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Claas ist ein junger Mann mit einer besonderen Wahrnehmung seiner Umwelt. Als sein Onkel in der gemeinsamen Wohnung ermordet wird, fällt der Verdacht auf ihn.
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Seitenzahl: 310
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Teil eins
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Teil zwei
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
„Junge, du musst was essen“, sagte die alte Frau. „Du fällst mir ja noch vom Fleisch. Hier, nimm ein Stück Brot. Ist zwar von gestern, aber man kann es noch essen.“ Sie reichte ihm ein Stück Weißbrot.
Claas blickte hinauf in das Gesicht der alten Frau, die vor ihm stand. Sie sah ungepflegt aus und er wusste, dass die Frau, die sich ihm als Ute vorgestellt hatte, erst fünfzig Jahre alt war. Ihr Gesicht war faltig und wettergegerbt. Sie trug ein Kleid, das schon mehrfach notdürftig geflickt wurde und, obwohl es weiterhin sehr warm war, lange Kniestrümpfe. Dazu trug sie zwei unterschiedliche Paar Schuhe. Er hatte sie danach gefragt und sie erklärte ihm, dass die Sohle des rechten Schuhs durchgelaufen war und sie den kaputten Schuh gegen einen anderen Schuh ausgetauscht hatte, den sie in einem Mülleimer fand. Claas verstand das nicht. Wieso warf jemand nur einen einzelnen Schuh weg? Und wieso ginge sie nicht einfach in ein Geschäft, um sich ein neues Paar zu kaufen? Daraufhin hatte sie ihn nur angeschaut und über den Kopf gestreichelt. Er mochte es nicht, wenn ihm jemand über den Kopf streichelte. Überhaupt mochte er es nicht, wenn man ihn berührte, selbst sein Onkel durfte ihn nicht anfassen. Niemand durfte das. Das mochte er einfach nicht. Das müsse man doch verstehen.
„Junge, hörst du mich? Nimm bitte das Brot. Du musst was zu dir nehmen“, sagte sie erneut. Wieder dieser Gesichtsausdruck. Er hatte seine Karten nicht dabei. In der Wohnung seines Onkels hatte er Karten mit Gesichtern von Menschen und was die Ausdrücke bedeuteten. Lächeln, Weinen, verärgert, nachdenklich. Wieso hatte er die Karten nicht mitgenommen? Aber er wollte nicht wieder zurück in die Wohnung gehen. Fieberhaft versuchte er sich zu erinnern, was der Gesichtsausdruck bedeutete.
„Bist du böse mit mir?“, fragte er unsicher.
„Nein, wieso sollte ich dir böse sein? Ich mache mir Sorgen um dich. Du musst doch was essen und was trinken. Du bist neu auf der Straße und da musst du jede Gelegenheit wahrnehmen, wenn du was zu essen bekommst. Ich habe vorhin hinter dem Supermarkt in einem Container weggeworfenes Brot von gestern gefunden. Eigentlich wollte ich noch mehr mitnehmen, da lagen auch noch Kuchenstücke. Da lief mir schon das Wasser im Munde zusammen. Wann habe ich das letzte Mal Kuchen gegessen?“ Sie schaute sehnsüchtig in den Himmel. Claas folgte ihrem Blick. Er sah nur einen wolkenlosen Himmel. Was sah sie da?
„Ich weiß nicht, wann du das letzte Mal Kuchen gegessen hast. Das ist auch eine unlogische Frage. Woher soll ich das denn auch wissen? Wir kennen uns doch erst seit ein paar Tagen.“
„Ach, Kleiner. Du bist schon ein komischer Kauz.“
„Und wann hast du denn nun das letzte Mal Kuchen gegessen und warum hast du dir denn keinen Kuchen mitgenommen, wenn der dort doch lag?“
„Das muss Jahre her sein. Damals hat mein Joachim noch gelebt.“
„Wann ist er gestorben?“
„Das weiß ich noch ganz genau! Am siebzehnten Januar 2008 um 17:05 Uhr haben die Ärzte die Instrumente abgestellt und nur wenige Minuten später ist er gegangen!“ Eine Träne lief ihr über die Wange, doch sie wischte sie nicht weg.
„Wohin ist er gegangen?“
„Er ist gestorben. Man sagt das nur so.“
„Aber das stimmt dann ja nicht, da er nicht wirklich weggegangen ist. Wenn man stirbt, dann bleibt man liegen.“
„Du hast natürlich Recht.“
„Ich weiß es!“
„Was weißt du?“
„4976 Tage!“, antwortete Claas mit einem Triumphgefühl.
„Wie bitte?“
„So viele Tage sind seit dem siebzehnten Januar 2008 vergangen. Das bedeutet, dass du mindestens seit 4976 Tagen keinen Kuchen gegessen hast.“
„Wenn du das sagst.“
„Das ist eine lange Zeit. 9212 Tage lebe ich. Und du hast 4976 Tage keinen Kuchen gegessen. Mindestens 4976 Tage. Vielleicht ist es auch 5000 Tage her, dass du das letzte Mal Kuchen gegessen hast. Das ist viel.“
„Ja, das stimmt. Aber viel schlimmer ist, dass mein Mann schon so lange tot ist. Findest du nicht?“
„Mein Onkel ist auch tot. Menschen sterben. Das gehört dazu. Sie werden geboren und sie sterben. Warum hast du seitdem keinen Kuchen mehr gegessen?“
„Als mein Mann starb, habe ich angefangen zu trinken. Alkohol meine ich, bevor du fragst. Zuerst habe ich meine Arbeit und schließlich meine Wohnung verloren. Seit gut dreizehn Jahren lebe ich nun auf der Straße und da bekomme ich nicht oft die Gelegenheit, Kuchen zu essen.“
„Seit gut dreizehn Jahren ist eine sehr ungenaue Zeitangabe, die kann ich nicht in Tagen umrechnen. Wann war das denn genau?“
„Ich weiß es nicht mehr. Das ist auch egal.“
„Das ist nicht egal. Ich mag es nicht, wenn ich Aufgaben nicht lösen kann.“
„Tja, damit musst du leider leben.“
„Und warum hast du dir denn nun den Kuchen nicht genommen?“
„Der Besitzer vom Supermarkt kam plötzlich raus, hat mich gesehen und weggejagt.“
„Warum?“
„Weil man das in Deutschland Diebstahl nennt, wenn man den Müll klaut.“
„Aber was passiert mit dem Müll?“
„Der wird weggeschmissen. Frag nicht. Das ist nicht logisch. In anderen Ländern ist es verboten, Lebensmittel wegzuschmeißen und hier ist es verboten, weggeschmissene Lebensmittel zu klauen.“
„Du hast Recht!“
„Womit?“
„Das ist nicht logisch.“
Ute schaute Claas nachdenklich an und lächelte.
„Ich habe Hunger!“, sagte Claas auf einmal. Wortlos gab sie ihm das Brot aus ihrer Hand. Dann setzte sie sich zu ihm und gemeinsam schauten sie, von ihrer Bank an der Brücke aus, auf die Außenalster. In regelmäßigen Abständen kamen Spaziergänger und Jogger an ihnen vorbei. Doch kaum einer nahm Notiz von ihnen. Nach einiger Zeit legte Ute den Kopf auf seine Schulter und war eingeschlafen. Mit spitzen Fingern drückte er sie etwas zur Seite und schob sie von sich weg. Sie schlief weiter und lehnte sich gegen einen kleinen Mauervorsprung auf der anderen Seite. Nach einer Weile begann Claas zu frösteln. Die Sonne stand schon tief und hatte nicht mehr die Kraft wie noch vor einigen Wochen. Claas trug lediglich einen grauen Strickpullover über seinem Hemd, eine Jeans und weiße Turnschuhe. Beim Anblick seiner Turnschuhe wurde er nervös. Er drückte Ute noch ein Stück weiter zur Seite, was sie mit einem leisen Grummeln beantwortete. Er rieb mit seinem Finger am Schuh, um den Staub der letzten Tage abzuwischen. Claas mochte es nicht, wenn Dinge schmutzig waren. Doch, statt den Staub wegzuwischen, verteilte er ihn nur noch mehr auf dem Schuh. Er zog sich ein gebrauchtes Taschentuch aus der Hosentasche, ließ ein wenig Speichel aus dem Mund tropfen und wischte dann den Schuh sauber. Er war zwar nicht sauber, sah aber zumindest ordentlicher aus als zuvor.
Zwei Stunden später war die Sonne untergegangen und es wurde von Minute zu Minute dunkler. Claas saß weiterhin wie angewurzelt an seinem Platz und schaute auf die Außenalster. Neben sich bemerkte er, dass Ute aufgewacht war. Mit dem Hemdsärmel ihres Kleides wischte sie sich einen Speichelfaden aus dem Gesicht, der ihr beim Schlafen aus dem Mund getropft war. Sie zitterte und zog sich ihre dicke Winterjacke an, die hinter ihr gelegen hatte. Mit ihren schmutzigen Fingern rieb sie sich die Zähne, was auf Class den Eindruck machte, als wenn sie sich die Zähne putzen würde.
„Die Zähne putzt man sich mit einer Zahnbürste und Zahnpasta. Deine Finger sind schmutzig und so nimmst du nur Bakterien auf und das ist nicht gut für deine Zähne“, erklärte er ihr sachlich.
Statt einer Antwort lächelte sie ihm übertrieben zu. Dabei zeigte sie ihre Zähne oder besser gesagt, das, was von ihren Zähnen noch übriggeblieben war. Mindestens jeder zweite Zahn fehlte und die verbliebenen Zähne waren dunkel und mit Zahnbelag überzogen.
„Du solltest zum Zahnarzt gehen“, entgegnete Claas. „Außerdem riechst du unangenehm.“
Ute kannte Claas zwar erst seit sehr kurzer Zeit, hatte aber schnell gelernt mit seiner direkten Art umzugehen. Deshalb antwortete sie mit einem Lächeln und versuchte ihn zu umarmen, während sie einen Kussmund machte:
„Also wollen wir heute Abend nicht mehr knutschen?“
„Ahh. Nein! Nicht anfassen!“ Claas rutschte einen halben Meter zur Seite.
„Keine Sorge, Kleiner. Du bist mir viel zu jung. Ich wollte dich nur ärgern. Aber jetzt muss ich mir erstmal neuen Stoff besorgen. Bleibst du heute Nacht hier?“
„Wohin sollte ich denn gehen?“
„Das weiß ich auch nicht. Aber ich weiß, dass du nicht auf die Straße gehörst. Wenn du möchtest, dann gehen wir beide morgen mal zusammen in die Wohnung deines Onkels.“
„Nein. Nein. Nein!“
„Ganz ruhig. Alles gut, dann gehen wir da nicht hin.“ Ute hob beschwichtigend die Hände.
„Ich will da nicht mehr hingehen.“
„Keine Sorge, wir müssen da nicht hingehen, wenn du nicht möchtest. Ich kenne da jemanden, dem ich vertraue. Zu dem gehen wir morgen. Er kann dir bestimmt helfen. Aber jetzt muss ich mir erstmal was zu trinken besorgen. Bis später.“
Claas sagte nichts und schaute ihr hinterher. Dann setzte er sich wieder aufrecht hin und schaute stumm auf das Wasser. Das machte er oft stundenlang. Claas hatte wenig Kontakt zu Fremden. Abgesehen von seinem Onkel hielt er sich nie länger bei anderen Personen auf und vermied es, zu große Nähe aufzubauen. Ute war anders. Claas bemerkte, wie er Ute vermisste. Er musste auf einmal an seine Mutter denken. Es war lange her, dass er seine Mutter das letzte Mal gesehen hatte. Obwohl er ein sehr gutes Gedächtnis hatte, wusste er nicht mehr genau, wie sie ausgesehen hat. Sie wäre jetzt fast in dem Alter von Ute gewesen. Ein paar Jahre Jünger vielleicht.
In etwa fünfzig Metern Entfernung sah Claas eine Gruppe von vier Personen. Claas konnte nicht einschätzen, wie alt jemand war, aber, da es schon spät war, glaubte er, dass sie schon erwachsen waren. Sie lachten laut und ihr Gang war schwankend. Sie hatten Flaschen in den Händen und schubsten sich gegenseitig. Erneut vermisste er seine Karten. Waren die Vier nun fröhlich oder stritten sie sich? Er konnte es nicht sagen. Einer der Vier sah ihn und zeigte auf ihn. Die anderen wollten gerade die Straße überqueren, doch der Dunkelhaarige, der ihn gesehen hatte, zeigte auf ihn und forderte die anderen auf, ihm zu folgen. Der Dunkelhaarige war, genau wie seine drei Begleiter, um die einen Meter achtzig groß. Sie alle trugen schwarze Jacken mit einem seltsamen Symbol auf der rechten Seite. Es war eine schwarz-weiß-rote Fahne mit einer Faust in der Mitte. Sie hatten alle ganz kurze Haare. Trotz der warmen Temperaturen trugen sie schwarze Stiefel und schwarze Jeanshosen. Der Dunkelhaarige hatte eine Narbe auf der linken Wange. Einer der anderen trug einen Oberlippenbart und die anderen beiden trugen Drei-Tage-Bärte. Sie waren kräftig und ihre Augen fixierten ihn beim Näherkommen. Als sie nur noch wenige Meter von ihm entfernt waren, blieben sie stehen und schauten ihn an. Dabei tranken sie eine klare Flüssigkeit aus den Flaschen mit der Aufschrift „Bacardi“.
„Hey, was ist denn das für ein Arschloch?“, fragte der Mann mit der Narbe auf der Wange. Dabei zeigte er in Claas´ Richtung.
„Du Pickelfresse sitzt auf unserem Platz. Verpiss dich.“
„Dieser Platz kann ihnen aber doch gar nicht gehören. Das ist sogenannter öffentlicher Grund“, korrigierte ihn Claas.
„Wie bitte? Ein Klugscheißer bist du auch noch?“
„Sag mal Hinnerk. Ist das überhaupt ein Deutscher? Der hat so dunkle Haare und so dunkle Augen. Das ist doch bestimmt ein Kanacke. Bist du ein Kanacke?“, fragte der Typ mit dem Schnauzbart.
„Was ist ein Kanacke?“, erwiderte Claas.
„Oder glaubst du, dass er vielleicht ein Scheiß Jude ist? Hey, du Penner, bist du ein Scheiß Jude?“
„Nein. Ich bin Claas.“
„Claas? Was ist denn das für ein Scheiß Name?“, antwortete Hinnerk. „Sag mal, bist du behindert? Oder ein bisschen doof in der Birne?“
„Ich bin nicht behindert und jetzt möchte ich bitte meine Ruhe haben. Bitte gehen sie weiter.“
„Wir sollen weitergehen? Sag mal, willst du uns sagen, was wir zu tun haben? Was sagt ihr dazu? Ich finde, dass dieser kleine Wichser mal eine ordentliche Tracht Prügel verdient hat. Was meint ihr?“
Ohne auf eine Antwort seiner Begleiter zu warten, holte Hinnerk aus und trat Claas mit voller Wucht in den Magen. Claas wurde dabei von der kleinen Holzbank geschleudert, auf der er gesessen hatte. Noch ehe er sich vor Schmerzen an den Bauch fassen konnte, traf ihn auch schon der zweite Fuß am Oberschenkel. Claas schrie auf vor Schmerzen. Dann traf ihn eine der Glasflaschen am Kopf. Noch ehe er erneut aufschreien konnte, hielt ihm der Mann mit dem Schnauzbart den Mund zu und erstickte damit den Schrei. Mit der anderen Hand drückte er die Schultern auf den Boden. Nun lag Claas auf dem Rücken und wurde von beiden Seiten links und rechts in den Bauch und gegen seine Seite getreten. Claas schrie in die Hand, die auf seinem Mund gedrückt wurde. Seine Augen tränten. Durch einen Schleier von Tränen sah er die Gesichter der vier Angreifer. Die Mundwinkel waren nach oben gezogen und Claas erinnerte sich, dass dieser Gesichtsausdruck Freude darstellte. Wieso hatten die Vier Freude daran, ihm Schmerzen zuzufügen? Dann spürte er, wie ihm erst die Schuhe und anschließend die Hose ausgezogen und das Hemd und der Pullover hochgeschoben wurden. Während er weiterhin auf den Boden gedrückt wurde, öffneten die anderen Drei ihre Hosen und urinierten auf seinen Körper. Es brannte an den Stellen, als der Urin die aufgeplatzten Wunden traf. Dann ließen die Vier von ihm ab. In der Ferne hörte er eine Stimme rufen und dann liefen die Vier in die Richtung davon, aus der sie gekommen waren.
Vor seinen Augen drehte sich alles. Ihm tat jeder Zentimeter seines Körpers weh. Dann sah er zwei Gesichter, die sich über ihn beugten und etwas zu ihm sagten, aber er konnte sie nicht verstehen. Er konnte plötzlich gar nichts mehr hören. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
„Halt! Warten Sie! Stopp!“
Ramona drehte sich um und sah einen Mann von Anfang dreißig, wild mit den Armen winkend, auf sie zu laufen. Er war einer dieser hippen Endzwanziger; trug einen Anzug, der mehr kostete, als sie in einem Monat auf ihr Konto überwiesen bekam, dazu nicht minder teure Designerschuhe. Die Haare waren glattgekämmt und akkurat geschnitten. Als sie sich wieder dem Luxusschlitten vor sich auf dem Behindertenparkplatz widmete, wagte er es sogar noch zu pfeifen. Mit Genugtuung klemmte sie den Bußgeldbescheid hinter die Scheibenwischer und ging in die entgegengesetzte Richtung weiter. Sie hörte, wie wenige Sekunden später, der Mann sein Fahrzeug erreichte, den Zettel von der Windschutzscheibe nahm und ihr hinterherlief.
Er packte sie grob an der Schulter und drehte sie zu sich rum.
„Warten Sie…“ Beim Anblick von Ramonas Gesichtsausdruck verstummte der Mann. Er sah ein, dass er zu weit gegangen war und hob entschuldigend die Hände. Doch noch bevor er etwas sagen konnte, fauchte sie ihn an:
„FINGER WEG! Sonst gibt es eine Anzeige wegen Angriffs auf eine Staatsbedienstete; haben Sie verstanden?“, dabei fixierte sie ihn derart, dass er erst mal zwei Schritte zurücktrat. Dann fing er sich jedoch wieder und setze ein charmantes Lächeln auf, da ihm klar wurde, dass er mit seiner aggressiven Art keinen Erfolg haben würde.
„Es tut mir leid. Ich wollte nicht aufdringlich oder übergriffig sein. Sorry. Also noch mal von vorne. Ich heiße Joshua.“ Dabei bot er ihr die Hand an und lächelte. Sie schaute nur stumm auf seine Hand, ohne Anstalten zu machen, den Gruß zu erwidern. Stattdessen fragte sie ihn kühl:
„Was soll das hier werden?“
„Es ist so. Ich weiß, dass ich nicht auf einem Behindertenparkplatz stehen darf, aber ich musste nur kurz zur Bank an der Ecke. Außerdem, siehst du hier irgendwo einen Behindi? Seien wir doch mal ehrlich. Diese Behindertenparkplätze haben doch ein Ausmaß angenommen, das schon an Schikane grenzt. Ich habe noch nie gesehen, dass da mal jemand drauf geparkt hat. Und wir ehrlichen Steuerzahler müssen stundenlang nach einem freien Parkplatz suchen…“
„Erstens“, unterbrach sie ihn, „habe ich Ihnen ganz bestimmt nicht das freundschaftliche DU angeboten und zweitens interessiert es mich kein Stück, wie lange Sie nach einem Parkplatz suchen müssen. Dieser Parkplatz ist für eine Personengruppe reserviert, die körperlich eingeschränkt und daher besonders schutzbedürftig ist. Und nun entschuldigen Sie mich bitte, ich habe zu tun.“
„Aber das Ticket. Da können wir doch vielleicht noch mal drüber reden.“ Der Mann zog seine Brieftasche und entnahm ihr einen Hundert-Euro-Schein.
„Sie bekommen einen Brief mit einer Rechnung und diese dürfen Sie dann überweisen. Gern online, dann müssen Sie nicht extra zur Bank, wo Sie wieder falsch parken und das nächste Knöllchen bekommen.“
„Nein, Sie verstehen mich falsch. Der Wagen gehört mir nicht und wenn nun…“
„Oh, Sie haben ihn gestohlen, jetzt wird es interessant.“
„Nein. Ich habe ihn nicht gestohlen. Er gehört meinem Vater und er…“
„So ist das also, Sie haben Papas Auto genommen und der wusste nichts davon und jetzt haben Sie Angst, dass Papa wütend wird? Tja, Pech gehabt. Nächstes Mal ordnungsgemäß parken und dann gibt es auch nicht solche Schwierigkeiten. Einen schönen Tag noch.“
Ramona drehte sich wieder um und wollte weitergehen, als er ihr erneut hinterherrief:
„Zweihundert Euro!“
Ganz langsam drehte sie sich zu ihm um und sah, wie der Mann mit zwei grünen Hundert-Euro-Scheinen wedelte und dabei grinste. Er glaubte gewonnen zu haben. Mit ruhigen Schritten trat sie auf ihn zu. Das Lächeln in seinem Gesicht wurde breiter. Doch dann erkannte er, dass sie keine Anstalten machte nach dem Geld zu greifen. Stattdessen griff sie sein Revers und zog ihn zu sich ran. In ihrer Uniform war es nicht sofort ersichtlich, aber sie war immer noch sehr gut trainiert und nahm es locker mit so manchem Mann auf. Als ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren, flüsterte sie ihm zu:
„Seien Sie froh, dass Sie nicht noch zusätzlich eine Anzeige wegen versuchter Bestechung bekommen, und nun verschwinden Sie von diesem Parkplatz.“ Dann hob sie ruckartig ihr Knie und deutete an, ihm in die Weichteile zu treten. Erschrocken wich er zurück, stolperte und fiel auf den Boden. Ramona drehte sich um und ging zwischen seinem und dem angrenzenden Wagen zur Straße. Sie wollte gerade die Straße überqueren, als der Mann am Boden liegend, ihr etwas hinterherrief. In diesem Moment klingelte ihr Handy. Auf dem Display stand eine ihr nicht bekannte Nummer. Während sie das Gespräch annahm, fluchte der Mann hinter ihr erneut lautstark, sodass Ramona nicht verstand, wer sich aufgeregt am anderen Ende der Leitung gemeldet hatte. Sie wollte dem Parksünder gerade ein paar passende Wörter zurufen, als sie ein lautes Hupen und quietschende Reifen hörte. Als sie den harten Aufprall spürte, wurde ihr schwarz vor Augen.
Mittwoch, 01. September
Das Erste, das Claas wahrnahm, waren die Schmerzen. Als er die Augen öffnete, sah er, wie durch einen Schleier, eine weiße Decke mit einer schlichten Neonlampe. Er roch den Duft eines süßlichen Parfüms und hörte eine Frau ruhig atmen. Aber da war noch ein weiteres Geräusch. Eine weitere Person war mit ihm und der duftenden Frau in diesem Raum. Sie atmete deutlich angestrengter und roch nach Schweiß. Ein Telefon klingelte. Warum nahm niemand den Hörer ab? Außerdem hatte er den Eindruck, dass er nur durch das linke Auge sehen konnte. Beim Versuch den Arm zu heben, um nach seinem Gesicht zu greifen, durchzuckte ihn ein stechender Schmerz auf der rechten Seite.
„Ganz ruhig. Bitte nicht bewegen“, hörte er eine weibliche Stimme und sah kurz darauf in das Gesicht einer Frau. Die Frau hatte blonde, kurze Haare und blaue Augen. Sie trug einen Kittel, wie er es öfter schon im Fernsehen gesehen hatte. Er schloss daraus, dass es sich um eine Krankenschwester handeln musste. Claas befand sich in einem Krankenhaus! Er drehte leicht den Kopf und sah die zweite Person neben sich in einem weiteren Bett liegen. Es handelte sich um eine Frau. Sie hatte die Augen geschlossen. Ihm war die Umgebung fremd und er wusste nicht, wie er hierhergekommen war. Warum war er überhaupt hier? Warum tat ihm alles weh? Warum konnte er sich nicht bewegen? Die Männer in Schwarz! Sein Gedächtnis kam langsam zurück. Sie hatten ihn angegriffen und auf ihn eingeschlagen, ihn getreten und …. auf ihn gepinkelt! Warum haben sie das gemacht?
„Können Sie mich verstehen? Sie befinden sich im Krankenhaus St. Georg in Hamburg. Sie wurden gestern Abend bei uns eingeliefert. Eine Gruppe junger Männer hat Sie überfallen. Kannten Sie die Männer? Können Sie sagen, wie ihr Name ist? Sollen wir jemanden benachrichtigen?“, die Krankenschwester schaute ihn an.
Sie war schön. Ja, sie war schön, stellte Claas fest. Es gibt eine wissenschaftliche Definition von schön, das hatte er in einem Bericht gelesen. Man war schön, wenn die Augen, die Ohren, die Wangen und der Mund in einem bestimmten Verhältnis zueinanderstanden. Außerdem spielten die Reinheit und Farbe der Haut sowie Proportionen eine entscheidende Rolle.
Sie schaute ihn weiterhin lächelnd an und wartete auf seine Reaktion.
„Ja. Nein. Ja. Nein“, beantwortete er die ihm gestellten Fragen, woraufhin die Krankenschwester stutzte und sich überlegte, in welcher Reihenfolge sie ihre Fragen gestellt hatte. Sie versuchte es erneut:
„Wie heißen Sie?“
„Claas“
„Können Sie sich an den Vorfall gestern Abend an der Alster erinnern?“
„Ja.“
„Wer waren die Männer, die Sie überfallen haben?“
„Weiß ich nicht.“
„Was haben Sie da gemacht?“
„Ich habe dort gesessen und auf Ute gewartet.“
„Ute? Ist das Ihre Mutter? Oder Ihre Freundin? Ihre Schwester?“
Claas wartete kurz, ob die Aufzählung abschließend war, dann antwortete er:
„Nein. Nein. Nein.“
Die Krankenschwester hatte inzwischen erkannt, dass Claas kein alltäglicher Patient war. Sie versuchte sich auf seine Art der Kommunikation einzustellen und fragte nun:
„Wer ist Ute?“
„Ute ist eine Frau, die ich kennengelernt habe.“
„Wo haben Sie Ute kennengelernt?“
„Vor Saturn.“
„Wann war das?“
„Vor ein paar Tagen?“
„Wie lautet die Handynummer von Ute?“
„Ute hat kein Handy.“
„Wo wohnt Ute?“
„Ute wohnt seit ungefähr dreizehn Jahren auf der Straße. Das ist leider keine genaue Angabe. Das tut mir leid. Ich kann ihnen leider nicht die genaue Anzahl an Tagen nennen, die sie nun auf der Straße wohnt. Aber Sie haben mich ja nur gefragt, wo sie wohnt und nicht wie lange sie dort schon wohnt, also ist es für Sie wahrscheinlich nicht so wichtig, oder?“
„Wie bitte?“, die Krankenschwester schaute ihn etwas verwirrt an, dann schüttelte sie den Kopf und sagte:
„Nein, das ist nicht so wichtig. Ich heiße übrigens Johanna. Darf ich dich Claas nennen?“
„Ja, so heiße ich ja auch.“
„Und wo wohnst du? Wohnst du auch auf der Straße?“
Claas überlegte kurz und nickte dann. Johanna stutzte. Die anderen Fragen hatte Claas jeweils sofort und eindeutig beantwortet. Hier hatte Claas das erste Mal gezögert.
„Claas, magst du mir sagen, wie alt du bist?“
„Ich bin fünfundzwanzig Jahre und zweiundachtzig Tage alt.“
„Oh, so genau weißt du das? Kannst du mir auch sagen, welches Datum das ist?“
„Ich habe am elften Juni 1996 Geburtstag.“
Johanna machte sich auf einem Klemmbrett eine Notiz, lächelte ihm zu und fasste ihm freundschaftlich an den Arm, dabei fragte sie ihn:
„Und wie heißt du mit Nach…“, weiter kam sie nicht, denn Claas zog hastig seinen linken Arm zurück und schüttelte energisch mit dem Kopf. Sofort hob Johanna entschuldigend die Arme und versuchte Claas zu beruhigen. Sie bewirkte aber genau das Gegenteil, denn sie legte die Hand beruhigend auf sein Bein, woraufhin er versuchte das Bein zum Körper zu ziehen. Ein Schmerzensschrei folgte und Johanna entschied sich für den geordneten Rückzug, entschuldigte sich und ging rückwärts zur Tür. Als sie sich zur Tür umdrehen wollte, stieß sie mit einem fast zwei Meter großen Polizeibeamten in Uniform zusammen.
„Was für ein Spinner“, dachte Ramona, als sie das Gespräch zwischen ihrem Bettnachbarn und der Krankenschwester mitbekam. Sie war über sich selbst überrascht, dass sie überhaupt an was anderes als an ihre Schmerzen denken konnte. Der Aufprall muss heftig gewesen sein. Die Erinnerung war noch sehr schwach. Aber das Quietschen der Reifen und der Schmerz in den Beinen hatten sich bei ihr ins Gehirn gebrannt. Sie vermutete, dass man ihr eine Reihe starker Schmerzmittel verabreicht hatte. Kaum, dass sie ihre Augen öffnete, drehte sich alles und so ließ sie die Augen lieber geschlossen. Sie versuchte in ihren Körper reinzuhorchen und erkannte, dass sich ihre Beine, wenn auch nur unter Schmerzen, bewegen ließen. Sie war also nicht eingegipst. Sie hätte drauf gewettet, dass sie sich beide Beine gebrochen hatte und Monate im Rollstuhl würde verbringen müssen. Stärker noch als die Beine tat ihr der Kopf weh. Vermutlich die Folge einer schweren Gehirnerschütterung. Und dann dieses blöde Gequatsche von der Seite. Was interessierte es sie denn, dass ihr Bettnachbar fünfundzwanzig Jahre und dreiundachtzig Tage alt war? Sie musste immerhin nicht antworten. Eine gute Sache hatte der Unfall aber dennoch. Immerhin musste sie nun ein paar Wochen nicht arbeiten. Sie hasste diesen neuen Job. Sie war Kripobeamtin und keine Politesse. Wäre da nur nicht ihr Problem mit dem Alkohol gewesen. Letztlich konnte sie froh sein, dass sie überhaupt noch bei der Polizei arbeiten durfte. Aber an Falschparker Knöllchen verteilen war eigentlich die Aufgabe des Ordnungsamtes. Sie hatte einen messerscharfen Verstand und wollte eigentlich sogar Profiler werden. Leider kam dann alles anders als gedacht. Sie wollte gerade versuchen noch ein wenig zu schlafen, als die Tür aufging und ein Riese das Zimmer betrat.
Ramona kannte diesen Mann nur allzu gut. Hans-Heinrich Schulte war Hauptkommissar, ihr ehemaliger Vorgesetzter und Mentor. Wenn er nicht gewesen wäre, dann wäre sie schon längst nicht mehr bei der Polizei. Er war wie ein Vater zu ihr. Sie war die einzige im Revier gewesen, die ihn duzen durfte, was einige der Kollegen neidisch machte. Dementsprechend schadenfroh waren die Kollegen, als sie vor knapp zwei Monaten zur Verkehrspolizei versetzt wurde.
Beim Anblick von Hans-Heinrich musste Ramona lächeln. Das Lächeln erstarb jedoch, als sie den Gesichtsausdruck ihres ehemaligen Vorgesetzten sah. Mit energischen Schritten durchschritt er das Zimmer und blieb vor ihrem Bett stehen. Obwohl sie sich inzwischen seit vielen Jahren kannten, war sie immer noch beeindruckt von seiner Präsenz, wenn er vor ihr stand. Zwei Meter und Hundertzwanzig Kilo reine Muskelmasse. Ein Handschlag wie ein Schraubstock und Augen, die einen fast durchdrangen. Die Haare stets akkurat und kurzgeschoren.
„Du siehst scheiße aus“, begann er in einem sachlichen Tonfall.
„Danke für die Blumen. Apropos Blumen?“
„Was ist passiert?“
„Hallo? Kein: wie geht es dir? Hast du Schmerzen? Gut, dass du noch am Leben bist?“ Ramona war sichtlich gekränkt.
„Du hast eine erneute Dienstbeschwerde bekommen und die Ärzte sagen, dass du Alkohol im Blut hattest. Verstehst du mich? ALKOHOL! Wir haben darüber gesprochen. Das durfte nie wieder passieren!“
„Eine Beschwerde? Etwa dieser aufgeblasene Schnösel?“ Auf das Thema Alkohol wollte sie nicht weiter eingehen.
„Dieser aufgeblasene Schnösel, wie du ihn nennst, hat sich über dich beschwert. Leider kennt sein Vater den Polizeipräsidenten persönlich. Sie gehen gemeinsam Golf spielen. Und den Rest kannst du dir sicher denken, oder?“
„Fuck!“
„Du sagst es! Hast du ihm wirklich in die Eier getreten?“
„Der Typ hat es nicht anders verdient. Außerdem habe ich es nur angedeutet. Ich bin doch nicht blöd.“
In diesem Moment klingelte das Handy von Ramona. Sie machte aber keine Anstalten ranzugehen.
„Willst du nicht rangehen? Ich kann warten.“
„Nein schon gut. Mir ist grad nicht nach telefonieren. Was passiert jetzt?“
„Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Du weißt, dass diese Stelle deine letzte Chance war, und ich glaube nicht, dass ich den Fall jetzt einfach unter den Teppich kehren kann. Der Polizeipräsident hat sich deine Akte gezogen und will, dass deine Aktion Konsequenzen hat.“
„Scheiße.“
„Ich werde mal schauen, was ich tun kann. Versuche du dich erstmal auszuruhen. Ich komme morgen nochmal vorbei.“
Er gab Ramona einen Kuss auf die Wange und verließ das Zimmer. Beim Rausgehen wurde er von der Schwester Johanna angesprochen, die vor der Tür auf ihn gewartet hatte.
Ramona schaute weiterhin zur Tür. In ihrem Kopf rasten die Gedanken. Was würde jetzt aus ihr werden? Wieso musste sich dieser Volltrottel auch gleich bei seinem Papi ausheulen? Sie hasste den Job, aber verlieren wollte sie ihn auch nicht. Das konnte sie sich gar nicht leisten. War es doch jetzt schon schwer genug, die Miete ihrer Wohnung zu bezahlen. Scheiße. Scheiße. Scheiße. Während sie das sagte, haute sie mit der Faust auf ihre Decke. Ihr Handy klingelte erneut. Schon wieder diese unbekannte Nummer. Dafür hatte sie nun wirklich keinen Kopf. Sie ließ das Handy klingeln bis der Anruf an die Mailbox weitergeleitet wurde.
„Das Handy hat geklingelt“, hörte Ramona eine Stimme aus dem Bett neben sich sagen.
„Ich weiß!“, antwortete sie genervt. „Ich bin ja nicht taub.“
„Das habe ich mitbekommen, denn Sie haben sich eben mit dem Mann unterhalten. Also können Sie nicht taub sein. Aber Sie sind nicht an ihr Handy gegangen. Es hat schon das dritte Mal geklingelt.“
„Ja und? Was geht dich das an? Lass mich in Ruhe! Ich will schlafen.“
„Es ist unhöflich nicht an das Telefon zu gehen.“
Ramona war genervt. Sie versuchte sich so gut es ging aufzurichten und schaute zu ihrem Bettnachbarn. Sie sah einen jungen Mann mit dunklen Haaren, auffällig heller Haut und vielen Sommersprossen im Gesicht. Er hatte ein dickes blaues Auge und trug mehrere Verbände um den Oberkörper. Er sah sie prüfend an.
„Ich heiße Claas und bin fünfundzwanzig Jahre und…“
„Das interessiert mich einen Scheiß. Weder wie du heißt noch wie alt du bist. Ich will einfach nur meine Ruhe und du nervst. Verstehst du mich?“, unterbrach sie ihn verärgert.
„Wieso sollte ich Sie nicht verstehen? Sie sprechen gutes Deutsch. Kommen Sie nicht aus Deutschland?“
„Wie bitte?! Willst du mich verarschen? Wieso sollte ich nicht aus Deutschland kommen?“
„Weil Sie mich gefragt haben, ob ich Sie verstehe. Sie sprechen gutes Deutsch und ich habe ein gutes Gehör. Ich habe Sie also sehr gut verstanden. Und wie heißen Sie?“
„Geht dich nichts an und nun lass mich in Ruhe.“
„Ich finde es unhöflich, wenn man nach seinem Namen gefragt wird und nicht antwortet. Sind sie eine unhöfliche Person?“
„Herrgott nochmal, ich heiße Ramona. Und nun halt endlich deine verdammte Schnauze!“
„Meine Mama hat früher immer zu mir gesagt, dass man nicht fluchen soll.“
Ramona ließ sich frustriert zurück ins Bett fallen.
„Herr steh mir bei.“ Sie faltete ihre Hände und hielt sie betend in die Höhe.
Claas fühlte sich unwohl. Die Frau neben ihm war ihm nicht geheuer. Wieso ging sie nicht an das Telefon, wenn es klingelte? Und ihr Nachttisch ist unordentlich. Er mochte es nicht, wenn etwas nicht aufgeräumt und akkurat war. Außerdem fluchte diese Frau. Dabei hatte er doch nur nach ihrem Namen gefragt. Ramona hieß sie. Als sie angefangen hat zu beten, wollte er sie auch nicht mehr stören. Dabei hatte er noch einige Fragen. Jetzt war er nicht mehr sicher, ob sie weiterhin Beten würde, eingeschlafen war oder einfach nur so dalag. Vielleicht sollte er sie fragen, ob sie was zusammenspielen wollten. „Wer bin ich?“ war sein Lieblingsspiel. Das hatte er oft stundenlang mit seinem Onkel gespielt. Aber da er nicht wusste, ob sie noch am Beten war, hatte er sie nicht angesprochen. Nach einer Weile bekam er Hunger und so drückte er die Klingel und wartete auf Schwester Johanna. Nachdem er fünfundfünfzig Sekunden gewartet hatte, klingelte er erneut. Kurze Zeit später betrat Johanna, leicht außer Atem, das Zimmer.
„Hallo Claas, was gibt es?“, fragte sie ihn höflich.
„Ich habe Hunger. Ich hätte gerne einen Vanillepudding.“
„Mittagessen gibt es in einer Stunde“, sagte sie und wollte wieder gehen.
„Aber ich habe jetzt Hunger.“
„Ich schau mal, was ich tun kann. Aber es wird vielleicht etwas dauern. Ich mache gerade die Übergabe.“
Dann verabschiedete sie sich und verließ das Zimmer.
Zehn Minuten später klingelte Claas erneut. Kurze Zeit später betrat ein Pfleger das Zimmer, den Claas nicht kannte. Er hatte einen Joghurt in der Hand.
„Wer sind Sie? Wo ist Schwester Johanna?“, fragte Claas sichtlich irritiert.
„Ich bin Pfleger Markus. Johanna hat Feierabend. Aber sie hat mir schon von dir erzählt. Du hast Hunger und kannst es nicht abwarten, bis es Mittagessen gibt, stimmt‘s? Ich habe dir einen Joghurt mitgebracht. Hier bitte!“ Markus wollte gerade den Joghurt auf den Nachttisch stellen, als Claas abwehrend die Hände hob.
„NEIN!“, rief er. „Ich möchte den Joghurt von Schwester Johanna haben. Ich kenne Sie nicht. Außerdem wollte ich einen Vanillepudding.“
Markus hielt inne und schaute Claas kopfschüttelnd an.
„Nun, wenn du nur von Johanna versorgt werden möchtest, dann hast du ein Problem. Johanna hat jetzt nämlich Feierabend und die nächsten drei Tage frei. Das wird eine lange Zeit.“
„Ich will aber, dass sie mir einen Vanillepudding bringt.“
„Tja, das wird schwierig. Dann nehme ich den Joghurt halt wieder mit. Ist ja nicht so, als ob ich nichts zu tun hätte.“ Markus nickte kurz und verließ das Zimmer.
Fünf Minuten später klingelte Claas erneut. Es bedurfte diesmal zehn Minuten und fünf weitere Klingelversuche ehe Markus erneut das Zimmer betrat. Er wirkte sichtbar genervt.
„Was willst du?“
„Ich nehme doch den Joghurt“, antwortete Claas trocken.
Markus verdrehte die Augen und sah zu Ramonas Bett, die sich den Kopf hielt.
„Haben Sie auch noch einen Wunsch, bevor Sie auch gleich noch klingeln.“
„Ich habe nur einen Wunsch. Bitte verlegen Sie diese Nervensäge in ein anderes Zimmer. Wieso liege ich überhaupt in einem Zimmer mit einem männlichen Patienten. Gilt die Geschlechtertrennung etwa nicht mehr?“
„Sorry, wir sind vollbelegt und sie kamen beide gestern als Notfallpatienten auf unsere Station“, antwortete Markus knapp und verließ das Zimmer. Eine Minute später kam er zurück, brachte den Joghurt, legte ihn wortlos auf den Nachttisch von Claas und verließ umgehend das Zimmer.
Als fünf Minuten später die Tür erneut aufging, fing Ramona neben ihm aus voller Kehle an zu schreien:
„Verdammte Scheiße! Macht endlich die Tür zu! Ich will mich endlich ausruhen!“
Der Polizist, der in der Tür stand, war sichtlich überrascht und wusste zunächst nicht wie ihm geschah. Dann hatte er sich wieder gefangen und betrat das Krankenzimmer.
„Guten Tag, mein Name ist Thorsten Hofreiter. Ich bin Polizist.“
„Mein Chef war schon hier. Es ist soweit alles geklärt. Können Sie sich bitte mit Hauptkommissar Schulte in Verbindung setzen. Sehen Sie nicht, dass ich einen Unfall hatte? Ich würde mich gern erst erholen und dann stehe ich Ihnen gerne Rede und Antwort, Okay? Soviel Respekt kann ich doch hoffentlich noch erwarten, oder?“ Ramona war erschöpft und am Ende ihrer Kräfte. Sie wollte nur noch schlafen und niemanden mehr sehen oder hören.
Der Polizist schaute sie jedoch nur an.
„Entschuldigen Sie, wer sind Sie?“
„Wie bitte? Ich bin Ramona Hagen. Ich dachte, dass Sie meinetwegen…“
„Guten Tag Frau Hagen, aber ich bin nicht Ihretwegen hier. Sie können sich also gern wieder ausruhen. Ich glaube, dass Sie Ruhe dringend nötig haben. Ich möchte zu diesem jungen Herrn“, sagte der Polizist und wandte sich an Claas. Er trat vor das Bett, musterte Claas, der gerade dabei war ein Kreuzworträtsel zu lösen und fragte ihn:
„Sind Sie Claas Pohlmann, geboren am elften Juni 1996 in Hamburg?“
Claas zeigte keine Reaktion und konzentrierte sich auf das Rätsel in seiner Hand. Der Polizist wartete zehn Sekunden, wiederholte seine Frage und sprach diesmal etwas gereizter. Nachdem Claas weiterhin nicht reagierte, trat der Mann mit zwei großen Schritten an die Seite des Bettes, zog Claas das Heft aus der Hand und warf es hinter sich auf den Boden. Erst jetzt schien Claas den Polizisten vor sich bewusst wahrzunehmen. Er schaukelte aufgeregt vor und zurück und redete mehr zu sich selbst als zum Polizisten:
„Stadt im Allgäu mit sechs Buchstaben? Wangen. Anderes Wort für alt? Betagt. Frauenname mit sechs Buchstaben? Abelke.“
„WILLST DU MICH VERARSCHEN? HALT DEINE KLAPPE!“, schnauzte ihn der Polizist an.
„Der Junge ist krank“, nahm Ramona ihren Bettnachbarn in Schutz und war über sich selbst überrascht.
„Ach was. Wir sind hier ja auch schließlich im K-R-A-N-K-E-N-Haus“, erwiderte der Polizist sichtlich gereizt.
„Sie verstehen mich falsch, der Junge ist ein wenig plemplem“, versuchte sie zu erläutern und drehte ihren Finger in Kreisen, um ihre Erklärung zu ergänzen.
„Plemplem ist ein Schimpfwort. Ich bin nicht plemplem. Ich mag es nicht, wenn man mich anspricht, während ich ein Rätsel löse. Ich mag es Rätsel zu lösen. Aber ich mag es nicht, wenn man so laut mit mir spricht.“
„Okay, fangen wir nochmal von vorne an. Heißt du Claas Pohlmann und wurdest du am elften Juni 1996 in Hamburg geboren?“
„Ja, das bin ich. Aber man nennt mich immer nur Claas.“
„Und haben Sie einen Onkel mit dem Namen Heribert Gossens?“
„Professor Heribert Gossens. Darauf legt er sehr viel wert“, antwortete Claas.