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Wie haben evangelische Christen in der Zeit des Nationalsozialismus ihre ablehnende Haltung gegen das Regime zum Ausdruck gebracht? Anhand konkreter Beispiele werden widerständige Handlungen von der partiellen Unzufriedenheit bis hin zur Verweigerung oder zur Beteiligung am Umsturzversuch dargestellt. Neben bekannten Personen wie Dietrich Bonhoeffer, Martin Niemöller oder Elisabeth Schmitz werden auch bisher für den christlichen Widerstand kaum beachtete Gruppen wie die religiösen Sozialisten, die christlichen Mitglieder des Nationalkomitees Freies Deutschland oder Kriegsdienstverweigerer ins Blickfeld gerückt. Das Handeln der wenigen Widerständigen wird in die politische Entwicklung und das Verhalten des Mehrheitsprotestantismus eingeordnet. Christian Resistance!? Protestant Church and National Socialism How did Protestant Christians express their opposition against the regime in the times of National Socialism? This book presents concrete examples of acts of resistance reaching from a partial discontent to total rejection and participation in the attempted coup. Alongside known persons like Dietrich Bonhoeffer, Martin Niemöller, or Elisabeth Schmitz, the focus is also put on groups of Christian resistance that have been barely noticed so far as for example the religious socialists, the Christian members of the National Committee for a Free Germany, or the conscientious objectors. The actions of the few dissidents are seen before the background of the political development and the behavior of the Protestant majority.
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Seitenzahl: 237
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Christentum und Zeitgeschichte (CuZ) Band 4
Im Auftrag der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft
für Kirchliche Zeitgeschichte
herausgegeben von Siegfried Hermle und Harry Oelke
Siegfried Hermle | Claudia Lepp | Harry Oelke (Bearb.)
Christlicher Widerstand!?
Evangelische Kirche und Nationalsozialismus
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2019 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig
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Cover: Kai-Michael Gustmann, Leipzig
Coverbild: Park von Yad Vashem; Foto: Siegfried Hermle, Erftstadt
Satz: Steffi Glauche, Leipzig
Druck und Binden: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-374-05983-6
www.eva-leipzig.de
Cover
Titel
Impressum
Zur Einführung
Protestanten in der Weimarer Republik
Die Protestanten und die Republik
Die evangelische Kirche in der Weimarer Republik
NSDAP und Christentum.
Antisemitismus in der Weimarer Republik
Die Protestanten und die ›Judenfrage‹
Der Verein zur Abwehr des Antisemitismus
Evangelische Pfarrer und Theologen im Abwehrverein
Emil Felden
Otto Baumgarten
Eduard Lamparter
Die Liberalen
Die Religiösen Sozialisten
Dialektische Theologie
Luther-Renaissance
Neues kirchliches Selbstbewusstsein
Vaterländische Kundgebung
Protestantismus und Nationalsozialismus nach 1930
Rosenbergs »Mythus«
Volkstumstheologie
Evangelische Befürworter des Nationalsozialismus
Weltanschauliche Auseinandersetzung
Walter Künneth
Christliche Welt
Der ›Fall Dehn‹
Die Deutschen Christen.
»Die Kirche und das dritte Reich«
Gertrud Herrmann.
Die Kritik Paul Tillichs.
Die Kritik des Lutheraners Hermann Sasse
Die Warnungen Karl-Heinz Beckers
Altonaer Bekenntnis
›Über den Parteien‹.
1933/34: Gleichschaltung – Euphorie und Ernüchterung – Einspruch
Gleichschaltung
Euphorie und Ernüchterung
Ein scheinbar ›christlicher Staat‹
Glaubensbewegung Deutsche Christen.
Propaganda-Wahlkampf für die Deutschen Christen durch die NSDAP
Verweigerte Solidarität
›Braune Synode‹ und ›Arierparagraph‹
Der ›Sportpalastskandal‹
›Reichsbischofsdiktatur‹ und Bekennende Kirche.
Einspruch
Verfolgung der Religiösen Sozialisten
Verfolgung und Duldung: Liberale Theologen
Die Jungreformatorische Bewegung
Oppositionelle Alternative bei der Kirchenwahl 1933
Die Zeitschrift »Junge Kirche«
Karl Barth und die Anfänge einer kirchlichen Opposition
Niemöller gründet den Pfarrernotbund
Dietrich Bonhoeffer: Kirchliche Solidarität mit den Opfern.
Formen unangepassten Verhaltens
»Flüsterwitze«: Aus »Reibi« wird »Bleibi«
Der Ulmer Bekenntnisgottesdienst
Die Barmer Reichsbekenntnissynode und ihre Theologische Erklärung.
Die zweite Reichsbekenntnissynode
Die Arretierung der Landesbischöfe Meiser und Wurm.
Ökumene: Zwischen Einmischung und Kooperation
1935 bis 1939: Konsolidierung – Zwischen Zufriedenheit und Desillusionierung – Protest
Konsolidierung
Zwischen Zufriedenheit und Desillusionierung
Mehrheitsverhältnisse in der evangelischen Kirche
Die Saarabstimmung
Staatliche Finanzaufsicht über die Kirche
Die Zwangsintegration evangelischer Frauenverbände
Das Reichsministerium für die kirchlichen Angelegenheiten
Nürnberger Gesetze
Handlanger der NS-Rassenpolitik: ›Ariernachweise‹
Mitarbeit in den Kirchenausschüssen
Propaganda-Feldzug ›Entkonfessionalisierung‹.
Nazifizierung der Theologischen Fakultäten: das Beispiel Jena
Der Wittenberger Bund
Der ›Anschluss‹ Österreichs
Treueeid auf Hitler
Novemberpogrom 1938
Godesberger Erklärung
Das Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben
Protest
Protest gegen die Finanzabteilungen
Fürbitte für verfolgte Bekenntnischristen
Die Denkschrift von Marga Meusel
Nein zu den staatlichen Kirchenausschüssen
Verstöße gegen die Beflaggungsvorschriften
Kritik am Winterhilfswerk
Verweigerung bei der Reichstagswahl 1936
Evangelische Frauenhilfe und NS-Frauenschaft
Denkschrift der Vorläufigen Kirchenleitung
Eine mutige Denkschrift
Illegale Theologenausbildung
Widerstand gegen die Kirchenwahl 1937
Öffentliche Bekanntgabe von Kirchenaustritten
Bekenntnisschule contra Gemeinschaftsschule
Kampf um den Religionsunterricht
Verstöße gegen den ›Kollektenerlass‹.
Der ›Fall Niemöller‹
Widerspruch gegen Alfred Rosenberg.
Verweigerung des Pfarrereides auf Hitler
Verweigerung: Reichstagswahl und Volksabstimmung
›Büro Pfarrer Grüber‹
Kirche und Welt
Predigten gegen das Novemberpogrom.
Gebetsliturgie der Zweiten Vorläufigen Kirchenleitung
Verweigerung im Alltag
Gegen die Umwandlung konfessioneller Kindergärten.
1939 bis 1942: Aggression – Einwilligung – Widerspruch
Aggression
Einwilligung
Die evangelische Kirche und der 1. September 1939
›Heimkehr ins Reich‹
Die Beschlagnahmung von diakonischen Einrichtungen
Die Auflösung kirchlicher Schulen
Die Kirchen und die eroberten Gebiete des Reiches
Evangelische Wehrmachtsseelsorge
Der Geistliche Vertrauensrat
Die Stunde der Vikarinnen?
Evangelische Kirche und Zwangsarbeit
Widerspruch
Protest gegen Auflösung kirchlicher Kindergärten
Protest gegen die Einstellung der Gemeindeblätter.
Stimmen gegen die ›Euthanasie‹-Verbrechen.
Protest gegen die Entrechtung der Kirchen
Eintreten für Homosexuelle in Lobetal
Protest gegen den ›Judenstern‹.
Kriegsdienstverweigerung
Evangelische Kriegsdienstverweigerer
Proteste gegen die Deportationen
1943 bis 1945: Radikalisierung – Verstummen – Subversion
Radikalisierung
Verstummen
Der NS-Staat und die Kirchen
Das Reichskirchenministerium
Geistlicher Vertrauensrat und Kirchenkanzlei
Bekennende Kirche und Lutherrat
Das kirchliche Einigungswerk
Landeskirchen
Kirchliches Leben
Zerstörungen
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in der Kirche.
Das Ende der östlichen Kirchenprovinzen
Subversion
Mit Flugblättern gegen den Krieg
Das Attentat vom 20. Juli 1944
Zivile Widerstandsgruppen
Bedeutung des christlichen Glaubens
Widerspruch kirchlicher Gruppen.
»Im schärfsten Widerspruch zu dem Wort Gottes«
Kurt Gersteins Bericht über das Massenmorden.
Zeugnisse zivilen Mutes – Solidarität mit verfolgten Juden
Verschwörung und aktiver Widerstand.
Weltanschauliche Dissidenz
Nationalkomitee Freies Deutschland
Die Rezeption des christlichen Widerstands nach 1945
Erste Phase: Martyrisierung
Zweite Phase: Politisierung
Dritte Phase: Kanonisierung
Die Stuttgarter Schulderklärung
Christliche Totenehrung des 20. Juli 1944
Dietrich Bonhoeffer: Kirchliche Totenehrung.
Märtyrergedenken im Brandenburger Dom
Bonhoeffer als christlicher Märtyrer
Widerstandserinnerung in der Bundespolitik.
Bonhoeffers Widerstand in der Bundespolitik
Christlicher Widerstand in ökumenischer Perspektive
Bonhoeffer als ›evangelischer Heiliger‹
Hans Meiser: Verehrung für den Landesbischof.
Kritische Aufarbeitung.
Sturz der alten Denkmäler.
Neue Erinnerungskultur
Literaturverzeichnis
Personenregister
Liste der in der Ausstellung enthaltenen Biografien.
Abkürzungsverzeichnis
Bildnachweise
Anmerkungen
Weitere Bücher
Das Gespräch mit Zeitzeugen ist ein wichtiger Zugang zum Nationalsozialismus. Doch nur noch sehr wenige Menschen haben das verbrecherische NS-Regime selbst erlebt und können ihre Erfahrungen und Erinnerungen an nachwachsende Generationen weitergeben. Die letzten Zeitzeugen sterben, die kommunikative Gedächtnisformation befindet sich in Auflösung. Umso wichtiger erscheint es, an jene zu erinnern, die dem Unrecht entgegengetreten sind, und zu fragen, warum sie es taten und warum es so wenige waren.
Der christliche Glaube konnte für Menschen in den verschiedensten Positionen und Situationen eine Triebkraft für ihr widerständiges Denken und Handeln werden. Gerade im ›Kirchenvolk‹ gab es Gläubige, darunter viele Frauen, die unter großer Gefahr nach dem Gebot der Nächstenliebe handelten und den aus der ›Volksgemeinschaft‹ Ausgegrenzten Überlebenshilfe leisteten. Erinnert wird im vorliegenden Band an Männer und Frauen, Amtsträger und Laien, bekannte und bislang weniger bekannte Persönlichkeiten und Gruppierungen, die es allesamt wagten, sich der Ideologie oder dem Unrechtsregime des Nationalsozialismus zu widersetzen.
Der Band trägt der Entwicklung der historischen Forschung Rechnung und verdeutlicht das widerständige Verhalten in den Kirchen und den christlichen Milieus in seinen verschiedenen Ausformungen, ohne dabei kategoriale Unterschiede einzuebnen. Im Sinne eines weiten Widerstandsbegriffs reichte widerständiges Verhalten von der Unangepasstheit über die Verweigerung und den Protest bis hin zum Umsturzversuch, dem Widerstand im engeren Wortsinn. Dabei ging es sowohl um die Verteidigung des Existenzrechts der Kirche und der Unverfälschtheit der christlichen Botschaft in einer Weltanschauungsdiktatur als auch um die Verteidigung von Recht und Menschlichkeit in einem Unrechtsregime.
Beides zeigt sich am Beispiel des schwäbischen Pfarrerehepaars Otto und Gertrud Mörike, die in der Gedenkstätte Yad Vashem geehrt werden (s. Buchcover). Nach anfänglicher Begeisterung für den ›völkischen Aufbruch‹ beteiligte sich Otto Mörike an den innerkirchlichen Auseinandersetzungen gegen die Deutschen Christen und deren Versuch, die württembergische Landeskirche gleichzuschalten. Er gehörte dem Bruderrat der Evangelischen Bekenntnisgemeinschaft in Württemberg an und stand schon bald unter ständiger Überwachung durch die Gestapo. Nachdem das Ehepaar bei der kombinierten Volksabstimmung und Reichstagswahl am 10. April 1938 Kritik an der NS-Weltanschauung und -politik geübt hatte, wurde Otto Mörike zu zehn Monaten Haft mit Bewährung verurteilt und zwangsversetzt. Trotz verstärkter Überwachung durch die Gestapo konnten aber flüchtende Juden im Pfarrhaus der Mörikes zeitweise Zuflucht finden.
Der Band versucht, die gesamte Vielfalt der Formen, der Handlungsspielräume, der oft auch in sich gemischten Beweggründe, aber auch die Widersprüche und Konflikte des Widerstands von evangelischen Christinnen und Christen zu erfassen. Warum handelten sie so? Warum wurden sie erst so spät aktiv? Welche Folgen hatte ihr Handeln für sie und ihr Umfeld? Es geht um Fragen, die der christliche Widerstand im Nationalsozialismus aufwirft, und um Antwortmöglichkeiten; es geht um Vergangenheit, aber auch um ihre Bedeutung für die Gegenwart.
Rahmenbedingungen, Ursachen, Träger, Formen und Ziele des widerständigen Verhaltens veränderten sich im Laufe der NS-Zeit. Stand zum Beispiel im Vorfeld und zu Anfang des ›Dritten Reiches‹ der Protest der Religiösen Sozialisten oder der liberalen Theologen gegen eine sich etablierende Diktatur, der schnell zum Verstummen gebracht wurde, so erfolgte zu Kriegsende der Widerstand durch Christen aus dem nationalkonservativen Milieu, dessen Vertreter das NS-Regime lange unterstützt hatten und die selten auf eine demokratische Neuordnung zielten. Viele Personen aus der letztgenannten Gruppe bezahlten ihr Widerstehen mit dem Tod.
Zur Darstellung des prozessual-dynamischen Verlaufs der NS-Herrschaft und des auf sie bezogenen Widerstands wird die Geschichte des ›Dritten Reiches‹ in diesem Buch in vier Phasen eingeteilt (1933/34, 1935–1939, 1939–1942, 1943–1945). Die zeitliche Einteilung erfolgt auf der Grundlage der sich radikalisierenden historisch-politischen Entwicklung. Um das differenziert aufgezeigte Widerstandshandeln im Kontext seiner Rahmenbedingungen erfassen zu können, werden für jede dieser Phasen das Entwicklungsstadium des Herrschaftssystems, die Haltung des Mehrheitsprotestantismus, d. h. das dominante Verhalten evangelischer Christen, sowie die Formen christlichen Widerstands dargestellt. So werden Handlungsspielräume und Handlungsalternativen erkennbar gemacht, indem jeweils auf den zeithistorischen Zusammenhang verwiesen und das Widerstandshandeln mit dem gegenläufigen Verhalten von Zufriedenheit und Anpassung bis hin zur Mittäterschaft kontrastiert wird. Anpassung und Widerstand werden dabei nicht als polare Verhaltensformen unverbunden gegenübergestellt. So taucht teilweise ein und dieselbe Person sowohl unter »Mehrheitsprotestantismus« als auch unter »Christlicher Widerstand« auf. Damit wird deutlich, welche Herausforderungen und Versuchungen der Nationalsozialismus für Christen bedeutete. Auch werden das Nacheinander oder die Gleichzeitigkeit von Anpassungsleistungen und Widerstandshandeln erkennbar.
Der Text setzt mit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ein. Auf diese Weise werden die mentalitäts- und theologiegeschichtlichen Wurzeln von Anpassung, Mittäterschaft und Widerstand im Nationalsozialismus aufgezeigt. Die Darstellung endet mit einem Ausblick auf die Rezeption des christlichen Widerstands in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik, vornehmlich an den Beispielen von Dietrich Bonhoeffer und Hans Meiser.
Der vorliegende Band korrespondiert mit der Internet-Ausstellung »Widerstand!? Evangelische Christinnen und Christen im Nationalsozialismus« (https://de.evangelischer-widerstand.de/). Trägerin der Ausstellung ist die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Konzeptionell erarbeitet wurde sie in einem mehrjährigen Prozess von einer interdisziplinären wissenschaftlichen Arbeitsgruppe, die von einem Kuratorium mit Repräsentanten aus Wissenschaft, Politik und Kultur begleitet wurde. Die technische Gestaltung übernahm die Medienagentur Kerygma aus Köln.
Grundlage für das vorliegende Buch waren die Texte des Bereichs »Zeiten« der Internet-Ausstellung, die stark gekürzt und überarbeitet wurden. An dem Ausstellungsbereich haben neben den Bearbeitern und der Bearbeiterin mitgeschrieben: Angela Borgstedt, Johannes Ehmann, Karl-Heinz Fix, Norbert Friedrich, Gertraud Grünzinger, Christiane Kuller, Rainer Lächele, Tim Lorentzen, Andreas Müller, Thomas Martin Schneider und Nora Andrea Schulze. Ihnen allen möchten wir an dieser Stelle noch einmal herzlich danken. Frau Schulze, Herrn Fix, Kerstin Müller-Römer und Florian Schiermeier gilt unser Dank für ihre redaktionelle Mitarbeit.
Köln/München, im Januar 2019
Siegfried HermleClaudia Lepp
Abb. 1: Hans Roth: Die Mitarbeit der evangelischen Kirche an der Bekämpfung des Versailler Diktats. Berlin 1932.
Der Schock infolge von Kriegsniederlage und Revolution im Jahr 1918 wirkte bei den deutschen Protestanten lange nach. Ihre tiefe Bindung an den monarchischen Nationalstaat wilhelminischer Prägung überdauerte dessen Zusammenbruch. Die Mehrheit der deutschen Protestanten stand daher der demokratischen, weltanschaulich neutralen Weimarer Republik skeptisch bis ablehnend gegenüber.
Die evangelischen Kirchen konnten den Verlust der engen Verbindung von Thron und Altar nie ganz überwinden. Obgleich sie in der Weimarer Verfassung von 1919 einen privilegierten Status erhalten hatten, blieben Bedrohungsängste, die in der Revolutionszeit angesichts kirchen- und christentumsfeindlicher Vorstöße entstanden waren. Der evangelischen Kirche boten sich jedoch nun auch neue Möglichkeiten, nachdem sie durch das Ende der Monarchie vom landesherrlichen Kirchenregiment frei geworden war und über sich selbst verfügen konnte. Im 19. Jahrhundert begonnene Einigungsbestrebungen führten 1922 zur Gründung des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes.
Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wurde im deutschen Protestantismus ein alter religiöser Antijudaismus von einem modernen, teils politisch-kulturell, teils auch schon rassistisch bestimmten Antisemitismus überlagert. In der Weimarer Zeit trieb die ›Judenfrage‹ auch die sogenannte kirchliche Mitte um. Gegen die weit verbreiteten Vorwürfe, die Juden seien für die Kriegsniederlage, die Revolution und das ›Weimarer System‹ verantwortlich, kämpfte der Verein zur Abwehr des Antisemitismus, in dem auch Pfarrer und Theologen aktiv waren.
In der Theologie gab es zahlreiche neue Strömungen, die vor allem von jüngeren Theologen getragen wurden. Vertreter der Luther-Renaissance entdeckten Luther als Theologen neu, dialektische Theologen betonten das radikale Anderssein Gottes jenseits der menschlichen Verfügbarkeit und brachen mit der als kulturselig erachteten liberalen Theologie der Vorkriegszeit. Die Absolutheit des Christentums wurde betont, statt historischem Denken dominierte nun ein theologisches Vorgehen, das zwar einerseits die Bedeutung der Evangeliumsverkündigung betonte, aber andererseits mit seiner allumfassenden Krisendiagnostik eng mit den zumeist antidemokratischen politischen Diskursen der Zeit inhaltlich und personell verschränkt war. In der Vorkriegszeit geprägte Liberale fanden z. T. zu einem positiven Verhältnis zur Republik; die Religiösen Sozialisten, die eine Annäherung von Kirche, Arbeiterschaft und Sozialdemokratie anstrebten, blieben eine von den Kirchenleitungen kritisch beäugte Minderheit.
Die politische und ökonomische Krise der Republik seit 1930 führte zusammen mit einer Blindheit nach rechts dazu, in der Propaganda der Rechten bis hin zur Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) mit ihren pseudoreligiösen Phrasen Alternativen zur zerrütteten Republik zu sehen. Im protestantischen Milieu verbreitete ideologische und theologische Überzeugungen ermöglichten den Nationalsozialisten diese positive Resonanz.
Protestantischen Widerspruch gegen den Nationalsozialismus löste die Rassenideologie aus: Zu sehr dominiere das Blut die Ideologie und zu schwach sei die Berücksichtigung des christlichen Schöpfungsgedankens. Nur wenige Protestanten lehnten den Nationalsozialismus und seine Rassenideologie aber gänzlich ab, darunter vor allem liberale Theologen und Religiöse Sozialisten.
1925 waren 64,1 Prozent der Bevölkerung des Deutschen Reiches, d. h. knapp 40 Millionen, evangelische Christen. Die aktiven Kirchenmitglieder entstammten zumeist dem »alten Mittelstand«, hinzu kamen bäuerliche und adelige Familien. Dieser Kern des protestantischen Sozialmilieus blieb auch in der Weimarer Republik mehrheitlich nationalistisch und zumeist auch monarchisch gestimmt.
Die protestantische Mehrheit konzentrierte ihre politische Aufmerksamkeit auf die mit Kriegsende entstandene ›Dolchstoßlegende‹ sowie den Kampf gegen die ›Kriegsschuldlüge‹ und das ›Diktat von Versailles‹. Die Bedrohungsängste richteten sich vor allem auf den Kommunismus, den sogenannten Kulturbolschewismus und die Juden. Damit hatten die Protestanten Anteil an der Radikalisierung des deutschen Nationalismus nach dem Ersten Weltkrieg.
Der protestantische Vorbehalt gegen demokratische Volksherrschaft blieb während der Weimarer Republik weitgehend erhalten, gerade auch unter der zumeist nationalkonservativ eingestellten Pfarrerschaft. Der Verlust des Bündnisses von Thron und Altar und infolgedessen auch die Gefährdung der Position des Protestantismus als Leitkultur im Deutschen Reich verstärkte unter den Protestanten trotz manchem temporären »kirchenoffiziellen Vernunftsrepublikanertum«1 eher eine rückwärtsgewandte, distanzierte Haltung gegenüber der Republik sowie der demokratisch konstituierten Nation.
Viele Protestanten fanden ihre politische Heimat in der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). 1918 aus den zersplitterten Parteien des rechten Lagers entstanden, agierte sie mit antidemokratischer, monarchischer und antisemitischer Stoßrichtung.
In der Sozialethik der Zeit spielte die konstruktive Auseinandersetzung mit den Grundlagen der Demokratie wie Gewaltenteilung, Menschenrechte, Parlamentarismus und Mehrheitsprinzip eine marginale Rolle. Eine »veritable Theologie der Demokratie«2 war unter den zahlreichen neuen theologischen Entwürfen nach 1919 nicht zu finden.
Pragmatisch arrangierten sich die Kirchenleitungen mit den neuen Verhältnissen. Sie kooperierten in praktischen Fragen mit dem demokratischen Staat, gingen jedoch in Grundsatzfragen auch immer wieder auf Konfrontationskurs insbesondere zur Sozialdemokratie.
Innerkirchlich wurden das Ende des monarchischen Kirchenregiments und die verfassungsrechtliche Trennung von Staat und Kirche nicht wirklich als Chance genutzt, die kirchliche Struktur gemeindenäher zu reformieren.
Stärker als die verfassungspolitische Idee einer demokratischen Volkskirche setzten sich praktische Koordinationszwänge durch, die sich aus dem durch die Weimarer Verfassung verstärkten Zentralismus ergaben. Sie führten 1922 zur Gründung des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes, der aber nur über wenige Kompetenzen verfügte und eine eher koordinierende Funktion hatte. Seine politische Linie wurde ganz von dem Konservatismus der Landeskirchen bestimmt. Ab 1925 stand mit dem Juristen Hermann Kapler ein kirchlicher ›Vernunftsrepublikaner‹ an der Spitze des Kirchenbundes und der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union.
Einige führende Nationalsozialisten hingen einer völkischen Religiosität an, wie sie sich bereits 1921 im Bund für Deutsche Kirche und 1925 im Tannenbergbund organisatorisch verfestigt hatte. Auch Adolf Hitlers Denken schöpfte aus dieser diffusen völkischen Religiosität, in der die Vorsehung und der Erwählungsgedanke eine wichtige Rolle spielten. Um jedoch nicht in Konflikt mit den Kirchen zu kommen, wies Hitler die Vertreter der ›neuheidnischen völkischen Religiosität‹ innerhalb der NSDAP in ihre Schranken. Artur Dinter, der eine ›Geist-christliche Religionsgemeinschaft‹ propagierte, wurde nach langen Konflikten 1928 aus der Partei ausgestoßen.
Laut Artikel 24 des Parteiprogramms von 1920 vertrat die Partei den »Standpunkt eines positiven Christentums«.3 Die Religionsfreiheit sollte jedoch im »Sittlichkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse« ihre Grenze haben. Gottfried Feder, der Verfasser des maßgeblichen Kommentars zum Parteiprogramm, deutete den Begriff des ›positiven Christentums‹ im Sinne der völkischen Religiosität. Auf Hitlers Weisung musste diese Interpretation jedoch 1931 gestrichen werden. Denn von 1930 an demonstrierte Hitler eine kirchenfreundliche Haltung, um Stimmen im nationalprotestantischen Lager zu gewinnen und die Abgrenzungserklärungen seitens der katholischen Kirche zu unterlaufen. Nach der Reichstagswahl am 14. September 1930 hatten die deutschen Bischöfe vor der NSDAP gewarnt und u. a. das inhaltsarme Bekenntnis der NSDAP zum Christentum kritisiert.
In den unruhigen Nachkriegsjahren wurde schnell ein Sündenbock für Kriegsniederlage, territoriale Verluste und politischen Systemwechsel gefunden: die Juden. ›Judenrevolution‹, ›jüdischer Bolschewismus‹ und ›Judenrepublik‹ wurden zu politischen Kampfbegriffen mit hoher Resonanz. Antidemokratische und völkisch-antisemitische Gruppen erhielten starken Zulauf. Unter ihnen ragten vor allem die DNVP und der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund (DSTB) hervor. Sie brachten mit Klebemarken, Flugblättern und Handzetteln antisemitisches Gedankengut in alle Regionen des Reiches. Von der 1919 erschienenen deutschen Ausgabe der »Protokolle der Weisen von Zion«, einem Werk des zaristischen Geheimdienstes, das die These von der jüdischen Weltverschwörung verbreitete, wurden mehrere Hunderttausend Exemplare verkauft. Der Antisemitismus radikalisierte sich.
In München begann die frühe NSDAP ab 1921 mit Kampagnen gegen jüdische Geschäftsleute, Angriffen auf prominente Juden sowie mit Übergriffen auf jüdische Friedhöfe und Synagogen. Der DSTB drohte mit Gewalt und veröffentlichte Listen mit ›Schädlingen‹. Nach dem Mord an Außenminister Walther Rathenau wurde der DSTB 1922 in den meisten deutschen Ländern verboten.
Antisemitische Gewalt fand sich in der frühen Weimarer Republik aber auch in Teilen der Bevölkerung. 1923 kam es vor allem in Berlin zu antijüdischen Ausschreitungen. Getragen wurde der Antisemitismus von Angestellten und Beamten sowie von Berufsgruppen, die in den Juden eine Konkurrenz erblickten: der selbstständige Mittelstand, Kaufleute, Kleinunternehmer und Handwerker, freiberufliche Akademiker und Studenten.
Während der ruhigeren Jahre der Weimarer Republik zwischen 1924 und 1928 ging die antijüdische Gewalt zurück, nicht aber die stille Ausgrenzung von Juden. Vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise wuchs der Antisemitismus in den 1930er Jahren erneut an und wurde zu einer wichtigen politischen Erscheinung. Mit dem Aufstieg der NSDAP verschärfte die DNVP ihren antisemitischen Kurs: Sie schloss Juden aus der Partei aus und startete eine scharfe antisemitische Propaganda. Die NSDAP begann im Zuge ihrer Wahlerfolge erneut mit antijüdischen Übergriffen und Boykottaktionen.
Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wurde im deutschen Protestantismus ein alter religiöser Antijudaismus von einem modernen, teils politisch-kulturell, teils auch schon rassistisch bestimmten Antisemitismus überlagert. In der Weimarer Zeit trieb die ›Judenfrage‹ auch die kirchliche Mitte um. In den evangelischen Sonntagsblättern waren ›die Juden‹ ein viel diskutiertes Thema. So veröffentlichte im Sommer 1926 der Direktor des Predigerseminars der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Hans Meiser, im »Evangelischen Gemeindeblatt« in Nürnberg eine Artikelserie mit dem Thema »Die evangelische Gemeinde und die Judenfrage«. Meisers Ausführungen waren von einem rassischen Antisemitismus geprägt, aber gleichzeitig lehnte er einen ›Rassenmaterialismus‹ ab und forderte zu einer ›Rassenveredelung‹ durch Judenmission und Judentaufe auf. 1932 publizierte der Pfarrer Kurt Hutten im »Materialdienst des Evangelischen Volksbundes in Württemberg« eine umfangreiche vierteilige Fortsetzungsserie zur ›Judenfrage‹. Hutten unterschied zwischen einem ›sittlichen‹ und einem ›rassischen‹ Antisemitismus und sprach sich für Ersteren aus. Negative jüdische Einflüsse in Kunst, Presse und Politik müssten bekämpft werden.
In Reaktion auf die antisemitische Bewegung der 1880er Jahre schlossen sich 1890/91 christliche und jüdische Honoratioren im Verein zur Abwehr des Antisemitismus zusammen, um dem »verderblichen und unchristlichen Treiben der Antisemiten« (Gründungsaufruf) entgegenzutreten. Dem Verein gehörten zeitweise bis zu 20.000 Mitglieder an. Sie kamen überwiegend aus dem liberalen Bildungs- und Besitzbürgertum, darunter viele evangelische Theologen und liberale Politiker.
Der Verein wollte Aufklärungsarbeit leisten und setzte dabei auf die Autorität von Bildung und Moral. In Publikationen wie den »Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus« (seit 1925: »Abwehr-Blätter«) und dem Handbuch »Antisemiten-Spiegel« wurde Material zur Widerlegung antijüdischer Stereotypen und zur Diskreditierung antisemitischer Agitatoren veröffentlicht. Der Verein erließ aber auch Wahlaufrufe gegen antisemitische Parteien und unterstützte parlamentarische Initiativen gegen die Diskriminierung von Juden in Staatsdienst und Militär. Er kooperierte mit der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), deren Reichstagsabgeordneter Georg Gothein 1921 den Vereinsvorsitz übernahm.
Bis zu seiner Selbstauflösung im Juli 1933 verfolgte der Abwehrverein eine Honoratiorenpolitik. Er suchte nicht die direkte Konfrontation mit den Antisemiten, sondern versuchte über die Presse, die Parlamente und die wissenschaftliche Autorität von Fachgelehrten auf die Öffentlichkeit Einfluss zu nehmen. Politische Massen konnte er mit dieser Abwehrstrategie nicht mobilisieren.
Dem Verein ging es um die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Juden, die zwar formal mit der Reichsverfassung von 1871 erreicht war, die in der Praxis aber vielfach missachtet wurde. Er lehnte Philosemitismus, Zionismus und anfänglich jede Form jüdischer Selbstorganisation als illegitimen Partikularismus ab. Viele Mitglieder hingen dem Ziel einer religiös-kulturellen Homogenität an und waren daher an der Aufrechterhaltung einer eigenständigen jüdischen Identität nicht interessiert. Auch waren die Vereinsmitglieder durchaus nicht frei von gesellschaftlichen und religiösen Vorurteilen gegenüber dem Judentum.
Seit 1925 nahm man in den Kreisen des Abwehrvereins Hitler und die NSDAP zunehmend als Gefahr wahr. »Mein Kampf« und die Hitlerreden wurden in den Abwehr-Blättern analysiert und besprochen, jedoch zumeist noch in ironischem Ton.
Mit dem Anwachsen der völkischen und nationalsozialistischen Bewegung nahm auch die Zahl der sich im Abwehrverein engagierenden evangelischen Theologen zu. So setzten sich die Universitätstheologen Otto Baumgarten und Eduard König in Publikationen und Vorträgen mit den Antisemiten auseinander. Auch im Ausschuss des Gesamtvereins waren evangelische Pfarrer Mitglieder. Auf lokaler Ebene gründeten einzelne Pfarrer Ortsvereine und übernahmen zum Teil auch deren Vorsitz – so Hans Tribukait in Dortmund, Ernst Moering in Breslau und Eduard Lamparter in Stuttgart. Die meisten der Ortsgruppen in der Weimarer Zeit befanden sich in evangelisch geprägten Regionen. Die im Abwehrverein aktiven Theologen waren innerhalb ihrer Gemeinden und innerhalb der evangelischen Pfarrerschaft Einzelkämpfer. Die Mitarbeit in der ›Judenschutztruppe‹ kostete Mut und war wenig prestigeträchtig.
Der überwiegende Teil der im Abwehrverein aktiven Theologen vertrat eine liberale Theologie und einen kulturprotestantischen Wertekosmos. Sie bejahten die demokratische Weimarer Republik und waren vielfach politisch aktiv, zumeist in der DDP. Einzelne Pfarrer gehörten aber auch den Religiösen Sozialisten an, wie z. B. Emil Felden.
Die im Abwehrverein aktiven Geistlichen wollten die deutsche Nation vor dem kultur- und bildungsfeindlichen Antisemitismus schützen; sie waren nicht dazu bereit, das christliche Gebot der Nächstenliebe und die Werte der Aufklärung dem Volkstum zu opfern, hofften aber auf eine Assimilation der Juden an die protestantisch geprägte deutsche Kultur. Sie erkannten die heilsgeschichtliche Bedeutung der Juden für das Christentum an und verteidigten das Alte Testament gegen die völkische Theologie. Auch wenn diese Positionen letztlich dazu führten, dass die Theologen im Abwehrverein ihre jüdischen Mitbürger gegen antisemitische Angriffe verteidigten, beinhalteten sie doch auch eine christliche, abwertende Sichtweise auf die ethnisch-religiöse Existenz des deutschen Judentums ihrer Gegenwart.
Im Jahr 1928 verschickte der Abwehrverein einen »Aufruf an die evangelischen Geistlichen«, den bekannte evangelische Universitätstheologen und Pfarrer verschiedener Richtungen unterzeichnet hatten. Darin wurde eine klare Position der evangelischen Kirche gegenüber dem Antisemitismus angemahnt.4
In der Zeit der Weimarer Republik engagierte sich der Bremer Pfarrer Emil Felden im Verein zur Abwehr des Antisemitismus. Felden war als Pazifist und Sozialist politisch aktiv. Religion und Sozialismus waren für ihn keine Gegensätze. Theologisch und kirchlich war er ein Grenzgänger, der sich selbst als Monist und Religiöser Sozialist verstand. Durch seine publizistischen Aktivitäten war er deutschlandweit bekannt. Der Glaube an die Würde und Freiheit des Individuums machte ihn zu einem Gegner des Rassenantisemitismus, den er als ›Kulturschande‹ erachtete. Gegen ihn kämpfte Felden in Schriften und Vorträgen. Bereits 1921 schrieb er als Antwort auf den erfolgreichen antisemitischen Roman Artur Dinters »Die Sünde wider das Blut« den Roman »Die Sünde wider das Volk«, in dem er antisemitische Lügen entlarvte. Um den Gegnern der Antisemiten Argumentationshilfe zu leisten, initiierte Felden die »Anti-Anti-Blätter«, eine lose Blattsammlung mit kurzen, wissenschaftlich fundierten Texten zu Stichwörtern in alphabetischer Reihenfolge. Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens brachte den Zettelkatalog 1924 unter dem Titel »Anti-Anti-Blätter zur Abwehr: Tatsachen zur Judenfrage« heraus. Es folgten mehrere Neuauflagen. Für Felden trugen die Kirchen eine Mitverantwortung für den grassierenden Antisemitismus: Kirchenzeitungen und Pfarrer verbreiteten antisemitisches Gedankengut und der konfessionelle Religionsunterricht fördere eine Abwertung des Judentums. Felden wurde am 1.August 1933 zwangspensioniert.
Der Kieler Professor für Praktische Theologie Otto Baumgarten war einer der ersten evangelischen Theologen, der sich intensiver mit der ›völkischen Bewegung‹ beschäftigte. Der liberale Theologe war Mitglied des Vorstands der DDP und des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus. Deutscher Patriotismus, liberaler Protestantismus und die Werte der Aufklärung waren die Fixpunkte seines Denkens und Handelns. Alle drei sah er durch den Antisemitismus herausgefordert. Man findet bei Baumgarten eine christlich-theologische Argumentation gegen den Antisemitismus, die jedoch verbunden ist mit einer besonderen Wertschätzung des Deutschtums, einer Kritik an der ›jüdisch-gesetzlichen Religion‹ sowie der Vorstellung von einem ›Rassengegensatz‹. 1926 erschien sein Buch »Kreuz und Hakenkreuz«, das vom Abwehrverein an eine größere Anzahl evangelischer Theologen versandt wurde. Darin setzte sich Baumgarten umfassend mit den völkischen Antisemiten auseinander, wobei er ihnen jedoch durchaus »edle Motive« zubilligte. Kreuz und Hakenkreuz würden sich aber nach christlichem Verständnis gegenseitig ausschließen, da sich jeder Christ durch das Wort vom Kreuz infrage stellen lassen müsse, während die Haltung der »Hakenkreuzverehrer« von Selbstgerechtigkeit zulasten der Juden geprägt sei.5
Abb. 2: Otto Baumgarten: Kreuz und Hakenkreuz. Gotha 1926.
Der liberale württembergische Pfarrer Eduard Lamparter prägte durch seine Publikationen die Arbeit des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus in der Zeit der Weimarer Republik entscheidend mit. Er wandte sich mit ethischen und theologischen Argumenten gegen den Antisemitismus. In einer 1928 erschienenen Broschüre »Evangelische Kirche und Judentum«, die in 70.000 Exemplaren verbreitet wurde, setzte sich Lamparter kritisch mit der Haltung der evangelischen Kirche und der evangelischen Theologen gegenüber dem Judentum auseinander. Im selben Jahr erschien auch seine umfangreiche Schrift »Das Judentum in seiner kultur- und religionsgeschichtlichen Erscheinung«. Mit beiden Schriften hoffte er, gebildete evangelische Christen für den Kampf gegen den Antisemitismus zu gewinnen.
Lamparter kritisierte in seinen Schriften religiöse Homogenitätsvorstellungen, die Abwertung des Judentums in der alt- und neutestamentlichen Forschung der Gegenwart sowie die Vorstellung von der religiös-kulturellen Überlegenheit des Christentums gegenüber dem Judentum. Er beklagte das mangelnde Interesse am aktuellen Judentum und die fehlende Bereitschaft zu einem christlich-jüdischen Dialog.
Die Vertreter der Liberalen Theologie wie Ernst Troeltsch, Martin Rade oder Martin Dibelius bejahten die demokratische Staatsform mit ihren neuzeitlichen Politikkategorien wie Parlamentarismus, Verfassung und Gewaltenteilung, die in den protestantischen Bevölkerungskreisen nur sehr bedingt öffentliche Zustimmung fanden. Auch begrüßten sie den mit der Weimarer Republik einhergehenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Modernisierungsschub, in dem die große Mehrheit der evangelischen Gesellschaft eine »diabolische« Bedrohung sah. Politisch engagierten sich die Wortführer der Liberalen Theologie vornehmlich in der DDP.
Die für die modernen gesellschaftlichen Strömungen offenen Liberalen waren innerkirchlich in der Minderheit. Hatte ihr Plädoyer für eine Versöhnung von Christentum und moderner Kultur schon im Wilhelminischen Kaiserreich fast nur im liberalen Bildungsbürgertum Resonanz gefunden, wurden sie durch Wahlrechtsänderungen in der Weimarer Zeit innerkirchlich gänzlich zu einer Minderheit. Zugleich sprachen die jungen Theologen im Umkreis der ›Theologie der Krisis‹ das Verdikt über ihre kulturprotestantischen Väter. Mit Blick auf den Ersten Weltkrieg als Epochenschwelle erklärte etwa Friedrich Gogarten 1920: »Heute sehen wir Eure Welt zu Grunde gehen.«6
Abb. 3: Martin Dibelius
Die Religiösen Sozialisten verstanden sich als überkonfessionelle und überkirchliche Gruppe. Faktisch bestanden sie jedoch vorwiegend aus evangelischen Christen. Sie bejahten die Weimarer Republik, forderten aber deren sozialistische Weiterentwicklung. Einig war man sich in der Ablehnung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung sowie des Militarismus.
Theologisch bemühten sich die Religiösen Sozialisten, Gott und Geschichte, das Reich Gottes und die sozialistische Zukunftsvision neu zueinander ins Verhältnis zu setzen. Politisch neigten sie zur Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), einzelne auch zur Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), was im Falle des badischen Pfarrers und entschiedenen NS-Gegners Erwin Eckert 1931 zu dessen Entlassung aus dem Dienst führte. Zu den bedeutendsten Köpfen der in sich heterogenen Gruppierung zählten der Frankfurter Theologe und Religionsphilosoph Paul Tillich und der Hamburger Nationalökonom Eduard Heimann.
Die Religiösen Sozialisten wandten sich seit den 1920er Jahren mit politischen und theologischen Argumenten gegen den Nationalsozialismus. Schon im Dezember 1924 hieß es im »Mitteilungsblatt des Bundes der Religiösen Sozialisten Deutschlands«: »Hakenkreuz und Wotankult sind Feinde des Christentums.« Im August 1930 wurde auf dem fünften Kongress des Bundes der Religiösen Sozialisten Deutschlands in Stuttgart eine »Erklärung gegen den Faschismus« verabschiedet.7 In den »Neuen Blättern für den Sozialismus«, einer Zeitschrift des Tillich-Kreises, begann 1931 eine Diskussion über den Nationalsozialismus. Darin wurde die evangelische Kirche dazu aufgefordert, gegenüber dem Nationalsozialismus ein Nein gegen eine Vergöttlichung des Menschen zu sprechen.