit jedem Treppenabsatz gesunken, den er hinter sich brachte. Er blieb zögernd vor der Tür stehen, auf deren Milchglasscheibe mit schönen, vertrauenerweckenden Buchstaben der Name der Firma, Messrs. Black & Black, stand. Einen Augenblick lang wollte David kehrtmachen, dann aber hörte er, wie jemand die Treppe heraufkam. Eine Art Panik ergriff ihn, und er pochte mit dem Nagel des Zeigefingers vorsichtig auf das Türglas.

»Herein!«, bellte eine Stimme. David schlängelte sich durch den Türschlitz.

An einem Schreibtisch saß ein kleiner, glatt geleckter Mann in Hemdsärmeln und schrieb. Er sah nicht auf, als David sich an den Tisch heranschlich und sich vor ihn hinstellte. David hörte nur das Kratzen der Feder und sah nur den pomadeglänzenden Kopf des Mannes.

»Ja?«, sagte der Mann, ohne aufzusehen. »Was kann ich für Sie tun?«

David räusperte sich.

»Also …«, begann er stotternd, sein Englisch ließ ihn im Stich, und obendrein hatte er nicht an einen brauchbaren Einleitungssatz gedacht.

»Ja?«, sagte der Mann und sah auf. Er trug einen roten, breiten Seidenschlips mit einem funkelnden Stein darin, und dieser Stein blinzelte David regelrecht zu.

»Vermutlich willst du einen Job«, sagte der Mann ohne weitere Förmlichkeiten. Er nahm David kurz in Augenschein und schien nicht sonderlich beeindruckt zu sein. »Aber wir haben keinen Job«, sagte er. »Bedauere, Kollege.« Er sah wieder auf die Papiere. Konsterniert blieb David auf der Stelle stehen. War das alles? Doch, die Audienz war ganz offensichtlich vorüber, der rubinfunkelnde Fürst hinter dem Schreibtisch war ein Weiser, der Gedanken lesen konnte, der Inhalt von Davids Bitte war ihm bekannt, und er lehnte sie ab, ohne weitere Zeit zu verlieren.

Der Mann schrieb einen halben Satz, dann sah er wieder auf, diesmal mit einer Unheil verkündenden Miene.

»Naa –«, begann er, wurde aber von einem älteren, weißhaarigen Mann unterbrochen, der, ein Papier in der Hand, aus einem Büro nebenan hereingesegelt kam.

»Verdammt noch mal, John«, polterte der Weißhaarige los. »Schon wieder dieses White-Star-Schiff. So ein Durcheinander hab’ ich überhaupt noch nicht erlebt. Der Teufel soll die Fiedler holen.«

»Was ist denn jetzt wieder los?«, fragte der Mann hinter dem Schreibtisch.

»Erinnerst du dich, dass wir drei Tage Zeit hatten und wir mit der Stalllaterne nach einem neuen Bassisten für sie gesucht haben, nachdem dem ersten seine Frau weggestorben ist, ja, erinnerst du dich?«

»Ja, doch.«

»Erst finden wir also einen Bassisten für sie – zwar nicht ganz den Mann, den der Kapellmeister sich gedacht hatte, aber immerhin – innerhalb von drei Tagen – ja, und, du hältst es nicht für möglich, dann besitzt ihr zweiter Geiger, dieser Smith oder wie er heißt, dieser verwöhnte kleine Paganini, die Frechheit und kriegt Blinddarmentzündung! Heute!«, polterte der Weißhaarige. »Der Teufel soll die ganze Bande holen. Ich hab’ gedacht, dieser Coward ist so lange unterwegs gewesen, dass er sich gute Leute aussucht und keine Kandidaten für den Operationstisch! Beim Henker, der kann ja noch nicht mal über die eigene Nase hinaussehen.«

Der Pomadisierte sah mit leicht verzweifelter Miene zu seinem Vorgesetzten auf.

»Das Schiff geht am Zehnten ab«, sagte er. »Heute ist der Achte. Das klappt nie.«

»Nein«, sagte der Weißhaarige, »das klappt nie. Aber versuchen müssen wir’s.«

Der Mann hinter dem Schreibtisch sah David an.

»Du bist ja immer noch da?«, sagte er. »Wolltest du nicht gerade gehen?«

David drehte sich verwirrt um und steuerte auf die Tür zu.

»Einen Augenblick, junger Mann«, sagte der Alte scharf. »Ist das, was Sie da unter dem Arm tragen, eine Geige?«

Fast überrascht sah David auf den Geigenkasten.

»Doch«, sagte er dumm.

Die beiden Männer wechselten Blicke.

»Kannst du auch darauf spielen?«, fragte der Alte.

So war es zugegangen, als David angeheuert wurde. Ein Geiger auf der Fähre zwischen Calais und Dover hatte ihn auf die Idee gebracht. David war mit ihm ins Gespräch gekommen, und er hatte ihm die Adresse der Herren Black gegeben.

»Du bekommst vier Pfund im Monat«, sagte der jüngere Black und lächelte freundlich, äußerst freundlich. David rechnete wie ein Rasender im Kopf aus, wie viel das in Kronen war.

»Du übernimmst die Uniform von Smith. Die dürfte passen. Er braucht sie ja nicht mehr, weder mit noch ohne Blinddarm.«

»Sehen Sie dieses Notenheft?« David sah auf das Notenheft. White Star Music stand darauf, und es war entsetzlich dick.

»Du musst üben wie der Teufel«, sagte der Jüngere. »Du musst so viel wie möglich auswendig können.«

»Wie gesagt, vier Pfund Sterling im Monat«, sagte der Alte, »aber die Uniform musst du auf eigene Kosten in Ordnung halten. Wir stellen Sie zur Probe ein, haben Sie verstanden? Zur Probe.«

»Zunächst für eine Reise. Und nun unterschreiben wir.«

Sie kamen mit den Papieren.

Jetzt stand David hier und wartete. Und ihm war fraglos nicht besonders wohl zumute.

Was will ich eigentlich in dieser Stadt, dachte er. Das Schlimmste an London war nicht der Schmutz, nicht das nackte Elend, das so viel greller war als zu Hause. Das Schlimmste war, dass er nicht verstand, was die Leute sagten – zumindest nicht auf der Straße und in den Läden. Er konnte alle Schilder lesen, aber fast alles, was gesprochen wurde, hätte ebenso Mesopotamisch sein können. Er war nach Bagdad gekommen. Das Englisch, das Magister Schulze ihnen zu Hause auf dem Gymnasium im Wiener 13. Bezirk eingehämmert hatte, wies wenig Ähnlichkeiten auf mit den Lauten, die er hier hörte.

David öffnete die Augen. Einige Schritte entfernt von ihm stand ein Zeitungsjunge, ein hohlwangiger, bleicher kleiner Junge, der den Mund voll mit diesen Lauten hatte. David konnte ai, oh und eine Masse von klappernden Ks hören. Und sieh da: Jetzt bleibt ein Herr mit Schirm vor dem Zeitungsjungen stehen. Er interessiert sich augenscheinlich für das, was der Junge ruft, diese unmöglichen Laute. Sie tauschen eine Weile komplizierte britische Münzen aus, aber keine Worte. Dann gleitet der Herr mit dem Schirm wieder in den Menschenstrom zurück. Der Junge ruft weiter.

Matt lehnt David den Kopf an die Plakatsäule. Die Laute waren eine große, erschreckende Musik. Er könnte hinhören, was gesagt wurde, was gesungen wurde, aber er könnte nicht verstehen, was es bedeutete. Er hatte Angst. Dampfpfeifen, Tausende von Schritten. Schreiende Schaffner, monoton leiernde Zeitungsjungen. Durch die Luft flattern Bruchstücke von Unterhaltungen.

Stehend schlief David ein.

 

Zweifelnd betrachtete Jason Coward den Jungen.

Guter Gott, dachte er, das ist er nicht! Das kann er nicht sein! Er ist zu jung. Jason sah in das bleiche Gesicht.

Nein, beim Henker, dachte Jason. Wen haben sie uns denn da geschickt.

Er räusperte sich einige Male, aber der Junge an der Plakatsäule reagierte nicht.

Vielleicht ist er es nicht, dachte Jason mit einer Mischung aus Besorgnis und Hoffnung. Vielleicht ist das nur ein Schuljunge, der seine Großmutter besuchen will. Aber er wusste, es war der Richtige. Das Äußere passte zu dem fremdartigen Namen, den man ihm genannt hatte. Darum tippte Jason dem Schlafenden auf die Schulter.

Der Junge erwachte jäh und sah ängstlich zu ihm herauf.

Da haben wir’s, dachte Jason. Von zu Hause weggelaufen. Der Teufel soll ihn holen.

Laut sagte er, während der Junge zu sich kam:

»Verzeihung – Guten Morgen! – Sind Sie womöglich …« Er wühlte in den Taschen nach etwas. »Womöglich …«, wiederholte er, in der Hoffnung, der andere werde seinen Namen nennen. Es war schwierig, den Geigenkasten zu halten und gleichzeitig nach dem Namenszettel zu suchen. Der Junge sah ihn mit aufgerissenen Augen an. Dann aber verstand er.

»Doch!«, sagte er. »Mein Name ist Bleiernstern. David Bleiernstern.« Es kam in gebrochenem Englisch. Gleichzeitig hatte Jason den Zettel gefunden. Der Name stimmte.

»Ich heiße Jason Coward«, sagte Jason und streckte die Hand aus. »Ich bin der Kapellmeister.«

»Freut mich, Mr. Jason«, sagte der Schwarzhaarige. Jason musterte ihn aufmerksam.

»Deutscher, nicht wahr?«

»Österreicher. Ich bin aus Wien. Vienna.«

»So.«

»Aber ich kann Geige spielen.«

»Hm? Ja, natürlich, wenn du …« Jason unterbrach sich selbst: »Wie alt bist du?«

»Zweiundzwanzig.« David sah Jason in die Augen.

»Lüg mich nicht an«, sagte Jason und lächelte leicht. »Ich bin der Chef. Vergiss das nicht. Außerdem habe ich keine Wahl. Der Zug nach Southampton geht in fünfzehn Minuten.«

»Ja«, sagte David und sah zu Boden. »Achtzehn, Mr. Jason.«

»Sieht man.«

»Aber ich kann Geige spielen.«

»Im Grunde ist es wichtiger, dass du nicht seekrank wirst.«

»Wie bitte?«

»Seekrank. Wirst du see-krank?«

Jetzt verstand David.

»Ich weiß nicht«, sagte er und lächelte zum ersten Mal. Ein brauchbares Lächeln. Es gefiel Jason.

»Heh! Du kannst nämlich nicht in deinen Geigenkasten kotzen, während du spielst. Das mögen die Passagiere nicht.«

David wurde wieder ganz ernst. Komisch, dass die Deutschen nie Ironie verstehen, dachte Jason.

»Ich werde nicht see-krank«, versicherte David.

»Und außerdem hoffe ich, dass du gut vom Blatt spielst.«

»Ja.«

»Das ist dein erster Job, oder?«

»Ja.«

»Keine früheren Engagements?«

David schüttelte den Kopf.

»Gut. Hast du einen Pass?« Verlegen fischte David ein Papier aus der Brusttasche und reichte es Jason. Es handelte sich um ein umfangreiches Dokument mit viel Kaiserlich-Königlichem darauf. »Hm«, sagte Jason und gab den Pass zurück. »Ich glaube, den wirst du nicht brauchen. Ich werde sagen, du bist einundzwanzig.«

»Komme ich sonst nicht mit?«

»Das Schiff braucht ein komplettes Orchester. Hast du Geld?«

»Nur ein bisschen.«

»Na, du brauchst auch keins, bis wir in New York ankommen.«

Fragend sah ihn David an, und dieses Mal war der Blick völlig offen. Jason fühlte sich merkwürdig berührt von ihm.

»Du musst immer tun, was ich sage«, erklärte er barsch. »Und absolut immer das, was die Offiziere sagen.«

»Ja«, nickte David.

»Gut. Wollen wir losziehen?« Der andere verstand nicht richtig. Jason machte eine Kopfbewegung in Richtung der Züge.

»Gehen«, sagte er. David lächelte wieder und setzte sich in Bewegung. Als sie an den Zeitungsjungen vorüberkamen, fragte er:

»Was rufen die?«

»Dass der Kohlenstreik zu Ende ist und dass die Bergarbeiter wieder arbeiten«, erklärte Jason.

»Ach so –«, sagte David. »Das heißt, dass das Schiff genug Kohle für die Reise hat.«

 

Die große Uhr unter dem Dach zeigte zehn vor halb acht. An der Sperre kramte Jason die Fahrkarte für sie beide hervor, und nachdem der Wächter sie kontrolliert hatte, konnten sie auf den Bahnsteig gehen. Dort stand der Sonderzug für die Schiffspassagiere der zweiten und dritten Klasse, der um 7 Uhr 30 direkt zur Landungsbrücke 44 in Southampton fuhr. Die Lokomotive stand schon unter vollem Dampf, und die Reisenden wurden aufgefordert, rasch einzusteigen.

Jason ging schnell über den Bahnsteig, vorüber an Scharen reisefiebriger Auswanderer, Passagieren, Gepäckstapeln und Karren. Gleich hinter ihm ging David, der nicht viel mehr sah, als seine eigenen Schuhe. Diese furchtbare Müdigkeit hatte ihn wieder überfallen, und er sehnte sich danach, zu sitzen und vielleicht schlafen zu können.

Dann öffnete Jason eine Abteiltür, und sie bestiegen den Wagen. Es bot sich ihnen ein Bild von aufeinandergestapelten Instrumentenkästen und Koffern, die im Gepäcknetz und auf den freien Plätzen lagen. Im Abteil saßen bereits drei Männer, in lebhaftem Gespräch, die Luft war blau von Tabaksrauch. Im Halbdämmer konnte David undeutlich einen älteren Mann mit dünnem, gelblichem Ziegenbart, einen kleinen, dunklen Burschen mit Kneifer und schließlich einen Mann mit kurzem, blondem Bart und hellen Augen erkennen. Diese Augen bohrten sich in David hinein, sobald er sich an der Abteiltür zeigte. Die beiden anderen Gesichter machten eher einen wohlwollenden Eindruck.

»Gibt es hier Platz für uns?«, sagte Jason, hatte aber schon die Tür hinter ihnen geschlossen. »Also«, räusperte er sich, »meine Herren, das ist unser neuer zweiter Geiger, David – Moment …«

»Bleiernstern«, sagte David leise. Nervös und verstohlen sah er in die drei neuen Gesichter. Der ältere Mann mit dem Ziegenbart schien in sich hineinzukichern und sah mit munteren, etwas feuchten Augen zu David hinauf. Auch der kleine Dunkle hatte eine Art freundliches Funkeln im Kneifer. Der Blonde jedoch lächelte nicht. Vielmehr starrte er David wieder abschätzend und mit bohrendem Blick an.

Dann drehte er sich zum Kapellmeister um. Er zeigte mit der Pfeifenspitze auf David und sagte:

»Jason, der ist zu jung.«

»Aber, aber, Alex«, brummte Jason dem Blonden zu.

»Soll den ganzen Verein Black & Black doch der Teufel holen!«, sagte der Blonde und drohte mit der Pfeife: »Seht ihn euch an! Das ist doch das reinste Milchgesicht!«

»Das ist doch nicht seine Schuld.«

»Es wird schon gut gehen, du wirst sehen«, sagte der kleine Dunkle mit dem Kneifer, zu Alex gewandt. Mit beiden Augen zwinkerte er David freundlich zu.

David starrte verschämt zu Boden. Alex schnaubte einen Augenblick vor sich hin. Dann stand er abrupt auf:

»Entschuldigt mich.« Er ging auf den Bahnsteig und bestieg das Nachbarabteil, wo die anderen Musiker saßen.

Jason schloss die Tür hinter ihm.

»Hm«, sagt er, ein wenig verlegen. »Hm. David. Das ist – hm –« Er machte eine Handbewegung zu dem Ziegenbart, der noch immer lächelte, ganz so, als sei er den Ereignissen nicht richtig gefolgt. »Das ist unser Bassist, Petronius Witt.«

Der Bassist streckte eine kleine, weiche Hand aus und begrüßte David. David dämmerte, dass mit dem Alten nicht alles stimmte.

»Giovanni Petronio Vitellotesta«, sagte der Ziegenbart feierlich, mit gebrochener Stimme. »Petronius Witt auf Englisch. Hihi.«

Er schüttelte Davids Hand, und seine Augen wurden noch feuchter. Dann jedoch zog er die Hand zurück, als habe er sich verbrannt. Er betrachtete sie regelrecht gekränkt und hielt sie prüfend vor die Augen. Im nächsten Augenblick zwinkerte er aber wieder herzlich zu David hinauf. »Hihi«, sagte er und verfiel in Schweigen.

Jetzt gab der Dunkle mit dem Kneifer David die Hand.

»Petronius ist Italiener, wie du siehst«, sagte er vieldeutig. »Alex, der gerade durch die Tür verschwunden ist, den darfst du nicht so ernst nehmen. Er ist einfach so. Ich bin Spot.«

»Angenehm, Herr Spot«, sagte David.

»Nein, nein, nicht Herr Spot. Nicht Herr Soundso. Nur Spot«, sagte Spot, ohne eine Erklärung für diesen sonderbaren Namen zu geben. In diesem Augenblick setzte sich der Zug in Bewegung, und David und Jason sanken auf die freien Plätze.

»Ja«, rief Jason aus, »jetzt sind wir unterwegs nach Amerika.«

»Hihi«, sagte der alte Petronius. Spot sagte nichts und lächelte nur abwesend hinter dem Kneifer.

 

Jason lehnte sich im Sitz zurück und schloss die Augen.

Schließlich verfiel er in einen Halbschlaf. Wie in einem abgeschlossenen Raum saß er dort mit seinen Gedanken allein. Die Stimmen der anderen hörte er nur von fern.

Jetzt kamen die Gedanken dieses Morgens wieder, aber anders und weicher.

Die Räder schlagen, dachte er. Hörst du die Schienenstöße, das Schleifen von Metall auf Metall. Hörst du, dass du reist. Aufbruch, immer Aufbruch. Das Schleifen von Metall auf Metall.

Hörst du die Musik.

Er steht mit der Geige im Zimmer und übt. Die Mutter, die selbst gut Geige spielt, hilft ihm. Er hat gerade mit Händels Largo begonnen. Die langen, gleichmäßigen Striche sauber zu spielen ist schwer. Der Eifer packt sie, sie kommt mit Gesicht und Händen ganz dicht an ihn heran, um ihm zu zeigen, wie er greifen muss. Sie deutet auf die Noten. Wenn die Mutter eifrig wird, löst sich ihr Haarknoten von selbst, Haarbüschel für Haarbüschel rutscht dann aus dem Haarnetz und fällt von ihrem Kopf herab. Dort liegen die Haare wie Seide. Wenn sie sich bewegt, wehen sie in alle Richtungen. Sie hat braunes Haar, einen braunen Rock, braune Augen. Sie bringt ihm bei, wie man spielt. Nicht so sehr die Technik – dafür sorgt der Musiklehrer. Sie aber lehrt ihn, dass man eifrig sein muss, dass die Wangen rot werden müssen, wenn man spielt. Das Wichtigste ist nicht, dass es perfekt ist, Jason meint, dass er das Largo damals bestimmt recht erbärmlich gespielt hat – er ist nach wie vor kein Virtuose –, doch es kommt auf den Eifer und Hitze in den Wangen an. Das hatte ihn die Mutter gelehrt.

Es ist gut, meint der Vater, wenn ein Wissenschaftler sich nebenbei mit Musik beschäftigt. Er selbst hatte nie Zeit gehabt. Jason soll es in seiner Jugend besser gehen als dem Vater. Jason soll von allem immer mehr und Besseres haben. Selbst von der Musik, selbst wenn es nur ein Nebenbei ist, eine Freizeitbeschäftigung.

Ja. Aber da sitzt er nun und ist Kapellmeister auf einem Amerikadampfer. Sein Orchester spielt ganz gewöhnliche, vulgäre Tischmusik. Strauss, Suppé, Lehar vor dem Essen. Nach dem Essen wird es schlimmer: »Ragtime Revue«, »The Chocolate Soldier« und »The Teddy Bears’ Picnic«. So etwas. »Hoffmanns Erzählungen« und Sullivans »Mikado«.

Er versteht es nicht genau, sieht nicht den Zusammenhang zwischen den Bildern tief in seinem Inneren und dass er hier sitzt, in einem Zugabteil, als Leiter sechs anderer Unterhaltungsmusiker von höchst unterschiedlicher Güte und Hintergrund. Ein paar von ihnen kennt er von früheren Reisen, andere nicht.

Dies ist ein Teil des Rätsels.

Die anderen, denkt Jason, die Freunde, die Kollegen, sitzen hier jetzt wahrscheinlich mit ganz ähnlichen wirbelnden Bildern in ihrem Inneren, kleine Bruchstücke, die im Laufe der Zeit zusammenkamen. Dort sind auch die Fäden und Triebkräfte, die sie hierhergebracht haben. Wie in mir.

Ich frage die Kollegen niemals nach Hintergründen und Beweggründen aus. Die sollen sie für sich selbst behalten, dann habe auch ich meine Ruhe. Was aber träumen sie, wenn sie schlafen? Wenn sie so dasitzen, mit geschlossenen Augen, wie jetzt ich, was sehen sie? Was hören sie? Vielleicht ist es nicht entscheidend, und vielleicht frage ich deshalb nie. Habe nie gefragt.

Ich habe schon vor langer Zeit aufgehört zu fragen.

Jason sieht das Teleskop vor sich, wie es endlich ins Haus gekommen ist, nach einer halben Ewigkeit des Wartens und der theoretischen Vorbereitungen. Er erinnert sich, dass der Vater alle möglichen Bücher anschaffte, die sie zusammen betrachteten, damit sie die richtige Grundlage hätten, wenn sie mit den eigentlichen Observationen begannen.