Christiane und die kleinen Brüder - Lise Gast - E-Book

Christiane und die kleinen Brüder E-Book

Lise Gast

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Beschreibung

Christiane ist zehn Jahre alt und wohnt auf dem Land bei ihren Großeltern. Hier fühlt sie sich pudelwohl, sie liest für ihr Leben gern und versteht sich prächtig mit ihren Großeltern. Ihre drei kleinen Brüder wohnen bei den Eltern in der Stadt. Weil Christiane aber eine höhere Schule besuchen soll, muss sie zurück zu ihren Eltern und ihren drei Brüder ziehen. Für Christiane ist das eine große Veränderung. Sie kennt ihre Eltern und Brüder kaum. Und überhaupt hat sie den Eindruck, dass sie hier eigentlich eher stört. Die Mutter hat keine Zeit für sie und das Kindermädchen behandelt sie schlecht. Aber das Schlimmste sind eigentlich ihre Brüder. Ständig ärgern sie ihre große Schwester, weil sie dunkle Haare und graue Augen hat – ihre Brüder aber sind alle blond und blauäugig.Eines Tages wird es Christiane zu viel. Sie reißt von zu Hause aus und will zurück zu ihren Großeltern... Christiane und die kleinen Brüder erzählt von den Schwierigkeiten, eine große Schwester zu sein und wie man lernt, sich in eine Gemeinschaft einzufügen. Für junge Leser ab 8 Jahre. -

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Lise Gast

Christiane und die kleinen Brüder

Saga

Christiane und die kleinen Brüder

© 1983 Lise Gast

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711508404

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Die alte Heimat

„Und dann, Großmutter?” fragte Christiane mit weit aufgerissenen Augen.

„Dann? Dann bin ich erst zu den Mädchen hinübergelaufen; es brannte ja im Gesindehaus, und sie waren am meisten in Gefahr. Sie schliefen so fest ... ich hab’ an die Tür donnern müssen, und als sie gar nicht hören wollten, lief ich durch die Federkammer. Dort hatten sie am Abend Federn geschlissen, weißt du, und darin war es schon so heiß, daß die Fenster gesprungen waren und die Federn in der Luft tanzten wie Schnee, nur daß sie schwebten und nicht hinabsanken.”

„Und dann bist du zurückgelaufen?”

„Ja. Ich mußte doch die Kinder wecken, aber sie waren schon wach. Sie kamen mir in den Nachthemden entgegengelaufen ...”

„In den Nachtpolterchen, Großmutter”, verbesserte Christiane atemlos. Bei ihr mußten immer alle Geschichten „richtig” sein, das heißt, in dem Wortlaut, in dem sie sie das erstemal gehört hatte. Und sie verfügte über ein unheimliches, ein geradezu gefährliches Gedächtnis.

„Ja, in Nachtpolterchen, so sagten wir damals. Barfuß kamen sie an, aufgeregt, aber mehr lustig aufgeregt; was verstehen Kinder schon von Gefahr! Aber es waren nur drei, Onkel Christian mit Tante Anita an der Hand – sie war damals vier Jahre alt – und dein Vater. Aber Onkel Frieder fehlte.”

„Und sie wußten nicht, wo er war? Hast du sie gefragt?”

„Natürlich. Ich hab’ sofort gefragt, aber sie hatten ihn nicht gesehen, und keiner hatte ihn gesehen. Ich lief ins Kinderzimmer, da war er nicht. Großvater war nach der Spritze geritten; das Spritzenhaus stand am Dorfende, vielleicht zehn Minuten weit zu Fuß. Deshalb jagte er gleich mit den Pferden hin, sie brauchten sie ja doch zum Anspannen. Ihn konnte ich also nicht fragen, aber es war ja möglich, daß Onkel Frieder ihm nachgelaufen war.”

„Aber er war nicht, gelt nein, Großmutter?”

„Nein, er war nicht beim Vater. Er war fort ... ich hatte die drei andern in den Garten geschickt, in die Laube an der Ecke, dort sollten sie warten; Onkel Christian mußte auf sie achtgeben. Er war schon verständig und zuverlässig. Trotzdem hatte ich Angst, Tante Anita könnte ihm entwischen, sie war so ein Quirl, und aus dem Häuschen waren sie allesamt in dieser Brandnacht. Aber erst mußte ich Onkel Frieder finden. Ich war in einer entsetzlichen Angst. Womöglich war er doch in dem anderen Teil des Hauses, der nun auch brannte – ich rief es Großvater zu, aber er verstand es nicht und kam erst, als er sah, wie heftig ich winkte, und fragte, was es gäbe. Er erschrak sehr, und dann suchten wir alle. Es waren schreckliche Minuten, mir kamen sie vor wie Stunden. Immerfort sah ich sein kleines Gesicht, hellumlockt, manchmal angstverzerrt, wenn ich mir vorstellte, daß er das Feuer näher kommen sah, dann wieder lustig und unbekümmert. Ich sah ihn auf dem Schaukelpferd und auf dem richtigen Pferd, er ritt doch manchmal schon mit Großvater aus, vorn vor dem Sattel. Und dann wieder sah ich ihn ganz klein, wie er gewesen, als er gerade eben geboren war, so entzückend süß mit der schwarzen Locke über der Stirn; er war ja erst dunkel, wurde erst später blond. Und in der Badewanne, wenn er spritzte und kreischte, sah ich ihn, und in seinem Bettchen schlafend – – immerfort, immerfort, wie in einem Film. Bis dann Marie angelaufen kam, ganz außer Atem vom Rennen, sie konnte kaum sprechen. ‚Frau, Frau – –!’ jappte sie, ‚er ist da. Beim Schäfer hat er gesteckt, jaja, bestimmt – – –’”

„Hast du es ihr gleich geglaubt?”

„Ich weiß es nicht, Kind. Ja, doch wohl, aber ich mußte ihn trotzdem sofort sehen, sogleich – ich rannte – und dann hatte ich ihn in den Armen, den kleinen Ausreißer, gesund und lebendig, und da, erst dann, hab’ ich geweint. Geweint und ihn geschüttelt, daß ihm Hören und Sehen verging. Er war nämlich ein Ausreißer, und das war ja auch meine Hoffnung gewesen, als wir ihn suchten. Daß er eben doch irgendwo steckte, wo wir ihn nicht vermuteten, weil er immer fortlief.”

„Aber geschüttelt hätt’ ich ihn nicht, Großmutter”, sagte Christiane langsam und ernsthaft, „ich hätte ihn geküßt und an mich gedrückt und nicht wieder losgelassen. Neulich hab’ ich meine Puppe, die Julie, weißt du, so lange gesucht, ich fand sie später im Garten. Die hab’ ich gar nicht gescholten sondern nur liebgehabt und immerfort mit mir rumgeschleppt, weil ich erst mal gemerkt hab’, wie lieb ich sie hatte.”

„Ja, Christiane”, sagte die Großmutter und sah das Kind an, „das glaub’ ich dir. Und wie du es mit der Puppe gemacht hast, das kann ich gut verstehen. Aber bei einem Kind ist das etwas anderes. Die Puppe hast du liegenlassen im Garten, also wärst du schuld gewesen, wenn sie verlorengegangen wäre. Onkel Frieder aber ist selbst ausgerissen aus dem Bett, ich hatte es ihm oft verboten. Man muß Kindern klarmachen, wenn sie etwas Gefährliches oder Häßliches tun; verstehst du das? Sie können es selbst noch nicht beurteilen, warum sie das nicht dürfen. Dafür sind die Eltern da, vor allem die Mutter. Siehst du, deshalb mußte ich ihn schelten, ordentlich – aber ich hab’ ihn wohl noch nie im Leben so liebgehabt wie in diesem Augenblick. Das kannst du sicher nachfühlen, das war genauso wie bei dir mit der Julie.”

„Hat er dich denn nachher noch liebgehabt?” fragte Christiane.

„Natürlich”, lachte die Großmutter. „Wenn Kinder im richtigen Moment gescholten werden, fühlen sie das genau. Er muckste auch nicht. Er muckste überhaupt nie, wenn ich ihn schalt, wo es nötig war. Er war ein Charakter, schon damals, so klein er war – noch nicht ganz drei Jahre, denk nur.”

Die Großmutter lächelte. Sie lächelte zu dem Bild hinüber, das über dem Nähtisch hing und ihre vier Kinder zeigte, drei Söhne und eine Tochter, alle erwachsen, groß und schön. Aber wenn man der Großmutter Gesicht sah, so merkte man, daß es ihr jetzt ähnlich ging wie in jenen Augenblicken höchster Angst, von denen sie vorhin erzählt hatte: sie sah nicht die Fotografie allein, sie sah viel, viel mehr. Sie sah durch die erwachsenen Gesichter die Baby- und Kindergesichter hindurchscheinen, bald das eine, bald das andere. Einmal ein Schuljungengesicht, dann das verträumte Lächeln einer Fünfzehnjährigen. Alle, alle Gesichter ihrer Kinder trägt eine Mutter in ihrem Herzen.

Christiane blickte Großmutter an.

Sie saß auf dem breiten, weißen Fensterbrett bei Großmutters Ohrenstuhl, draußen fiel ein lauer Frühlingsregen. Es war so still im Haus, daß man den Regen tönen hörte – wie eine Harfe klang er, fand Christiane, oder wie eine Glasharmonika. Ding dong, ding dong – Christiane hatte weder Harfen noch eine Glasharmonika je in ihrem Leben gehört, und doch wußte sie, wie die klangen. Aus Großmutters Geschichten wußte man alles. Man wußte, wie das Fleisch schmeckte, das die Hunnen unter ihren Sätteln mürbe ritten, man hörte, wie die große Glocke von Sankt Katrina in der alten Hansestadt klang, man kannte das Rauschen des Meeres und das Brüllen der Stürme –, alles, alles kannte man. Christiane sah noch immer zu Großmutter hin.

„Großmutter”, sagte sie aus tiefstem Herzen heraus, „Großmutter, warst du damals auch schon so schön wie jetzt?”

Da mußte die Großmutter lachen, sie lachte so laut und so herzlich, daß Christiane ganz erstaunt war.

„Du Dummerle, ach, du Dummerle. Schön! So eine alte Frau wie ich und schön!”

„Aber Großmutter, ich finde dich wirklich ...”

„Du bist doch das dümmste Mädel, das mir in meinem ganzen Leben begegnet ist”, lachte die Großmutter und stand auf. „Komm, es ist Zeit für Großvaters Kaffee. Womöglich ist er schon auf!”

Sie gingen zusammen in die Küche. Die Ottilie war längst fertig hier, alles stand und hing fein säuberlich und rein da, als wäre es nur zum Angucken gemacht. Überhaupt, diese Küche! Christiane liebte sie, und das kam keineswegs nur davon, daß es hier immer einmal etwas zu schnabulieren oder auszulecken gab, nein! Schon der Raum allein – hoch und gewölbt wie eine Kapelle und mit einem richtigen Rauchfang darin! Wo gab es das denn sonst noch, einen Rauchfang in der Küche, wo man, wenn man an einer Schnur zog, ein kleines Stückchen Himmel sehen konnte? Und außerdem – und weiter ...

Die Küche war ein Märchenreich für sich, das stand außer jedem Zweifel. Da gab es einen uralten, schweren Mörser, in dem Großmutter in der Zeit vor Weihnachten Gewürze zerstampfte – ach, alle Pfefferkuchen schmeckten anders, wenn sie solche gestampften Gewürze zu schlucken bekamen. Sie waren nicht zu vergleichen mit gekauften oder mit solchen, die andere Leute backten, andere Leute, die keinen Mörser besaßen, sondern den Zimt und die Nelken, in Pulverform gekauft, lieblos in den Teig warfen. Schon allein, wenn man nach Gramm abwog! Gramm, gut genug, um nüchterne, langweilige Geschäftsbriefe danach auf ihr Übergewicht hin zu prüfen – für Pfefferkuchen mußten es Quentchen sein oder Prisen oder ein Spürlein, oh, und keine Hand konnte so mischen, so kneten, so formen wie Großmutters! Wenn sie die Schübe des Gewürzschränkchens aufzog und man den Duft spürte, der daraus stieg ...

Es gab auch sonst noch unzählige Herrlichkeiten in dieser Küche. Die Puddingform – aus blankem, tiefbraunem Kupfer und geformt wie ein Fisch, aber nicht wie ein gewöhnlicher Fisch, sondern einer mit einem Gesicht, gleichzeitig schön und gruslig –, das Holz des Tisches, blütenweiß und vom vielen Scheuern anzufühlen wie Samt, die Kaffeebüchse mit Bildern darauf ringsherum ...

Die Großmutter hatte das Flämmchen des Spirituskochers entzündet, nun stellte sie den kleinen blanken Kessel darauf. Er fing sogleich an zu singen, und dann klingelte die hauchdünne chinesische Tasse, aus der nur Großvater trinken durfte. Sie hatte einen goldgerandeten Deckel, den man umgedreht auf den Tisch legen konnte, um den Kaffeefilter darauf abzustellen. Eine Tasse mit Deckel – wahrhaftig, auch das gab es nur hier. Christiane sah Großmutters weißen, ein wenig welken Händen zu, wie sie hantierten, heute wie jeden Tag um diese Stunde, und atmete den Duft, gemischt aus Kaffee, Spiritus und der leisen, sauberen Feuchtigkeit, die aus den gescheuerten Dielen stieg.

„So, fertig, hier ist noch das Knusperle, und wie ist es, magst du auch eins?”

Großmutter hatte die Tasse, auf der der Filter mit dem Kaffee noch stand, auf das kleine schwarze Lacktablett mit den silbernen Reihern gestellt, den Deckel daneben. Auf ein winziges Schälchen mit grünem Rand kam das Knusperle, eines jener würzig duftenden Honigplätzchen, die Großmutter in einer runden, gepreßten Blechbüchse aus Nürnberg aufbewahrte. Christiane ließ das andere, das ihr gehörte, auf der Zunge zergehen, während sie das Tablett nahm.

„Ich schmeiß’ es schon nicht hin”, sagte sie und lächelte Großmutter zu. O nein, sie würde, wenn sich nicht gerade ein Abgrund vor ihren Füßen auftat, dieses Tablett bestimmt ungefährdet und sicher hinaufbringen zu Großvater. Sie tat das jeden Tag und hätte es niemandem anders überlassen, wenn sie nicht gerade sterbenskrank war. Denn dieses Kaffeetablett war ein „Sesam-öffne-dich”, es erschloß ihr jeden Tag eine Viertelstunde Großvaters Reich.

Am allerschönsten von der Welt war es natürlich bei Großmutter, darüber konnte es keinen Zweifel geben. Aber am zweitschönsten bestimmt in Großvaters Atelier, und dadurch, daß man nur so kurz hineindurfte, bekamen diese Besuche noch einen ganz besonderen Reiz.

Das Atelier lag im ersten Stock des breiten, weißen Hauses, das eigentlich ein Schlößchen war, jedenfalls sagten manche Leute das. Und seit Christiane Bilder von anderen Schlössern gesehen hatte, aus Dresden oder Berlin oder Stuttgart, fand sie das nur berechtigt. Diese Schlösser waren ja viel eher nur Häuser, ja, manche hatten nicht einmal den mindesten Garten um sich, geschweige denn solch einen Park wie hier. –

Wenn man die breite, sanftgeschwungene Treppe mit den niedrigen Stufen emporstieg und dann geradeaus ging, kam man zu Großvaters Reich. Man klopfte – und das Herz klopfte auch stets in diesem Augenblick schneller als sonst, und das kam bestimmt nicht vom Treppensteigen – und horchte auf das „Bitte”. Dann öffnete man behutsam die Tür.

Ein großer und weiter Raum lag da vor einem, leer oder so gut wie leer. An einer der Schmalseiten stand die niedrige Couch, eigentlich nicht viel mehr als eine Matratze auf Füßen, mit einer Decke darauf, und daneben ein winziges Tischchen. Ringsum an den Wänden lehnten Bilder, mit der Rückseite nach vorn. Und in der Mitte stand die Hauptsache, die Staffelei, das war alles.

Es war so wenig für den weiten Raum, daß die Schritte hallten, wenn man darin ging, so, wie sie es in leeren Zimmern tun. Aber es gehörte dazu. Christiane setzte die Füße vorsichtig und ging hinüber zu dem Tischchen, stellte das Tablett hin und hob den Filter von der Tasse. Stets war der Kaffee gerade ganz durchgelaufen; sie goß Milch zu und ließ ein Stück Zucker hineinplumpsen.

„Ausgeschlafen, Großvater? Der Kaffee ist da.”

Der Großvater blinzelte, wie er so lag, meist auf der Seite, einen Arm unter dem Gesicht. Er konnte aussehen wie ein Junge, wenn er so lag – man brauchte sich nur vorzustellen, daß das weiße, dichte Haar, das in seine Stirn fiel, hellblond sei.

„Schön, mein Spatz. Ist er auch heiß?”

„So heiß wie die Hölle, Großvater!”

Er setzte sich auf, schob die Haare mit dem Handrücken aus der Stirn und hatte in diesem Augenblick die tiefblausten Augen der Welt. So blau waren sie sonst nie, sie wechselten überhaupt immer. Und dann hob er die Tasse an den Mund.

Großvaters Art, sich versorgen und verwöhnen zu lassen, war vielleicht das Liebste an ihm. Er konnte sich so freuen. Jeden Tag wieder staunte er über den herrlichen Kaffee, den er bekam, jeden Tag entzückte er sich an dem Knusperle. Und es war kein Theater, es war wirklich so.

„Weißt du”, sagte er einmal zu Christiane, als sie ihn danach fragte, „ich habe so oft erlebt, daß nichts in der Welt sicher, nichts beständig ist – ich habe ein großes, mächtiges Reich stürzen sehen und Gut und Geld zerrinnen, da wird man dankbar für alles, was der Tag einem bringt. Für jede Tasse Kaffee und jeden Keks, nach Mandeln und Zitronat duftend – zumal wenn ihn einem eine so schöne junge Frau bringt!” setzte er neckend hinzu. Christiane lachte.

Der spannendste Augenblick aber kam erst. Großvater steckte sich eine seiner stricknadeldünnen, süß riechenden Zigaretten an, die in einem länglichen Holzkästchen auf dem Tisch standen, stand auf und reckte sich.

„Komm, Spatz”, pflegte er zu sagen, legte eine Hand um Christianes Nacken und ging mit ihr rasch und nun ganz wach – wie ein Krieger, dachte Christiane immer – auf die Staffelei zu. Es war immer wieder atemberaubend, wenn er das Tuch abhob.

„Oh, Großvater!”

Christiane stand ganz still. Es war, als leuchtete das Bild von innen heraus, das sie heute sah – es war neu, sie hatte es noch nirgends als Zeichnung oder Skizze gesehen. Aber es war schon ziemlich weit.

Eine Waldwiese, still und versteckt zwischen den schwarzen Tannen. Man fühlte die Sonne, die darauf brannte, man roch und schmeckte den Duft der Nadelbäume. Und mitten zwischen den hohen und etwas düsteren Tannen ein Meer von Farben: Fingerhüte. Christiane kannte sie, diese oft mannshohen, fingerdicken Stengel mit den strahlend-bunten Blüten, die wie Fingerhüte aussehen. Da gab es Gelb und Rot, Lila und Zartblau, da verschwendete die Sonne ihren Glanz auf Weiß und Rosa, daß es fast blendete. Christiane fuhr sich mit dem Arm über die Augen.

„Großvater ...”

„Na? Was ist das, mein kleiner Spatz?”

„Der Sommer, Großvater”, sagte Christiane und atmete tief aus. „Der Sommer – mit den Bienen und den Hummeln und dem warmen Wind – und wenn man die Augen zumacht, denkt man, man fliegt davon in den Himmel. Der ist so blau, ganz, ganz blau, mit weißen Wattewolken ...”

Auf dem Bild war gar kein Himmel zu sehen. Aber man sah ihn doch, Christiane sah ihn.

„Und? Was noch, Christiane?” fragte der Großvater leise, aber dringlich.

„Und es ist heiß – aber nicht so, daß es einen drückt oder man denkt, ein Gewitter kommt. Schön heiß, so, daß die Beeren reif werden – die wilden Himbeeren und die Walderdbeeren, die so wunderbar riechen, so wie die Gartenerdbeeren das nie können, auch Großmutters nicht. Und wenn man sie auf der Zunge zerdrückt, schmeckt man lauter Sonne!”

„Ja. Weiter!”

„Ganz oben am Himmel fliegt ein Raubvogel im Kreis, er fliegt eigentlich nicht, er bewegt die Flügel gar nicht. Es ist,