Chubby, Electra und ich - F. B. Meadows - E-Book

Chubby, Electra und ich E-Book

F. B. Meadows

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Beschreibung

F. B. Meadows lädt uns ein, eine junge Frau näher kennenzulernen, die ein Anwesen in Schottland geerbt hat. Henrietta, kurz Henry, hat zunächst nur ihre Freundinnen und einen Haufen Probleme, doch als sie sich verliebt und die ersten Abenteuer überstanden hat, kommt alles noch einmal ganz anders. Das Leben ist eben kein Ponyhof – auch wenn man das Glück hat, dass es sich dort abspielt, heißt das noch lange nicht, dass alles reibungslos läuft nach einem vermeintlichen Happy End, oder?

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Seitenzahl: 595

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F. B. Meadows

Chubby, Electra und ich

F. B. Meadows

Chubby, Electra und ich

Ein Buch aus der Reihe über die Frauen der Familie Grey

R. G. Fischer Verlag

Die Handlung dieses Romans sowie die darin vorkommenden Personen sind frei erfunden; eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Begebenheiten und tatsächlich lebenden oder bereits verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2023 by R. G. Fischer Verlag

Orber Str. 30, D-60386 Frankfurt/Main

Alle Rechte vorbehalten

Schriftart: Times/Function 11,5 pt

Herstellung: rgf/bf/SU F1

ISBN 978-3-8301-9480-4 EPUB

Prolog

Tyler war sich nicht sicher, aber er hatte das Gefühl, dass er die Bankräuberin kannte.

Für ihn gab es nur eine Gewissheit: Man musste das hier stoppen! Weder der Bankdirektor, der ihn gerade bedient hatte und die Devisen, die er ihm vorgezählt hatte, in kleine Umschläge steckte, noch die ältliche Schalterbeamte, die ihn sonst immer bediente, schienen in der Lage, etwas zu unternehmen.

Er war in Gedanken bereits im Auto bei seiner Frau. So lange waren sie nicht mehr zusammen unterwegs gewesen. Die Kinder, die Pferde, das Hotel. Und wenn da nichts los war, hatte er Seminararbeiten korrigiert oder einen Abgabetermin für ein Manuskript gehabt. Sie hatten es einfach nicht geschafft sich los zu machen — und jetzt lag Paris vor ihnen, die Pyrenäen, Spanien. Die edlen Andalusier, die Pferde der Camargue …

Es war so viel mehr als eine zweite Hochzeitsreise.

In seinem Kopf lief ein Kurzfilm über seine erste Hochzeitsreise mit Henry ab.

Seine Henrietta. Wie lange hatte er auf sie gewartet? Damals war das sein halbes Leben gewesen — jetzt waren sie fast ein ganzes Leben zusammen — und der Rest würde noch so viel besser werden.

»Kommen Sie! Das können Sie doch nicht machen!«

Und da richtete sich die Waffe auf ihn.

Andere hätten vielleicht nur auf die Mündung des Laufs geschaut, aber er sah auf die Hand, die er erkannte — und dann sah er die Augen unter der Gesichtsmaske.

Ja, er kannte die Frau.

Er wandte sich schnell ab, aber das half nichts mehr, denn die Kugel traf ihn mitten ins Herz, bevor er noch einmal sprechen konnte.

Hallo

Hallo, mein Name ist Henry – also eigentlich heiße ich Henrietta, aber alle nennen mich nur Henry. Ich sitze hier in der Eingangshalle meines Hauses. Es ist ein großes und schönes Haus und damit ist auch die Eingangshalle groß und schön, aber wenn ich ehrlich bin, dann ist sie auch schon ein bisschen schäbig – wie der ganze Rest des Hauses – und ich wohl auch …

Vielleicht sollte ich erklären, dass meine Eltern vor zehn Jahren verunglückt sind und dass ich genug damit zu tun habe, den Betrieb mit den Pferden aufrechtzuerhalten. Meine Großeltern haben mir geholfen, aber als sie zu alt geworden sind, habe ich mein Studium abgebrochen, um alles zu schaffen, aber mehr geht eben nicht, wenn man alleine ist, und Lebewesen kommen vor Aufräumen und Putzen.

An Tagen wie heute bereue ich es besonders. Marla hatte eine Kolik und ich habe die halbe Nacht gekämpft. Andere Hofbesitzer haben Hilfe, aber die kann ich mir im Moment nicht leisten. Aber das ist nicht mein größter Wunsch. Mein größter Wunsch ist, dass ich irgendwie mein Tierarztstudium doch noch beenden kann und dann nicht immer so hilflos bin, wenn etwas mit den Tieren ist.

Das ist auch der Grund, warum ich in der Halle sitze.

Wenn ich verzweifelt und nahe der Erschöpfung bin, dann sitze ich gerne hier und betrachte unseren Familienstammbaum. Das heißt, es ist kein eigentlicher Stammbaum. Es ist irgendein romantisches Gemälde mit einer idealen Landschaft und einem Baum. Eine Kuh ist auch drauf. Muss einer meiner Vorfahren gekauft haben, denn es waren erst meine Eltern, die den Betrieb auf Pferde umgestellt haben.

Ich weiß noch, wie oft wir uns über den alten abgestorbenen Baum lustig gemacht haben. Wie ich das vermisse! Dad hat auch nicht immer gewusst, was zu tun ist, aber wir haben immer darüber geredet und uns gegenseitig getröstet, wenn etwas schiefgegangen ist. Wenn eines der Tiere krank war oder sich Menschen oder Tiere merkwürdig verhielten. Na ja, Marla ist jedenfalls wieder okay. Sie ist die alte Stute meiner Freundin Phoebe. Wir nennen sie eigentlich immer Electra, weil sie so schön und so voller Energie ist. Wir, das sind Chubby, also meine Freundin Lucy, und ich. Electra zieht so gerne blaue Sachen an und sie ist immer so unglaublich elegant. Ja, ihre Eltern haben Geld und ich habe einen Titel. So ist das eben heute.

Aber ich will mich nicht beschweren. Ich weiß noch genau, wie Electra vor vielen Jahren zum ersten Mal auf dem Hof stand und sich vor allem gefürchtet hat, was sich bewegte. Hunde, Katzen, Pferde. Ihre Mutter hatte sie nie viel draußen spielen lassen und wenn es sich nicht gehört hätte, dass eine junge Dame reiten können muss, dann hätte sie Electra wahrscheinlich zu weiteren Ballett- und Tanzstunden oder Benimmkursen geschickt.

Für mich waren das eben ganz andere Zeiten, in denen ich noch glücklich war und ganz andere, viel kleinere Sorgen hatte … Tanzstunden waren Electras Rache an mir, weil sie bei uns die Reitstunden absolvieren musste. Sie bot mir in der dritten Stunde einen Deal an: »Ich quäle mich hier weiter, wenn du mit mir zum Tanzen kommst.« Sie hatte mir die Benimmstunden verschwiegen, die Teil des Kurses waren, aber ich bin ihr bis heute dankbar – auch wenn ich wahrscheinlich nie in die Verlegenheit kommen werde, in der Öffentlichkeit einen Hummer essen zu müssen …

Ah, da ist sie ja.

»Na, sitzt du wieder vor dem Stammbaum?«

»Ja, ich habe es einfach nicht hoch geschafft. Marla hatte wieder eine Kolik.«

»Marla? Ist sie wieder okay?«

»Ja, du kannst sie reiten. Es würde ihr sogar guttun, wenn sie etwas Bewegung bekäme. Ich hoffe nur, dass Mrs McNulty ihr nicht wieder irgendwelche halb vergorenen Apfelschalen gibt, wenn wir da sind.«

»Mrs McNulty wird heute nicht da sein. Sie hat das Café verkauft, fürchte ich.«

»Wirklich? Dann können wir ja wahrscheinlich gar nicht mehr hin!«

»Doch, doch. Es ist ein sehr umgänglicher Freund von Stephen, der das Café erworben hat. Sie wollen später hinkommen. Aber was ist mit dir? Bist du auch wirklich okay?«

»Klar doch – und selbst wenn ich einschlafen sollte, findet Chap den Weg auch alleine. Der hat noch nie einen Reiter verloren – und mich schon gleich gar nicht.«Chap ist mein erstes selbst zugerittenes Pferd. Er war mit mir auf den Hof gezogen, wo ich meine Ausbildung zur Pferdewirtin, Reit- und Fahrlehrerin gemacht habe. Er kennt nur Stammgäste und mich, aber er ist, wie sein Name schon sagt, ein guter Kerl. »So etwas wie den Einzug des neuen Cafébesitzers lasse ich mir doch nicht entgehen …«

Wir gehen schnell in den Stall und satteln die Pferde. Das geht inzwischen wie geschmiert, selbst bei Electra, und dann machen wir uns auf in das Café, das am Ende des Dorfes, am Rande meines Landes liegt. Die alte Mrs McNulty hatte immer den besten Kuchen und sie hatte nie etwas dagegen, dass ich in Reitklamotten mit mindestens zwei stinkenden Hunden kam. Mein Gott, es wäre wirklich schrecklich, wenn dieser Treffpunkt wegfiele. Ich habe auf dem Feld nebenan extra einen Unterstand für die Pferde gebaut. Manchmal lasse ich sogar die Hunde dort. Wir treffen uns da mindestens einmal in der Woche, wenn Chubby, ich meine Lucy, mit dem Singen in der Kirche fertig ist. Electra wird in zwei Monaten heiraten. Diesen Stephen, den sie schon ewig kennt, ich aber nur flüchtig, eigentlich gar nicht, kenne …

Dann werden diese Treffen vielleicht sowieso einschlafen. Chubby geht ans Konservatorium zurück. Dieses Mal um zu unterrichten, und Electra ist dann verheiratet. Ich kann mir das alles noch gar nicht vorstellen … Und jetzt fängt es auch noch an zu regnen.

Electra wird bestimmt nicht mehr mit zurückreiten. Sie ist ja auch gar nicht angezogen für das Wetter … Ich sattle also beide Pferde ab und bringe sie in den Unterstand. Dort kontrolliere ich das Heu, damit Marla auf gar keinen Fall etwas Feuchtes abbekommt. Die Hunde wollen auch draußen bleiben. Gut, sollen sie. Sie stinken, sind dreckig und nass, und das macht auf den neuen Besitzer bestimmt keinen so guten Eindruck.

Ich jedoch brauche jetzt erst einmal eine Tasse Tee. Oder noch besser eine ganze Kanne!

»Stell dir vor, sie saß in der Halle vor dem Bild mit dem Baum.«

»Dem Stammbaum –« ja, man kann Chubbys ausgebildete Singstimme auch noch auf den hinteren Rängen – oder in diesem Fall in der Nische am Eingang, wo ich meinen Regenmantel aufhänge – verstehen.

»Ja, beim Stammbaum. Was kann ich denn dafür, dass bei mir lauter so altes Zeug rumhängt?«

»Nichts, aber du bist doch nicht diejenige, die heiratet und Kinder kriegen wird. Also solltest du vielleicht nicht die ganze Zeit davorsitzen und brüten.«

»Ich habe nicht gebrütet. Ich war lediglich zu müde, um nach oben zu gehen und mich umzuziehen.«

»Und du hast an deine Eltern gedacht.«

»Zugegeben –«

»Und bereut dein Studium abgebrochen zu haben.«

»Ihr kennt mich einfach zu gut.« Ich wuschele durch meine Haare und reibe mein müdes Gesicht. »Gibt es heute denn gar keinen Tee hier?«

»Sei doch froh, dass überhaupt offen ist.«

»Bin ich ja, aber ich brauche jetzt einen Tee oder ich schlafe ein – trotz eurer netten Gesellschaft.« Ich lächle meine liebsten Freundinnen strahlend an. »Und dann müsst ihr noch mindestens ein halbes Dutzend Pferde holen, bis ich mich hier wieder wegbewege.«

»Einmal Tee, kommt sofort.« Ein leicht untersetzter Mann stürmt herein, nachdem er seinen Mantel aufgehängt hat. Er sieht gut aus, mit seinen wuscheligen, dunklen Haaren und seinen blitzblauen Augen, die sowohl den Schalk als auch etwas Tiefes, Unergründliches erahnen lassen. Er macht das gut, so als habe er sein ganzes Leben nichts anderes getan und während ich das extra starke Gebräu genieße, das er mir zubereitet hat, bäckt er noch schnell eine Tarte, die alles, was Mrs McNulty je serviert hat, in den Schatten stellt.

Es macht auch gar nichts aus zu warten, denn nun trudeln auch noch zwei andere Männer ein, die sich mit ihm zu uns setzen, während der Kuchen im Ofen ist. Der Elegante muss Electras Stephen sein. Er sieht aus wie ein Inspektor aus einem 40er-Jahre-Film. Hut, Regenmantel, makellose Frisur und glattrasiert wie ein Babypopo. Dazu ein markantes Gesicht mit messerscharfem Profil. Der hat sicherlich was auf dem Kasten. Und er sieht gut aus. Schade, dass er schon vergeben ist. Er und Electra kennen sich von Kindesbeinen an. Ihre Väter waren beste Freunde – oder sind es immer noch, wenn ich mich nicht irre.

»Wem gehören denn die armen Viecher da draußen?«, fragt er nun glatt.

Also doch nicht interessant. Egal ob vergeben oder nicht. Ich quetsche mich strumpfsockig an seinem nassen Mantel vorbei und rase sicherheitshalber nach draußen, um nachzusehen, was es gibt, aber die Tiere sehen mich nur mitleidig an: »Was willst du? Wir gehen hier nicht weg, solange es regnet!« Dann mampfen sie genüsslich weiter –, die Pferde ihr Heu und die Hunde ihre Kauknochen. Typisch Stadtmensch! Der weiß nicht, wann sich ein Tier wohlfühlt und wann nicht! Er kann sich auch einfach nicht vorstellen, dass Tiere eine Situation anders sehen als Menschen.

Ich koche förmlich vor Wut. Die Raumtemperatur steigt merklich an, als ich zurück an den Tisch gehe und mich auf meinen Stammplatz in der Ecke am Kamin quetsche. Ich hole schon tief Luft, um den Idioten, Verlobter oder nicht, zusammenzustutzen, da lacht er mich an und sagt: »Keine Angst. Das war nur ein Scherz. Die Tiere sehen glücklich und zufrieden aus. Das ist so wie mit Kindern, nicht wahr? Je dreckiger, desto glücklicher …« Seine Augen sind grau. Sie sprühen vor Vergnügen und sind gar nicht kalt, dabei hat er ganz von alleine gemerkt, was los ist …

Electra hat wirklich den Jackpot gezogen.

»Man möchte gar nicht meinen, dass meine schon wieder eine Kolik hatte, und Henry die ganze Nacht auf den Beinen war, um sie zu retten.« Sogar Electras Stimme ist zart und elegant, wie ihre perfekte Erscheinung.

»Tatsächlich? Und was hat die ausgelöst?«

Klugscheißer. »Mrs McNulty.«

»Das Pferd ist allergisch gegen die ehemalige Cafébesitzerin?« Knalltüte.

»Nein, gegen Äpfel. Mrs McNulty gibt ihr nur immer wieder welche, weil Marla sie so gerne isst.« Wenn Electra ihn so spielerisch auf den Ärmel seines Tweedjacketts schlägt, bekommt er bestimmt eine Gänsehaut. Ein schönes Paar! Das muss ihnen der Neid lassen.

Aber der dritte im Bunde ist auch gar nicht so schlecht. Er ist ein lockiger, blonder Engel mit tiefen, braunen Augen, der so sanft und bestimmt auftritt, dass man mit ihm sofort überall hingehen würde. Er hat sensible, lange Finger und scheint sehr einfühlsam zu sein. Es stellt sich heraus, dass er Arzt ist und eine Praxis sucht. Oh, wenn er doch nur in die Praxis von Doc Martens einsteigen würde. Ich würde zu jeder Vorsorgeuntersuchung gehen, aber er scheint förmlich mit Chubby zu verschmelzen. Er hat wohl Saxophon gelernt und sein Studium mit Jazzauftritten finanziert, was Chubby natürlich brennend interessiert. Schade. Ich glaube auch, dass Doc Martens inzwischen aufgehört hat nach einem Nachfolger zu suchen. Na ja. Man kann nicht alles haben und Gustav, der neue Cafébesitzer ist immerhin so nett, dass er mich trösten kann. So hat sich doch alles zum Guten gewendet, nicht?

Wir albern noch eine Weile über meinen Stammbaum. Ich entwerfe ein Bild von einer ganz jungen Buche, deren erster Trieb sich noch gar nicht entfaltet hat. »Mein Baum ist nicht mehr als ein einzelner Trieb mit einer grünen Spitze. Es haben sich noch nicht mal die großen Keimblätter entfaltet. Alles ziemlich krumm, weil schon mal ein Lastwagen drübergefahren ist.« Woops, jetzt habe ich aber zu viel von mir verraten. Die grauen Augen schauen mich mitleidig an. »Ganz allein«, scheint er zu denken. »Fishing for company?« Ob er auch die Geschichte von meinen Eltern kennt? Lange genug ist er ja mit Electra zusammen. Aber vielleicht hat auch er eine traurige Lebensgeschichte und kann mich wirklich verstehen … »Ich glaube, ich muss jetzt gehen, bevor ich noch mehr so dummes Zeug sage.« Stephen nickt – was mir nicht wirklich weiterhilft. Er scheint mich irgendwie zu kennen, ich erinnere mich aber nicht an ihn. »Auf keinen Fall. Wir müssen erst noch auf meinen Neuanfang hier anstoßen!«

»Also, wenn ich jetzt auch noch Alkohol trinke, dann muss ich gleich hier auf dem Boden schlafen.«

»Kein Problem. Ich werde dir heldenhaft die Treppe zu den Gästezimmern hinaufhelfen. Dort kannst du dann ein Bett oder wahlweise natürlich den Boden haben.«

»Gästezimmer?!« Das ist neu! »Das wäre wundervoll, aber ich erwarte ein Fohlen …«

»Wirklich? Man sieht ja gar nichts!«

»Scherzkeks!« Aber ich muss auch lachen. Wann habe ich eigentlich zum letzten Mal so gelacht?

So schlecht ist es gar nicht, was sich hier in letzter Zeit getan hat. Ich nehme also ein halbes Glas Prosecco, bevor ich aufbreche, um nach Gracie zu sehen und kann mir dann nicht verkneifen zu fragen, ob noch jemand mitkommt. Zu meiner Verwunderung erklärt sich Stephen dazu bereit, das Pferd seiner Zukünftigen nach Hause zu bringen. »Ich bin früher viel geritten«, kommt gerade noch rechtzeitig, bevor ich ihm den Kopf abreiße, weil er mir nicht zutraut, meine Tiere alleine versorgen zu können.

Er kann erstaunlich gut mit der alten Dame umgehen. Er bürstet sie und untersucht dabei unauffällig, ob sie noch Beschwerden hat. Anders hätte ich das auch nicht gemacht. Plötzlich kommt das Bild von einem Jungen hoch, der früher einmal die Sommer auf unserem Hof verbracht hat. Er hat nicht bei uns gewohnt, aber er kam jeden Tag. Er war lang und linkisch und hatte eine Zahnspange, aber er hat schnell gelernt und sich dann wundervoll mit den Pferden verstanden. Steve? Wenn er das wirklich ist, dann hat er sich aber gemausert. Er sah nicht so aus, als er bei uns ein und aus ging – bevor er in eines dieser grässlichen Internate verschwunden ist.

Ob er sich noch an das Haus erinnert – oder nur an den Stall, wenn überhaupt …

An die Arbeit mit den Pferden erinnert er sich jedenfalls sofort. Er sattelt Marla und ist damit so schnell fertig wie ich mit meinem Chap. Dabei plaudert er munter von Reitgeschichten – alles von anderen Höfen – vielleicht habe ich mich auch getäuscht. Er ist jedenfalls nicht eingerostet, denn er plaudert locker während er neben mir herreitet. Er ist ein vielbeschäftigter Neurochirurg in der Praxis seines Vaters. Er kennt die anderen aus dem Studium und er will, genau wie seine Braut, ein wenig üben, damit er sich auf der Hochzeitsreise nicht blamiert.

Schade, dass er schon vergeben ist. Ob es ihm genauso geht wie mir mit ihm?

Bevor ich mich versehe, reiten wir einträchtig nebeneinanderher und es ist, als würden sich die Keimblätter meines Sprosses entfalten. Alles falsch, aber wer wehrt sich schon, wenn ihm Flügel wachsen? Der Mann ist hier draußen so anders als noch vorhin! Das Gespräch ist so einfach, so schön und passend, dass ich ihn am liebsten küssen möchte. Stattdessen mache ich aber etwas ganz anderes. Etwas, von dem ich nie gedacht hätte, dass ich es jemals tun würde – und erst recht nicht mit dem Verlobten meiner besten Freundin: Ich zeige ihm meine Galoppstrecke: Wir biegen an dem alten verwunschenen eingemauerten Feld in den Grasweg ein und dann geben wir einfach den Pferden den Kopf frei. Chap kennt diese Routine. Er ist auf der Weide aufgewachsen und so trittsicher wie eine Bergziege. Marla tut sich etwas schwerer. Sie ist zwar schon lange bei uns, aber sie kommt langsam in die Jahre und der Reiter ist ungewohnt und viel größer und schwerer als Electra, aber sie vertraut ihm und so kommen wir beinahe Kopf an Kopf an der Stelle an, an der sich der Weg hebt und sanft zu den Klippen, auf denen mein Haus liegt, ansteigt. Marla hat keine Probleme mehr mit ihrem Bauch und irgendetwas sagt mir, dass Stephen auch sofort reagiert hätte, wenn etwas passiert wäre.

So aber werden die Pferde ganz von allein wieder langsamer und wir landen sanft nach unserem Flug.

Atemlos verharren wir auf der Klippe und schauen auf die Brandung, die heute schnell so wild wird, dass uns klar ist, dass sich ein Unwetter zusammenbraut. Wir klopfen die Pferde ab und gehen im Schritt zum Stall, damit sie sich etwas abkühlen können. Marla scheint wieder ganz in Ordnung zu sein. Wir reiben die beiden ab. Stephen bewegt sich ganz selbstverständlich im Stall. Es ist ein bisschen so, als ob er schlafwandelt und er erzählt mir von den ersten Sommern mit Pferden und einem Gefühl, das er nie wieder einfangen konnte. Danach kommt Stephen mit in mein Haus, aber das kennt er nicht, denn der Junge, den ich meine, war nie viel bei uns drinnen. Er verbrachte seine Zeit mit uns draußen auf dem Hof und im Stall und da sieht heute natürlich alles irgendwie anders und ein wenig verkommen aus …

Ich sehe seinen Blick auf das Bild, von dem wir vorhin gesprochen haben, und dann kann ich nicht anders als ihm eine Tasse Tee anzubieten. »Gerne.« Er sieht sich um und irgendwie scheint er doch etwas wiederzuerkennen – oder er ist einfach so selbstsicher, dass er sich überall zurechtfindet …

Ich bringe ihn in die Bibliothek und dort findet er, während ich den Tee mache, Hesse »Bäume«. Ich kann nicht glauben, dass mich das gar nicht nervt. Sonst hasse ich es, wenn sich jemand an meinen Büchern vergreift, ohne mich zu fragen. Es reicht schon, wenn einer ein Buch, das irgendwo rumliegt, mit spitzen Fingern anfasst und zur Seite legt. Der kann gleich wieder gehen. Außer es sind Chubby und Electra. Auch Besucher, die, wie er jetzt, meine Regale absuchen und anfingern, was sie wahrscheinlich sowieso nicht verstehen … Aber was ist das? Er liest mit seiner samtigen Stimme: »Bäume sind für mich immer die eindringlichsten Prediger gewesen. Ich verehre sie, wenn sie in Völkern und Familien leben, in Wäldern und Hainen. Und noch mehr verehre ich sie, wenn sie einzeln stehen. Sie sind wie Einsame. Nicht wie Einsiedler, welche aus irgendeiner Schwäche sich davon gestohlen haben, sondern wie große, vereinsamte Menschen, wie Beethoven und Nietzsche. In ihren Wipfeln rauscht die Welt, ihre Wurzeln ruhen im Unendlichen; allein sie verlieren sich nicht darin, sondern erstreben mit aller Kraft ihres Lebens nur das Eine: ihr eigenes, in ihnen wohnendes Gesetz zu erfüllen, ihre eigene Gestalt auszubauen, sich selbst darzustellen. Nichts ist heiliger, nichts ist vorbildlicher als ein schöner, starker Baum.

Wenn ein Baum umgesägt worden ist und seine nackte Todeswunde der Sonne zeigt, kann man auf der lichten Scheibe eines Stumpfes und Grabmals seine ganze Geschichte lesen: in den Jahresringen und Verwachsungen steht aller Kampf, alles Leid, alle Krankheit, alles Glück und Gedeihen treu geschrieben, schmale Jahre und üppige Jahre, überstandene Angriffe, überdauerte Stürme. Und jeder Bauernjunge weiß, daß das härteste und edelste Holz die engsten Ringe hat, daß hoch auf Bergen und in immerwährender Gefahr die unzerstörbarsten, kraftvollsten, vorbildlichsten Stämme wachsen.«

Ich kenne den Rest. Ich bin nicht gut darin mich darzustellen, aber ich kenne meine Bücher und die abgesägten Bäume, meine Eltern, sind so präsent, dass ich manchmal nicht atmen kann, aber woher kennt er die Stelle und woher kann er so gut Deutsch? Bei mir war es meine Mutter. »Bei mir der Vater«, antwortet er auf meine unausgesprochene Frage. Seine Stimme ist immer noch so unglaublich samtig, dass wir, wie von einer Naturkraft getrieben, uns einander zuneigen und uns küssen. Hat er das für sich oder für mich rausgesucht?

Und dann versagt mein Verstand.

Draußen blitzt es und gleich darauf folgt der Donner. Ohne Worte lösen wir uns voneinander und sehen nach den Tieren, die zum Glück ganz ruhig sind. Dann ruft er Electra an und überzeugt sich, dass sie in Sicherheit ist. »Ich bleibe bei Henry. Ist das okay? Wir sehen uns dann morgen.« Seine Augen sind konzentriert. Er ist sanft, aber bestimmt. Hoffentlich passiert das nie, wenn die beiden verheiratet sind. Sie scheint nichts zu ahnen und er zeigt keine Regung! Er könnte sie betrügen und in Sicherheit wiegen so viel er will. Wir gehen ohne Worte hinein und nehmen ein Bad. Dann schlafen wir miteinander.

Ich habe so etwas noch nie erlebt. Es fühlt sich so natürlich an und so gut.

Wir berühren uns völlig ungehemmt, als würden wir uns schon ewig kennen und einander vertrauen – und gleichzeitig ist alles so neu. Es ist total anders als mit allen Männern, mit denen ich bisher zusammen war. Angefangen von dem ungestümen und linkischen Tom, der mir meine Jungfräulichkeit nahm, bis zu Max, den ich letztes Jahr auf der Tanzveranstaltung im Pub kennengelernt habe. Es ist irgendwie, als ob wir genau wüssten, was der andere will und braucht. Als hätten wir schon ein halbes Leben lang gemeinsam geübt. Wenn ich gewusst hätte, dass es so sein kann, dann hätte ich gewartet!

Vielleicht sind wir ja füreinander bestimmt, so wie ich es in unzähligen Filmen gesehen und Büchern gelesen habe? Es ist alles so umwerfend, dass ich gar nicht zum Nachdenken komme –, geschweige denn dazu mich zu wehren. Ich bin total im Hier und Jetzt. Ist das Glück oder Schicksal? Dabei ist heute gar kein besonderer Tag so wie Mittsommer oder Beltane, Weihnachten oder Geburtstag … Aber für mich ist es besonders. Dieser Sturm, die Abgeschiedenheit und die Tatsache, dass er mir nie gehören wird und doch hier und heute gehört, ganz und gar, mit Haut und Haaren … Jeder Zentimeter von ihm! Ich halte die Luft an, als er in mich eindringt, weil sich herausstellt, dass er genau in mich passt – trotz des erheblichen Größenunterschieds. Es ist so perfekt, dass ich alles um mich herum vergesse und mir wünsche, mit ihm meine Familie fortzuführen.

Dann erlaube ich mir noch in seinen Armen einzuschlafen, als ob er zu mir gehören würde und nicht zu Electra. Für diese einzige Nacht, beschützt vor dem Sturm, ist es ja auch so. Ich habe so etwas noch nie getan und uns ist beiden klar, dass sie niemals davon erfahren darf. Und trotzdem bereue ich das, was wir getan haben und morgens sogar noch einmal tun, nicht im Geringsten.

Mein Schössling tanzt im neuen Gewand, im abflauenden Wind und ich bin zur Abwechslung einmal glücklich.

Als ich morgens zum Stall gehe, finde ich einen solchen Schössling, wie ich ihn seit gestern vor meinem geistigen Auge sehe. Ich flitze zurück zum Haus, um meine Kamera zu holen und mache ein paar Bilder, die ich später noch entwickeln will.

Aber Hallo

Ich weiß auch nicht, was ich gestern eigentlich gemacht habe. Der Tag fing ganz normal an. Ich bin zurzeit eigentlich jedes Wochenende bei Phoebe und ihren Eltern. Die Hochzeit soll in zwei Monaten stattfinden und scheinbar gibt es eine unendliche Menge an Details, die geklärt werden müssen. Das ist auch ganz in Ordnung so, denn Phoebe scheint daran wirklich Spaß zu haben. Ihre Mutter hat sie zu einer perfekten kleinen Ehefrau erzogen und sie scheint mehr als zufrieden mit ihrem Los. Dieses Mal waren Gustav und Leo mit mir unterwegs.

Beide scheinen eine Krise zu haben. Gustav hat ja eigentlich nur Medizin studiert, um seinem Vater zu helfen, aber das hat dem im entscheidenden Augenblick auch nichts geholfen und das hat Gustav schwer getroffen. So schwer, dass er seinen Job als Anästhesist und seine Forschungen an den Nagel gehängt hat und aus seinem Studentenjob (Kellnern) einen neuen Beruf machen will. Ich weiß immer noch nicht, ob es eine gute Idee war, ihm davon zu erzählen, dass das Rose Café verkauft werden sollte. Er sagt, ich hätte ihm einen riesigen Gefallen damit getan, dass ich es ihm gesagt habe. Die alte Mrs McNulty und er sind sich auch gleich handelseinig geworden. Jetzt fehlt eigentlich nur noch, dass Leo auch noch etwas in der Gegend findet. Dann sind wir wieder vollzählig.

Es ist nicht, dass es mir hier nicht gefällt. Wir sind nur eine halbe Stunde von Edinburgh entfernt und die Landschaft ist spektakulär. Aber, egal wie wohlhabend meine zukünftigen Schwiegereltern sind, es ist immer ein wenig dröge auf ihrem Landsitz. Es ist alles so feudal wie möglich, aber auch ein wenig antiseptisch. Vielleicht ist Carl das von seinem Operationssaal so gewöhnt. Er ist Schönheitschirurg und hat eine Menge Kohle damit gemacht, dass er Frauen stromlinienförmig gestaltet. Gut, er hat damals auch meiner Mum ein neues Gesicht gegeben nach dem Unfall. Vielleicht hat ihm das auch das Wohlwollen meines Vaters eingebracht, aber als der dann ihm das Leben rettete, weil er ein Aneurysma repariert hat, das Phoebes Mutter sonst umgebracht hätte, war das Ganze besiegelt. Wir haben jede Ferien hier verbracht und ich bin quasi mit Phoebe aufgewachsen. Irgendwie scheint es natürlich, dass wir jetzt heiraten sollen.

Und trotzdem war da gestern diese Frau!

Ich sah zuerst ihre Tiere, die in einer Art Unterstand ein Fest zu feiern schienen. Zwei unglaublich dreckige Hunde und zwei Pferde, die sich mit Kauknochen und Heurationen in das Stroh unter dem Dach kuschelten, das sie vor dem Unbill des Wetters schützte. Mein Witz »die armen Tiere« oder so ging dann aber voll nach hinten los. Die kleine, rothaarige Frau rannte wie von der Tarantel gestochen nach draußen um zu schauen, was mit ihren Tieren war. Sie hätte mich dabei fast umgerannt, aber das störte nicht. Genauso wenig, dass sie nach Stall und nach nassem Hund roch. Sie war einfach umwerfend, auch wenn sie mich nur ganz schwach streifte.

Sie erinnerte mich an den Wirbelwind aus Teenagertagen auf dem Reiterhof, wo ich das erste Mal das Glück dieser Erde auf dem Rücken der Pferde erlebt habe. Damals wäre ich vor Langeweile fast gestorben, wenn wir hier waren, aber dann kam der Tag, an dem Phoebe ihre verhassten Reitstunden nehmen musste und ich begleitete sie. Ich blieb und sie konnte sich viel besser damit anfreunden dort zu sein, wenn sie den anderen Kindern nicht allein ausgeliefert war.

Ich bin kein Kostverächter, wahrlich nicht, aber ich habe, seit ich mich im letzten Herbst verlobt habe, keine Frau mehr angerührt – auch Phoebe nicht. Ich habe Phoebe eigentlich noch nie angerührt. Es hat mich gewundert, als ihre Mutter angedeutet hat, dass sich Phoebe für mich interessiere. Ich hatte sie immer eher als gute Freundin gesehen. Sie ist natürlich perfekt: groß, elegant und blond, mit blitzblauen Augen. Wer würde sich da nicht geehrt fühlen und sie von dem Silbertablett stoßen, auf dem sie einem serviert wird?

Aber begehrt habe ich sie nie.

Das war mit dem winzigen Rotschopf, der komplett mit seinen Tieren verschmolzen schien, ganz anders. Ich hatte schon fast vergessen, wie das ist, wenn man jemanden als Herausforderung ansieht und wenn man jemanden plötzlich und ganz heftig begehrt. Mein Puls ging durch die Decke und ich hätte sie sofort anspringen und abschlecken wollen. Ich fühlte mich wie einer dieser riesigen Labradore vor der Tür. Sie war läufig und ich hatte mich kaum noch im Griff.

Sie dagegen schien mir fast den Kopf abreißen zu wollen.

Ich hatte sie wohl gegen den Strich gebürstet. Und mein Gott – wie es mir Spaß machte, sie weiter zu reizen. Bitch. Aber eine von der guten Sorte. Es war faszinierend zu beobachten, wie sie mit ihren Freundinnen ganz anders war. Sie ist eine der besten Freundinnen von Phoebe und sie passt auf sie auf wie eine Glucke. Lucy, die andere im Dreimädelbunde, ist auch nicht von schlechten Eltern, aber obwohl sie geistreich und gebildet ist, ist sie nicht so scharfzüngig wie Henry.

Henrys grüne Augen spritzen feurige Sternchen wie Wunderkerzen, wenn sie in Rage ist. Sie scheint sich für so viele Dinge zu interessieren, dass mir ganz schwindlig ist. Offensichtlich ist sie eine halbe Tierärztin, die sich für Naturheilkunde interessiert und in jeder Form für Tierrechte eintritt.

Wir aßen Kuchen, den Gustav gezaubert hatte.

Ich wusste gar nicht, dass Gustav so gut backen kann. Er hat es scheinbar von seiner Großmutter gelernt, die immer auf ihn aufpasste, weil seine Mutter so viel arbeitete, als sein Vater so krank wurde. Es war eine unglaublich schnelle Apfeltarte und sie schmeckte ganz hervorragend. Und dann schloss Gustav eine Wette mit Lucy an: »Wetten, dass ich einen unglaublich guten Kirschkuchen machen kann, während du ein paar langweilige Scones zauberst?« Und die sexy Brünette hat eingeschlagen. Sie sind zusammen in der Küche verschwunden, als gäbe es da etwas umsonst. Dabei hatte sie sich so gut mit Leo unterhalten. Musiker unter sich halt. Henry war da ganz anders. Sie hielt die Stellung, obwohl sie vor Müdigkeit fast vom Stuhl gefallen ist, und redete mit Leo, damit Phoebe und ich Zeit hatten, uns miteinander zu beschäftigen. Nur, wir hatten uns wieder einmal gar nichts zu sagen und ich wollte eigentlich viel lieber wissen, was Henry denn so treibt.

Sie schmeißt einen Einmannbetrieb – pardon, einen Einfraubetrieb – und hat ungefähr ein Dutzend Rösser und sonst noch unzähliges Kleinvieh, aber sie versteht auch etwas von Literatur. Das fand ich heraus, als ich nach einem unglaublich schönen Ritt in ihr Haus kam und einfach einen Text von Hesse für sie lesen musste. – Wer hat schon Hesse im Regal? Und wer versteht auch noch das Original? – und sie ist in Musik bewandert. Muss sie wohl auch sein, weil ihre Freundin Lucy eine begnadete Sängerin und Musikerin ist und sie auf jede noch so kleine Andeutung angesprungen ist. Ach, ich wünschte, ich könnte sie selber einmal singen hören … Henry, meine ich, nicht Lucy, die eine ausgebildete Singstimme hat und ein Volumen, wie man es sonst nur bei farbigen Gospelsängern findet. Henrys Stimme ist tief und klar. Alt, aber ohne altbacken zu sein. Und so natürlich! Ich bin mir sicher, dass sie als Synchronsprecherin arbeiten könnte, wenn alle Stricke reißen. Ach, wir schwingen einfach auf einer Wellenlänge … Stopp. Was mache ich denn da?

Ich stehe auf dem Hof, der genau so ist wie der Hof, der aus meinem Leben verschwand als meine Mutter bei ihrem zweiten Unfall ums Leben kam, und rufe meine Verlobte Phoebe an, um ihr zu sagen, dass ich immer noch hier bin und dass alles in Ordnung ist auf dem Hof dieser wahnsinnigen Frau, die ich statt ihrer begehre … Ich muss endlich aufhören mit dem Grinsen und ich kann nicht länger so an sie denken …

Aber die letzte Nacht war einfach der Wahnsinn! Es war wie heimkommen. Hier war alles, was ich seit den letzten Sommern meiner Kindheit entbehrt habe, und es war so als seien wir füreinander geschaffen. Es ist einfach passiert, und wir haben nicht viele Worte gemacht, obwohl ich mit ihr gerne die eine oder andere Nacht hindurch geredet hätte. Wir haben ineinandergepasst wie Puzzleteilchen. Dabei ist sie so winzig!

Ich weiß auch nicht wie ich dazu gekommen bin mitzugehen, aber irgendwie schien es als wolle Phoebe ihr Pferd nicht mehr heimreiten. Und ich konnte Henry nicht einfach gehen lassen. Ich bin früher viel geritten. Es war irgendwie der Ausgleich, den ich brauchte, auch als wir in den Ferien nicht mehr hier waren, weil ich nach dem Tod meiner Mutter ins Internat musste … Die Mädels auf den Höfen haben mich immer ausgelacht. Ich war der einzige Junge, aber sie konnten mir nichts vormachen. In null Komma nichts war ich mindestens genauso gut wie sie. Ich habe die Arbeit mit den gutmütigen Tieren und im Stall immer genossen. Ich hatte gar keine Ahnung, wie sehr mir das gefehlt hat. Es war als wären die letzten Jahre – das Studium, die Zeit im Krankenhaus und die Ausbildung zum Facharzt – von mir abgefallen. Der Tod von Mum war vergessen und die Tatsache, dass ich inzwischen schon fünf Patienten verloren habe. Zuletzt das kleine Mädchen … Gut, alle wussten, dass der Eingriff riskant war, sie wäre sowieso gestorben, wenn ich es nicht versucht hätte. – Nur dass das gar nichts hilft. Mit Phoebe kann ich über so etwas nicht reden – und mit Henry muss ich das gar nicht. Sie scheint es auf einer ganz tiefen, intuitiven Ebene zu spüren. Das kommt vielleicht daher, dass sie so viel mit Tieren zusammen ist. Die können ja auch nicht sagen, was mit ihnen ist – und trotzdem weiß sie es. Intuitiv eben! Und sie hat selber schon so viel durchgemacht. Sie hat beide Eltern verloren. Das verbindet uns …

Herrgott! Ich muss wirklich damit aufhören, sie so verliebt anzuschauen. Oder ich muss sofort noch einmal anrufen oder Phoebe reinen Wein einschenken …

Gestern Abend als wir die Pferde versorgt hatten und der Sturm verhindert hat, dass ich Phoebes Wagen mit zurücknehme, da hat sie zusammen mit mir gebadet und dann haben wir … Ich traue mich gar nicht mich zu erinnern, was wir alles zusammen gemacht haben. Sie war so voller Energie, als hätte sie ewig keinen Sex mehr gehabt und als sei das ihre letzte Gelegenheit.

Dabei war es meine. Mein vorgezogener Junggesellenabschied. Mein wilder Hafer. Meine Torschlusspanik!

Wie kann ich jetzt zu der zivilisierten Langeweile zurückkehren, die mich im Hause meiner zukünftigen Schwiegereltern erwartet? Wie kann ich die perfekte Phoebe auf die Wange küssen und so tun als sei nichts geschehen? Aber gleichzeitig kann ich ihr unmöglich wehtun. Sie ist so zerbrechlich unter ihrer perfekten Fassade. Wer wüsste das besser als ich, der ich sie unzählige Male getröstet habe, wenn wir lange, angeblich romantische Spaziergänge gemacht haben oder früher oben gespielt haben. Ihr Vater ist unberechenbar, wenn etwas nicht nach seinem Willen geht – ganz zu schweigen von der stillen Ablehnung, die mein Vater an den Tag legen würde, wenn durch mich seine einzige Freundschaft den Bach runtergehen würde. Henry ist schon wieder im Stall. Ihre Lieblingsstute bekommt gerade ihr erstes Fohlen. Sie sieht wieder so aus, wie ich sie kennengelernt habe: völlig zerzaust und übernächtigt. Aber ich würde sie mit Handkuss nehmen, wenn ich wüsste, dass ich sie kriegen kann. Sie würde sich nur nie wirklich auf mich einlassen, weil ich eben mit ihrer perfekten Freundin Phoebe verlobt bin. Nie würde sie die verletzen – auch wenn es sie umbringt – oder mich.

Gracie hat ein Hengstfohlen geboren. Ich fühle mich, als wäre ich gerade Vater geworden. Am liebsten würde ich Henry, dreckig und blutverschmiert wie sie ist, auf den Arm nehmen und sie zurück ins Schlafzimmer tragen. Vielleicht würde ich es auch nur bis zur Nachbarbox schaffen … Oh, mein Gott! Wie ich diese Frau begehre! Was ist das nur? Ich bin doch sonst nicht so …

Und da hocke ich nun in dem blutigen Stroh und halte dem kleinen schwarzen Tier, das auf wackligen Beinen herumstelzt, meine Hand hin. Es schnuppert und dann knabbert es vorsichtig, bevor es sich schnaubend umwendet und bei seiner Mutter findet, was es braucht.

Henry hat Tränen in den Augen. Ich höre sie förmlich sagen, dass das doch kein Hund sei, aber sie schluckt es tapfer herunter und ihr Kopf nähert sich ganz langsam und vorsichtig meinem. Es wäre das natürlichste der Welt, wenn wir uns jetzt wieder küssen würden. Oder gleich hier im dreckigen Stroh der Abfohlbox miteinander schlafen, aber da höre ich einen Wagen auf den matschigen Hof fahren. Dem Geräusch nach ist das Leos riesiger Jeep, mit dem wir alle gestern hierhergefahren sind. Er wollte schon immer Landarzt werden und deshalb hat er sich von seinem ersten Gehalt dieses Ding gekauft, das er natürlich eigentlich gar nicht brauchen kann, weil er immer noch im Krankenhaus in Edinburgh arbeitet. Egal. Was macht er hier? Und ist Phoebe bei ihm? Hat sie einen Verdacht und versucht sie sich ihren Besitz zu sichern?

Henry schaltet schneller als ich. Sie springt auf und verkündet strahlend, dass mit Gracie alles glattgegangen ist und dass sie jetzt ein kleines Hengstfohlen besitzt. Sie umarmt Phoebe, die ganz natürlich annimmt, dass Henry wieder einmal die ganze Nacht im Stall verbracht hat und deshalb so beschissen aussieht.

Ich erhasche noch einen warnenden Blick aus ihren grünen Augen. Tiefe Trauer mischt sich mit einer Warnung. Sie würde mir nie vergeben, wenn ich ihre Freundin verletze. Das hatte ich ja auch gar nicht vor, aber ich bin nicht der Typ für einen heimlichen One-Night-Stand. Ich bin ein anständiger Mann, der Offenheit und Klarheit liebt. Zumindest hatte ich das bisher immer gedacht. Ach, verflixt! Warum habe ich mich in dieses unmögliche Mädchen und in sein heruntergekommenes Haus voller Tiere verlieben müssen? Was soll ich denn jetzt machen? Das ist doch kein »trip down memory lane«. Ich bin kein pickeliger Jüngling mit Zahnspange mehr. Und das ist nicht mein Zuhause und nicht mehr meine Zuflucht. Ich habe ein Leben und es ist ein verdammt gutes …

Vielleicht kann ich ja nachher noch mit Leo und Gustav darüber reden? Wir haben doch sonst auch immer über alles geredet. Es gab keine Geheimnisse und ihnen fällt vielleicht etwas ein, wie ich aus dieser vertrackten Situation wieder rauskomme … Ja, genau. So werde ich das machen. Phoebe soll ihren Wagen heimfahren und ich rede mit Leo während wir zu ihren Eltern fahren. Ich räume das aus. Das mache ich gleich. Alles andere wäre eine glatte Lüge und so was mache ich nicht. Ich werde Henry schon überzeugen.

Aber Phoebe will nicht mit ihrem Auto fahren. Irgendetwas stimmt nicht, aber sie will es mir nicht sagen – und Henry beginnt ausgerechnet ein Gespräch über die Hochzeitskutsche.

»Tyler, du weißt schon, Tyler vom Nachbarhof hat ein Gespann weißer Pferde. Ich wollte schon immer, dass er sie zu Ende ausbildet und dann für Hochzeitsfahrten vermietet. Das wäre der perfekte Anlass. Ich kann mit ihm üben und dann fahren wir euch vom Haus zur Kirche und zurück. Was haltet ihr davon?«

Phoebe schaltet sofort wieder in den Brautmodus und sie diskutieren die Details. Das komische Gefühl von vorhin ist wie weggeblasen. Sie diskutiert lebhaft mit Henry – dafür ist Leo nun geknickt. Ich weiß, Phoebe hat die Eigenschaft, dass man sich fühlt, als sei man der Einzige auf der Welt. Sie schenkt einem so komplett ihre Aufmerksamkeit, dass es ist, als hätte sich eine Wolke vor die Sonne geschoben, wenn sie sich jemand anderem zuwendet. Es wird einem richtiggehend kalt!

Aber ich kann nicht helfen. Gerne würde ich Phoebe an Leo abgeben. Er ist groß und blond und sie würden bestimmt wundervolle Kinder kriegen. Außerdem könnte er mit dem Geld seiner Schwiegereltern jede Praxis der Welt kaufen und ihm bliebe immer noch genügend Zeit für seine Familie, weil er ja als Landarzt nicht immer völlig ausgelastet wäre.

Aber so verdreht ist die Welt. Ich werde Phoebe heiraten und dann sperren wir die Praxis meines Vaters zu und ich lehre an der Universität und komme jeden Abend pünktlich nach Hause, damit ich ihre Kinder aufwachsen sehe. Meine. Unsere. Ich wünschte, ich hätte den Mut zu schreien …

Seufz.

Die einzigen Kinder, die ich mir im Moment vorstellen kann, sind rothaarig und sie haben alle grüne Augen und Wuschelhaare und lieben Pferde. Ich würde so gerne den Stammbaum in Henrys Halle übermalen. Das alte Ding ist dürr und abgebrochen, nachdem ein Blitz eingeschlagen hat. Sie hat gestern gesagt, dass sie sich fühlt, als sei ihr eigener Stammbaum erst ein unscheinbarer Keimling. Mein Gott! Wie sehr ich mir wünsche, das Ding aufwachsen zu sehen! Der Mann, der diese Frau einmal bekommt, kann sich glücklich schätzen …

Warum kann das nicht, zur Abwechslung einmal, ich sein?

Einfach weiter

Ich weiß auch nicht, wie ich das hingekriegt habe, aber Stephen ist mit Electras Auto weggefahren. Es hat mir fast das Herz gebrochen, aber das Letzte, was ich in diesem Leben tun will, ist meiner Freundin diesen tollen Mann wegzunehmen. Sie hat immer zu mir gehalten. Sie hat sich so auf ihre Hochzeit gefreut und sie ist ja auch eine so viel bessere Partie als ich … Jetzt lege ich mich erst einmal hin.

Der kleine Hengst ist sicher auf den Beinen und er hat auch schon herausgefunden, wo es zu Mamas Milchbar geht. Marla ist okay, Gracie ist okay und ich werde auch okay sein, wenn ich ein wenig geschlafen habe. So einfach ist das. So ist das Leben und so muss ich es weiterleben. Einfach weitermachen – auch wenn man den Eindruck hat, dass es nicht mehr geht. Vielleicht rufe ich nachher noch Oma und Opa an oder ich gehe zu Tyler, wenn ich wieder wach bin.

Ich füttere also meine Tiere und lege mich dann in voller Montur aufs Sofa, aber ich kann natürlich nicht einschlafen. Ich bin viel zu aufgeregt. Haben wir das gestern wirklich gemacht? Habe ich es zugelassen, dass die wackelige Marla so lange galoppiert ist? Hatten wir wirklich Flügel? Und haben wir danach wirklich miteinander geschlafen?

Wie soll das nur werden, wenn er nebenan wohnt?

Ich muss mir echt jemand anderen suchen, denn ich kann sonst einfach nicht widerstehen! Aber wem versuche ich eigentlich etwas vorzumachen? Ich kann ihm gar nicht widerstehen. Die Anziehungskraft ist einfach zu groß. Das ist nicht nur der Mangel an Sex und Aufmerksamkeit, der bisher mein Leben bestimmt hat. Das ist Schicksal. Wir sind füreinander bestimmt und ich bin völlig machtlos! Oh, Gott! Was soll ich denn nur machen? Ich kann doch nicht alles durcheinanderbringen! Und ich kann auch nicht einfach so weitermachen … Es fühlt sich an, als würde man mich auffordern ein Bein zu amputieren – ohne Narkose …

Ich werde rüber zu Tyler gehen und mit ihm wegen der Furry Ponies reden.

In Tylers Stall ist es ruhig. Es ist alles sauber und aufgeräumt und es riecht nach dem Heu, das seine Schätzchen gerade frühstücken. Er ist nirgendwo zu sehen, aber klar, er war heute schon Fischen und jetzt macht er sich wahrscheinlich gerade Frühstück. Ich stelle Chap in die Gasse und gebe ihm ein Maß Hafer in einem Nasensack. Dann gehe ich zur Hintertür und stelle dort meine Stiefel ab. Die Hunde wissen eh schon, dass sie draußen bleiben müssen. Fran, Tylers Colliehündin, hat Junge. Ich werfe ihnen noch ein paar Hundekuchen aus den Tiefen meiner Parkataschen zu und stapfe dann in die Küche.

Tyler ist da.

Er hat mir schon eine Milch mit Honig gemacht. »Du siehst scheiße aus«, kommentiert er, während er sie mir gibt. Ich sehe mich nach Kaffee um, aber er hat, wie üblich, um diese Uhrzeit keinen. Er merkt natürlich auch sofort, was ich will und sagt: »Du kriegst keinen. Du hast zwei Nächte lang nicht geschlafen, und deshalb kriegst du keinen.«

Er kennt mich einfach zu gut! »Dafür sehen deine Schätzchen umso schöner aus …«, wechsele ich das Thema. »Sie könnten den beiden von der Queen Konkurrenz machen.«

»Na, na, na. Das ist Hochverrat!«

»An dir oder an unserer Queen?«

»An beiden.« Tyler setzt sich mir gegenüber an den Tisch. Er nippt an demselben Gebräu wie ich und mustert mich.

Ich kann ihm nichts vormachen. Ich brauche ihm auch nichts vorzumachen. Er ist für mich wie der große Bruder, den ich nie hatte. »Wie war der Fang?«

»Gut. Ich werde dir einen Hummer kochen, wenn du wieder aufwachst.« Seine blitzblauen Augen funkeln und ich schmecke den Whisky, der bisher von Zimt überdeckt war. Zu spät. Eine Weile später wache ich auf. Ich hänge auf Halbmast in der Ecke der Eckbank und mir tut alles weh. Einen Augenblick kann ich mich nur darauf konzentrieren. Dann fragt Tyler:

»Also, wann ist diese Hochzeit?«

»In zwei Monaten.« Es ist der Hammer, wie er es versteht, meinen Kummer wegzublasen wie eine frische Brise. Ich denke nur an die Aufgabe, die beiden weißen Pferde für die Hochzeit zu trainieren und ich klammere mich an das Gefühl etwas zu tun zu haben. Ich werde eine Kutsche abschmirgeln und dann weiß lackieren. Das macht mich zu einer Partnerin in dem Gegenseitigkeitsgeschäft und ich kann die Werbung für meine Pferde und den Fahrunterricht gut gebrauchen. Tyler verspricht mir zu helfen. Er ist immer so gut zu mir …

Ich erzähle ihm von dem Hengstfohlen und er gratuliert mir. Er sagt, seine Stute sei auch trächtig. Ich werde aufpassen. Einen Augenblick lang denke ich darüber nach, den kleinen Hengst Stephen zu nennen, aber das kommt natürlich nicht infrage. Es wäre auch ein komischer Name für ein Pferd. Eine Stimme aus dem Geschichtsunterricht dringt in mein Bewusstsein: König Stephen. Hat der nicht auch alles durcheinandergebracht? Ich fürchte, der kleine, magere Kerl wird King heißen. Ein Witz, über den ich lachen kann, wenn alles zu schlimm wird. Oder Stephen King, nach dem Schriftsteller? Dann fällt es nicht so auf …

Ich gehe hinaus und sehe nach den Tieren und dann gibt es tatsächlich Hummer zum Abendessen. Ich bin froh, dass ich draußen war, als Tyler ihn in das heiße Wasser geworfen hat. Ich kann die Schreie nicht ertragen, aber ich habe solchen Hunger und Tyler ist der Einzige, mit dem ich die Dinger unbeschwert essen kann. Ehrlich. Wie kann man in einem feinen Restaurant so eine Sauerei veranstalten? Oder gar bei einem offiziellen Dinner? Hähnchen und Salat sind ja auch schon eine Herausforderung für mich. Ist das die Idee, seine Gäste bloßzustellen? Ein Witz?

Tyler lacht über meine Bemühungen und beginnt damit, die besten Bissen für mich herzurichten. Ich werfe eine Hummerschere nach ihm und verfehle ihn natürlich. Fran kommt aus ihrem Körbchen und frisst sie begeistert.

»Bist du verrückt? Das ist das beste Stück!«

»Das ist dein bestes Stück?« Ich genieße es, ihn ein wenig aufzuziehen. Er ist genauso einsam wie ich.

Aber Tyler verbittet sich jede weitere Anzüglichkeit mit einer hochgezogenen Augenbraue. Dafür füttert er mich mit einem vor geschmolzener Butter triefenden Stück Schere und ich würde am liebsten seine Finger abschlecken, so gut ist das Zeug. Der durchtriebene Kerl hat mich nebenbei mit Weißwein abgefüllt. Dazu wird es draußen schon langsam dunkel. Ich könnte schon wieder schlafen!

Moment, es wird dunkel? Ich muss heim, meine Tiere versorgen.

»Mach dir keine Sorgen. Dein Stephen war da.«

»Was?« Wann hat Tyler eigentlich geschlafen? Und wieso sagt er »dein Stephen«? Ich habe doch gar nichts erzählt, oder?

»Ich war vorhin kurz drüben und habe nach dem Rechten gesehen, aber da war alles schon gemacht. Ich habe diesen Zettel auf der Anrichte gefunden.« Er gibt mir ein zerknittertes Stück Papier aus seiner Hosentasche.

Liebe Henry,

ich wollte mit dir reden, aber ich weiß sowieso nicht, was ich dir sagen soll. Es ist alles so verwirrend, aber ich möchte dir versichern, dass es nicht nur ein One-Night-Stand für mich war.

Den Rest muss ich später lesen, weil mir die Augen überquellen. Ich nehme einen großen Schluck Weißwein und Tyler legt etwas leise Musik ein. Ich kann gar nicht sagen, was er da gerade spielt. Später bringt er mich in sein Gästezimmer. Ich wäre gerne noch nach Hause geritten, aber Tyler hat völlig recht. Ich bin in keinem Zustand zum Reiten, auch wenn Chap mich sicher durch die Dunkelheit gebracht hätte … Außerdem kann ich sowieso nicht mehr in meinem Bett schlafen. Ich werde morgen in ein anderes Zimmer ziehen müssen. Die Erinnerungen an die gemeinsame Nacht sind einfach zu stark.

Guter Tyler. Dankeschön.

Ich kann nicht

Ich kann doch nicht einfach so weitermachen. Wann trifft man denn schon einen Menschen, mit dem alles passt? Ich habe noch nie so einen Menschen getroffen. Sogar bevor sich die Sache mit Phoebe verändert hat und ich noch aktiv gesucht habe. Ich meine, die Beziehung mit Phoebe ist gut. Sie ist nett und perfekt erzogen. Und geformt für eine Ehe wie die, die ich als frisch gebackener Professor führen werde. Sie kann mir für meine Karriere nützlich sein. Sie scheint auch noch Jungfrau zu sein und ist in einem Alter, in dem sie sich leicht an meine Gewohnheiten anpassen kann, aber seitdem ich mit Henry zusammen war, ist es mir nicht mehr möglich, mich auf die Vorteile dieses Arrangements zu konzentrieren.

Gott, die Kerze brennt heißer, als ich mir das je hätte vorstellen können! Leidenschaft ist etwas, das ich immer für überbewertet gehalten habe. Gut, im Beruf ist es nützlich, weil man nur dann, wenn man etwas liebt, wirklich gut darin sein kann. Das war ich ja auch – wenn ich auch kürzlich an meine Grenzen gestoßen bin. Das kleine Mädchen! Ich hätte es so gerne gerettet, aber ich konnte nicht. Es war zu spät und als es bei der Operation angefangen hat zu bluten, da war es, als hätte sich alles gegen sie verschworen. Alle wussten, dass es riskant war zu operieren, aber wenn ich es nicht versucht hätte, wäre sie elendig unter großen Schmerzen verreckt. So war sie wenigstens betäubt …

Nur, dass das nichts hilft!

Ist das auch Teil der Leidenschaft, dass man es sich nicht vergibt, wenn etwas schiefgeht?

Ich denke, ich kann Phoebe auch so glücklich machen. Sie ist so kühl. Bei Henry steckt im kleinen Finger mehr Leidenschaft als in Phoebes gesamter Person und da ist das, was jetzt noch von mir übrig ist, nachdem mein Herz an Henry vergeben ist, wohl noch genug …

Ich weiß gar nicht, wie ich nach Hause gekommen bin. Nach Hause? Ich bin in Phoebes Wagen zu ihren Eltern gefahren! Wahrscheinlich war das Automatik. Ich habe das ganze übertriebene Landhausgetue, ein Frühstücksbuffet wie für ein mittelgroßes Hotel und ein Mittagessen wie in einem Restaurant, über mich ergehen lassen. Natürlich kann ich so leben. Wahrscheinlich sogar müheloser und zufriedener als anders, aber ich weiß nicht, ob ich das noch will. Ich würde nie wirklich glücklich sein! Nie wirklich unglücklich, aber eben auch nie wirklich glücklich.

Ich glaube, ich kann das nicht.

Ich bin ein sehr harmoniebedürftiger Mensch. Wahrscheinlich habe ich nur deshalb diesem Plan zugestimmt, weil mein Vater das so wollte. Weil er eine Ehe hatte, die voller leidenschaftlicher Ausbrüche war, bis meine Mutter betrunken diesen Unfall hatte, wiederhergestellt wurde und sich dann doch zwei Jahre später umgebracht hat, weil sie gegen einen Baum gefahren ist. Ich war ja nicht da. Ich war immer in der Schule oder hier, später im Camp oder bei meinen Großeltern. Es ist klar, dass er sich für mich etwas anderes gewünscht hat, aber ich weiß eben nicht, ob ich das alles aushalten kann.

»Du bist so still. In Gedanken …«

»Ja, ich …«

»Du denkst an Henry, nicht wahr?« Klare, blaue Augen sehen mich ohne Arg an. Sie weiß es. Sie ist nicht dumm! Ich räuspere mich, weiß nicht wie ich anfangen soll.

»Ich versuche ihr seit Jahren zu helfen, aber das ist nicht so leicht.«

Sie ist eine gute Freundin. Das kann ich sehen. Es ist wie mit Henry. Sie verstehen sich – egal wie unterschiedlich sie sind. Sie haben eine Loyalität entwickelt, die ganz und gar bewundernswert ist. Das könnte ich auch haben mit ihr. Aber ob ich das wert bin?

»Wir könnten hinfahren und mal nach ihr sehen.«

Ob sie weiß, was sie riskiert? Ich glaube nicht. Ihre klugen Augen mustern mich. In diesen Augen versteckt, sehe ich etwas anderes. Stolz vielleicht? Sie hat recht. Sie ist eine wundervolle Frau. Der Mann, der sie einmal haben wird, muss sich glücklich schätzen … Der Mann? Nicht ich? Mir wird klar, dass ich es wirklich nicht sein werde, denn dazu bräuchte ich mehr Leidenschaft als ich für sie aufbringen kann … Was für eine Verschwendung! Ich hoffe nur, dass ich sie einigermaßen glücklich machen kann, weil ich es nicht fertigbringe ihr das, was in mir tobt, in ihr perfektes kleines Gesichtchen zu sagen. Ich glaube, sie ist nicht operiert, aber ich wette, ihr Vater ist mächtig stolz auf das, was er geschaffen hat. Und die Fassade hält. Ich werde nie wissen, was sie denkt, wenn sie es nicht will …

Also gehen wir und schauen nach Henry. Die ist nicht da.

Verwundert bestaune ich Phoebe, wie sie in ihren eleganten Hosen und den teuren Schuhen im Stall herumstelzt und die Tiere füttert. Sie weiß erstaunlich viel über die einzelnen Pferde. Belustigt schaut sie mich an, als ich ihr das sage, während ich mit einer Karre Mist an ihr vorbeifahre. Da ist ein ganz neues Funkeln in ihren Augen. Sie glitzern wie das Meer in der Sonne: »Henry spricht über ihre Tiere und ich gehe hier schon seit fünfzehn Jahren ein und aus.

«Sie war hier als ich verschwunden bin. Ich konnte einfach keinen Kontakt halten. Ich war zu jung und es hat mich einfach umgehauen, dass meine Mutter, kapriziös und unzuverlässig, wie sie manchmal war, einfach weg war von einem Tag auf den anderen. Phoebe war da und sie ist zur besten Freundin, der Frau geworden, die ich liebe, vielleicht schon seit damals geliebt habe.

Das steht uns jetzt allen im Weg.

Ich nicke und wuchte die Karre voll Mist weiter. Das macht Sinn. Sie verbirgt mehr hinter ihrer Fassade als ich gedacht hätte. Vielleicht könnte es sogar Spaß machen, einiges davon zu entdecken.

Phoebe erzählt mir von Tyler, bei dem Henry wohl gerade ist. »Er liebt sie schon seit so vielen Jahren, aber Henry ist zu blind, es zu sehen. Für sie wird er wohl nie mehr als der große Bruder sein, den sie nie hatte.«

»Den ihr alle nie hattet.«

»Chubby hat mehrere davon. Die reichen für ein ganzes Bataillon. Da konnten wir sehr genau herausfinden, was wir nicht verpassen. Aber im Ernst, Tyler ist ein ganz toller Kerl.«

Meine Gefühle fahren Achterbahn. Als ob sie das nicht schon den ganzen Tag getan hätten! Ich bin eifersüchtig auf den Kerl, der zwei so wundervolle Frauen fasziniert. Am liebsten würde ich ihm Phoebe geben und dann auch wieder nicht, denn ich will sie ja nicht einfach weiterreichen. Ich will sie nicht enttäuschen, denn sie ist ein durch und durch anständiger und großzügiger Mensch – im Gegensatz zu mir, der ich seit gestern ein Geheimnis mit mir herumtrage, das zu groß für mein Herz sein könnte … Und dann kommt er auch noch – dieser Ausbund an Tugend und Zurückhaltung. Er kommt vorbei, und zu meinem Ärger, ist er wirklich ein netter Kerl!

Ich schreibe einen Zettel an Henry und lege ihn auf den Küchentresen. Tyler steckt ihn ein, ohne ihn zu lesen. Er murmelt aber, dass er ihn ihr geben wird. Ihm würde ich Henry sogar gönnen, wenn sie nur so klug wäre, ihn zu nehmen.

Klug?

So wie ich?

Ob ich wirklich klug bin, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, ob ich Henry und Tyler wünschen soll so zu sein, wie ich bin. Ich wünschte, alles das würde sich in Luft auflösen – oder dass ich jemanden hätte, mit dem ich reden könnte … Aber als wir wieder nach Hause kommen –, ist Leo da. Er ist in ein intensives Gespräch mit meinem zukünftigen Schwiegervater vertieft. Sie scheinen sich blendend zu verstehen und ich bekomme kein Wort dazwischen.

Was nutzt es mir, wenn er jetzt auch noch hierherzieht und die Praxis von diesem Doc Martens (lächerlicher Name!) übernimmt, wenn er dann einfach zu einem Teil des Hofstaats mutiert und ich gar nicht mehr mit meinem alten Freund reden kann? Aber er ignoriert mich einfach. Nein, er weicht mir sogar aus! Mit der an Verzweiflung grenzenden Entschiedenheit, die ein weniger betuchter Mensch an den Tag legt, wenn er einen Geldgeber gefunden hat, den er umgarnen muss. Ich hätte ihm ja das Geld für die Praxis geliehen, wenn er mich darum gebeten hätte. Da hätte er nicht seine Seele an den Meister der Schönheit verpfänden müssen!

Aber da ist noch etwas anderes mit im Spiel. Etwas, für das ich jetzt nicht die Nerven habe.

Ich werde zu Gustav fahren und dann sehen wir weiter. Es tut gut, endlich wieder in meinem eigenen Auto zu sitzen. Die sanften Töne von Elgar umspielen mich und der Geruch der Polster und des Holzes des Armaturenbretts geben mir das beruhigende Gefühl der Vertrautheit. So hat das Auto meines Vaters schon immer gerochen. Kein Wunder, denn er hat mir den Wagen, eine Kopie seines eigenen Mercedes, geschenkt, als ich in seine Praxis eingestiegen bin … Und jetzt will ich das alles aufgeben wegen dieses Kindes, das ich nicht retten konnte!

Als ich das Rose Café erreiche, dringt von innen heftiger Streit nach draußen. Das ist ungewohnt. Gustav ist der harmoniebedürftigste von uns allen! So oft hat er mich schon mit der beruhigenden Atmosphäre, die er verbreitet, gerettet. Ich steige trotzdem aus und da geht die Tür auf und ein Unbekannter prügelt auf Gustav ein. Drinnen kreischt eine Frau aus Leibeskräften. Sie hat eine unglaubliche Stimmgewalt! Das muss Lucy sein. Wenn sie so weiter schreit, riskiert sie ihre Singstimme! Der Fremde schleudert Gustav gegen mein Auto und ich überlege, wie ich an den beiden vorbeikommen kann, um die Polizei zu verständigen, aber Gustav, der zu ahnen scheint, was ich tun will, hebt abwehrend die Hand. Er stützt sich auf und verschnauft, dann brüllt er: »Ich würde sie ja heiraten – trotz ihrer Familie –, wenn ihr mir nur erst einmal Zeit lassen würdet sie zu fragen!«

»Ich will niemanden heiraten. Ich gehe ans Konservatorium und mein Privatleben geht euch gar nichts an!«

Die Antwort ist so gebrüllt, dass ich kaum etwas verstehen kann, aber mir wird klar, dass es sich bei den Fremden um Lucys Brüder handeln muss. Ihre Stimme ist wirklich ganz wunderbar. Sie trägt, ist klar und all die Emotion könnte Lucy zu einer ausgezeichneten Opernsängerin machen. Ist sie vielleicht auch – ich weiß es nicht. Ich möchte mehr über sie herausfinden, wenn ich schon auf mein Gespräch mit Gustav verzichten muss. Was hat der Arme denn angestellt, dass diese Auseinandersetzung so eskaliert ist?

»Entschuldige, Pete, es mag dich jetzt schockieren, aber ich war gar keine Jungfrau mehr.«

Ein langhaariger Rocker, wegen dem ich normalerweise die Straßenseite gewechselt hätte, wenn ich ihm – im sonst so ruhigen Edinburgh – begegnet wäre, winkt angeekelt ab. »Ich glaube, du hast recht. Wir sollten dich mit deinem verfickten Privatleben alleine lassen.

«Lucy nickt weise. »Vielen Dank.«

Der hünenhafte Berg aus schwarzem Leder – wie viele Kühe müssen dafür gestorben sein? – zieht vor Wut förmlich rauchend, ab. »Komm, Tony, wir gehen.«

»Nichts für ungut.« Der zweite Rocker streicht Gustavs Hemd glatt und reicht ihm ein überraschend blütenweißes Taschentuch. Dann trabt er wie ein folgsamer Rottweiler hinter seinem Bruder her.

Die Ähnlichkeit der Stimmen ist unverkennbar.