Ramona - Stephan Funke - E-Book

Ramona E-Book

Stephan Funke

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Beschreibung

Ramona ist die direkte Fortsetzung von "Claas", der im Jahr 2022 veröffentlicht wurde. Nach einem erneuten Absturz hat sich Ramona freiwillig in eine Entzugsklinik begeben, um anschließend ein neues Leben zu starten. Unerwartet wird ihr jedoch ihr alter Job bei der Hamburger Mordkommission angeboten. Bereits am zweiten Tag wird sie zu ihrem ihren Tatort gerufen. Während sie versucht in ihrem alten Leben neu Fuß zu fassen, holen sie immer wieder die Schatten ihrer Vergangenheit ein. Im zweiten Roman über Ramona Hagen wird die Ermittlerin mit einem neuen Fall konfrontiert. Während sie lernen muss, ihrem neuen Partner zu vertrauen, versucht sie ihren letzten Fall aufzuarbeiten. Der erste Teil "Claas" wurde ebenfalls über BOD veröffentlicht.

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Seitenzahl: 335

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Epilog

Kapitel 1

Es begann mit vereinzelten, kleinen Regentropfen. Zu wenig, um den Scheibenwischer anzustellen und zu viele, um sie zu übersehen. Ramona beschleunigte und erkannte mit einem kurzen Blick auf den Tachometer, dass sie die erlaubten 100 km/h auf der Landstraße bereits um knapp dreißig überschritten hatte. Doch das war ihr egal. Sie beschleunigte. Das Einzige, was jetzt zählte war, dass sie ihr kleines Mädchen auf dem schnellsten Wege in ein Krankenhaus brachte. Natürlich hätte sie auch einen Rettungswagen alarmieren können, aber sie wusste aus eigener Erfahrung bei der Polizei, dass sie auf dem Lande teilweise über eine halbe Stunde auf das Eintreffen der Rettungsdienste warten musste. Und sie wollte, dass man ihrer Tochter schnell half. Ein Allergieschock war kein Schnupfen und wenn der Hals begann anzuschwellen, dann kam es auf Minuten an. Ramonas wischte sich einen Schweißtropfen von der Stirn. Ihre Hände schmerzten, so angespannt hielt sie das Steuer in ihren Händen. Sie verfluchte ihren Mann, der mit seinen Sportsfreunden auf einem Tennisturnier war und sie alleine auf ihre beiden kleinen Mädchen aufpassen musste. Dabei wusste Jens doch nur allzu genau, dass sie in letzter Zeit nicht allein sein konnte. Wenn sie alleine in dem großen Haus war und die Kinder oben in ihren Zimmern spielten, dann konnte sie dem Drang nicht widerstehen und nahm sich ein Glas. Aus einem Glas wurden dann meistens zwei oder drei und am Ende hatte sie die ganze Flasche ausgetrunken.

Ramona hörte, wie ihre kranke Tochter hinter ihr stöhnte und trat das Pedal noch weiter durch.

Inzwischen musste sie den Scheibenwischer auf die höchste Stufe stellen und selbst dann schaffte sie es nicht, freie Sicht auf die Straße zu bekommen. Zwei Scheinwerfer rasten auf sie zu und sie bemerkte erst in letzter Sekunde, dass sie fast auf der Gegenfahrbahn fuhr. Das Adrenalin strömte in ihre Adern, dennoch sah sie Straße vor sich leicht verschwommen. Ihre Gedanken rasten in ihrem Kopf und ihre Händen begannen zu zittern. Ihr Kopf tat weh. Was gebe sie in diesem Moment für eine Handvoll Aspirin und eine Kanne schwarzen Kaffee.

Die Straße führte in einen Wald und ein rundes Schild am Straßenrand wies auf eine reduzierte Höchstgeschwindigkeit von nur noch 70 km/h hin.

Sie nahm das Schild war, fuhr aber mit gleichbleibend, hoher Geschwindigkeit weiter. Es wurde um sie herum schwarz, nachdem sie die ersten Bäume links und rechts passiert hatte.

„Wann sind wir da, Mami?”, fragte ihre große Tochter Melanie vom Rücksitz.

„Anna geht es nicht gut. Sie hat einen ganz roten Kopf und sie scheint Fieber zu haben. Ihre Haut glüht!”

Ramona drehte sich kurz zu ihren beiden Mädchen um und erschrak beim Anblick ihrer fünfjährigen Tochter. Dann wandte sie sich wieder nach vorne und hätte fast die Kurve verpasst. Gerade noch rechtzeitig konnte sie den Wagen in der Spur halten. Sie atmete kurz durch und schloss für den Bruchteil einer Sekunde die Augen.

Als sie die Augen wieder öffnete, stand plötzlich dieses Reh mitten auf der Fahrbahn.

Es war keine fünfzig Meter von ihr entfernt und sie wusste, dass sie das Auto nicht würde rechtzeitig abbremsen können. Sie riss am Steuerrad und lenkte das Fahrzeug auf die Gegenfahrbahn, nur wenige Zentimeter am Wild vorbei. Noch beim Vorbeifahren drehte sie sich um und sah zufrieden, dass das Tier unbeschadet war. Erleichtert drehte sie sich wieder um und sah zwei weiße Lichter mit hoher Geschwindigkeit auf sie zu rasen. Dann wurde ihr schwarz vor Augen.

Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Ihr Körper schmerzte und sie fühlte Regen auf ihrer Haut. Das Auto, indem sie eben noch mit ihren beiden Mädchen gesessen hatte, lag gute zwanzig Meter entfernt im Graben. Rauch stieg aus der Motorhaube. Ihre beiden Mädchen. Ihre Mädchen!! Sie versuchte aufzustehen, doch als sie ihr Bein belasten wollte, spürte sie einen stechende Schmerz und schrie laut auf. In der Ferne sah sie, wie erst eins und dann noch ein zweites Fahrzeug am Straßenrand stehenblieben. Zwei Männer gingen auf ihren Hyundai zu. Eine Frau beugte sich zu ihr hinab und stellte ihr Fragen, die sie nicht verstand. Sie hatte nur Augen für das völlig zerstörte Fahrzeug. Der eine Mann trug jetzt ihre große Tochter Melanie auf den Armen vom Fahrzeug weg. Kurz darauf sah Ramona, wie der andere Mann ihre kleine Tochter Anna ebenfalls vom Fahrzeug wegbrachte. Für einen kurzen Moment sah sie in die Augen ihrer Tochter.

„ANNA!!!!”, rief sie und schreckte aus dem Schlaf hoch.

Sie wusste nicht, wo sie sich befand. Es war stockdunkel und sie brauchte einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Dann kam nach und nach die Erinnerung zurück. Sie war in ihrer Wohnung und schlief in ihrem Bett. Im Dunkeln suchte sie den Lichtschalter ihrer Nachttischlampe. Der Anblick ihres Zuhause war ihr noch immer fremd. Wohnte sie doch erst seit einer guten Woche hier. Die möblierte Zwei-Zimmer-Wohnung sollte zunächst eine Übergangslösung sein. Sie wollte erstmal in Ruhe ankommen, hatte sie sich gesagt, als ihr die Wohnung angeboten wurde. Es war ihr ganz recht, hatte sie doch eh keine Möbel gehabt oder sonstiges Eigentum. Daher nahm sie die möblierte Wohnung dankend an. Als sie die Klinik verlassen und ihr neues Zuhause betreten hatte, da trug sie alles, was sie besaß an ihrem Leib und in einem kleinen Koffer.

Nun fing ihr neues Leben an.

Doch dann dachte sie wieder an die Bilder in ihrem Traum. Anna! Jetzt erinnerte sie sich wieder an alles! Schnell griff sie nach ihrem Handy. Das Display zeigte ihr die Uhrzeit: 3:17 Uhr. Es war ihr egal, ob sie ihn weckte oder er sauer reagieren wird, aber sie musste ihm von ihrem Traum erzählen.

Nach dem vierten Klingeln nahm ihr Ex-Mann das Gespräch an. Sichtlich genervt fragte er:

„Sag mal, spinnst du? Weißt du eigentlich, wie spät es ist?”

Ohne auf seine Fragen einzugehen, fing sie sofort an zu reden:

„Ich kann mich jetzt erinnern. Ich habe alles wieder ganz genau vor Augen.”

„Warte, warte. Moment. Ganz langsam. Woran kannst du dich erinnern?”

„An den Unfall. Ich weiß wieder was passiert ist. Ganz genau. Ich habe die ganze Situation wieder vor Augen. Anna ist nicht tot! Sie wurde entführt! Ich habe es genau gesehen! Verstehst du? Sie ist nicht tot! Sie lebt. Ich muss sie finden. Wir werden unsere Tochter zurückbekommen!”

„Ramona, hast du getrunken? Ist es wieder passiert? Du bist doch gerade erst seit ein paar Tagen aus der Klinik draußen.”

„Ich habe nichts getrunken. Ich bin nüchtern. Ich bin trocken. Aber ich weiß, was ich gesehen habe!”

„Du hast geträumt, Ramona. Du hast geträumt. Unsere Tochter ist tot. Hörst du? Sie ist bei dem Unfall gestorben. Wir haben sie begraben. Du musst lernen damit abzuschließen.”

„Ich soll damit abschließen? Spinnst du? Unsere Tochter lebt. Ich weiß es.”

„Wir haben sie beigesetzt. Ramona, du warst dabei.”

„Das war nicht meine Tochter. Wir durften sie nicht nochmal sehen! Sie haben eine fremde Person begraben. Aber nicht meine Tochter! Ich weiß es!”

„Mit wem telefonierst du?”, hörte Ramona eine Stimme im Hintergrund.

„Es ist niemand, Liebling. Leg dich wieder hin. Ich komm auch gleich.”

„Ist SIE es wieder? Sie soll uns endlich in Frieden lassen. Sie kann froh sein, dass wir uns Claas angenommen haben.”

„Alles gut, ich kläre das. Leg dich bitte wieder hin.”

Ramona versuchte mitzubekommen, was die neue Lebensgefährtin ihres Ex-Mannes erwiderte, aber sie sprach zu leise. Stattdessen hörte sie kurze Zeit später wieder Jens:

„Ramona, du musst dir Hilfe suchen.”

„Ich habe mir Hilfe gesucht. Ich bin froh, dass ich endlich wieder raus bin aus der Klinik. Wie geht es Claas?”, fragte sie.

„Claas geht es gut. Mach dir keine Sorgen. Wir haben für ihn hier gleich um die Ecke eine Wohngruppe gefunden. Dort lebt er mit drei weitere…” Ramona merkte, wie Jens nach dem richten Wort suchte. “Es geht ihm gut dort. Er fühlt sich sehr wohl. Melanie besucht ihn regelmäßig. Sie sind richtig gute Freunde geworden. Er fragte oft nach dir. Du solltest ihn mal besuchen gehen. Ich schick dir seine Adresse. Aber Ramona…?”

„Ja?”

„Du solltest dir einen Therapeuten suchen. Du musst die Sache mit Anna verarbeiten. Das macht dich noch kaputt. Lass dir helfen!”

„Grüße Melanie von mir. Und danke, dass du mir die Adresse von Claas schicken magst. Gute Nacht. Und… ich gebe dir Bescheid, wenn ich unsere Tochter gefunden habe.”

Ramona legte auf und ging ans Fenster. Ihre Tochter lebte. Nie war sie sich so sicher gewesen, wie in diesem Moment. Sie war skrupellosen Menschen in die Hände gefallen und Ramona würde ihre Tochter befreien und dann wären sie wieder eine Familie.

Sie schaute nochmal auf die Uhr. In zwei Stunden würde ihr Wecker klingeln, doch sie wusste, dass sie heute Nacht keinen Schlaf mehr finden würde. Sie ging an den Kleiderschrank und öffnete ihn. Sie hatte sich neben Unterwäsche, ein paar T-Shirts, Jeans und Pullover auch ein Sportoutfit gekauft. Sie zog sich ihre Laufhose, das Shirt und die Laufschuhe an und beschloss zur nahe gelegenen Alster zu laufen.

Kapitel 2

Als die U-Bahn in die Station Alsterdorf einfuhr und sich die Türen vor ihr öffneten, blieb Ramona noch einen kurzen Moment in der offenen Tür stehen und trat dann ganz bewusst den Schritt auf den Bahnsteig. Sie bemerkte hinter sich eine ältere Dame, die schon ungeduldig von einem Bein auf das andere trat und kurz davor war, etwas zu sagen. Noch bis vor einem halben Jahr, hätte sie sich umgedreht und der älteren Frau einen fiesen Spruch an den Kopf geworfen. Doch heute lächelte sie in sich hinein und ignorierte alles und jeden um sich herum. Heute begann ihr neues Leben. Das ihr Leben wieder ihr altes werden würde, damit hatte sie nicht gerechnet, als sie sich vor sechs Monaten freiwillig in die Klinik eingewiesen hatte. Die Ärzte, das Pflegepersonal und die Therapeuten waren zunächst skeptisch, da ihr erster Aufenthalt nur wenige Monate zurücklag und nicht von Erfolg geprägt war. Und nun, ein halbes Jahr später hatte sie eine neue Wohnung und ihren alten Job zurück. Während sie in der Klinik war, hatte sie keine Möglichkeit gehabt, an ihrem letzten Fall weiterzuarbeiten. Als einfache Streifenpolizistin war es ihr zwar gelungen die Hauptakteurin eines international agierenden Kinderhandels auszuschalten, die Hintermänner blieben aber weiterhin verborgen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Gruppierung ihre illegalen Machenschaften fortführte, war hoch und deshalb war ihr Wille ungebrochen, den Menschenhändlerring zu zerschlagen. Das Schicksal gab ihr nun die Möglichkeit den Fall als Kriminalbeamtin zu verfolgen.

Ein Blick auf die Uhr am Bahngleis zeigte ihr, dass sie sich nicht hetzen musste. Gemütlich schlenderte sie die Treppe hinunter. Gleich gegenüber der Treppe, die zu den Gleisen führte gab es einen kleinen Kiosk. Der Duft von frischgebrühtem Kaffee stieg ihr in die Nase. Hinter dem Tresen erkannte sie Valentino. Ramona schätzte Valentino auf Mitte fünfzig. Die Haare pechschwarz. Er stammte aus Sizilien und führte diesen Kiosk schon mehr als zehn Jahre. In früheren Zeiten besuchte Ramona seinen Kiosk jeden Tag und versorgte sich mit Kaffee und Franzbrötchen. Obwohl er wusste, dass Ramona bei der Polizei arbeitete, hatte er ihr immer wieder mit einem Grinsen im Gesicht davon berichtet, dass er der verlängerte Arm der italienischen Mafia sei und der Kiosk nur ein kleiner Nebenerwerb sei.

„RAMONA!“, rief er ihr schon von weitem entgegen, kam hinter der Theke hervor, ging auf sie zu und breitete die Arme aus.

„Valentino, schön dich zu sehen. Du hast mich also nicht vergessen?“, Ramona ließ sich von ihrem italienischen Charmeur in die Arme nehmen und links und rechts auf die Wange küssen.

„Vergessen? Wie könnte ich meine wunderschöne Ramona vergessen? Wo warst du die ganze Zeit? Ich habe dich ja Monate nicht gesehen. Was sag ich Monate? Das muss ja mehr als ein Jahr her sein. Komm rein, komm rein. Du musst mir alles erzählen.“

Ramona folgte ihm in seinen Kiosk. Noch bevor sie etwas bestellen konnte, hatte er ihr einen Kaffee eingegossen und ein Franzbrötchen serviert. Sie war gerade dabei ihr Portemonnaie rauszuholen, da blickte er sich ernst an.

„Ramona, du beleidigst mich.“ Lächelnd steckte sie die Geldbörse wieder ein und bedankte sich für die Einladung. Nach dem ersten Bissen blickte sie verliebt in seine Richtung.

„Du hast immer noch die besten Franzbrötchen der Stadt. Ach was sage ich? Die besten Franzbrötchen im ganzen Land.“

„Naja, die Franzbrötchen gibt es ja auch exklusiv bei uns in der schönsten Stadt der Welt.“

„Nein, du wirst es nicht glauben“, antwortete sie „Ich habe gehört, dass es jetzt auch schon in Berlin Franzbrötchen zu kaufen gibt.“

„Du willst mir veräppeln? Unsere Franzbrötchen in Berlin? Gott bewahre. Mit diesem Land geht es wirklich immer weiter bergab. Vielleicht muss ich doch wieder zurück in meine alte Heimat.“

„Und wer übernimmt dann deine Mafia-Geschäfte hier in Hamburg?“, fragte Ramona mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht.

„Du weißt es also noch? Hast du Interesse?“

„Ne du, lass mal stecken. Ich bin jetzt wieder auf der anderen Seite des Gesetzes zu finden.“

„Das bedeutet, du kommst jetzt wieder regelmäßig?“

„Scheint so.“

Nachdem sie den letzten Bissen genommen hatte, nahm er sie erneut in den Arm und küsste sie auf beide Wangen.

„Heute ist ein guter Tag!“

„Danke. Es hat mich auch gefreut, dich wiederzusehen. Und danke für den Kaffee und das Franzbrötchen. Tut mir leid wegen dem Kaffee, aber seit kurzem vertrage ich keinen Kaffee mehr. Aber ab morgen bezahle ich mein Franzbrötchen wieder. Jetzt muss ich los. Will ja nicht gleich an meinem ersten Tag zu spät kommen.“

Das Polizeipräsidium war nur wenige hundert Meter von der U-Bahn-Station Altersdorf entfernt. Obwohl heute Morgen im Radio Regen angekündigt worden war, konnte sie einen wolkenlosen Himmel über dem benachbarten Stadtpark erkennen. Sie freute sich schon darauf, dort wieder ihre Mittagspause zu verbringen. Nun stand sie aber erstmal ehrfürchtig vor dem riesigen Gebäude. Am Eingang begrüßte sie den Pförtner und zeigte ihren Personalausweis vor. Obwohl sie dieses Gebäude und die vor ihr liegenden Aufgaben sehr gut kannte und wusste, was auf sie zukam, schwitzten ihre Hände und sie spürte ihren Herzschlag in der Brust rasen. Vermutlich lag es daran, dass sie nicht mehr damit gerechnet hatte, in ihren alten Job zurückkehren zu können. Hatte sie doch zu viele Dinge auf katastrophale Art falsch gemacht. Von nun an, würde sie sich keine Fehler mehr erlauben.

„Guten Morgen Frau Hagen, schön sie nach so langer Zeit wiederzusehen.“

„Guten Morgen, aber wie oft soll ich es Ihnen denn noch sagen: Nennen sie mich bitte Ramona.“

„Verzeihen sie, aber ich bin von der alten Schuhe. Ich würde sie gerne weiterhin Siezen, wenn sie es mir gestatten.“

„Natürlich. Ach, was habe ich sie vermisst. Wie geht es ihnen und ihrer Frau?“

„Meine Frau ist leider vor einem halben Jahr von uns gegangen.“

„Oh, das tut mir leid. War sie krank?“

„Krebs.“

„Verdammt. Wie kommen sie klar?“

„Es geht. Unsere Tochter hat letztes Jahr eine süße Tochter bekommen und ich weiß, dass mein Enkelkind ihren Opa braucht.“

„Das stimmt.“

„Und wie geht es ihnen?“, fragte er und sprach etwas leiser weiter: „Ich habe gehört, dass sie nochmal in der Klinik waren?“ Ramona schaute ihn irritiert an.

„Oh verzeihen sie, wenn ich zu indiskret war.“

„Nein, nein, schon Okay. Wir kennen uns ja schon so viele Jahre. Ich wusste nur nicht, dass es sich so herumgesprochen hatte.“

„Ich habe es aber niemanden weitergesagt. Das müssen sie mir glauben.“

„Ich weiß. Machen sie sich keine Gedanken. Die Therapie hat mir wirklich gutgetan und ich bin zuversichtlich, dass ich… naja…, dass ich meine Probleme nun in den Griff bekommen werde.“

„Da bin ich ganz zuversichtlich. Sie sind eine starke Frau.“

„Danke. Ich habe sie wirklich vermisst. Aber jetzt muss ich langsam los. Ich will ja an meinem ersten Tag nicht zu spät kommen.“

„Nehmen Sie bitte den Aufzug da vorne und dann...“

„Danke. Ich kenne mich hier noch aus“, unterbrach sie ihn und lächelte.

„Natürlich. Hier ist ihr vorläufiger Hausausweis. Bitte bringen sie ihn mir zurück, nachdem sie ihren neuen Dienstausweis in Empfang genommen haben, dann können sie sich wieder frei im Haus bewegen.“

„Danke“, antwortete Ramona und ging durch die Sicherheitsschleuse.

Sie war wieder zuhause.

Als sie den Flur betrat der in einem langgezogenen Bogen einen großen Kreis beschrieb, kam ihr als erster dieser bekannte Geruch in die Nase. Ein unangenehmer Geruch nach nassem Hund und alten Socken. Sie liebte es. Am Ende des Flurs lag das Büro ihres alten und nun ihres neuen Chefs. Wer würde sie dort wohl erwarten? Würde es ein bekanntes Gesicht oder jemand neues sein? Als sie Tür zum Büro erreichte, atmete sie noch einmal tief durch und drückte die Türklinke nach unten.

Kapitel 3

Ramona betrat das Büro und hoffte insgeheim, dass sie ihren alten Chef und Mentor Hans-Heinrich hinter seinem Schreibtisch sehen würde. Sie hätte noch so viele Fragen an ihn. Das Büro war noch immer so eingerichtet, wie sie es aus früheren Zeiten her kannte. Selbst die Ernennungsurkunden von Hans-Heinrich hingen noch an den Wänden. Doch dann drehte sich der Bürostuhl, dessen Rückenlehne sie bislang nur sehen konnte und sie konnte nicht glauben, was sie sah.

„Pierre? Bist du das?“, fragte Ramona mit offenem Mund. Vor ihr erhob sie ein Mann, der dunkle Haare und einen modischen Anzug trug. Er ging um den Schreibtisch herum und umarmte Ramona freundschaftlich. Dann schob sie ihn leicht zurück und musterte ihn von oben bis unten.

„Wie immer top gestylt. Aber du hast ein paar Kilos mehr auf den Hüften, wie?“, fragte sie ihn und er nickte leicht verschämt als Antwort. „Wie lange ist es her?“, fuhr sie fort.

„Gute zehn Jahre würde ich sagen“, antwortete Pierre und musterte sie ebenfalls.

„Was machst du hier? Hast du heute auch deinen ersten Tag?“

„Ja, woher weißt du das?“, fragte Pierre.

„Na, du sollst dich hier sicherlich auch beim Chef vorstellen. Fängst du auch bei der Kripo an? Man, ich freu mich riesig dich zu sehen. Zehn Jahre. Was für eine lange Zeit. In der Zeit ist viel passiert.“ Ramona wurde etwas nachdenklich. Doch dann hatte sie sich wieder gefangen und fuhr fort: „Sei nur froh, dass ich eben in das Büro gekommen bin und nicht unser neue Chef. Dem hätte das bestimmt nicht gefallen, dass du in seinem Stuhl sitzt. Ich kann das immer noch nicht glauben. Wir hatten damals so eine tolle Zeit auf der Polizeischule und jetzt arbeiten wir wieder zusammen. Du musst mir alles erzählen, was du in den letzten Jahren gemacht hast.“

Pierre ging wieder zurück um den Schreibtisch, deutete mit der Hand auf den Stuhl vor den Schreibtisch und nickte Ramona zu. Dann setzte er sich erneut in den großen Schreibtischsessel und lächelte Ramona zu. Sie schaute ihren ehemaligen Kollegen stumm an und setzte sich dann zögerlich. Dann kam ihr die Erkenntnis und sie zeigte sich in ihrem Blick. Sie brauchte nicht zu fragen und Pierre brauchte nicht zu antworten. Er nickte ihr nur zu und ließ ihr Zeit, die neue Information zu verarbeiten. Dann stand sie plötzlich abrupt auf und verließ das Büro. Sie schaute draußen auf das Namensschild neben der Bürotür, das sie sich vorhin nicht weiter angesehen hatte. Dort stand es schwarz auf weiß: Hauptkommissar Pierre Dumont. Langsam kam sie zurück ins Büro und setzte sich wortlos wieder auf den Stuhl.

„Ich freue mich übrigens auch dich zu sehen!“

„Ich…ich…“, stammelte sie. „Du? Wieso?... woher...?“

„Ich erzähle dir mal die Kurzform. Die lange Version erzähle ich dir zu einem späteren Zeitpunkt bei einem Bier… Ähm, ich meine bei einer Tasse Kaffee.“

„Du weißt also?“ Ramona spürte eine leichte Verunsicherung ihres neuen Chefs. Ohne auf Ramonas Frage einzugehen, fuhr er fort:

„Nachdem wir beide unsere Abschlussprüfung erfolgreich beendet haben, hat es mich zunächst für zwei Jahre nach Hannover verschlagen. Dann habe ich auf einem Kurztrip nach Paris meinen heutigen Ehemann kennengelernt und mich Hals über Kopf in ihn verliebt. Ich habe noch in derselben Woche meinen Job hier in Deutschland gekündigt und bin zur Polizei nach Paris gewechselt. Vor fünf Jahren sind wir beide dann nach Köln gezogen, wo ich bei der Bundespolizei im Bereich der Cyberkriminalität angefangen habe. Vor ein paar Monaten habe ich dann von der Ausschreibung dieser Stelle erfahren und mich beworben. Wir haben uns in der HafenCity eine schöne, gemütliche Wohnung gekauft und hier bin ich nun.“

„Hast du mir den Job verschafft?“, fragte Ramona, die noch immer sichtlich irritiert war.

„Nein. Ich habe erst letzte Woche eine Übersicht meiner neuen Mitarbeiter erhalten. Und wie du eben richtig erraten hast, ist auch heute mein erster Arbeitstag hier.“

„Weißt du denn nicht, wer mir diese Stelle angeboten hat?“

„Ehrlich gesagt, Nein. Aber ich habe nur noch auf dich gewartet. Ich wollte jetzt eh die neuen Kollegen kennenlernen. Ich habe sie zu einer kurzen Begrüßung in den Konferenzraum geladen. Da du dich hier besser auskennst, als ich, würde ich dich bitten, uns dort hinzuführen.“

„Na klar. Kein Problem.“

Zwei Minuten später betraten sie einen großen Besprechungsraum, der Platz für dreißig bis vierzig Personen bot. Heute waren aber nur eine Handvoll Personen anwesend. Während sich Ramona einen der vielen freien Stühle nahm und sich schweigend setzte, steuerte Pierre zielsicher und selbstbewusst die linke Wand des Raumes an. Dort befand sich ein großer Bildschirm, links und rechts umrahmt von zwei riesigen weißen Tafeln. Vor dem großen Flachbildschirm stand ein großer Schreibtisch. Statt sich auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch zu setzen, bevorzugte er es, sich locker und leger auf die Vorderkante des Tisches zu setzen. Dann schaute er sich schweigend im Raum um und musterte die anwesenden Personen. Ramona zählte zwei Frauen und vier Männer. Als erstes ins Auge fiel ihr eine Frau, die langes, blondes Haar trug, dass sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Sie trug ein ärmelloses Shirt und offenbarte eine Vielzahl an Tattoos an beiden Armen und dem Hals. Sie war für eine Frau außergewöhnlich muskulös und Ramona schätzte sie, obwohl sie saß, auf mindestens einen Meter achtzig. Ramona schätzte sie auf Mitte zwanzig.

Das genaue Gegenteil der Frau, die jung, schön und durchtrainiert war, saß nur wenige Meter entfernt. Der Mann wog gefühlt das doppelte der Frau, obwohl sie größer war, als er. Statt langer blonder Haare, trug er eine voranschreitende Glatze. Das Sakko war mindestens eine Konfektionsgröße zu klein. Sie schätzte den Mann auf Mitte fünfzig.

Die andere Frau und die anderen drei Männer konnte sie sich nicht mehr genauer anschauen, da nun Pierre das Wort ergriff und sie sich ihm zuwandte.

„Schönen guten Morgen und vielen Dank, dass sie es alle eingerichtet haben. Ich weiß, dass sie alle einen vollen Schreibtisch haben und deshalb will ich es kurz und knapp halten. Mein Name ist Pierre Dumont und ich bin ihr neuer Chef. Wenn es für alle Okay ist, dann würde ich gern beim zwanglosen „Du“ bleiben. Also ich bin Pierre. Ist das für alle Okay?“ Pierre schaute in die Runde und Ramona konnte zustimmendes Kopfnicken und ein kurzes „Ja“ vernehmen. Einzig der Mann mit der Glatze schien nicht ganz zufrieden zu sein. Er schaute etwas grimmig nach links und rechts, ganz offenbar mit dem Ziel Mitstreiter zu finden, die seine Meinung teilten. Doch außer ihm, schienen alle das „Du“ ihres neuen Vorgesetzten gut zu finden. Ramona war es auch recht, war sie doch früher die Einzige in der Abteilung, die Hans-Heinrich duzen durfte, was immer wieder zu Eifersucht unter den Kollegen führte und sie dankbar war, dass nun alle Pierre duzen würden. Ein potenzieller Streitpunkt weniger.

„Wie ihr vielleicht eben mitbekommen habt, bin ich nicht alleine gekommen. Neben mir hat heute noch eine Kollegin ihren ersten Tag. Ramona Hagen.“ Synchron drehten sich alle zu ihr um und musterten sie. Ramona mochte es nicht, wenn sie von allen Seiten begutachtet wurde und beschloss die Situation etwas aufzulockern und erhob sich von ihrem Stuhl:

„Hallo, oder Moin wie man ja in Hamburg zu sagen pflegt. Ich bin froh hier bei euch zu sein und Teil eures Teams zu werden. Was wollt ihr von mir wissen? Also ich bin inzwischen achtunddreißig, was man mir hoffentlich noch nicht ansieht. Ich bin schon lange bei der Polizei und habe hier vor einiger Zeit bereits gearbeitet. Aber, wenn ich mir eure Gesichter so ansehe, dann kann ich kein bekanntes Gesicht erkennen. Wir werden uns bestimmt gut verstehen. Soweit erstmal, okay?“, fragte sie in Pierres Richtung. Pierre nickte dankend und Ramona setzte sich wieder. Zwei Stuhlreihen weiter vor ihr, sah sie, wie einer ihrer neuen Kollegen sich zu einem anderen beugte, die Geste eine Flasche machte und dann lachend mit dem Daumen zu ihr zeigte. Ramona musste sich zusammenreißen und dachte an eine Übung, die sie in der Klinik gelernt hatte, um ihre Gewaltimpulse unter Kontrolle zu behalten. Ihr Akte schien also schon die Runde gemacht zu haben. Das war ja ein super Einstand. Auch wenn sie es nicht vorhatte, so beschloss sie, ohne beide wirklich zu kennen, dass sie ihre beiden neuen Kollegen nicht mochte. Ohne wirkliche körperliche Ähnlichkeiten feststellen zu können, nannte sie beide für sich Stan und Olli.

Was folgte, war eine kurze Vorstellungsrunde der anderen Teammitglieder. Die Blonde hieß Freya und kam aus Schweden. Pierre war halber Franzose, Freya war Schwedin. Sie war also Mitglied eines internationalen Teams. Die Glatze hieß Marco. Johanna und Elias rundeten das Team ab.

Das Team bestand aus zwei Ermittlerteams. Zu ihrer Freude musste sie weder mit Stan noch mit Olli ein Team bilden. Dass sie den glatzköpfigen Marco als Partner an die Seite gestellt bekam, ließ sie allerdings auch nicht in Jubelschreie ausbrechen. Freya war die Computer Expertin. Sie hatte in Göteborg Informatik studiert und sprach überraschend gut deutsch. Johanna und Elias waren im hauptsächlich für die Recherche und für die Büroarbeit tätig. Besonders Elias betonte, dass er lediglich im Innendienst arbeiten würde. In Ramonas Augen war Elias ein Schwächling, Freya eine Powerfrau, Stan und Olli vorlaute Idioten, Marco ein Grießgram und Johanna ein Mauerblümchen. Sie hat schon in besseren Teams gearbeitet.

Kapitel 4

Letztes Jahr

Nachdem Ramona das Krankenhaus verlassen hatte, indem Mehmet behandelt wurde, setzte sie sich in ihr neues Auto und dachte nach. Sie versuchte das eben geführte Gespräch mit ihrem alten Schulfreund zu analysieren. Der attraktive Mann mit muslimischen Wurzeln lernt eine wunderschöne Frau kennen und beide verlieben sich ineinander. Sie gründen eine Familie und Mehmet findet eine Stelle in der Firma seines Schwiegervaters. Sowohl der Vater, als auch die Dorfbewohnerin galten nicht als besonders liberal und weltoffen. Eher im Gegenteil. Trotzdem dulden sie den Mann an der Seite seiner Tochter. Die Tochter, Mehmets Frau, beginnt aber nach und nach einen international agierenden Menschenschmugglerring aufzubauen. Die Logistik bietet die Spedition ihres Vaters. Sonja lebt ein Doppelleben. Auf der einen Seite die glückliche, weltoffene Familie und auf der anderen Seite, die skrupellose Menschenhändlerin und… Mörderin. Mindestens zwei Morde hatte sie in ihrer Gegenwart zuzugeben. Da war zum einen der Professors, Claas´ Onkel, der hinter die Machenschaften gekommen war und leider die falschen Fragen gestellt hatte. Und dann war da noch Stefan, ihr ehemaliger Arbeitskollege, dem sie sich anvertraut hatte und der aufgrund seines Mitwissens sterben musste. Sehr wahrscheinlich hatte sie auch Hans-Heinrich getötet, ihren ehemaligen Chef. Warum nur wurde in den Nachrichten von nur einem toten Polizisten gesprochen? Es müssten zwei gewesen sein. Sie hatte die Schüsse gehört.

Mehmet hatte von all dem nichts gewusst. Er lag im Krankenhaus und konnte von Glück reden, dass der, als Unfall getarnte, Mordversuch missglückte. Mehrere Tage hatte er im Koma gelegen und so konnte Ramona ihm erst heute, nachdem er wieder zu sich gekommen war, die ganzen Hintergründe erklären. Mehmet reagierte weniger geschockt, als sie erwartet hatte. Er hatte schon seit längerem ein seltsames Gefühl. Mehmet überredete sie, den Fall nicht zu den Akten zu legen, sondern weiter zu ermitteln. Sonja war tot, aber sie war nicht die Einzige, die die Strippen gezogen hatte. Wenn sie den ganzen Menschenhändlerring zerschlagen wollte, dann musste sie weitermachen. Ihr Problem war nur, dass sie nicht mehr im aktiven Dienst der Kripo war und selbst ihren Job bei der Verkehrssicherheit war sie inzwischen bestimmt los. Sie fuhr das Auto von Sonja, nach dem bestimmt schon in wenigen Stunden gefahndet wurde. Ihre Wohnung war ausgebrannt und unbewohnbar. Ihre einzige verbliebende Spur war ein unbekannter Postkartenschreiber, der vermutlich noch nicht mal mitbekommen hatte, dass sie in diesem Fall ermittelt hatte. Einzig die fünfzigtausend Euro, die sie in Sonjas Auto gefunden hatte, gaben ihr ein wenig Zuversicht, denn sie musste zumindest nicht auf der Straße leben.

Dem Gesundheitszustand nach zu urteilen, würde Mehmet noch mindestens eine Woche im Krankenhaus bleiben müssen. In dieser Zeit musste sie einige Dinge organisieren. Sie musste das Auto loswerden und sie musste ihre Wettschulden begleichen, sonst hätte sie in wenigen Tagen, die nächsten an der Hacke, die ihr nach dem Leben trachteten. Ramona hatte kein Gefühl, ob Sonja den anderen Hintermännern von ihr erzählt hatte. Gab es jemanden, der etwas wusste oder konnte sie ungehindert ermitteln? Sie nahm sich vor zumindest die nächsten Wochen extrem vorsichtig zu sein. Sie würde sich eine kleine Wohnung suchen und einen kleinen Job annehmen. Und wenn sich alles etwas beruhigt hätte, dann würde sie beginnen Fragen zu stellen.

Ramona startete den Wagen.

Kapitel 5

Als Ramona ihre Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, lehnte sie sich mit dem Rücken an die Tür, schloss für einen Moment die Augen und horchte in sich hinein. Wie fühlte sie sich? Die Überraschung, dass ihr ehemaliger Polizeischulfreund nun ihr Chef war, hatte sie inzwischen verarbeitet. Es hätte deutlich schlimmer kommen können. Mochte sie ihn damals doch immer am liebsten und freute sich nun auf die Zusammenarbeit. Ihr neues Team hingegen fand sie noch etwas gewöhnungsbedürftig. Besonders mit Stan und Olli würde sie gewiss noch mehrfach aneinander rasseln, das war ihr schon nach dem ersten Tag klar. Sie hatte sich ihr Lachen nicht verkneifen können, als die beiden sich heute Morgen in der Teamrunde mit Stefan Peters und Oliver Rolffs vorgestellt hatte. Sie hatte so laut losgelacht, dass sie alle irritiert angeschaut hatten, doch sie konnte sich nicht mehr einkriegen, bekam einen regelrechten Lachflash, wie sie ihn seit Jahren nicht mehr von sich gekannt hatte. Ihr liefen die Tränen aus den Augen und sie musste erstmal den Raum verlassen, um sich zu beruhigen. Pierre schaute sie irritiert an und schüttelte ungläubig den Kopf. Nachdem sie sich wieder beruhigt hatte und zurückkehren wollte, da war die Besprechung auch schon zu Ende gewesen. Sie folgte der Glatze, wie sie Marco ab sofort heimlich nannte, in ihr gemeinsames Büro. Dort hatte er ihr ihren aktuellen Fall kurz und knapp erläutert. Sie hatten vor zwei Tagen eine männliche Leiche in einem Seitenarm der Alster gefunden. Da es keine äußeren Anzeichen für ein Gewaltverbrechen gab und im Blut des Toten bei der Obduktion Alkohol nachgewiesen wurde, wurde von einem Unfall ausgegangen. Der Leichnam sollte am nächsten Tag für die Hinterbliebenen freigegeben und die Akte geschlossen werden. Es musste nur noch der Abschlussbericht geschrieben werden. Die Glatze hatte sich an den Rechner gesetzt und Ramona hatte kurz zugeschaut, um sicherzugehen, dass das EDV-Programm immer noch das alte war. Nachdem sie wusste, dass sie keine Einweisung in die Technik nötig hatte, setzte sie sich zu Freya und unterhielt sich angeregt mit ihr über Schweden. Freya, so erfuhr Ramona, hatte eine kleine Schwester die aus dem Autismus-Spektrum kam. Sofort musste sie an ihren lieb gewonnenen Freund Claas ging. Sie erinnerte sich kurz an das Telefonat mit ihrem Ex-Mann und war froh, dass es ihm gut ging. Sie beschloss ihn bald zu besuchen. Freya gegenüber erwähnte sie Claas nicht.

Nun stand sie in ihrer neuen Wohnung und wusste nicht so recht etwas mit sich anzufangen. Sie war zwar erschöpft von ihrem ersten Arbeitstag aber noch nicht müde. Stattdessen hatte sie einen Bärenhunger. Da sie eh nicht vorhatte vor Mitternacht ins Bett zu gehen, sie würde eh nicht schlafen können, beschloss sie, etwas essen zu gehen. Sie sprang kurz unter die Dusche, zog sich das einzige Kleid an, das sie in ihrem Kleiderschrank hatte und verließ die Wohnung.

Wo ihre kleine Tochter wohl sei? Seit dem Traum letzte Nacht war sie sicher, dass sie noch lebte. Sie musste sie finden. Kurz war sie versucht wieder ins Präsidium zu fahren, um zu recherchieren, aber ihr war bewusst, dass sie damit noch ein paar Tage warten musste. Womit hätte sie ihre Anwesenheit auch erklären sollen, arbeitete sie doch derzeit noch nicht aktiv an einem Fall.

Nachdem sie bei einem Italiener um die Ecke einen köstlichen Salat mit Thunfisch gegessen hatte, überkam sie das Bedürfnis noch ein wenig um die Häuser zu ziehen. Ziellos ging sie durch die Straßen ihrer Stadt. Mal bog links ab und dann wieder rechts. Die Entscheidungen traf sie intuitiv und ließ es einfach geschehen. Dann stand sie plötzlich vor einer Bar, aus der Live Musik auf die Straße klang. Sie mochte das Lied, das gespielt wurde, ein alter Coldplay Song und da es gerade leicht anfing zu regnen, betrat sie kurzentschlossen die Bar. Sie war trotz der späten Stunde und der Tatsache, dass heute Montag war, überraschend gut besucht. Da die Tische alle belegt waren, ging sie an den Tresen und bestellte eine Cola light. Nachdem der Barkeeper, ein gutaussehender Mann Mitte zwanzig mit himmelblauen Augen und langen, dunklen Haaren, sie fragend anschaute, ergänzte sie:

“Ich muss noch fahren”, was gelogen war, aber sie wollte keine Diskussion. Am Trinkgeld würde sie schon nicht sparen.

Sie nahm ihre Cola und drehte sich um. Das Glas behielt sie dabei fest in der Hand, kannte sie doch aus ihrer beruflichen Erfahrung genügend Fälle, in denen Frauen, wie sie in Kneipen wie dieser, von fremden Männern angesprochen, mit Ko-Tropfen betäubt und später vergewaltigt wurden. Ihr Blick scannte ihre Umgebung. Sie sah drei Studentinnen auf der kleinen Tanzfläche vor der dreiköpfigen Band abrocken. Die eine himmelte den Sänger auf eine fast schon abartige Art und Weise an, dass dieser sicher sein konnte, heute Abend noch einen wegstecken zu können. An den Tischen sah sie mehrere Paare sitzen, eine Gruppe junger Männer und ein größere Gruppe Frauen Mitte vierzig. Sie tippte auf eine Touristengruppe. An der Theke standen auch vornehmlich jüngere Gäste. Sie wollte sich gerade zurück zum Barkeeper drehen, als sich plötzlich ein Mann neben sie stellte. Während sie noch überlegte, mit welchem billigen Spruch er sie ansprechen würde, musterte sie ihn heimlich. Ramona war von sich selbst überrascht, dass er ihr gefiel und sie sich ärgerte, dass er statt eines billigen, einfallslosen Anmachspruch gar nichts sagte. Er sah sie nicht mal interessiert hat. Gefiel sie ihm denn nicht? Sie schaute gegenüber in den Spiegel und begutachtete sich selbst. Okay, sie hatte auf ein aufwendiges Make-up verzichtet, aber das Kleid saß wie eine eins und betonte ihren trainierten Körper. Sie war zwar keine zwanzig mehr, aber konnte es optisch mit den jungen Studentinnen hier locker aufnehmen. Zumal der Mann neben ihr auch nicht mehr der Jüngste war. Sie schätze, dass er, wie sie, Ende dreißig war. Er trug ein schlichtes weißes Hemd und lies die oberen zwei Knöpfe offen. Dazu trug er eine schlichte Jeans. Die Schuhe konnte sie nicht sehen, ohne den Blick nach unten sie senken.

Nun standen sie schon fast fünf Minuten nebeneinander und er hatte sie weder angesprochen, noch angelächelt oder gar angeschaut. Sie war zwar eine moderne Frau, aber erwartete trotzdem, dass der Mann den ersten Schritt gehen müsste. Schüchtern sah er nicht aus und einen Ring am Finger konnte sie auch nicht ausmachen. Langsam wurde es ihr zu bunt. Sie trank den letzten Schluck ihrer Cola und war gerade dabei, sich zu ihm hinzudrehen, als er fragte:

“Darf es noch eine Cola sein? Oder ist dir ein Tanz lieber?”

Sie überlegte kurz, ob ihr der Spruch zu billig war, oder ob er noch akzeptabel war. Es war ihr egal. Sie lächelte ihn an. Er drehte sich zu dem Barkeeper und gab ihm ein Zeichen noch eine Cola zu bringen. Dann drehte er sich zu ihr hin und sagte:

“Ich habe dich hier noch nie gesehen. Mein Name ist…”, sie unterbrach ihn und fragte ihn stattdessen:

“Wohnst du hier in der Nähe? Ich habe keine Lust auf quatschen und wie du heißt, interessiert mich ehrlich gesagt nicht.”

Der Fremde holte einen Zwanzig-Euroschein aus der Tasche, legte ihn auf den Tresen und beide verließen die Bar.

Kapitel 6

Schweißgebadet ließ sich Ramona in das Bettlaken fallen.

“Wow, das war gut”, sagte sie mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht und drehte sich zu dem Fremden neben ihr. “Das war richtig, richtig gut. Ich muss zugeben, dass ich das so nicht erwartet hätte.”

Der Fremde neben ihr legte sich auf die Seite und stürzte seinen Kopf mit dem Arm ab. Mit der anderen Hand streichelte er ihr zärtlich über die Schulter und den Arm.

“Dankeschön. Das Kompliment kann ich nur zurückgeben. Ich wurde noch nie so schnell aufgerissen.” Der Fremde schaute auf seine Uhr. “Ich meine, Hey, wir kennen uns keine drei Stunden. Und ich weiß noch nicht einmal deinen Namen. Ich bin übrigens…”, doch weiter kam er nicht, denn in diesem Moment klingelte Ramonas Handy und sie hob die Hand, um ihn verstummen zu lassen.

Da außer ihren neuen Arbeitskollegen niemand ihr neue Nummer hatte, suchte sie leicht hektisch nach ihrer Jacke, die irgendwo zwischen Wohnungstür und Schlafzimmer liegen musste. Nackt wie Gott sie schuf stand sie auf und ging in den Flur. Als sie die Jacke endlich gefunden und das Handy aus der Jackentasche gefummelt hatte, verstummte der Klingelton. Sie hatte noch nicht die Nummern der anderen als Kontakte hinterlegt und wusste somit nicht, wer sie versucht hatte anzurufen. Sie wartete einen Moment und hoffte auf eine Nachricht auf der Mailbox. Ramona musste nicht lange warten, bis sie eine Textnachricht erhielt. Die Nachricht war kurz und knapp. Dennoch war sie ausreichend, um sie sofort handeln zu lassen. Sie schnappte sich ihr Kleid und die Unterwäsche und ging zurück ins Schlafzimmer.

“Du, ich will nicht unromantisch sein, aber ich muss leider los. Hab noch etwas zu erledigen.”

“Um diese Uhrzeit?”, fragte der Fremde und schaute skeptisch auf die Uhr. “Oder war das dein eifersüchtiger Ehemann, der fragt, wann du nach Hause?”

Ohne die Frage zu beantworten, ging sie ins angrenzende Badezimmer, um sich anzuziehen. Nachdem sie sich hastig frisch gemacht und angezogen hatte, kehrte sie ins Schlafzimmer zurück. Als sie gerade eine Erklärung für ihren überhasteten Aufbruch zum Besten geben wollte, stockte sie. Der Fremde hatte sich zwischenzeitlich ebenfalls angezogen und tippte eine Nachricht in sein Handy.

“Oh, wie kommt’s? Noch nicht genug? Willst du nochmal los, um dir eine weitere Geliebte für den Rest der Nacht zu angeln?”

“Nein. Du wirst es nicht glauben, aber ich kann auch schweigen. Genau wie du. Ich war so frei und habe dir ein Taxi gerufen.”

“Danke, aber das wäre nicht nötig gewesen.”

“Ich weiß, aber wenn ich dir schon keinen Kaffee anbieten kann, dann lass mich dir zumindest ein Taxi rufen.”

Auf dem Weg zur Wohnungstür konnte Ramona einen kurzen Blick in das Arbeitszimmer des Fremden erhaschen, als dieser sich eine kleine Umhängetasche vom Schreibtisch schnappte. Alles ging so schnell, dass sie nicht groß nachdenken konnte. Zu skurril war die Situation. Als sie gemeinsam mit dem Fahrstuhl nach unten fuhren, überlegte sie fieberhaft, was ihr gerade beim kurzen Blick in das Arbeitszimmer aufgefallen war. Sie hatte ein Gefühl, dass sie in diesen zwei Sekunden etwas Wichtiges gesehen hatte, dass sie irritiert hatte. Aber sie konnte nicht sagen, was es war. Es muss ihr Unterbewusstsein gewesen sein, die diese Entdeckung gemacht hatte. So wichtig kann es aber nicht gewesen sein.