Das Löwenmädchen - Erik Fosnes Hansen - E-Book + Hörbuch

Das Löwenmädchen Hörbuch

Erik Fosnes Hansen

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Beschreibung

Der neue Erik Fosnes Hansen – ein Meisterwerk wie Choral am Ende der Reise Erik Fosnes Hansen erzählt mit großem Einfühlungsvermögen und beeindruckender poetischer Kraft von einer Außenseiterin, die sich gegen Vorurteile und Ausgrenzung durchsetzt. Ein Roman, geschrieben in einer Sprache, die sich sofort in Bilder und Gefühle verwandelt. Am 13.12.1912 kommt in einem kleinen Dorf in Norwegen ein Kind zur Welt, das über und über mit feinem, hellblondem Haar bedeckt ist. Die Mutter stirbt bei der Geburt, und der Vater, Stationsmeister Arctander, ein harter und pflichtbewusster Mann, will zunächst nichts von seiner Tochter wissen.Eva, die der Leser sofort ins Herz schließt, leidet an einer seltenen Krankheit, einem Gendefekt, durch den ihr ganzer Körper behaart ist. Ein interessanter Fall für die Wissenschaft, doch zunächst ein Problem für Stationsmeister Arctander und eine Handvoll Eingeweihter, die sich um das Baby sorgen. Arctander, in tiefer Trauer um seine geliebte Frau, ekelt und schämt sich, und das Kind wird versteckt. Gleichwohl verbreitet sich die Kunde des seltsamen Mädchens wie ein Lauffeuer im Dorf. Eine Amme wird gefunden, die sich liebevoll kümmert, und auch Apothekerin Birgerson und der Arzt Dr. Levin stehen dem Kind zur Seite. So wächst Eva heran: Abgeschottet von den neugierigen Blicken der Dorfbewohner und ohne Kontakt nach draußen schafft sie sich eine eigene Welt, bis sie, zunächst schüchtern, doch dann mit großer Durchsetzungskraft, der Enge ihres Zimmers immer mehr zu entfliehen beginnt.

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Zeit:9 Std. 25 min

Sprecher:Anna Thalbach

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Erik Fosnes Hansen

Das Löwenmädchen

Roman

Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Erik Fosnes Hansen

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Motto

Marktgeschrei

Teil 1

Ruth Arctanders kurzes Leben

Stationsmeister Arctanders Trauer

Ein Gespräch unter Männern

Ein wissenschaftlicher Bericht

Kantor Swammerdamm sieht etwas Merkwürdiges

Journalist Hansen

Mutter Berg

Unwetter

Die Stimme der Wissenschaft

Teil 2

Reisser und Zerrer

So funktioniert eine Lokomotive

Hanna

Weihnachtsbaumfeier in Fredheim

So funktioniert Einsamkeit

So funktioniert eine Weiche

So funktionieren Noten

Die Züge

Dahs und Dits

Eine Reihe Dinge

So funktioniert eine Entscheidungsfrage

So funktionieren andere Kinder

So funktioniert Unterricht

Teil 3

Aus meinem Tagebuch 1

Eine Rechtfertigung meiner Situation

Aus meinem Tagebuch 2

Eine Treibjagd

Meine Selbstständigkeit

Aus meinem Tagebuch 3

Das Weiche

Die Reise zur Wissenschaft

Das Leben als Kongressgast

Aus meinem Tagebuch 4

Der Teich

Bei den Schlammfressern

Nachprüfung und Vorsehung

Aus meinem Tagebuch 5

Kurzes philosophisches Gespräch über profane Dinge

Die Naturwissenschaften sind schön

Ein Divertimento

Extranummer

Die Schere

Dank

Inhaltsverzeichnis

Für Daniel, den Geduldigsten aller Geduldigen

Inhaltsverzeichnis

A lion among ladies, is a most dreadful thing

Shakespeare

Inhaltsverzeichnis

–  ·–·  ·  –  ·  –·  /  ···  ··  ·  /  –·  ·–·–  ····  ·  ·–·

Inhaltsverzeichnis

Marktgeschrei

Ah, ei, eieieiei, trrreten Sie näher, meine Damenn und Herrrenn, trrreten Sie näher! Sie auch, mein Herr, und Sie, meine Damenn, herrreinspaziert, immer nur herrreinspaziert. Die Gebrüder Schwan zeigen Ihnen heute Abend Famillje Beljajew aus Kiew, Turner, Seiltänzer und Akrrrobatenn, mit dem kleinen Pjotr, erst fünf Jahre alt, eine unglaublich niedliche, anmutige Kind, das die kühnsten Salti vollführt; außerdem zeigen wir Ihnen die Elefanten Kerba und Bella, direkt aus Haiderabad, zusammen mit ihre Mahout Abdul, und Kunstreiterin Fräulein Schumann aus Salzburg mit ihre vier Araberhengste, alle so weiß wie Marmor und so schnell wie Blitz! Hier gibt es etwas für jede Geschmack, für ganze Famillje. Trrreten Sie näher! Wir präsentieren Zauberer Victor el Greno, wie letztes Jahr, mit ganz neue, verblüffende Zauberkunststücke, die er hat gezeigt vor schwedische Kehnigsfamillje in Schloss von Stockholm.

Das stimmt, das hatte er wirklich. Wie jedes Jahr, sie konnten gar nicht genug von ihm bekommen. So seltsam es ist, denn seine Tricks waren eigentlich sehr schlicht.

Eieiei, trrreten Sie näher, trrreten Sie nur näher! Zeigen wir auch in Pause zweiköpfigen Mann Antonius aus Genua und nicht zuletzt kleinstes Mensch von Welt, General Minusculo, was raucht Pfeife, reitet auf Pony und zeigt noch andere Kunststücke.

Eine sehr langweilige Nummer, wenn man aufrichtig ist. Aber klein war er wirklich.

Trrreten Sie näher! Eintrittsbilljetten in mehrere Preise und Klassen, ab 25 Öre. Stellen Sie sich auch neben größter Mann von Europa, Samson Grimson aus Norwegen, sehen Sie Hottentottenkehnig Gareeb und Frau, beide früher Kannibalen, jetzt zu christliches Glauben bekehrt, und zeigen sich mit Alltagsleben in ihrer Hütte –

Würde mich nicht wundern, wenn die beiden genauso aus der norwegischen Provinz gekommen wären …

– und nicht zuletzt Inghildur, weibliches Werwolf aus Island, ist von Wölfen großgezogen und spricht Wolfssprache fließend; meine Herrenn, ist sie am ganzen Leibe Wolf, ja tatsächlich, sehen Sie selber nach in Pause, am ganzen Leibe. Sehen Sie auch unser Wachstableau über Christi Geburt in Bethlehem und über Leben in Karawanserei, trrreten Sie näher!

Trrreten Sie näher. Sehen Sie den roten Vorhang, sehen Sie die brennende Bogenlampe in dramatischen Farben, hören Sie den langgezogenen Trommelwirbel. Jetzt. Jetzt gleitet das Rote zur Seite. Sehen Sie! Sehen Sie mich!

 

Tritt auch du näher, dem ich nie begegnet bin und den nur ich kenne. Kennst du mich auch?

 

Hier hinter der verschlossenen Tür.

Trrreten Sie näher, meine Damenn und Herrrenn, Jungen und Mädchen, wir zeigen Ihnen Weltsensation direkt aus isländische Wildnis, sehen Sie selber, mit eigene Augenn! Elf Sprachen kann sie sprechen!

Elf Sprachen kann ich sprechen.

Hat sie Singstimme wie menschliche Nachtigall, ist völlig gegen die Natur.

Völlig gegen die Natur.

»Trrreten Sie näher, hier hinter verschlossene Tür.« Jemand klopft hart, rüttelt an der Klinke der Garderobentür, es riecht nach Bühnenstaub und billiger Schminke, eine Stimme sagt:

Jetzt musst du kommen, meine Liebe. Dein Auftritt.

Und die Tür antwortet: Ich will nicht. Ich kann nicht.

Die Hand: Na, na. Du musst jetzt auftreten. Es ist jetzt zu spät, um sich anders zu entscheiden.

Aber die Tür weint: Ich kann nicht. Ich kann einfach nicht.

Die Hand (ärgerlich): Du machst jetzt auf! Wir haben für so was keine Zeit. Du führst dich auf wie ein Kleinkind!

Aber ich kann nicht. Schauen Sie nur, wie ich aussehe.

Ich kann nicht durch die Tür sehen, sagt die Stimme etwas milder. Mach schon auf und lass mich sehen. So, ja, so ist es gut. Da haben wir dich ja.

Hier! Ich kann nicht! Ich kann so etwas doch nicht anziehen! Schauen Sie, wie ich aussehe!

Das ist nur, weil es ungewohnt ist, Kleines. Du bist sehr hübsch so, finde ich.

Aber alle werden mich anstarren.

Ja.

Ja schauen Sie doch. Ich sehe ja ganz …

Es steht dir gut. Du siehst exotisch aus. Jetzt musst du aber kommen. Es ist zu spät zum Bereuen. Du hast das selbst gewählt.

Ich habe das selbst gewählt.

Trrreten Sie näher! Sehen Sie große Weltsensation, menschlichen Pekinesen, direkt aus Borneo, meine Damenn und Herrenn, direkt aus sibirische Wälder, aus Tundra von Alaska, aus die Sümpfe von Sumatra, trrreten Sie näher!

Treten Sie näher. Das ist die Wahrheit: So wahr mir Gott helfe, der Allmächtige und Allwissende. Hinsichtlich dessen, was mein Leben und meinen Leib geprägt hat, könnte ich gar nicht lügen. Meine Eltern waren Russen, sogar von feiner Familie; mein Vater war ein Graf von Oblowsk-Trimowsk. Reich waren wir nicht, dennoch genoss meine Familie ein großes Ansehen, und unser Leben war geprägt von tiefer Religiosität und Sparsamkeit. Doch die Gegend, in der wir lebten, war wild und wurde von Untieren heimgesucht, und als meine Eltern eines Nachts in ihrer Troika über die Steppe heimwärts fuhren, wurden sie von Wölfen überfallen, die die Pferde in Stücke rissen. Mein Vater, ein tüchtiger Jäger, verteidigte meine Mutter, zuerst mit den Kugeln seines Gewehrs, dann mit Messer und Feuer, schließlich mit bloßen Fäusten. Als gegen Morgen Hilfe nahte, war er den Krallen und Reißzähnen der Untiere unterlegen und lag zerrissen im Schnee. Doch meine Mutter war gerettet. Drei Monate darauf kam ich zur Welt. Arm, aber ehrlich musste ich um meiner Mutter und meiner Geschwister willen hier, wo Sie mich heute sehen können, in Dienst treten.

Du bist ein kleines Kätzchen. Ich liebe es, dass dein kleiner Hintern voller Haare ist, dass dein Rücken aussieht wie der von einem Katzenjungen. Ich werde dir alles geben, was du haben willst.

Dies ist die Wahrheit: Ich schwöre beim Grundgesetz des Staates Arkansas, das für mich ein heiliges Dokument ist, verfasst von klugen und gottesfürchtigen Männern, dass ich von skandinavischer Herkunft bin, wie so viele in diesem Land, und dass mein Äußeres dem Umstand geschuldet ist, dass meine Mutter, als sie, mit mir schwanger, im Wald spazieren ging, einem Luchs begegnete, jenem merkwürdigen, seltenen skandinavischen Waldlöwen, Felis lynx, in genau dem Augenblick, in dem ich selbst einen Fußtritt vollführte und sie spürte, dass Leben in ihr war: Da begegnete ihr Blick dem des Luchses, an einem Kreuzweg im Wald, nahe bei einem Wasserfall. Und heute können meine Herren mit eigenen Augen sehen, dass ich am ganzen Leibe aussehe wie ein Luchs.

Das ist sehr interessant und selten. Ich möchte um Erlaubnis bitten, dass ich und meine Kollegen eine Untersuchung vornehmen, wann immer es Ihnen recht wäre, Fräulein, sodass die Wissenschaft ein für alle Mal –

Dies ist die Wahrheit: Und ich versichere auf Ehre und Gewissen, dass ich an einem Tag gezeugt wurde, als meine Eltern in der afrikanischen Savanne gemeinsam einen Löwen erlegten; mein Vater war ein deutscher Großwildjäger, meine Mutter eine englische Lady; ihre Liebe war eine verbotene, denn beide waren verheiratet, doch der Tod des Löwen von ihrer Hand gab ihnen eine unwiderstehliche Inspiration ein; bereits während dem Löwen das Fell abgezogen wurde, genossen sie einander; meine Damen und Herren, so und auf keine andere Weise wurde ich gezeugt.

Komm her, kleine Löwin, dass ich dich nehmen kann, wie Löwen einander nehmen.

Dies ist die Wahrheit: Meine Mutter glaubte so fest an Jesus Christus, dass sie im Augenblick des Todes Sein Bild auf mich übertrug, und ich wurde geboren mit den Haaren und dem Bart eines Mannes, nein, nicht eines Mannes, sondern eines Engels, und dazu mit Haaren am ganzen Körper, wie ein Glorienschein.

Jesus verfolgt einen Sinn mit allem, und ich vergebe dir deine Sünden.

Treten Sie näher. Direkt aus einer kleinen, uninteressanten Provinzstadt, einem ganz gewöhnlichen, sicheren nordischen Städtchen, in dem rein gar nichts passiert, das geprägt ist von gesunden Normen, kommt und schaut, kommt näher, sperrt die Augen auf, kommt näher. Bald gleitet der Vorhang zur Seite.

~

Tritt näher auch du, du, den ich nicht kenne und dem ich sicher schon begegnet bin. Siehst du mich? Kannst du mich jetzt sehen? Tritt näher.

Inhaltsverzeichnis

1

Ruth Arctanders kurzes Leben

Es war das Jesusbild, aber auch noch etwas Anderes. Auch etwas Anderes, an das sie dachte, als sie die schnurgerade Straße nach Hause ging, so schnell sie konnte. Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln, im Blauschwarz über ihr zog das Nordlicht einen ebenmäßig strömenden Schleier aus Grün zwischen sie und die Sternenwirbel. Ab und zu flackerte es in überraschenden Farbwechseln. Dann blieb sie stehen und blickte hinauf, wobei sie sich mit dem Fausthandschuh die Nase wischte. Ein Gespinst von Licht umgab die Welt, und die Welt war eine Straße. Diese Straße erstreckte sich von der Anhöhe, wo Fredheim lag, etwas oberhalb der letzten Häuser, hinab zum Städtchen und zur Bahnstation unten am Fluss, wo sie wohnte.

Wie schön das ist, dachte sie. Die sanftgeschwungenen Wellen des Schnees am Boden, nur hier und da von senkrechten schwarzen Linien unterbrochen, Bäume, Weiden, Lattenzäune. Das Licht waberte über den Himmel wie sanfte Schauder. Dann wechselte es die Farbe – aber jäh, ohne die dazwischenliegenden Abstufungen des Farbenkreises zu durchlaufen. Sie stand still. Was für ein Malkasten, dachte sie. Sie lächelte gen Himmel. Jetzt sammelte sich das wundersame, milde Licht im Norden zu Türmen und Zinnen. Und in ihr, irgendwo zwischen Herz und Kehle, klangen die Lieder von der abendlichen Chorprobe nach, ebenso mild wie das Licht; Macht hoch die Tür, die Tor macht weit. Ein feste Burg ist unser Gott. Vielleicht, so dachte sie, ist diese Burg aus einem sehr schimmernden und flüchtigen Material gebaut. Und das Jesusbild dort in Fredheim war heute Abend so schön gewesen; sie wusste nicht recht, warum. Es war ja dasselbe Bild wie sonst, ein einfaches Gemälde, Jesus, der die Kindlein um sich sammelt. Jesus war sehr blauäugig, sein Haar und sein Bart glänzten frisch gewaschen über seinem Gewand. Sie legte sich die Hände auf den Bauch, sammelte ihre Gedanken; es war eigentlich ein ziemlich schlechtes Bild, aber heute Abend hatte es sie gerührt. Jesus, dachte sie, ist Licht und Erlöser der Welt. Er ist der Weg und die Wahrheit. Und Tür und Tor sind für ihn geöffnet. Sie summte leise:

Es kommt der Herr der Herrlichkeit.

Das Nordlicht winkte ihr zu. Als kleines Mädchen hatte sie ein altes Weib sagen hören, man dürfe nicht zu lange hineinschauen. Und unterm Nordlicht singen dürfe man schon gar nicht. Da könne es passieren, dass man geholt wird. Jetzt war dort oben alles rot geworden und strahlte von einem einzigen Punkt aus fast am Zenit. Dann ging sie weiter, zog gegen die stählerne Kälte den Schal enger um den Hals und sang nicht mehr, summte nur noch. Die Straße führte über weites, offenes Gelände, sie musste noch über einen niedrigen Hügelkamm, dann würde sie bis nach Hause schauen können.

Von weit dort hinten, direkt über ihrem Gesichtsfeld, war ihr, als könne sie den metallischen Klang des Nordlichts hören. Aber das war es natürlich nicht, das wusste sie wohl, es war der Halb-zehn-Uhr-Zug beim Abbremsen; wenn es so kalt war, sangen die Räder besonders laut. Er war pünktlich, Gustav würde sich freuen. Nein, freuen nicht. Vergnügt würde er sein, still vergnügt.

Sie lächelte bei dem Gedanken.

Bald würde der Wagenmeister sämtliche Waggons abschreiten, erst auf der Seite des Bahnsteigs, dann zum offenen Gelände hin, mit seiner Laterne und dem langstieligen Stahlhammer, und jedem Rad einen präzisen kleinen Schlag versetzen, einen Augenblick stehenbleiben und aufmerksam dem Klang lauschen, dann weiterwandern. Die Lokomotive würde ungeduldig fauchen, Lokführer und Heizer würden auf dem Stationsklo ihr Bedürfnis erledigen und hinterher in der Wirtsstube hastig einen Teller heiße Grütze oder Suppe schlürfen. Viele Passagiere dürfte es nicht geben, aber man würde die Maschine auffüllen, der Oberschaffner und die Schaffner würden an den Wagen entlanggehen und den Namen der Station ausrufen, und dort würde Gustav stehen in seiner Stationsmeisteruniform, direkt vor der Kontortür, und das Ganze in aller Ruhe überwachen. Heizer und Lokführer würden zurückkommen, nachsehen, ob der Wassertank auch ordentlich verschlossen wurde und der Dampfdruck in Ordnung ist, sich zum Stationsmeister umdrehen und freundlich salutieren. Ungefähr zur selben Zeit würden Wagenmeister und Oberschaffner sich melden und ebenfalls salutieren, Gustav würde dastehen, ruhig, zufrieden, und den Gruß erwidern. Ruhig und zufrieden. Sie lächelte. Dann nimmt er die silberblanke Pfeife zwischen die Zähne, tritt an den Zug, die Signallaterne in der Hand. Er bückt sich kurz, denkt sie, stellt die Laterne zwischen seine Stiefel und dreht das Lampenglas auf Grün, ebenso grün wie das Leuchten über mir, nein, sogar noch viel grüner, scharf und sternenklar. Dann hebt er die Laterne, dann bläst er in die Pfeife.

Immer noch hörte sie den singenden Laut. Den bremsenden Zug. Jetzt lag sie auf dem Rücken. Schwer zu sagen, wie lange sie schon so lag. Sie öffnete die Augen. Immer noch hörte sie den Zug bremsen. Oder pfiff er schon zur Abfahrt? Hoch oben überspannte das Licht immer noch die Welt, und die Welt war eine Straße. Da lag sie. Etwas schwankte ein wenig in ihr, wie eine Art Nachhall des Schlags, den es ihr im Rücken versetzt hatte, als sie fiel.

Es tat nicht besonders weh, es stach ein wenig, und sie wurde ziemlich ruhig. Aber sie spürte, dass es schwierig war aufzustehen, und sie hatte wohl doch ein wenig Angst. Rücken und Hüfte waren wie betäubt. Ihr Name war Ruth Arctander, sie war in dieser Nacht genau siebenundzwanzig Jahre alt, am 13. Dezember 1912, sie war Klavierlehrerin und die Frau des Stationsmeisters.

Lange kann ich noch nicht hier liegen. Ich bleibe noch ein bisschen so, dachte sie. Dann kann sich alles etwas beruhigen. Bevor ich aufstehe. Und ich friere nicht.

Im Grunde war es schön.

Dort oben zog das Nordlicht sein grünweiß wehendes Gespinst für einen Augenblick zum Horizont zurück, und Ruth Arctander sah den Großen Bären mitten in seinem Satz auf den nächtlichen Nordosten zu. Ganz unbeweglich, in seinem schweren Sprung erstarrt. Was hatte er damals erzählt, ihr alter Lehrer? Ja, jetzt wusste sie es wieder, kurz wurde sie innerlich ganz warm, und die arme Callisto, dachte sie, die für immer und ewig in ihrem Bärenpelz herumlaufen und sich auf so eine merkwürdige und unmenschliche Weise verstecken muss. Dann dachte sie wieder an Jesus, der heute Abend so schön gewesen war, und an die Musik. Macht hoch die Tür, die Tor macht weit. Hilf uns. Hilf mir. Jesus, Licht und Erlöser der Welt, Weg und Wahrheit.

Da hörte sie hinter sich Schritte auf der Straße knirschen, und sie drehte den Kopf.

»Hallo?«, sagte sie in die Luft hinein, ihre Stimme klang merkwürdig klein und trug gar nicht, ganz anders als sonst. Jetzt war sie irgendwie nur in ihrem Kopf, lag wie eine Blase auf ihren Lippen. Ein feste Burg. Aber wer da ankam, hatte sie wohl doch gehört oder sie vielleicht auch da liegen sehen, denn die Schritte wurden rascher, bald waren sie ganz nah.

Sie stützte sich mit der Rechten vom Boden ab, auf der festgetretenen, harten Straße, richtete sich ein wenig auf und drehte sich halb um. Frau Apotheker Birgerson war es, die da auf sie zugehastet kam.

»Aber liebes Kind«, sagte sie.

»Ich bin wohl gestürzt«, sagte Ruth Arctander.

»Aber um alles in der Welt. In deinem Zustand.«

»Es ist glatt.«

Frau Birgerson half ihr auf in eine sitzende Stellung. Sie hockte sich neben sie, stützte ihr behutsam mit der Hand den unteren Rücken. Gleich fühlte sich alles schon viel vertrauter an.

»Da hast du aber Glück gehabt«, sagte Frau Birgerson mit ihrer heiseren, etwas kratzigen Stimme. »Dass ich hier entlangkomme. Sonst wärst du womöglich lange liegen geblieben. Es ist spät.«

»Dann haben wir denselben Weg.«

»Ich war bei Pedersen mit etwas Medizin. Und jetzt will ich noch ein Päckchen holen, vom Zug, dann geht es wieder nach Hause. Meinem Mann ist das Antitoxin ausgegangen.«

»Ist jemand krank?«

»Pedersens kleiner Jan hat Diphtherie, vielleicht wird er es nicht überstehen. Ja, und übrigens noch zwei weitere Kinder im Kirchspiel.«

»Der Arme.«

»Ja, der Arme. Das ist der furchtbare Würger der Kinder.«

»Da hoffe ich, die Arznei kann helfen.«

»Das tut sie sicher. Aber wir sollten jetzt nicht so viel reden. Erst müssen wir dich mal auf die Beine kriegen. Hast du Schmerzen?«

»Nein, nein, es geht schon. Nur ein bisschen.«

»Soso, ja. Noch ein bisschen. Erst das eine Bein. So. Da wären wir. Wann ist es so weit, Kindchen?«

»Nur noch zwei, drei Wochen.«

»Dann solltest du in deinem Zustand aber nicht mehr mitten in der Nacht alleine draußen herumlaufen.«

»Der Chor braucht mehr Altstimmen.«

»Sicher auch noch Tenöre, was, habe ich gehört. Aber ich habe mich noch nicht gemeldet«, sagte Frau Birgerson mit ihrer rauen Stimme.

Ruth musste kurz lachen. Frau Birgerson bürstete ihr den Schnee vom Schaffellmantel.

»Kannst du ohne Hilfe gehen?«

»Ich glaube schon.«

»Dann werden wir dich mal ins Haus schaffen«, sagte Frau Birgerson. »Immer schön langsam und vorsichtig, und dann rufen wir Doktor Levin.«

»Ich glaube, das wird nicht nötig sein«, sagte Ruth. »Es geht schon ganz gut. Es wird alles gut.«

Sie gingen langsam den sanften Hügel hinab. Erst jetzt spürte Ruth, dass etwas von dem milden Licht in ihr geblieben war, und jetzt floss es langsam ab. Es rann aus ihr hinaus, in den Schnee, erst vorsichtig, ein etwas kitzelndes Rieseln von der Brust hinab, dann in weichen Wellen.

»Aber mein Liebes«, sagte Frau Birgerson, weit entfernt. »Aber mein Liebes.«

»Vielleicht sollten wir doch Doktor Levin rufen«, sagte Ruth Arctander.

»Ich weiß, wo er ist«, sagte Frau Birgerson.

»Ich habe Jesus so lieb.«

»Psst, Kleines, nicht sprechen jetzt.«

»Ich habe den ganzen Abend lang an Ihn gedacht.«

»Psst, psst. Leg deinen Arm um meine Schultern, dann geht es ein bisschen leichter. Ja, so.«

»Glaubst du, Er wird mir helfen?«

»Still jetzt. Nicht weinen.«

»Aber Er muss mir helfen.«

»Psst. Wir rufen den Doktor an. Ich weiß, wo er ist.«

Jetzt sahen sie den Bahnhof.

~

Es dauerte seine Zeit, bis Doktor Levin kam. Unterdessen lag Ruth in einem Nebel aus Farben und Schmerzen im Bett. Sie hatten sie die Treppe hinaufgetragen, sie erinnerte sich an Gustavs Gesicht, besorgt, ganz nah bei ihrem, mit dem weißen Backenbart unter der Uniformmütze; das geflügelte Rad am Mützenspiegel schimmerte golden. Sie erinnerte sich daran, wie Knudtzon sich entschuldigt hatte, als er ihr die Stiefel auszog, bevor sie sie hinauftrugen.

Frau Birgerson war irgendwo hier bei ihr im Zimmer, machte sich nützlich, kam mit einer Schüssel voll heißem Wasser, mit Handtuch und Lappen, wusch sie, bewegte sich vorsichtig um sie herum, tröstete sie. Ruth fühlte jetzt ein merkwürdig liebes Gefühl für Frau Birgerson; sonst hatte sie sie nie so besonders sympathisch gefunden. Erstens war da das mit ihrer Stimme, die war so merkwürdig hart und rau, sie hätte nie in einem Chor singen können, nicht einmal Tenor, und dann glaubte sie weder an Jesus noch an sonst etwas, genau wie der Apotheker selbst. Sie hatte eine etwas barsche und sachliche Wesensart, ganz ähnlich wie ihre Stimme. Ruth hatte sie nie so recht leiden mögen. Aber jetzt klammerte sie sich an diese Sachlichkeit, und Frau Birgersons etwas harte, trockene Hand war wie ein sicherer Fels. Sie segelte über Wellen aus Schmerz und vertäute sich an dieser Hand, hielt sie ganz fest.

Frau Birgerson strich ihr mit einem Waschlappen über die Stirn.

»Ein Mann«, murmelte Ruth, »ging von Jerusalem hinab nach Jericho, und er geriet unter die Räuber.« Dann kam sie nicht weiter, denn eine neue Welle von Schmerzen kam heran und riss sie mit sich. Frau Birgerson wischte ihr die Stirn.

Wenn sie nicht sich selbst hörte, hörte sie die Stille des Zimmers. Es war ganz und gar still. Irgendwo von draußen vor der Tür kam in regelmäßigen Abständen der dumpfe, dunkle Laut von rastlosen Uniformstiefeln, die schwer über Holzdielen und Flickenteppiche schlurften.

»Soll ich den Stationsmeister holen?«

»Gustav? Nein. Nein. Jetzt nicht.«

Es ist seine Schuld, dachte sie.

»Ich glaube, ich hole ihn trotzdem.«

»Nein, nicht weggehen. Nicht weggehen.«

»Gut, ich gehe nicht weg. Ich bleibe hier.«

»Werden nicht fünf Spatzen für zwei Heller verkauft? Aber vergisst Gott auch nur einen von ihnen?«

»Still jetzt. Du brauchst keine Angst zu haben. Alles wird gut.«

Es ließ etwas nach. Ruth hielt sich an Frau Apotheker Birgersons Hand fest. Rasche Schritte die Treppe hinab, eine Tür wurde geöffnet. Jetzt schrie Ruth. Jetzt hatte sie Angst. Ab und zu glitt sie in Halbschlaf. Und dieser Halbschlaf war wie warmes, schimmerndes Wasser. Aber in regelmäßigen Abständen rissen die Schmerzen sie wieder an die Oberfläche.

~

Frau Birgerson war besorgt. Immer wieder ging sie zum Fenster und schaute nach dem zweispännigen Schlitten des Arztes. Einmal ging sie aus der Tür und bat Stationsmeister Arctander, noch einmal anzurufen. Der Doktor hatte einen weiten Weg, so war es, er war nordwärts zu einem Krankenbesuch gewesen, aber der Schnee glitt gut.

Wenn er nur bald hier ist, dachte Frau Birgerson. Das Gesicht des Stationsmeisters war grau und verzerrt. Seine sonst so freundlichen, rotwangigen Augen schauten auf einmal ganz anders aus dem bärtigen Gesicht hinaus, und er hatte sich den engen, hohen Uniformkragen aufgeknöpft. Er nickte ernst und ging noch einmal zum Telefon. Die Falten unter seinen Augen hatten sich gerötet, doch das restliche Gesicht, Wangen und Kinn, waren grau.

Bevor er zum Telefon hinunterging, drehte er sich noch einmal zu Frau Birgerson um.

»Sie glauben doch nicht, dass ich sie verlieren werde?«, fragte er.

»Na, na, es geht sicher gut.«

»Ja, denn ich darf sie nicht verlieren«, sagte er. »Sie müssen tun, was in Ihrer Macht steht.« Er sprach eindringlich.

»Telefonieren Sie jetzt dem Doktor hinterher und fragen Sie, wie weit er ist.«

»Ja«, sagt er. »Das werde ich tun.«. Er wandte sich zum Gehen, drehte sich noch einmal zu Frau Birgerson um, wollte etwas sagen, dann fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht und ging.

»Und wir brauchen noch Wasser«, sagte Frau Birgerson.

Sie ging wieder zu der Gebärenden hinein und bekam es mit der Angst. Viel Blut war gekommen. Das geht nicht gut, dachte sie. Frau Birgerson hatte einige Erfahrung als Hebamme und war nicht so leicht zu erschrecken, aber das hier wollte ihr überhaupt nicht gefallen. Wenn dieser Doktor sich nur beeilen würde. Sie griff nach der Hand der jungen Frau. Sie war feucht und kalt.

Als Stationsmeister Arctander anklopfte, war sie sofort an der Tür.

»Nichts Neues«, atmete er schwer, »aber er ist unterwegs. Zuletzt wurde er am Åremo-Kreuzweg gesehen, sagt die Zentrale.« Er schnaufte, denn er war kein junger Mann mehr.

»Am besten, Sie rufen auch meinen Mann an«, sagte Frau Birgerson. »Er ist entweder zu Hause oder in der Apotheke. Sagen Sie, er soll schnell kommen und Kalialaun mitbringen. Ich bin nicht sicher, dass der Doktor welchen in seiner Tasche hat.«

»Kalialaun?«

»Ja. Er soll sich beeilen. Jemand soll ihn herfahren. Es eilt.«

»Kalialaun«, sagte der Stationsmeister entschlossen und drehte sich auf dem Absatz um. Aber er schaute noch einmal zurück, wie vorhin, bittend, er versuchte, Frau Birgerson über die Schulter zu schauen, hinein, zum Bett:

»Ist es –«

Da blickte sie ihn an, fest:

»Es ist ernst. Beeilen Sie sich jetzt.«

Er ging. Bald darauf waren Schlittenglöckchen zu hören, und der Apotheker war da. Und bald darauf kam auch der Doktor.

~

Ruth trieb unterdessen in ihrem Halbschlaf dahin, tauchte ein und kam wieder heraus, je nachdem, wie die Schmerzen sie hochhoben oder sinken ließen. Jedes Mal war es, als müsste der Schmerz sie etwas mehr hochhieven und an ihr zerren, um sie aus diesem behaglichen, warmen Zustand zu holen. In weiter Ferne hörte sie Stimmen, konnte aber nicht recht erkennen, was sie sagten; Dinge gingen um sie her vor, sie hörte ein schwaches, kaltes Klirren, einen Augenblick lang störte es sie, doch dann glitt sie erneut tief in die warme Benommenheit, als triebe sie jetzt wirklich hinaus auf See, in die große Tiefe, wo starke Strömungen herrschen, und jetzt endete auch der Schmerz, er ebbte ab, jetzt gab er nach, und hier draußen, hier draußen war mit einmal auch Jesus. Da war er wieder. Jesus, der heute Abend so schön gewesen war, an den sie den ganzen Abend gedacht, nach dem sie sich den ganzen Abend gesehnt hatte, seit sie gestürzt war, Jesus, den sie angebetet hatte, angerufen, herbeigesehnt, begehrt, hier draußen war er mit einmal, hier draußen in der Tiefe, sie konnte seine Nähe spüren – für einen kurzen Moment öffnete sie die Augen, es war zu hell im Zimmer um sie her, und sie hörte ein seltsames, unbehaglich knirschendes Geräusch, das sie nicht recht erkannte, aber dort, im Lampenschein, sah sie es, sie sah das Gesicht, und es war Jesu Antlitz, ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte, viel weicher und kleiner, aber doch so wunderschön und verklärt, das goldenhelle Haar, und der Bart feucht von Schmerz und Leiden. Sie lächelte. Dann starb sie.

~

Aber der Doktor hatte sich hinsetzen müssen, als das Kind aus der Mutter geglitten war wie ein blutiger Haarball. Sein Gesicht war ganz weiß. Nur Frau Birgerson stand auf beiden Beinen und behielt einen kühlen Kopf.

»Abraham«, sagte sie zum Arzt, »reiß dich zusammen. Sie stirbt uns!«

Und Doktor Abraham Levin riss sich zusammen. Er stand auf.

»Es ist nur, ich habe so etwas noch nie gesehen«, sagte er halblaut. Frau Birgerson, die nicht nur Freidenkerin, sondern auch recht gut orientiert war, dank der vielen pharmazeutischen Bücher und Zeitschriften ihres Mannes, versuchte ihn zu beruhigen.

»So etwas ist selten, aber es kommt schon einmal vor«, sagte sie. »Es fällt wohl irgendwann aus. Nach ein paar Wochen. Halt hier fest, hier, ich trenne die Nabelschnur durch und binde ab.« Der Arzt hielt fest. Das Kind wimmerte.

»Und jetzt musst du versuchen, die Blutung zum Stillstand zu bringen«, sagte Frau Birgerson leise und hielt das Kind hoch, sodass Ruth es sehen konnte. Frau Birgerson hoffte, dass doch wenigstens etwas durch die halb offenen Augen der jungen Frau drang. In diesem Moment kam die Nachgeburt, und mit ihr ein Strom von Blut, der sich über den bloßen Arm des Arztes ergoss, der vornübergebeugt dastand und vergeblich mit der geballten Hand eine innere Kompression versuchte.

Ruth Arctander öffnete die Augen zwei Mal, murmelte etwas; dann war es vorbei.

Der Arzt musste sich erneut hinsetzen.

»Gott im Himmel«, sagte er. »Gott im Himmel.« Er beugte den Kopf vornüber und wippte vor und zurück. Sein Schnurrbart glänzte schweißnass. Seine Arme bis zu den Ellbogen und die Manschetten seiner hochgekrempelten Ärmel waren grellrot von Blut. Frau Birgerson stand etwas unschlüssig da, das Kind, das sie hastig in ein Leintuch gewickelt hatte, im Arm. Es wimmerte, schrie aber nicht.

Die Stiefel im Gang schlurften nicht mehr, sondern standen still. Der Arzt saß vornübergebeugt auf dem Stuhl, sie stand. Doktor Levins Uhr war aus der Westentasche gerutscht und pendelte langsam zwischen seinen Beinen; Frau Birgerson konnte das Ticken hören. Von dem Leib im Bett kam ein schwaches, keuchendes Geräusch. Frau Birgerson schrak zusammen, aber der Arzt hob das Gesicht und sah sie traurig an, langsam den Kopf schüttelnd. Dann gab er sich einen Ruck, stand auf und begann, die voll Blut gesogenen Handtücher und Laken aus dem Blick zu schaffen. Frau Birgerson sah sich nach einem frischen Handtuch um. Sie tunkte es in die Schüssel mit dem warmen Wasser und wusch Blut und Schmiere von dem Kind ab.

»Es ist ein kleines Mädchen«, sagte sie leise.

»Ach ja?«, fragte der Arzt.

Jetzt, als es mit dem Wasser in Berührung kam, fing das Kind an zu schreien.

»Sch, sch«, sagte Frau Birgerson etwas abwesend und versuchte mit unsicheren Händen, es zu waschen.

Der Arzt deckte die Tote mit einem reinen Laken zu, zog ihr das Betttuch bis zur Brust hoch, rollte die blutigen Tücher zu einer Kugel zusammen und schob sie mit dem Fuß unters Bett. Dann nahm er sein Stethoskop und hörte die Brust des weinenden Neugeborenen ab, das Frau Birgerson jetzt abzutrocknen versuchte. Nach ein paar Sekunden nickte er kurz.

»Glaubst du, es tut weh?«, fragte Frau Birgerson. »Ist es ihr unangenehm, was denkst du?«

Der Arzt stand da und betrachtete das Kind, in seinem Blick mischten sich jetzt Faszination und Ekel.

»Ich weiß nicht«, sagte er abwesend.

Frau Birgerson trocknete das Kind fertig ab, so gut sie konnte, dann wickelte sie es. Sie blickte zur Tür. Sie sah den Arzt an. Er schaute finster zurück. Dann seufzte er schwer.

»Ich mache das«, sagte er.

~

Gemurmel draußen im Flur. Ein Laut, eine Art Ausbruch, ein Stöhnen, ein seltsam würgendes Geräusch dringt dumpf durch die geschlossene Tür, Wut oder Trauer oder beides. Dann ist es still. Die ganze Zeit steht Frau Birgerson da und blickt auf das Kind in ihren Armen, schaut, als könne sie nicht ganz glauben, was sie da sieht. Immer wieder vertieft sie sich in den Anblick, als sähe sie es immer wieder zum ersten Mal. Das Kind liegt da so ruhig und still, zwinkert mit den Augen, schließt die kleinen Finger fest und entschlossen um nichts, krächzt ein bisschen, gähnt, müde nach dem harten Kampf. Jetzt duftet es in ihren Armen nach Neugeborenem, und auch im ganzen Raum, süß und blumig, fast übertönt der Duft den scharfen Blutgeruch.

Milch, denkt Frau Birgerson, das habe ich ja ganz vergessen, wir müssen Milch warm machen. Und ein Fläschchen, wo kriegen wir ein Trinkfläschchen her; ach, Frau Arctander hat doch sicher, hatte sicher …

Frau Birgerson wendet sich zu der toten Frau Arctander, die dort liegt, so blass und friedlich. Dass sie dann einfach nicht mehr da sind, denkt Frau Birgerson, das ist so unmöglich zu begreifen.

Immer noch wirkte das Gesicht der jungen Frau ganz lebendig, als schlafe sie nur tief und atme lautlos durch halb geöffnete Lippen. Ihre Züge waren weich und entspannt, noch ohne das Strenge, Abweisende, das sie später bekommen würden. Als wäre sie immer noch hier im Zimmer, dachte Frau Birgerson. Oder nur kurz hinausgegangen.

Das seltsame kleine Mädchen wimmerte und blinzelte wieder mit den Augen. Frau Birgerson hob sie hoch, vor die Tote, als wollte sie, dass die Kleine sich das Bild der Mutter einprägte, in dieser ersten und letzten Stunde. Dann ließ sie die Arme sinken und schüttelte den Kopf über sich selbst.

Die Tür ging auf. Der Arzt trat als Erster ein, gefolgt von Stationsmeister Arctander, der sich schwer auf Knut Birgerson stützte, den Apotheker. Jetzt ließ Arctander, zusammengesunken, grau im Gesicht, den Arm des Apothekers los und bewegte sich apathisch, fast schwankend, auf das Bett zu. Kurz dachte Frau Birgerson, er würde zusammenbrechen, auf die Knie fallen, aber er blieb stehen, den Rücken zu den anderen, und weinte still, während er unverwandt auf seine tote Frau blickte. Das Weinen strömte fast lautlos aus ihm heraus, wie ein leiser Flötenton. Es war merkwürdig berührend, den großen, kräftigen Mann so zu sehen, und die drei anderen standen verlegen hinter ihm. Endlich waren ein paar schwere Atemzüge und ein kleines Schlucken von ihm zu hören, dann strich er sich die Hand ein paar Mal übers Gesicht und durchs Haar und drehte sich zu ihnen um.

»Ruhig, ruhig, Arctander«, sagte Apotheker Birgerson hilflos und drückte ihm die Hand.

»Danke«, sagte Arctander leise. »Danke.« Und, sehr leise, wieder kurz zu der Toten gewandt, mit tränenerstickter Stimme: »Und auch dir danke, mein Kleines.« Und wieder musste er sich mit der Hand ein paar Mal übers Gesicht fahren.

Der Arzt legte ihm die Hand auf die Schulter:

»Es tut mir so leid. Ich habe wirklich alles getan, was in meiner Macht stand«, sagte er. »Aber es war nichts zu machen. Es tut mir leid.«

»Danke«, sagte der Stationsmeister wieder und drückte ihm die Hand. »Danke.«

»Aber das Kind lebt, Arctander«, sagte der Arzt vorsichtig.

»Ja«, sagte der Stationsmeister.

»Wollen Sie es sich nicht ansehen?«

Gustav Arctander starrte ihn schwer an. Dann riss er sich zusammen und trat zu Frau Birgerson. Er warf einen kurzen Blick auf das Kind in ihren Armen.

»Um Himmels willen«, sagte er nur und schaute fort.

»Ich verstehe, dass Ihnen das schwerfällt«, beruhigte ihn der Arzt, »aber ich habe Ihnen ja schon gesagt, dass …«

»Wird es …?«, fragte der Stationsmeister. »Ich meine, ist es lebensfähig?«

»Ja«, sagte der Arzt, »es ist etwas zu früh gekommen, zeigt aber alle Vitalitätszeichen.«

»Um Himmels willen«, sagte der Stationsmeister wieder. Er sah das Kind noch einmal kurz an.

»Sie werden sehen, in ein paar Tagen …«, setzte Frau Birgerson an.

»Schaffen Sie es weg«, sagte der Stationsmeister, laut jetzt. »Ich will es nicht sehen. Das ist ja kein Kind. Das ist – ein Wiesel, verdammt. Schaffen Sie es weg.«

»Aber lieber Gustav«, versuchte Frau Birgerson, eindringlich, »ich versichere Ihnen, schon in wenigen Tagen oder Wochen …«

»Elsa …«, sagte Apotheker Birgerson warnend.

»Ein Ungeheuer«, sagte Arctander sehr laut. »Schaffen Sie es weg, sage ich! Außerdem bin ich für Sie nicht Ihr lieber Gustav. Oder für sonst jemanden hier.« Er sah sich beleidigt um, als wären sie Eindringlinge in seinem Heim. Dann aber blickte er zu Boden. »Entschuldigung«, sagte er leise. »Entschuldigung.« Er drehte sich auf dem Absatz um und hastete zur Tür.

Die drei anderen standen da und sahen einander ratlos an. Doktor Levin machte Anstalten, dem Trauernden zu folgen, doch der Apotheker hielt ihn zurück.

»Du kannst jetzt nicht viel für ihn tun, Abraham«, sagte er.

»Aber er steht unter Schock«, sagte der Arzt.

»Ist das denn ein Wunder?«, fragte der Apotheker. »Lass ihm jetzt seine Ruhe.«

»Milch«, sagte Frau Birgerson. »Und ein Fläschchen.«

»Ja«, sagte ihr Mann abwesend. »Abraham, wir müssen uns wohl um das Praktische kümmern …« Er schaute zur Leiche hinüber.

»Kann denn jemand kommen und helfen?«, fragte der Arzt unsicher.

»Nein«, sagte Frau Birgerson. »Arctander hat keine lebenden Verwandten, soweit ich weiß. Und Ruth – die war ja aus dem Norden.«

»Das Bahnhofspersonal vielleicht?«, schlug der Apotheker versuchsweise vor.

»Ja«, sagte der Arzt. »Ich werde mit den Leuten reden. Ich muss erst noch die Papiere fertig machen. Und den Pfarrer anrufen.«

»Ja«, sagte der Apotheker.

»Vielleicht kommst du nachher mit und redest mit dem Personal, Elsa?«, fragte Doktor Levin.

Sie sahen einander an.

»Milch«, sagte Frau Birgerson. »Und ein Fläschchen. Das Kind muss versorgt werden.«

»Ja«, sagte Doktor Levin.

~

Der Arzt fand den Stationsmeister in seinem dunklen Büro sitzend. Er hatte die Rollos vor den Fenstern zum Schalterraum heruntergezogen und nicht geantwortet, als Doktor Levin anklopfte.

»Hier sitzen Sie also«, sagte der Arzt etwas ratlos, als er die große Gestalt auf dem Stuhl erblickte.

Arctander antwortete nicht, nickte bloß.

Der Doktor machte die Lampe an, ohne zu fragen.

»Brauchen Sie etwas?«, fragte er. »Etwas zu essen? Oder zu trinken?«

Der Stationsmeister schüttelte den Kopf.

»Ein Bier vielleicht?«

»Nein danke«, sagte der Stationsmeister, »ich trinke nicht im Dienst.«

Es wurde still. Durch die Fenster war das Ticken vom Stellwerk und dem Telegraphen zu hören.

»Sie haben ein fabelhaftes Personal«, sagte der Arzt. »Sie helfen bei den praktischen Dingen.«

»Ja«, sagte Arctander. »Das ist gut. Ich – kann heute Abend nicht so viel tun.«

»Soll jemand herkommen? Soll ich jemanden anrufen? Einen Freund? Einen Verwandten?«

»Nein danke«, sagte Arctander. »Ich habe keine Verwandten. Keine lebenden.«

»Aha.«

»Sie sterben. Alle.«

Der Arzt räusperte sich.

»Was Ihre neugeborene Tochter anbelangt«, sagte er, »so hat Apotheker Birgerson sich bereit erklärt, sie für die nächsten Tage zu sich zu nehmen, falls Sie das wünschen.«

»Ja«, sagte der Stationsmeister.

»Bis Sie wieder so weit sind, dass Sie sich um das rein Praktische kümmern können.«

Wieder nickte der Stationsmeister.

»Sie müssen eine Amme finden. Oder wenigstens ein Kindermädchen. Aber vorerst brauchen Sie über so etwas nicht nachzudenken«, sagte der Arzt.

»Doktor Levin«, sagte der Stationsmeister, »was fehlt dem Kind?«

»Nichts fehlt ihm«, sagte der Arzt und schaute so überzeugend drein, wie er konnte. »Offenbar ist es so, dass selten, hin und wieder einmal, eines so zur Welt kommt. Später kommt das dann von selbst in Ordnung.«

»Aha«, sagte der Stationsmeister. »Aha, ja.«

»Sie sollten sich keine Sorgen machen«, sagte der Arzt. »Das wird schon werden. Sie sollten versuchen zu schlafen. Brauchen Sie etwas, um einzuschlafen?«

»Nein«, sagte Arctander. »Ich nehme keine Mittel.«

»Ich lasse Ihnen trotzdem eine Schachtel Brom da«, sagte der Arzt.

»Danke.«

»Wollen Sie sich wirklich nicht hinlegen? Knudtzons Frau hat das Gästezimmer bereitgemacht.«

»Nein«, sagte der andere schwer. »Noch nicht. Ich glaube, ich bleibe noch etwas hier sitzen.«

»Wie Sie möchten. Wie Sie möchten.«

»Löschen Sie die Lampe, wenn Sie gehen«, sagte Stationsmeister Arctander.

~

So kam es, dass das Neugeborene seine erste Nacht nicht zu Hause verbrachte, sondern in einem fremden Heim. Birgersons nahmen sie mit zu sich, versorgten sie, Birgerson ging in die Apotheke und holte eine Schachtel Patentschnuller. In Ruth Arctanders Kommode hatten sie Babyzeug und Windeln gefunden, säuberlich aufgestapelt.

Sie kochten eine Flasche aus, wärmten Milch und gaben der Kleinen eine erste Mahlzeit. Sie selbst hatten keine Kinder und fanden es seltsam mit diesem kleinen Wesen im Wäschekorb. So einer Merkwürdigkeit. Das kleine Mädchen war hellblond und starrte aus dunkelblauen Augen zu Frau Birgerson hinauf. Das Haar bedeckte seinen gesamten Körper, langes, goldweißes, seidenweiches Haar, fast wie bei einer Langhaarkatze, nur noch weicher und feiner. Und es bedeckte den gesamten Leib, Arme und Beine, Bauch und Rücken. Sogar das Gesicht trug eine dichte Fellschicht. Nur die Augen sowie Handflächen und Fußsohlen waren unbehaart. Frau Birgerson kam es vor, als hielte sie ein kleines Tier im Arm. Sie streichelte die Kleine, ließ die Hände durch die weichen Haare gleiten, sah zu ihr hinunter. Das Gesicht war inmitten all der Haare schwer zu erkennen. Nur die Augen waren zu sehen, groß und klar.

»Tja, dir hätte heute eine andere Stimme ein Wiegenlied singen sollen, nicht meine«, sagte Elsa Birgerson bewegt. Trotzdem summte sie etwas, das einem Lied ähnelte, ein wenig dunkel und heiser, während sie die namenlose Kleine in den Schlaf wiegte.

Stationsmeister Arctanders Trauer

Wo warst du in dieser Nacht, du, die mir das Leben gab? Wo bist du geblieben? Bist du im Nordlicht verschwunden da droben, in diesem unbegreiflichen, über den Himmel zuckenden Schimmer? Bist du ins Paradies eingezogen und hörtest das Jubeln der himmlischen Harfen? Bist du diesem Jesus begegnet? Einem Jesus wie einer Art Chorleiter höherer Ordnung? Oder bist du bei mir geblieben, bist mir gefolgt in jener Nacht und allen Nächten seither? Warst du seither bei mir?

Warst du es jemals? Wirklich? Oder warst du nur noch das, was der Stationsmeister in seiner Trauer sah?

~

Stationsmeister Arctander blieb lange im Dunkeln sitzen. Er weinte nicht, bewegte sich nicht, atmete kaum. Er saß still und schaute in sich hinein. Dort sah er einige sehr schlichte Dinge, Dinge, die nur ihn allein angingen und sie, die nun tot war. Zum Beispiel sah er ein blaues Kleid, drei Koffer und einen Gepäckwagen.

»Entschuldigung, könnten Sie mir bitte sagen, wie ich zum Pensionat komme?«

»Natürlich, gnädiges Fräulein.«

»Sie brauchen vor mir aber nicht zu salutieren.«

»Kommen Sie, ich helfe Ihnen.«

»Das ist allzu freundlich.«

»Aber das ist viel zu schwer für Sie! Knudtzon! Knudtzon!«

»Machen Sie sich wegen mir bitte keine Umstände …«

»Es tut mir wirklich leid. Warten Sie, ich schaue, dass ich Knudtzon finde. Er hilft Ihnen mit den Koffern. Es ist ein ganzes Stück zu Fuß.«

»Sie sind sehr freundlich, aber ich glaube, ich schaffe es sicher bis …«

»Nein, nein, gnädiges Fräulein. Ich kümmere mich selbst darum.«

»Das ist wirklich allzu freundlich.«

»Stets zu Diensten, gnädiges Fräulein, stets zu Diensten!«

Ja. War es so gewesen? Oder waren das Verzerrungen der Erinnerung? Hatte er diese Bilder später umgeformt? Hatte sie jemals gesagt:

»Sie müssen wirklich einmal zur Probe kommen. Ich bin sicher, Sie haben einen ausgezeichneten Bass!«

Etwas in der Art auf jeden Fall. Aber er hatte sich geweigert, so viel ist sicher, ich bin so unmusikalisch wie eine Draisine, pflegte er das nicht zu sagen? Sie ließ nur widerwillig locker. Bereits vierzehn Tage nach ihrer Ankunft war das gewesen, da leitete sie schon diesen Chor.

»Sicher ein Bass, so tief wie der eines Russen«, das hatte sie auf jeden Fall gesagt. Er erinnerte sich genau an den Tonfall, das Gesicht, die Gebärde, mit der sie es sagte. Er legte das Bild still in der Dunkelheit beiseite, um es nicht abzunutzen, nicht zu entstellen. Er wollte es später wieder ansehen. Er würde es später wieder ansehen. Er wusste, er würde es später wieder ansehen.

»Aber meinen Kamm, Gustav, den darfst du nicht vergessen.« Das Hotelzimmer dort in jenem Badeort, er packt den Koffer. Sie hat prächtiges rotes Haar, lockig gekraust. In diesem Haar kann er sich schier verlieren, kann darin wohnen. Unser Haar, so nennt er es. Das Ende der Hochzeitsreise. »Aber meinen Kamm, Gustav …«

Einfach so. Einen einfachen Satz. Auch den legt er beiseite, er wird ihn später wieder einmal hervorholen.

Ähnliche Dinge wie diese, ähnlich schlichte Bilder betrachtete er in jener Nacht, während das Stellwerk wispernd die Stunden vertickern ließ und das Nordlicht draußen sachte dahinstarb, über der Station, über den Eisenbahngleisen, über der Stadt und der Landstraße. Und in dieser Nacht – so, wie später immer wieder in vielen solchen Nächten, während derer er behutsam ein Bild nach dem anderen aus der Erinnerung hervornahm, um einen kurzen Moment daraufzublicken –, in dieser Nacht stellte er sich zum ersten Mal wirklich die Frage:

Was ist Trauer?

Ganz anders als seine Frau beschäftigte der Stationsmeister sich nicht besonders mit Gott und den letzten Dingen, obschon er gewiss ein Christenmensch war, wie es sich für einen Mann in seiner Stellung geziemte. Aber ein großer Metaphysiker war er nicht. Wenn die Trauer von Zeit zu Zeit in sein Leben getreten war, wie sie von Zeit zu Zeit unausweichlich in jedes Leben tritt, dann hatte er sie wie ein erwachsener Mann getragen. So hatte er gedacht. Doch jetzt musste er sich fragen, was sie wirklich war.

Was ist Trauer.

Von klein auf war er viel in Wald und Feld gewesen, erst mit seinem Vater und Großvater, danach mit Freunden, und als Erwachsener allein, zu seinem eigenen Vergnügen. Er war immer ein Freund der Natur gewesen, wie es zu einem passt, der allein lebt. Wie er jetzt dasaß, mit seiner Trauer rang und die Erinnerungen vor seinen Augen tanzten wie flackernde Lichter, lag es für ihn nahe, bei einfachen, fast gleichnishaften Bildern aus der Natur Halt zu suchen.

Ein Rudel Rehe wird von Wölfen angegriffen, eine Ricke wird vom Rudel getrennt. Die anderen Tiere verteidigen sie, sie stoßen mit ihren Gehörnen nach den Raubtieren und versuchen, sie zu verjagen, aber es hilft nichts, ihre Artgenossin wird angefallen und getötet. Und ihr Kitz steht lange da und klagt im Sommerabend, mit jammernden, fast schluchzenden, fast menschlich wirkenden Rufen. Aus Sehnsucht nicht nur nach der warmen, nährenden Milch, sondern nach etwas Anderem, Nahem und Sicherem, etwas fast Persönlichem. Und das, jeder kann es sehen, das ist Trauer. Jedenfalls beinahe Trauer. Natürlich, nach ein paar Stunden geht das Kitz weiter und folgt der Herde; Arctander hatte das in einer weichen, verzauberten Waldnacht selbst so beobachtet.

Doch dann weiter hinunter im Tierreich, durch Familien und Gattungen, aus dem Bereich der Säugetiere hinaus, hinauf in den Luftraum zwischen den Bäumen, wo sich tagtäglich, sogar in einem Stadtpark, dramatische Dinge ereignen, von den Menschen nur als »Gezwitscher« oder gar »Gesang« wahrgenommen. Auf einmal: Jähe Unruhe in den Baumwipfeln, ein klagender, schnatternder Laut aus einem Dutzend Starenkehlen, eine große weiße Möwe ist in die Birken eingedrungen und hat ein Junges aus einem Nest geschnappt. Und in wilder Raserei stürzen die Stare auf sie ein, fast wie die Rehe im vorherigen Bild, sie greifen sie von allen Seiten an, in luftigen Schwüngen und Sturzflügen zwischen den Baumkronen, mit den erschreckendsten Tönen, die Stare so zuwege bringen.

Aber die Möwe fliegt auf, das Junge baumelt in ihrem Schnabel, sie will ins Freie, wo ihre breiten, langen Flügel sich entfalten können; immer noch verfolgen die kleinen Vögel sie, verzweifelt in ihrer Wut, sie hacken nach ihr, versuchen, das Junge zurückzubekommen, jagen die Möwe, bis sie zu schnell wird und mit ihrer Beute davonfliegt.

Noch eine kleine Weile durchschneiden die verängstigten Rufe der Stare die Luft, eine andere Möwe taucht auf, weit oben, eine Lachmöwe, die zwar nur vorbeifliegen will, aber das Spektakel schwillt wieder an zu einem klappernden Chor gefiederter Wut. Nur langsam kommt er zur Ruhe, schließlich sind nur noch ein paar Laute aus dem Nest zu hören, aus dem das Kleine geraubt wurde. Dann, vielleicht zehn Minuten nach dem Vorfall, ist es ganz still, die Stare flattern wieder geschäftig umher, jagen Insekten für die vielen Nestlinge, die noch zu versorgen sind. Und sollte die erste Möwe, die Kindsräuberin, zwanzig Minuten später wieder auftauchen, sich vielleicht sogar gemächlich auf einem Pfosten in der Nähe der Bäume, wo die Stare nisten, niederlassen, gehen die nicht noch einmal in blinder Raserei oder Rachlust auf sie los, sie trauern nicht mehr.

Anderenorts im Tierreich findet man dann ganz sorglose, gleichgültige Existenzen, das Krokodil, das seine eigene Nachkommenschaft frisst, Spinnen, die ihresgleichen aussaugen, und so weiter, bis hinunter zu kleinen, einfachen Organismen, denen es nicht einmal mehr sonderlich viel auszumachen scheint, gefressen zu werden.

Auf dieser Ebene ist die Trauer etwas ganz Fremdes, es gibt sie nicht, ebenso wenig wie ein Gedächtnis und Erinnerungen.

~

So gehen die Gedanken von Stationsmeister Arctander in dieser Nacht, es tut ihm gut, an einen Ort zu denken, an dem es keine Trauer gibt. Er bleibt hier sitzen, und als das Stationspersonal um drei, vier Uhr morgens nach ihm schaut, schläft er. Sie lassen ihn sitzen, bis er am nächsten Morgen mit dem merkwürdigen Gefühl, es müsse Sonntag sein, aus einem Traum erwacht. Er hat von einem großen Umzug geträumt, von Musik und festlich gekleideten Menschen. Es muss Sonntag sein, das spürt er. Erst nach einem Moment bemerkt er, dass der Gemeindepfarrer bei ihm sitzt, mit ernstem Gesicht. Ich habe ein Wiesel als Kind bekommen, denkt der Stationsmeister, auf einmal hat er das ganz klar vor Augen. Er steht auf, sie reichen einander die Hand. Der Stationsmeister lächelt den Pfarrer höflich an.

»Guten Morgen, Herr Pfarrer«, sagt er. »Wie freundlich von Ihnen, dass Sie gekommen sind. Wir haben wohl Verschiedenes zu besprechen.«

~

In der Zeitung stand unter anderem dies zu lesen:

… Aber viele von uns werden sich an Dinge erinnern, die über die äußeren biographischen Details von Frau Arctanders Leben hinausgehen. In diesem schlichten Nachruf will ich mich damit begnügen, ihr für die vielen schönen Stunden zu danken, die sie uns bescherte, sei es mit ihrem gefühlvollen Klavierspiel bei Konzerten oder privaten Anlässen, sei es als Sängerin im Pfarrchor und als Solistin; besonders ihre gefühlvollen und innigen Interpretationen von Kirchenliedern und Chorälen bezauberten die Zuhörer, doch in gesellschaftlichen Zusammenhängen bewies sie auch ihre Kunst als Liedsängerin mit ihren bewegenden und gefühlvollen Darbietungen von Schubert als auch von Grieg. Als Musikpädagogin hat sie Großes für die Verbreitung des Geistes der Musik in unserem Landkreis geleistet, obwohl es ihr nicht vergönnt war, lange unter uns zu wirken.

Alle Kinder der Gemeinde werden sich ihrer als einer freundlichen und stets lächelnden Sonntagsschullehrerin erinnern, die die Frohe Botschaft unter ihnen verbreitete. Unermüdlich ging sie an kalten Abenden von Haus zu Haus zu den weniger Bemittelten und sorgte dafür, dass ihre Kinder für den Winter mit allem Lebensnotwendigen versorgt waren. Zugleich hatte sie stets ein gutes Wort für sie. Andere Kinder werden sich ihrer als einer stets aufmerksamen und unermüdlichen Klavierlehrerin erinnern, die ihnen den Weg in die Welt der Musik wies. Wieder andere kennen sie aus dem Kirchenchor, in dem sie vom ersten Tag in unserer Stadt mit Lust und Liebe mitsang, ja, man darf behaupten, dass sie mit ihrem unermüdlichen Enthusiasmus stark dazu beitrug, sowohl Klang als auch Instrument neu zu beleben. Sie wurde sofort zu einer bleibenden, lebendigen Kraft. Still, aber zäh suchte sie jeden auf, bei dem sie ungehobene stimmliche Schätze vermutete, und auch mit ihrer unermüdlichen Tätigkeit als Kuchenbäckerin und bei der Vorbereitung von Kirchenbasaren sorgte Ruth Arctander dafür, dass das Musikleben unserer Gemeinde zu neuer Blüte gelangte. Als Kantor kann ich mich nur in tiefer Dankbarkeit für ihren Einsatz verneigen, und ich spüre, in welch hohem Maße sowohl ich wie auch die übrigen Sänger nun machtlos und hilflos zum Himmel blicken und fragen: Wie sollen wir weiterleben? Doch Ruth Arctander hätte nicht gewollt, dass wir in einer solch fragenden und zweifelnden Haltung verharren, sie hätte uns aus ihrem tiefen Christenglauben heraus gesagt: Vertrauet in Gott! Legt eure Sorgen Ihm, dem König der Könige, in die Hände, offenbart Ihm eure Verzweiflung, so wird Er voller Gnade auf euch blicken und euch aufhelfen.

Und dennoch – dennoch ist unsere Trauer groß, und ebenso groß ist unser »Warum?«, angesichts dessen, dass diese lebensfrohe, begabte junge Frau in der Blüte ihrer Jahre aus unserer Mitte gerissen wurde. Unsere Gedanken sind heute bei Hrn. Stationsmeister Arctander und seiner neugeborenen Tochter, die das erste Sakrament, die Taufe, an eben demselben Tage empfangen soll, an dem ihre Mutter zur ewigen Ruhe gebettet wird. Dieses kleine Mädchen, von beiden Eltern so innig erwartet, wird auf immer die Sehnsucht nach seiner Mutter durchs Leben tragen. Mit Gedanken an sie beten wir um Frieden für Ruth Arctanders Seele.

L. Swammerdamm

Kantor

Kantor Ludvig Swammerdamm war eine romantische Seele, hatte manches von Heine gelesen und war ein Bewunderer von Novalis. Diese Seite seiner Persönlichkeit war aus seinem Nachruf auf Ruth Arctander deutlich zu lesen, den er bereits am Abend nach dem Todesfall geschrieben hatte, als die ganze Stadt davon erfuhr und er noch unter Schock stand.

Was nicht unbedingt so deutlich zu sehen ist: Während er diese Gedenkworte schrieb, vergoss er bittere Tränen, ja, er schluchzte derart, dass seine zierliche, mit langem Federhalter auf Büttenpapier kalligraphierte Notenschreiberschrift die Spur salziger Tränen trug, in dem Maße, dass sowohl Redakteur Jahnn als auch Setzer Nygren, die den Nachruf gleich anderntags in die Zeitung brachten, gewisse Schwierigkeiten beim Lesen hatten. Setzer Nygren, der das Manuskript entziffern musste, hatte nur sehr wenig Zeit dazu (wie immer, wenn er für die Zeitung schrieb, lieferte Kantor Swammerdamm in der letzten Minute ab), und so musste er an den besonders tränenfeuchten Stellen improvisieren. So kam es beispielsweise, dass da »sowohl Klang als auch Instrument« stand statt »sowohl Gesang als auch Dirigent« und »zu einer bleibenden, lebendigen Kraft« statt »zu einer treibenden«, was zwar ganz gut geraten war, aber dennoch den Kantor erzürnte, als er sein Werk in der Zeitung las.

Seiner Tränen konnte dieser edelmütige und romantische Musikus also nicht Herr werden, als er seinen Nachruf schrieb, er war immer noch ein recht junger Mann, und so tropften die Tränen sachte aufs Büttenpapier und flossen noch lange danach weiter. Das lag nicht nur darin begründet, dass die Verstorbene etwas für das Musikleben des Ortes bedeutet hatte, für das der Kantor verantwortlich war (eine Aufgabe, die in so einem kleinen Städtchen sowohl undankbar als auch einsam sein konnte), sondern auch (und das hätte der Kantor auch sich selbst gegenüber kaum eingestanden), dass er, tief im Grunde seines Herzens, gern an der Stelle des Witwers gewesen wäre.

In Wahrheit war er dann recht betroffen, wie pragmatisch und wenig idealistisch der Stationsmeister mit seiner Trauer umging. Dieser Mann hatte ganz offensichtlich keinen Novalis gelesen. An den Tagen nach dem Todesfall widmete der Stationsmeister sich vor allem konkreten Dingen, das war ganz auffällig, er trug eine Trauerbinde an der Uniform, deren Knöpfe und Besätze blanker geputzt und gewienert waren denn je, ebenso wie die Stiefel. Als Kantor Swammerdamm, von seiner Trauer aufrichtig tief bedrückt, zu einem kurzen Kondolenzbesuch kam, nicht zuletzt, um die Musikauswahl für Beisetzung und Taufe zu besprechen, redete Arctander ziemlich lange und lebhaft über die Wahl des Sargmodells (Kirschholz mit Löwenfüßen und Blumenschnitzereien) und des Leichenhemds, samt Preisen. Arctander hatte die teuersten Varianten gewählt. Der Kantor versuchte, das Gespräch doch etwas mehr auf die ewigen Dinge hinüberzulenken, die Musik und wie sie der Trauer Ausdruck verleihen kann, doch Arctander schilderte ausführlich, welche Schnittchen und Gerichte zum Leichenschmaus gereicht werden wollten – sowohl Heringsspeisen als auch Pasteten, Räucheraal, Rentierzunge, Fleischküchlein und kalter Braten mit Meerrettichsauce. Dazu Wein, Bier und Portwein. Der Stationsmeister hatte sogar den Saal von Fredheim gemietet, hundert Gedecke waren geplant.

»Das ist ja großartig«, sagte Swammerdamm, peinlich berührt.

»Jeder Tisch wird mit weißen Nelken dekoriert, den gleichen Blumen wie in der Kirche. Und rote Rosen als Hauptgesteck auf jedem Tisch. In der Kirche kommt ein Strauß an den Anfang jeder Reihe, zum Gang hin, dazu zwei große Gestecke neben den Altar«, sagte der Stationsmeister, er klang fast begeistert.

»Wie prachtvoll«, sagte Swammerdamm matt.

»Blumenhändler Horne hat natürlich eine Sonderlieferung bestellen müssen«, erläuterte der Stationsmeister. »Das kommt alles in einem Kühlwaggon mit dem Güterzug heute Abend. Na ja, unter uns, ich bekomme Rabatt.«

»Wie praktisch«, sagte Swammerdamm säuerlich, und noch mehr grämte ihn der Gedanke, dass die Ursache für diese ganze kostspielige Veranstaltung, Ruth, Ruth mit der schönen Stimme und dem anmutigen, bescheidenen Lächeln, eine Etage über ihnen auf dem Totenbett lag, Ruth, die jetzt offensichtlich der Mittelpunkt einer fürstlichen Beerdigung werden sollten, bezahlt von einem Stationsmeisterlohn, Ruth, die –

»Aber Sie sind gewiss nicht hergekommen, um mit mir über Smørrebrød und Blumengestecke zu reden!«, sagte der Stationsmeister väterlich.

»Nein«, knurrte der Novalisjünger, »ich wollte mit Ihnen über Musik reden. Der Chor – ich meine Ruths Chor, Frau Arctanders Chor, meine ich – ist natürlich gern bereit, bei den Feierlichkeiten etwas zu singen, wenn Sie es wünschen.«

»Aber selbstverständlich wünsche ich das, seien Sie versichert«, sagte Arctander warm und drückte Kantor Swammerdamm die Hand. »Das ist sehr freundlich. Ja. Ein sehr freundlicher und schöner Gedanke. Und an was für eine Entschädigung haben Sie und der Chor gedacht?«

»Wie bitte, was meinen Sie?«

»Was soll das kosten? Sie lassen es sich doch üblicherweise entlohnen, wenn Sie bei Beerdigungen und Hochzeiten singen, da irre ich mich doch nicht? Meine Frau hat seit einem Jahr die Bücher des Chores geführt, ich weiß es.«

»Also, Herr Arctander«, sagte Swammerdamm einigermaßen erschüttert. »Sie begreifen sicher, dass ich und der Chor … der Chor und ich, meine ich … diesmal, da es um … um Frau Arctander geht … dass, dass wir nichts verlangen wollen, wenn wir …«

»Nein, nein, mein lieber Kantor«, unterbrach der Stationsmeister ihn freundlich, fast gerührt. »Ein kleines Honorar sollen Sie schon haben. Wie gesagt, Ruth hat sich so mit der Buchhaltung dieses Chors herumgeschlagen, ich bin mit den Gepflogenheiten vertraut.«

»Herr Arctander, ich kann wirklich nicht …«

»Doch, natürlich können Sie, lieber Freund. Wären fünfundsiebzig Kronen passend? Sie verstehen, ich kann Sie einen solchen Dienst nicht unentlohnt leisten lassen, auch wenn Ruth Mitglied des Chores war. So viel hat der Chor ihr nun auch wieder nicht bedeutet …«

Benommen hörte der Kantor seine eigene Stimme:

»Sagen wir dann fünfzig …«

»Ausgezeichnet, ausgezeichnet.«

»Haben Sie … haben Sie bestimmte Wünsche, was die Musik angeht?«

»Nein, das überlasse ich ganz Ihnen, wählen Sie etwas, das meiner Frau gefallen würde.«

»Gut«, sagte Swammerdamm, etwas milder gestimmt, während er innerlich bereits ein Programm entwarf und Sonderproben ansetzte. »Sie – und Ruth – werden sicher zufrieden sein«, wagte er zu sagen.

»Ausgezeichnet.«

»Und morgens wird der Chor natürlich … ohne dass es weitere … hm … weitere Ausgaben für Sie bedeutet …«

»Worauf beziehen Sie sich?«

»Die Taufe. Die Kindstaufe.«

Jäh verfinsterte sich das Gesicht des Stationsmeisters.

»Ach, die«, sagte er trocken. »Die findet im engsten Kreis hier zu Hause statt. Frühmorgens. Vor der Beerdigung.«

»Aber …«, sagte Swammerdamm, »aber wollen sie nicht, wo Sie schon den Saal gemietet und … die Kirche geschmückt haben …«

»O nein«, sagte der Stationsmeister. »Das wird zu viel. Mit der Beerdigung und allem. An ein und demselben Tag. Nein, die Taufe bleibt ganz einfach.«

»Ich verstehe«, sagte Swammerdamm, der nicht verstand. »Und wollen Sie nicht, dass ein Sänger – oder auch eine Sängerin – aus dem Chor zur Taufe kommt, als Solist? Ich könnte auf Frau Arctanders Harmonium spielen, und …«

»Nein«, sagte der Stationsmeister. »Wir singen nur ein paar einfache Kirchenlieder. Ein feste Burg ist unser Gott. In der Art.«

»Aha. Ja, ja, gut, Herr Arctander, dann will ich Sie in dieser schweren Zeit nicht weiter beanspruchen. Haben Sie Dank, dass Sie mich empfangen haben.«

»Oh, keine Ursache.«

»Übrigens, wo ist die Kleine? Ist sie wohlauf?«

»Sie ist bei Apothekers. Vorläufig. Sie helfen mir freundlicherweise, da ich jetzt ja allein bin. Bis ich eine Amme gefunden habe. Oder ein Kindermädchen. Ja, sie ist wohlauf.«

»Das freut mich zu hören. Ja, Sie werden sehen, Herr Arctander, an der Kleinen werden Sie zukünftig ebenso viel Freude haben, wie Sie jetzt …«

»Gewiss, gewiss.«

Es wurde still zwischen ihnen. Swammerdamm zögerte eine Weile, den Hut in der Hand, dann sagte er:

»Hätten Sie etwas dagegen … wenn ich … ich meine … etwas dagegen, wenn ich … mich von der Verstorbenen verabschieden würde? Ich meine, bevor der Sarg …«

»Nur die Allernächsten«, sagte der Stationsmeister und schüttelte freundlich, aber bestimmt den Kopf.

»Aha. Aha. Verstehe.«

»Aber ich freue mich aufrichtig über Ihre Anteilnahme.«

»Ja. Ja. Nun, dann auf Wiedersehen, Herr Arctander. Und – mein Beileid. Nochmals.« Sie drückten einander die Hände.

»Oh, keine Ursache«, sagte Stationsmeister Arctander.

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In der Tat war es eine ausgesprochen großartige Beerdigung, die das Städtchen einige Tage darauf erlebte. Stationsmeister Arctander hatte an nichts gespart; der Blumenschmuck war überwältigend, die Programme auf Papier mit Wasserzeichen gedruckt, der Sarg schimmerte goldbraun (beinahe wie Frau Arctanders Haar, sagten die Leute), geschmückt mit einem großen weißen Kranz vom Stationsmeister und all den anderen Kränzen und Blumengrüßen bis weit den Mittelgang der Kirche hinunter. Beim Sarg stand eine Ehrenwache aus Stationspersonal und Chormitgliedern, ja, einer der Wagenvisiteure sogar mit der Fahne des Eisenbahnerverbandes; manch ein Trauergast fand wie Kantor Swammerdamm, dass Arctander es übertrieb. Bürgermeisters waren da und der Redakteur, im feinsten Staat, und gleichfalls beehrten sämtliche Schullehrer und andere Honoratioren der Stadt die verstorbene Musiklehrerin mit ihrer Anwesenheit. Der Pfarrer trug einen frischgebleichten und frischgestärkten Fältelkragen, seine Trauerrede war lang und ging zu Herzen, und über allem brauste die Orgel, und der Chor sang, unter Kantor Swammerdamms Leitung. Veni creator spiritus, Jesus bleibet meine Freude, Wer weiß, wie nahe mir mein Ende (Gemeindegesang), Bis hierher hat mich Gott gebracht (dito), dazu eine bewegende Darbietung des Lacrimosa aus Mozarts Requiem, bei der Schwung und Innigkeit die Unzulänglichkeiten des Chores mehr als wettmachten. Zum Auszug dann ein Trauermarsch unbekannter Provenienz, vorgetragen auf der Orgel vom Kantor selbst (dessen Werk es nämlich in Wirklichkeit auch war).

Und danach dann Heringsgerichte und Räucheraal, dazu ein ganzes glasiertes Spanferkel (der Stationsmeister war wohl im letzten Moment unsicher gewesen, ob Braten mit Meerrettichsauce als Mittelpunkt des kalten Buffets auch wirklich genug Eindruck machte), all das im geschmückten Saal von Fredheim; es war ein Leichenschmaus ohnegleichen, und mehr als nur ein Gast zog die Augenbrauen hoch, nicht zuletzt beim Anblick des Spanferkels.

Etwas verwirrt saß Kantor Swammerdamm für sich am Ende der großen Haupttafel, er hatte während des Essens ein paar bewegende Worte im Namen des Chors gesagt, im Grunde nur eine Vertiefung dessen, was er in der Zeitung geschrieben hatte, und jetzt fiel es ihm schwer, inmitten all dieser Traueropulenz etwas wie Appetit an den Tag zu legen.