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Christopher ist ein fünfzehnjähriger Teenager, der von seinen Mitschülern gemobbt wird. Als sein Lehrer bekannt gibt, dass die Klasse an einem besonderen Experiment teilnehmen wird, hält sich seine Freude zunächst in Grenzen. Doch dann nimmt das Experiment auf einmal eine Wendung, mit der niemand gerechnet hat.
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Seitenzahl: 343
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Teil 1
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Teil 2
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Teil 3
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Ten…Nine…Eight…Seven…Six…Five…Four…
Engine Started…Three…Two…One…Lift off.
Den Blick starr in den sternenklaren Himmel gerichtet, wurden die Astronauten in ihre Sitze gedrückt. Das ganze Raumschiff zitterte und die startenden Triebwerke erzeugten eine Lautstärke, die zum Glück durch die Helme etwas gedämpft wurde. Dann hob das Raumschiff langsam ab. Erst zaghaft, dann nahm die Geschwindigkeit von Sekunde zu Sekunde zu. Auch der Druck, mit dem die Astronauten in den Sitz gedrückt wurden, nahm zu. Für diesen Moment hatten sie monatelang trainiert. Unzählige Stunden verbrachten sie in der Zentrifuge, um die Beschleunigung und die auf den Körper wirkenden Kräfte zu trainieren. Die Realität war dann aber doch nochmal deutlich schlimmer. Aber es war auch ein unglaublich schöner Moment. Nach knapp zwei Minuten wurde die erste Antriebsrakete abgestoßen und wenige Augenblicke später folgte die Zweite. Nach weiteren Minuten veränderte sich das Licht draußen. Sie erreichten die äußere Atmosphäre und verließen langsam die Hemisphäre. Dann waren sie im Weltall. Sie bemerkten es daran, dass die ersten Gegenstände begannen in der Schwerelosigkeit umherzufliegen. Die Astronauten warfen sich begeisterte Blicke zu. Das Raumschiff drehte sich um die eigene Achse und so bot sich den Astronauten ein Blick auf die Erde. Der blaue Planet. Von hier oben wusste jeder Astronaut, warum die Erde so genannt wurde. Man konnte die Ozeane sehen, die Meere, Mittelmeer, Karibik, die Nord- und Ostsee. In ein paar Stunden würden sie auch die andere Seite der Erde sehen können. Man konnte sehen, wo gerade ein Gewitter tobte und wo es wolkenlos war. Wenn es Nacht werden würde, dann könnte man von hier oben die Städte sehen, die dann als helle Flecken auftauchen.
Nun flog das Raumschiff über Europa hinweg. Italien sah von hier oben aus wie ein Stiefel. Aber eine Sache war von hier oben am deutlichsten zu sehen: Von hier oben gab es keine Ländergrenzen. Alles war eins. Oder besser zwei. Land und Wasser. Es gab aber auch andere Dinge zu sehen. Der Nordpol sah deutlich weniger weiß aus, als die Astronauten es noch von ihren Atlanten aus der Schulzeit her kannten. Über dem Regenwald in Südamerika stieg eine Vielzahl an Rauchwolken in die Lüfte. Im riesigen Ozean sahen sie Ansammlungen von Plastik, die die Größe von Inseln erreichten und somit aus dem Weltall zu sehen war. In Afrika und Südasien gab es eine gro0e Anzahl an Explosionen, die von hier oben zu sehen waren. Riesige Ölteppiche bedeckten die Weltmeere und im Norden Russlands gab es große Flächen, die früher dicht bewaldet waren und nun brachlagen.
Dann ging es plötzlich ganz schnell abwärts. Schneller noch als beim Start. Nun kam die Erde mit atemberaubender Geschwindigkeit näher. Es gab keine Fensterscheibe mehr und keinen Raumanzug. Da waren auch keine anderen Astronauten. Da war nur noch die Erde, die immer näherkam. Bei dieser Geschwindigkeit müsste jeder in Ohnmacht fallen, aber nichts geschah. Nur die Erde, die immer größer wurde. Gerade wurden die Wolken durchflogen und nun ging es direkt auf das Wasser zu. Ein Sturm tobte und das Wasser war wild. Immer schneller ging es abwärts. Da kam eine kleine Insel in Sicht. Man konnte Berge erkennen und grüne Flächen, die sicher Wälder waren. Um die Insel herum schien der Sturm jedoch nicht zu toben. Noch war nicht absehbar, ob der Sturz im Meer oder auf dem Land enden würden. Aber spielte das eine Rolle, wer konnte so einen Absturz überleben? Jetzt konnte man noch mehr Einzelheiten am Strand erkennen. Von irgendwoher kam eine Stimme. Sie war ganz leise, kaum zu hören, eher ein flüstern. Dann wurde sie lauter. Doch was sagte sie? Chris? Chris! Die Stimme sagte seinen Namen. Es waren nur noch wenige Kilometer, dann würde der Boden erreicht werden. Plötzlich zuckte sein ganzer Körper.
„Chris! Chris! Wach endlich auf! Du musst zur Schule!“, Chris blickte in das Gesicht seiner Mutter. Und sie war wütend. „Dein Wecker klingelt schon seit fünf Minuten. Mein Gott, du bist doch kein Vorschulkind mehr!“ Dann drehte sie sich um und verließ genervt sein Zimmer.
Chris rieb sich die Augen und kam nach und nach zu sich. Zehn Minuten später schlurfte er ungewaschen und ungekämmt in die Küche. In seinen Gedanken verloren, bemerkte er zunächst gar nicht, dass seine Mutter am Esstisch saß und ihn kritisch beobachtete. Er ging an den Kühlschrank, nahm die Milch heraus und ließ die Kühlschranktür offenstehen. Dann nahm er sich eine Schüssel aus dem Schrank, füllte Cornflakes in die Schüssel, ließ eine halbe Ewigkeit Zucker drüber rieseln und kippte dann Milch in die Schüssel. Als er sich beiläufig in der Küche umschaute, bemerkte er seine Mutter, erschrak und ließ die Schüssel samt Inhalt auf den Boden fallen. Er schämte sich, sah zu seiner Mutter und erwartete eine Gardinenpredigt. Doch statt sich zu ärgern, fing seine Mutter plötzlich lauthals an zu Lachen. Zunächst war Chris irritiert, doch dann steckte ihn das Lachen an und er begann ebenfalls zu Lachen. Von einen auf den anderen Moment wurde seine Mutter aber wieder tot ernst. Auch Chris’ Lachen verstummte. Nach fünf Sekunden angespannter Stille, fing seine Mutter erneut an zu lachen, ging auf ihren Sohn zu, nahm ihn in den Arm und küsste ihn liebevoll auf die Stirn. Naserümpfend trat sie aber schnell wieder einen Schritt zurück.
„Chris, wie oft habe ich dich schon gebeten, morgens zu duschen, bevor du zur Schule gehst. Um es mal ganz deutlich zu sagen: Du stinkst wie ein Stinktier. Und du hast nicht einmal deine Haare gekämmt. Wie willst du in diesem Aufzug neue Freunde finden oder gar eine Freundin. Wie heißt sie noch gleich? Magda?“
„Martha!“, korrigierte Chris sie gereizt. „Und sie ist nicht meine Freundin.“
„Das weiß ich, aber die ist doch wirklich süß. Die wäre doch was für dich.“
„Mama, bitte! Hör auf, ja? Warum bist du eigentlich noch hier? Du müsstest doch schon lange los sein.“
„Ich fange heute erst zur zweiten Schicht an. Wir haben eine neue Kollegin bekommen und die macht unserem Chef immer schöne Augen und bekommt dann alles, was sie sich wünscht.“
„Und wie schaffst du es denn heute Abend zum Putzen zu gehen?“
„Darüber wollte ich gerade mit dir sprechen. Könntest du heute Abend für mich einspringen?“
„Ich wollte heute Abend eigentlich mit Patrick ins Kino gehen. Der neue James Bond ist letzte Woche neu angelaufen.“
„Kino? Ist das nicht etwas teuer? Du willst aber nicht schon wieder Patrick einladen, oder?“
„Du weißt doch, dass er nicht so viel Geld hat und ich habe vom Zeitungsaustragen etwas zur Seite gelegt. Aber wenn du keine Zeit hast, dann sage ich ihm ab.“
Chris’ Mutter schaute ihren Sohn an, der den Kopf hängen ließ. Sie wusste, dass er für sie alles tun würde. Und sie versuchte alles, um ihrem Sohn eine glückliche Kindheit zu ermöglichen. Da Sie von ihrem Ex keinen Unterhalt bekam und ihr Job im Supermarkt sehr schlecht bezahlt wurde, war sie darauf angewiesen, regelmäßig nach der Arbeit abends noch putzen zu gehen. Es tat ihr in der Seele weh, immer wieder ihren Sohn zu bitten, für sie einzelne Schichten zu übernehmen. Am liebsten würde sie ihm alles kaufen, was er sich wünscht. Aber die Wahrheit war, dass sie jeden Euro drei- bis viermal umdrehen musste.
„Wie fändest du es, wenn ihr beide morgen Abend ins Kino geht und ich lade euch dafür vorher zum Pizzaessen beim Italiener neben dem Kino ein?“
„Aber Mama, das ist doch zu teuer.“
„Ach was, das haben wir noch übrig.“ Sie nahm ihr Portemonnaie, öffnete es und gab ihrem Sohn fünfundzwanzig Euro. Sie versuchte sich dabei so zu stellen, dass ihr Sohn es nicht mitbekam, wie sie das letzte Geld aus der Geldbörse nahm. Chris nahm das Geld und steckte es ein, nachdem er seine Mutter in den Arm genommen hatte. Er war inzwischen einen guten Kopf größer als sie. Trotzdem blieb er für immer ihr kleiner Junge. Chris drehte sich anschließend gleich zur Seite. Seine Mutter sollte die Träne in seinem Auge nicht sehen. Er würde das Geld nicht nutzen, um mit seinem Nachbarn Pizza essen zu gehen. Stattdessen würde er heute Nachmittag, bevor er für seine Mutter putzen ginge, zum Einkaufen gehen. Denn dafür war das Geld eigentlich gedacht. Chris hoffte, dass er irgendwann mal reich sein würde, dann würde er seiner Mutter ein großes Haus mit einer Haushaltshilfe kaufen. Dann müsse seine Mutter nie mehr arbeiten und sich nicht mehr für andere abrackern. Er liebte seine Mutter, auch wenn sie viel von ihm abverlangte und ihre Schwächen hat. Chris verabschiedete sich und ging ohne Frühstück aus der Wohnung. Im Treppenhaus stieg ihm der Geruch von Knoblauch in die Nase. Chris liebte Knoblauch und stellte sich vor, wie die türkische Nachbarin gerade in der Küche stand und wieder ein Festmahl für ihre Großfamilie kochte. Die Wohnung war nicht größer, als die Wohnung, in der er mit seiner Mutter lebte, aber nebenan wohnten sie zu sechst. Der Vater war vor über zwanzig Jahren als Einwanderer nach Deutschland gekommen. Fünf Jahre später folgte seine zehn Jahre jüngere Frau und dann kamen die Kinder mit je zwei Jahren Abstand. Der jüngste Sohn war inzwischen acht Jahre. Die älteste Tochter war vierzehn und besuchte dieselbe Schule wie Chris, ging aber in eine Klassenstufe tiefer.
Im Erdgeschoss traf Chris auf den Hausmeister Herrn Hofmeister. Er war Anfang fünfzig, aber sah aus wie Mitte siebzig. Chris schätzte, dass er mindestens ein bis zwei Schachteln Zigaretten pro Tag rauchte. Er war grundsätzlich schlecht gelaunt und liebte es Verfehlungen an die Hausverwaltung zu melden oder selbst zu ahnden. Keiner im Haus mochte ihn. Als vor drei Jahren seine Frau nach schwerer Krankheit verstarb, wurde er noch unfreundlicher. Manchmal glaubte Chris, dass sich Herr Hofmeister den ganzen Tag im Treppenhaus aufhielt, da er ihn jedes Mal traf, wenn er das Haus verließ oder nach Hause kam. Als Chris die Treppe hinabstieg sah er schon von weitem, dass er gleich wieder einen Einlauf bekommen würde. Mal war es die ungenügende Mülltrennung, mal die nicht rechtzeitig durchgeführte Treppenhausreinigung und mal ein falsch angeschlossenes Fahrrad. Irgendetwas fiel ihm immer ein. Diesmal hatte er aber keine Lust und so beschleunigte er seinen Schritt, grüßte den Hausmeister im Vorbeigehen und rannte schon fast zur Haustür. Hinter sich hörte er Herrn Hofmeister etwas rufen, doch da war er schon auf der Straße und ging mit schnellen Schritten in Richtung Bushaltestelle. Chris schaute auf seine Armbanduhr und bemerkte, dass er sich etwas beeilen musste, wenn er den Bus nicht verpassen wollte. In der ersten Stunde schrieben sie heute eine Mathearbeit und da wollte er nicht zu spät kommen. Mathe war nicht sein Lieblingsfach und er hatte ein wenig Angst. Eigentlich hatte er gar kein richtiges Lieblingsfach. Er ging auch nicht wirklich gern zur Schule. Beim Blick auf seine Armbanduhr musste er zwangsläufig an seinen Großvater denken, der ihm kurz vor seinem Tod diese Uhr geschenkt hat. Sie war sehr alt und musste noch von Hand aufgezogen werden. Sie war vergoldet und das Lederarmband müsste eigentlich ausgetauscht werden, da sie schon an einigen Stellen kaputt war und Löcher hatte. Aber es war das letzte Andenken an seinen Großvater. Er starb vor fünf Jahren nach schwerer Krankheit. Zuletzt lebte er in einem Pflegeheim. Seine Mutter und er besuchten ihn so oft sie konnten. Sie mussten dafür eine halbe Stunde mit dem Bus in die nächste Stadt fahren, da seine Mutter kein Auto besaß. Wenn sie abends putzen ging, dann hatten sie keine Zeit ihn zu besuchen. Dafür fuhren sie am Wochenende an beiden Tagen zu ihm. In den letzten Wochen konnten sie sich kaum noch mit ihm unterhalten. Er schlief fast die ganze Zeit. Als er letztlich starb war seine Mutter fast eine Woche krank. Sie trank fast jeden Tag mehrere Flaschen Wein und Korn. Chris erinnerte sich, dass er seine Mutter fast unentwegt weinen sah. Chris fing damals an, sich um den Haushalt zu kümmern. Er ging einkaufen, kochte, putze und abends brachte er seine Mutter sogar ins Bett. Seine Schulnoten wurden damals immer schlechter. Fast wäre er nicht in die nächste Klasse versetzt worden. Seitdem kämpft er sich durch die Schule. Als er nun auf die Uhr schaute, bemerkte er, dass sich die Zeiger gar nicht bewegt hatten. Sie war wieder stehengeblieben. Die Bushaltestelle war noch dreihundert Meter entfernt und er sah am Ende der Straße den Bus gerade kommen. Das wurde eng. Er begann zu rennen.
Chris war völlig außer Atem, als er endlich den Bus erreichte. Sein Kopf war feuerrot und sein Herz pumpte so sehr, dass er Angst bekam, einen Herzinfarkt bekommen zu können. Die letzten zwanzig Meter verspürte er sogar Panik, dass der Bus ohne ihn losfahren würde, doch letztlich schaffte er es zur vorderen Tür und wollte gerade den Bus besteigen, als er verwundert stehen blieb. Hinter ihm auf der Bank der Bushaltestelle saß seine Mitschülerin Lea. Wieso saß sie völlig entspannt und spielte gelangweilt auf ihrem Smartphone? Sie blickte nicht mal auf und schien ihn gar nicht zu bemerken. Obwohl die beiden seit der Grundschule zusammen zur Schule gingen, haben sie seit der fünften Klasse keine zwei zusammenhängenden Sätze miteinander gewechselt. Chris wollte sie gerade darauf hinweisen, dass ihr Schulbus vor ihnen stand, doch dann erkannte er seinen Irrtum und blieb stumm neben ihr stehen und bestieg den wartenden Bus nicht. Der Bus war nämlich nicht sein Schulbus, sondern der reguläre Linienbus. In diesem Moment schloss der Busfahrer die Tür und fuhr los. Chris pumpte immer noch, als wäre er gerade einen Marathon gelaufen. Er war nur froh, dass Lea ihn immer noch nicht bemerkte und somit nicht sah, wie feuerrot er vor ihr stand. Chris drehte sich zur Seite und schaute in die Richtung aus der sein Schulbus kommen würde. Keine fünf Meter vor ihm stand nun Frederik, der zusammen mit seinem Kumpel Michel lachend auf ihn zukam. Sie haben ganz offensichtlich mitbekommen, wie Chris eben zum Bus gelaufen war und nun immer noch mit rotem Gesicht unbeholfen dastand. In Amerika wäre Frederik Quarterback der Schulmannschaft geworden. Er war mit Abstand der sportlichste in der Klasse und sah dazu noch sehr gut aus. Alle Mädchen waren verliebt in ihn. Michel war sein bester Kumpel und kam vor einem Jahr in ihre Klasse, nachdem er sitzengeblieben war. Er sah bei weitem nicht so gut aus, wie Frederik. Stattdessen war Michel ein echtes Kraftpaket. Seinem Vater gehörte das Fitness-Studio im Ort und obwohl er erst 16 Jahre alt war, trainierte er fast jeden Tag nach der Schule zwei Stunden an den Geräten. Rein körperlich würde er schon als volljährig durchgehen. Seine schulischen Leistungen hingegen waren eher unterdurchschnittlich.
„Na, du Sportskanone. Trainierst du für Olympia?“, während er das sagte, grinste Michel und haute Chris mit der Faust auf den Oberarm. Chris rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Stelle, an der er getroffen wurde. Obwohl Chris ein paar Zentimeter größer war als Michel, war er eingeschüchtert und wirkte zwei Köpfe kleiner.
„Du meinst wohl die Paralympics, wie? Die fette Sau ist nicht nur fett, sondern auch noch doof. Oder bist du einfach nur blind? Wieso rennst du dem falschen Bus hinterher?“, ergänzte Frederik mit einem abfälligen Blick auf Chris.
Chris drehte sich um und schaute in die andere Richtung. Doch die beiden Jungs dachten gar nicht daran, ihn in Ruhe zu lassen.
„Hey, du Spacko. Ich rede mit dir. Wieso drehst du dich weg? Hat dir deine Mama keine Manieren beigebracht.“ Mit diesen Worten schupste ihn Frederik von hinten. Chris drehte sich wütend um und ballte seine Fäuste. Michel bemerkte, wie sich Chris kampfbereit machte und wies Frederik darauf hin.
„Was ist denn mit dir los? Wirst du etwa mutig? Willst du dich mit mir etwa schlagen? Bist so ein kleiner, feiger Schläger, oder was? Aber was kann man schon von einem Jungen mit so einer Mutter erwarten? Ist deine Mutter nicht eine Trinkerin? Die hängt doch an der Flasche, oder? Ich wette, dass die auch für Geld die Beine breitmacht? Was kostet denn deine Mutter für eine Stunde?“, Michel lachte ihn aus.
„Sag mal spinnst du? Willst du dir was wegholen? Die treibt es doch mit jedem!“, widersprach ihm Frederik lachend.
Chris kamen die Tränen. Er hätte es sich so sehr gewünscht, dass er den Mut fände, den beiden Paroli zu bieten. Er war zwar größer, aber ihm fehlte trotzdem die Kraft und außerdem würde es seine Mutter nicht wollen, dass er sich mit anderen prügele. Egal was sie zu ihm sagen, sie wollten ihn eh nur provozieren, um ihn anschließend gemeinsam zu verprügeln. So schluckte er seinen Stolz runter und ging einige Meter zur Seite und freute sich, in der Ferne den Schulbus zu sehen.
Er stellte sich bereit und wartete, dass der Bus vor ihm hielt. Da der Bus bereits zwei Haltestellen angefahren hatte, war er gut gefüllt. Chris ließ Lea den Vortritt und zeigte dem Busfahrer seine Fahrkarte. Der Busfahrer schaute nicht hin, da er Chris so wie die anderen Kinder seit Jahren kannte. Trotzdem zeigte Chris jedes Mal ganz vorbildlich seine Fahrkarte vor. In der dritten Reihe sah Chris eine freie Bank und war erleichtert, dass er sich zu niemand anderem setzen musste. Chris hatte kaum Freunde und war am liebsten alleine. Er wollte sich gerade in die Bank setzen, als er unsanft von hinten weitergeschoben wurde.
„Denk nicht mal dran, Alter. Das sind unsere Plätze!“, wies ihn Michel an. Chris blieb nichts weiter übrig, als resigniert weiterzugehen. Aufgrund seiner Größe konnte er bis nach hinten schauen und sah, dass es nur noch wenige freie Einzelplätze gab. Gerade setzte sich Lea zu ihrer besten Freundin Emma, flüsterte ihr etwas ins Ohr, schaute zu Chris und lachte. Emma kicherte ebenfalls, dann nahm sie ihr Handy und zeigte ihrer Freundin etwas auf ihrem Smartphone. Emma und Lea hatten beide blonde Haare, wobei die Haare von Emma übertrieben hell gefärbt waren. Ihr Vater war steinreich und das betonte sie auch bei jeder Gelegenheit. Sie verabscheute Armut und ließ das Chris bei jeder sich bietenden Möglichkeit auch spüren. Die Klugheit hatte sie aber nicht von ihrem erfolgreichen Vater geerbt. Da kam sie eher nach ihrer Mutter. Als ehemaliges Model sah sie zwar immer noch sehr gut aus, aber konnte einen Apfel kaum von einer Birne unterscheiden. Emma war das egal. Ihr Vater besaß so viel Geld, dass das noch für drei weitere Generationen reichen würde. Der Bus fuhr an und Chris musste sich an einer Rückenlehne festhalten, um nicht hinzufallen. Er blickte sich im Bus um. Niemand sah ihn an. Alle schauten nur auf ihre Smartphones. Wenn sich zwei Sitznachbarn doch mal unterhielten, dann zeigten sie sich gegenseitig irgendwelche Filme, Spiele oder Videos auf dem Handy. Schließlich sah Chris in der vorletzten Bank Torben, der ihm zuwinkte und andeutete, dass neben ihm ein Platz frei war. Chris ging bis nach hinten durch und setzte sich neben ihn. Torben war das, was einem Freund noch am Ehesten kam. Beide waren Außenseiter und hatten in der Klasse im Grunde genommen nur sich beide. Dabei hatten sie nicht mal gemeinsame Interessen. Torben war mehr als einen Kopf kleiner als Chris, ebenfalls total unsportlich, sehr schmächtig und im klassischen Sinne ein Nerd. Er war hochintelligent und hatte schon eine Klasse übersprungen. Torben hatte immer sehr gute Noten und war dennoch weder bei den Lehrern noch bei den Mitschülern beliebt. Das lag wohl daran, dass er immer alles besser wusste. Wenn er sich mal im Unterricht meldete, dann nur, um seinen Lehrer oder seine Mitschüler zu verbessern. Die übrige Zeit saß er einfach nur da und blickte aus dem Fenster oder spielte auf seinem Handy. Auch in der Pause saß er die meiste Zeit alleine oder er saß neben Chris. Aber dann schwiegen sie auch die meiste Zeit, da sie sich nichts zu erzählen hatte. Chris hatte ihm einmal versucht von seiner Mutter zu erzählen, aber Torben konnte nichts mit Menschen anfangen und empfand keine Empathie. Er hingegen wollte mit Chris einmal über ein physikalisches Problem diskutieren, dass er zu lösen versuchte, aber Chris verstand nur Bahnhof.
„Du stinkst.“, sagte Torben nachdem sich Chris neben ihn gesetzt hatte. Das war aus seinem Munde aber keine Aufforderung zu gehen, sondern lediglich die Beschreibung der Situation. Chris sagte nichts und schaute aus dem Fenster.
„Hast du das in Südamerika mitbekommen?“ Chris war ganz erschrocken, als ihn Torben plötzlich erneut ansprach und ein Gespräch beginnen wollte. Er schaute zu ihm und fragte:
„Was meinst du?“
„Na, da soll es doch dieses eigenartige Virus geben, zumindest glauben die Wissenschaftler von der WHO, dass es ein neues Virus ist, da es zu unerklärlichen Todesfällen gekommen ist.“
„Was ist die WHO?“, hinterfragte Chris. Doch Torben gab keine Antwort mehr. Er hatte das Interesse verloren, da Chris ihm mal wieder intellektuell nicht folgen konnte. Den Rest der Fahrt verbrachten die beiden schweigend nebeneinander.
Als sie nach dreißig minütiger Busfahrt die Schule erreichten, warteten die beiden bis alle anderen den Bus verlassen hatten, eh sie aufstanden und den Bus als letzte verließen. Auf sie warteten zwei völlig unterschiedliche Tage. Während Torben sich die meiste Zeit des Tages langweilen würde, die Mathearbeit bereits nach zwanzig Minuten komplett richtig abgeben würde und die restlichen Stunden einfach nur abwartete bis der Gong, das Schulende bedeutete, würde Chris in jeder Stunde Panik schieben, da er in der Regel nur die Hälfte verstand. Die Matheklausur würde er vermutlich mal wieder verhauen. Er hoffte auf eine Vier minus, da es sonst passieren könnte, dass er dieses Jahr eine Fünf im Zeugnis bekäme. Zusammen mit den Fünfen in Englisch und Geschichte, würde er dann das Schuljahr wiederholen müssen. Insgeheim hoffte er sogar darauf, da er dann neue Mitschüler bekäme und er wäre dann nicht nur der Größte, sondern vielleicht auch der Älteste. Mit Glück würden ihn seine neuen Mitschüler dann in Ruhe lassen. Aber seine Mutter wäre tief enttäuscht von ihm, hoffte sie doch darauf, dass er bald die Schule abschließen würde, um dann eine Ausbildung zu beginnen und mit dem Gehalt, dann auch etwas zum Unterhalt der Familie beisteuern könnte. Deshalb musste er seine eigenen Befindlichkeiten zurückstecken und sich in der Schule durchbeißen. Im letzten Jahr hatten sie im Sport Basketball gespielt. In diesem Halbjahr hatte er das erste Mal eine Zwei in Sport bekommen, da er mit seiner Körpergröße alle anderen überragte und ihm kaum einer den Ball abnehmen konnte. Er schaffte es auch ganz gut Körbe zu werfen. Seine Mutter hatte Tränen in den Augen, als er ihr sein Zeugnis gezeigt hatte.
In der letzten Stunde hatte er Unterricht bei seinem Klassenlehrer Herrn Kehling. Er war 45 Jahre alt, wählte aus Überzeugung die Grünen, aber liebte Currywurst mit Pommes, was Chris als Widerspruch an sich empfand, da in seiner Vorstellung alle Grünenwähler automatisch Vegetarier waren. Sein Lehrer war total unsportlich, sehr auf Harmonie bedacht und hatte immer wieder Schwierigkeiten sich in der Klasse durchzusetzen. Er war kleiner als Chris, trug immer Wollpullover, selbst im Sommer und seine Haare haben vermutlich noch nie einen Kamm gesehen. Eine Viertelstunde vor Ende klappte er das Arbeitsbuch zu, nahm die Brille ab und setzte sich leger auf das Pult.
Dann holte er sein Smartphone heraus und zeigte es der Klasse. Da der Lehrer lediglich dasaß und kein Wort sagte, begangen sich die Schüler verwirrt anzuschauen. Der eine oder andere kicherte oder flüsterte einzelne Wörter, die Chris nicht verstand. Auch Chris war irritiert und wusste nicht, was sein Lehrer mit seiner Geste sagen wollte. Dann erklärte er sich endlich seinen Schülern:
„Das ist ein Smartphone. Ihr braucht nicht zu tuscheln, ich weiß, dass ihr wisst, was das ist. Wahrscheinlich gibt es niemanden von euch, der kein eigenes Smartphone besitzt, oder?“
Frederik drehte sich grinsend zu Chris um und sagte dann so laut, dass alle ihn hören konnten: „Unser Riesenbaby hat kein Smartphone, oder? Komm zeig es uns, wenn du eins hast.“
Alle Schüler drehten sich grinsend zu ihm um. Chris wusste nicht, wohin er schauen sollte. Alle schauten ihn an. Die meisten lachten, einige schauten auch etwas mitleidend, andere eher abfällig. Lediglich Torben schien es nicht zu interessieren und spielte auf seinem Handy. Der Lehrer beendete die Demütigung, indem er, ohne auf Chris einzugehen, fortfuhr:
„Studien belegen, dass Jugendliche in eurem Alter mehr Stunden am Tag mit dem Handy verbringen, als sie in Büchern lesen, sich mit Gleichaltrigen unterhalten und Zeit an der frischen Luft verbringen. Wenn die Tendenz so weitergeht, dann werdet ihr in wenigen Jahren mehr Zeit am Handy verbringen, als ihr nachts mit schlafen verbringt.“
„Schlaf wird eh überbewertet.“, rief Michel aus der zweiten Reihe dazwischen und erntete Großes Gelächter.
„Sehr witzig. Hast du wieder die Lacher auf deiner Seite? Ich würde mich freuen, wenn du so viel Energie im Unterricht auf den Lehrstoff verwendet würdest, wie in deine flachen Witze. Dann könnte am Ende sogar etwas aus dir werden.“
Dieses Mal lachten die anderen nicht mit, sondern über Michel. Der mochte das gar nicht, und schlug seinem Sitznachbarn auf den Hinterkopf, der sofort aufhörte zu lachen.
„Nun Spaß beiseite. Der Grund, warum ich euch davon erzähle ist folgender: Eure Klasse wurde ausgewählt, an einem Experiment teilzunehmen. Zusammen mit zwei anderen Schulklassen aus Berlin und einer aus der Nähe von Köln werden wir schon nächste Woche eine Klassenreise machen.“
„Und was hat das mit unseren Smartphones zu tun, Herr Kehling?“, fragte Martha, die Klassensprecherin, aus der ersten Reihe. Chris war sofort wieder hellwach, da er heimlich in Martha verliebt war. Leider sah das Martha gänzlich anders. Zwar beteiligte sie sich nie daran, wenn Chris von den anderen in der Klasse geärgert wurde, aber wirklich zu mögen schien sie ihn auch nicht.
„Das Besondere an dieser Klassenreise und Inhalt dieses Experiments ist es, dass ihr ohne eure Smartphones diese Reise antreten werdet.“
Stille. In diesem Moment hätte man eine Stecknadel fallen gehört.
„Verzeihen Sie,“, nun war es Lea, die den Lehrer ansprach, „ich habe eben verstanden, dass sie meinten, wir würden ohne unsere Smartphones fahren.“
„Richtig.“
„Aber das geht doch nicht.“ Nun war Leben in der Klasse. Leas beste Freundin Emma meldete sich zu Wort. „Der Besitz und die Verwendung eines Smartphones ist mein grundbuchliches Lebensrecht.“
„Wie bitte?“, der Lehrer war sichtlich irritiert. Da ergriff Torben das Wort:
„Du meintest sicherlich, dass das dein Grundrecht sei, aber ein Handy zu besitzen ist kein Grundrecht.“
„Was weißt du denn schon, dass steht schließlich schon in der Verfügung.“
„Verfassung. Und nein, das steht da nicht.“ Er widmete sich wieder seinem Handy und die Schüler blickten erbost und fragend zugleich zum Lehrerpult. Herr Kehling stand auf und ging durch das Klassenzimmer, er nahm ein beliebiges Handy eines Schülers und zeigte es allen anderen.
„Ihr alle seid süchtig. Nicht nach Zigaretten, Alkohol oder Drogen. Das hoffe ich zumindest. Aber ihr seid süchtig nach euren Handys. Ihr zeigt die typischen Entzugserscheinungen, wenn ihr mal eine Stunde das Handy nicht zur Hand habt. Wenn Ihr nicht überprüfen könnt, wer euch über WhatsApp, Telegramm oder Instagram geschrieben oder ein Video gepostet hat. Und genau aus diesem Grund werden wir eine Woche an einem Ort gehen, zu dem ihr eure Handys nicht mitnehmen dürft.“
„Das werden unsere Eltern nicht zulassen. Mein Vater wird sie verklagen“, sagte Henry aus der letzten Reihe. Chris drehte sich zu ihm um. Früher waren sie mal beste Freunde gewesen. Doch dann ist da diese eine Sache passiert und seitdem redeten sie nicht mehr miteinander.
„Ihr werdet es nicht glauben, aber all eure Eltern haben diesem Projekt bereits zugestimmt und waren sogar sehr begeistert von der Idee. Wobei ich bei einigen nicht genau weiß, ob es ihnen wichtiger war, dass ihr euer Handy nicht mitnehmen dürft oder einzig die Tatsache, dass sie euch eine Woche nicht sehen müssen. Zwei Eltern haben sogar explizit danach gefragt, ob wir mit euch nicht zwei Wochen wegfahren könnten.“
Eine Woche von zu Hause aus weg? Chris konnte nicht glauben, dass seine Mutter dem Projekt zugestimmt hatte. Wer sollte sich dann in der Zeit um den Haushalt kümmern und wer sollte ihre Schicht beim Putzen übernehmen, wenn sie mal wieder kurzfristig ihre Arbeitszeit im Supermarkt verlängern oder verschieben müsste. Aber vielleicht würde er auch gar nicht mitfahren müssen, da er ja ohnehin kein Handy besaß. Was würde er schon zu dem Experiment beitragen können? Er beschloss gleich im Anschluss an die Stunde seinen Lehrer anzusprechen.
Mit dem Pausenklingeln wurde das Ende der Stunde und des Schultages verkündet. Alle Schüler sprangen fast zeitgleich auf, packten ihre Sachen und verließen fast fluchtartig das Klassenzimmer. Zumindest fast alle. Eine kleine Gruppe Mädchen um Emma und Lea eilten zu ihrem Lehrer, bevor dieser das Klassenzimmer verlassen konnte. Natürlich ging es um den Kern des Experimentes, dass alle ihre Smartphones würden zuhause lassen müssen. Chris beobachtete, wie die Mädchen ihren Klassenlehrer umringten, ihn mit großen Kulleraugen anschauten, sich mit ihren Brüsten an ihn schmiegten. Chris fand ihr Verhalten erbärmlich und wäre am liebsten aus dem Klassenzimmer gelaufen, doch schließlich wollte er mit seinem Lehrer ebenfalls über das bevorstehende Experiment sprechen. Mit dem Unterschied, dass er gar nicht erst mitwollte. Die Aussicht eine Woche weg von zu Hause zu sein, machte den Mädchen nichts aus. Ganz im Gegenteil. Sie malten sich schon aus, wie sie abends Party machten, Alkohol tranken und mit den Jungs rummachten. All das interessierte Chris überhaupt nicht. Er dachte nur an seine Mutter und wollte sie nicht alleine lassen. Ganz kalt ließ ihn jedoch der Gedanke doch nicht, dass er mit Martha rummachen würde. Ihm war aber bewusst, dass es nie dazu kommen würde.
Lea bemerkte, dass Chris vor der Gruppe stand und die Mädchen anstarrte.
„Ey, du Spasst, was guckst du so bescheuert? Verpiss dich!“, raunte Lea ihn an. Ohne auf seine Antwort zu warten, drehte sie sich wieder um und versuchte das Handyverbot zu verhindern.
Chris schlürfte nach draußen. Der Flur war fast leer. Zu seiner Rechten sah er zwei Schüler aus der siebten Klasse, die sich um ein Buch stritten. Von links kam gerade ein Lehrer, um die beiden Streithähne zu trennen. Er schnappte den einen links und den anderen rechts und führte sie nachdrücklich zum Ausgang. Vor sich hin trottend folgte er den dreien. Er kam an den Schließfächern der Schüler vorbei. Er schaute gar nicht genau hin, bemerkte aber aus dem Augenwinkel, dass zwei Schüler an einem Fach standen und sich leise unterhielten. Er ging ohne aufzublicken an ihnen vorbei. Als er an der Tür zum Putzraum vorbeikam, wurde die Tür plötzlich genau vor ihm aufgerissen. Michel stand grinsend vor ihm. Er drehte sich erschrocken um und erkannte nun, dass die beiden Schüler am Schließfach Frederik und David waren. David war ebenfalls in Chris‘ Klasse. Ohne zu zögernd griffen sie seine Arme links und rechts und drückten ihn nach hinten in den kleinen Raum mit den Putzutensilien. Michel half dabei. Da der kleine Raum kaum zwei Quadratmeter groß und voller Eimer, Besen und sonstigen Putzmittel war, passte Chris kaum in den Raum. Die drei schoben ihn nach hinten und drückten die Tür zu. Da es nur von außen einen Lichtschalter gab, war es in dem kleinen Raum stockdunkel. Einzig der kleine Spalt unter der Tür brachte einen kleinen Lichtschein. Die drei hielten die Tür von außen zu und Chris hörte, wie etwas unter den Türgriff geschoben wurde. Er ruckelte an der Türklinke und versuchte die Tür aufzudrücken. Doch nichts geschah. Der Stuhl, oder was auch immer von außen vor die Tür gestellt wurde, verhinderte, dass er die Türklinke runterdrücken konnte. Chris begann mit den Händen gegen die Tür zu hämmern. Draußen hörte er die Drei lachen und ihn verhöhnen. Er bemerkte wie ihm die Tränen kamen und wie Panik in ihm aufstieg. Eine seiner größten Ängste waren kleine, enge, dunkle Räume. Und genau dort befand er sich gerade. Er schlug wie wild gegen die Tür und begann laut um Hilfe zu schreien. Die Panik nahm zu und er bekam Atemnot. Das Reinigungsmittel roch sehr streng und brannte in seinen Augen und seiner Lunge. Das Lachen der Jungs vor der Tür hatte aufgehört. Nun hörte er, wie sie wegliefen. Die Türklinke ließ sich weiterhin nicht bewegen. Was, wenn nun alle schon das Schulgebäude verlassen hatte? Der Hausmeister reinigte die Flure in der Regel immer erst morgens vor dem Unterricht. Was, wenn er nun in diesem Raum bis morgen früh ausharren müsste? Das würde er nicht überleben. Was würde seine Mutter denken, wenn er nicht nach Hause kommen würde? Und heute sollte er doch noch für sie putzen gehen. Würde seine Mutter den Job verlieren, wenn er den Termin verpassen würde? Das konnte er ihr nicht antun. Er klopfte von innen an die Tür und horchte dann, ob er jemanden hören könnte. Stille. Dann hörte er, wie plötzlich eine Gewehrsalve in die Stille krachte. Es folgte ein zweites Gewehr. Schreie. Auf den Boden aufschlagende Körper. Eine weitere Gewehrsalve. Chris kauerte sich hin und setzte sich dadurch versehentlich in einen Eimer. Der Eimer war voll und so saß er plötzlich in Wasser. Das war ihm aber jetzt egal. Er hielt sich mit den Händen die Ohren zu. Dann fing er wieder an zu weinen. Er versuchte die Schießerei auf dem Flur auszublenden.
Auf einmal wurde es plötzlich ganz hell. Er hatte den Eindruck, als wenn ein Scheinwerfer auf ihn gerichtet wurde. Langsam gewöhnte er sich an das Licht und erkannte, dass die Tür geöffnet worden war und sein Lehrer in der Tür stand. Ängstlich und übervorsichtig versuchte Chris aufzustehen. Da er noch in dem Eimer saß, war das für ihn gar nicht so einfach. Sein Lehrer half ihm und Chris trat hinaus auf den Flur. Unsicher schaute er sich um. Er konnte weder Leichen, noch Blut oder Einschusslöcher erkennen. Stattdessen sah er seinen Lehrer und die Gruppe um Lea und Emma vor sich stehen. Keiner von Ihnen schien die Schüsse gehört zu haben. Hatte er wieder einen dieser Träume gehabt? Emma erkannte, dass sein Po ganz nass war und vermutete, dass er sich eingenässt hatte. Alle lachten ihn aus. Chris wischte sich die Tränen aus den Augen und ging wortlos zum Ausgang. Hinter ihm hörte er die Mädchen lachen und begann erneut zu weinen.
Den Schulbus hatte er, wie erwartet, verpasst. Der nächste Bus fuhr erst in einer Stunde. Er wusste aber, dass es noch einen Linienbus aus der Innenstadt gab. Bis in die Innenstadt würde er aber ebenfalls eine halbe Stunde benötigen und somit kaum Zeit einsparen. Er dachte an das Geld, dass ihn seine Mutter heute Morgen zugesteckt hatte. In der Nebenstraße gab es einen Imbiss und er könnte die Zeit nutzen, um sich eine Currywurst mit Pommes zu holen. Sein Magen knurrte vor Hunger. Doch dann musste er an den Inhalt des Kühlschranks denken und er wusste, dass er das Geld dringender für den Einkauf benötigte und so ignorierte er seinen Hunger, ging zur Bushaltestelle und wartete. Er hätte die eine Stunde dafür nutzen können, um mit den Hausaufgaben zu beginnen oder Vokabeln zu lernen, doch stattdessen saß er einfach nur da und gab sich seinen Tagträumen hin.
Drei Stunden später betrat er die Wohnung, ging in die Küche und räumte den Einkauf in den Kühlschrank. Dann schälte er Kartoffeln, wusch das Gemüse und kochte für sich und seine Mutter Essen. Den Teller für seine Mutter stellte er in den Kühlschrank, so dass sie ihn heute Abend nach der Arbeit in der Mikrowelle aufwärmen konnte. Zum Nachtisch hatte er sich einen großen Vanillepudding gekauft. Er liebte Vanillepudding. Mit geschlossenen Augen genoss er jeden einzelnen Löffel. Anschließend räumte er die Küche auf und putzte das Badezimmer. Danach bezog er die Betten neu und brachte die leeren Flaschen Alkohol aus der Abstellkammer zum Altglas Container. An einem normalen Tag hätte er jetzt etwas Zeit für seine Hausaufgaben gehabt, doch heute musste er sich beeilen rechtzeitig zum Haus der Schumachers zu kommen, um dort zu putzen. Seinen Nachbarn hatte er in der Pause auf dem Schulhof getroffen und den gemeinsamen Kinobesuch abgesagt. Er holte sein Fahrrad aus dem Keller und fuhr hin. Chris hoffte, dass die Schumachers nicht da sein würden. Sie waren sehr alt und er fand die beiden geheimnisvoll und ein wenig unheimlich. Herr Schumacher war bis vor zehn Jahren Pastor in der Nachbargemeinde. Seine Frau hat nie wirklich gearbeitet. Beide waren inzwischen achtzig Jahre alt, sahen aber mindestens zehn Jahre älter aus. Beide unternahmen täglich ganz lange Spaziergänge oder hielten sich in ihrem großen Garten auf, so dass seine Mutter oder er in der Regel alleine waren, wenn sie das Haus putzten.
Chris schloss die Haustür auf und rief in das Haus hinein. Er bekam keine Antwort. Das Haus bestand aus zwei Etagen. Im Erdgeschoss befand sich zunächst der große Eingangsbereich mit der Treppe ins obere Stockwerk. Links ging es in das riesige Wohnzimmer mit ganz vielen alten Gemälden an den Wänden und einer Glasfront, die zur Terrasse und den angrenzenden Garten zeigte. Chris hoffte, dass der Kamin zuletzt nicht genutzt wurde, da er alleine für die Reinigung eine halbe Stunde Zeit einplanen musste. Auf der rechten Seite ging es in das Esszimmer und die angrenzende Küche. Um die Küche kümmerte sich die Köchin, die das Ehepaar versorgte. Sie kümmerte sich auch um die Einkäufe. Im hinteren Bereich des Hauses befanden sich dann noch die Vorratskammer und eine Gäste Toilette. Im oberen Geschoss befanden sich die Schlafräume, das ehemalige Büro und das Badezimmer. Dort durfte er aber nicht hinaufgehen. Seine Aufgabe und die seiner Mutter bestand lediglich im Putzen des Wohnzimmers inklusive des großen Panoramafensters, des Kamins und des Esszimmers. Zusammen waren die beiden Räume aber schon fast so groß wie ihre Wohnung. Chris rief noch einmal und nachdem er keine Antwort erhielt ging er in die Küche, um zu schauen, ob die Köchin da war. Nichts. Vom Wohnzimmer aus konnte er den Garten überblicken. Er sah, wie der Gärtner gerade die Hecken schnitt, konnte aber das Ehepaar nirgends sehen. Dann ging er zur Treppe und horchte, ob er im oberen Geschoss jemanden hören konnte. Nichts. Es war still im Haus. Lediglich das monotone Ticken der großen Standuhr neben der Treppe hörte er. Obwohl es ihm verboten war, begann er die Treppe ins obere Stockwerk zu besteigen. Er hatte die oberste Stufe fast erreicht, als ein lauter Gong die volle Stunde anzeigte. Er wäre fast die Treppe rücklings runtergefallen, so sehr erschrak er. Sich auf seine Aufgabe besinnend, stieg er die Treppe wieder hinunter, holte den Staubsauger und den Wisch Mob aus der Abstellkammer und begann mit der Reinigung. Heute ließ er sich viel Zeit, da er in Gedanken die ganze Zeit bei der bevorstehenden Klassenfahrt war. Was würden die Mitschüler für Gemeinheiten für ihn aushecken? Und wer würde dafür sorgen, dass seine Mutter morgens rechtzeitig aufstand und abends nicht mehr als eine Flasche Wein trank?
Nach fast zwei Stunden hatte er alles geputzt und die Utensilien wieder sicher verstaut. Er hielt die Türklinke der Haustür schon in der Hand und zögerte die Tür zu öffnen. Er drehte sich nochmal um und schaute die Treppe hinauf. Er rief erneut ins Haus und nachdem wieder keine Reaktion kam, stieg er langsam die Treppe hinauf.
Als er oben ankam, fiel ihm als erstes der Teppichboden auf. Er ging auf ihm wie auf Watte. So weich und gleichzeitig so fest war er. Er sah, dass der Flur von einer Seite des Hauses bis zum anderen reichte. Sie wurden jeweils von einem Fenster begrenzt. Das linke Fenster zeigte zum Garten hinaus und das rechte zeigte zur Straße. Vom Flur zur linken Seite gingen insgesamt drei Türen ab und auf der rechten Seite nur zwei Türen. Er bewegte sich ganz vorsichtig und schaute noch einmal zur Haustür hinunter bevor er sich langsam nach links bewegte. Er ging zur ersten Tür und öffnete sie vorsichtig. Vor ihm lag das Badezimmer. Ganz in weiß, mit zwei großen Waschbecken, einer