Church Ladies (eBook) - Deesha Philyaw - E-Book

Church Ladies (eBook) E-Book

Deesha Philyaw

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Beschreibung

Die Debüt-Sensation aus den USA! Die neun Geschichten dieses sensationellen Erzählbands umspannen vier Generationen schwarzer Frauen und Mädchen, die für ihren Platz in der Welt kämpfen, die mit dem moralischen Korsett hadern, in das sie gesteckt wurden, die wenigstens für kurze Zeit ihren Leidenschaften folgen und nach Freiheit streben. Da ist die vierzehnjährige Jael, die sich in die Frau des Priesters verliebt; Lyra, deren Unwohlsein im eigenen Körper zwischen ihr und ihrer neuen Liebe steht; da sind Rhonda und Leelee, die aus dem Süden an die Kalte Norostküste entflohen sind, um der sozialen Kälte der Heimat zu entfliehen; da sind die trauernden Fremden, die sich in den dunklen Schatten des Hospizparkplatzes Trost spenden. Sie alle leben ein zweites Leben im Verborgenen, haben Affären, sind verführerisch und verletzlich, mutig und ängstlich. Neun Geschichten, die mit einem neuen, erfrischenden Sound von der Liebe im 21. Jahrhundert erzählen.

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DeeshaPhilyaw

CHURCHLADIES

ERZÄHLUNGEN

Aus dem amerikanischen Englisch vonElke Link und Sabine Roth

Die Originalausgabe erschien erstmals 2020 unter dem Titel The Secret Lives of Church Ladies bei West Virginia University Press. © 2020 by Deesha Philyaw

Published by Arrangement with Marguerites Secrets, LLC.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Die Arbeit der Übersetzerinnen an diesem Buch wurde durch ein Stipendium des Deutschen Übersetzerfonds e. V. gefördert.

Vorbemerkung der Übersetzerinnen:

Einige Erzählungen enthalten Begriffe, die als rassistisch verstanden werden könnten; diese haben hier aber abbildenden Charakter und werden zudem von den Sprechern weitgehend wertfrei gebraucht.

Deutsche Originalausgabe

1. Auflage 2022

© 2021 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG,

Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

www.arsvivendi.com

Satz: ars vivendi

eISBN 978-3-7472-0442-9

Für Taylor und PeytonUnd für alle, die sich befreien möchten

Hier sei’s gesagt: Es war kein Sündenfall.

Sondern

ein Satzin die Freiheit.

Ansel Elkins,

Die Autobiografie Evas

INHALT

EULA

NICHT-DANIEL

LIEBE SCHWESTER

PFIRSICH-COBBLER

SCHNEEFALL

IM BETT MIT EINEM PHYSIKER

JAEL

LEITFADEN FÜRGUT CHRISTLICHE EHEBRECHER

HEUTE KOMMT EDDIE LEVERT

DANK

EULA

Eula reserviert uns die Suite in Clarksville, zwei Orte weiter. Ich bringe das Essen mit. Dieses Jahr Sushi für mich, und für sie gekochten Schinken mit Kartoffelsalat. Nichts Schweres, einfach als Grundlage. Und ich bringe den Sekt mit. In diesem Jahr, das wie jedes unser letztes sein könnte, sind es drei Flaschen André Spumante.

Kracher und zwei Millenniumsbrillen habe ich uns auch besorgt. Die Brillengläser sind die beiden Nullen in der Mitte. Nach allem, was man hört, werden wir in der Sekunde, in der Dick Clark seinen Countdown am Times Square beendet, dank Y2K sowieso alle im Dunkeln sitzen. Aber das stört mich nicht. Der André trinkt sich im Dunkeln mindestens genauso gut weg.

Wir packen ein bisschen aus, und dann macht sich Eula über den Kartoffelsalat und den Schinken her. Sie ist extrem pingelig mit ihrem Essen. Mit fast allem eigentlich. Wehe, etwas entspricht nicht exakt ihren Vorstellungen. Sie ist wie ich Lehrerin, da müssen wir es genau nehmen, wobei Eula es noch mal genauer als ich nimmt. Aber auch sie merkt nicht, dass ich den Kartoffelsalat fertig bei Publix gekauft, gehackte harte Eier, Senf, Gurkenrelish und Paprikapulver untergerührt und das Ganze in meine rote Tupperschüssel umgefüllt habe. Sie nimmt sich nach, reibt sich den Bauch und sagt mir, ich hätte mich selbst übertroffen.

Nachdem wir fertig gegessen und die erste Flasche André leer gemacht haben, drehe ich die Dusche auf. Wir mögen es beide sengend heiß. Mich entspannt das heiße Wasser, aber mit Eula, habe ich das Gefühl, macht es etwas anderes. Ich bin schon längst draußen, da steht sie immer noch in der Kabine. Durch die beschlagene Glastür kann ich ihre rosa Duschhaube sehen. Ihr Kopf ist gesenkt, und ich frage mich, ob sie Gott da drin um Vergebung bittet, weil sie SEINE Gebote missachtet, während sie weiterhin geduldig wartet, dass sich SEINE Vorsehung an ihr erfüllt.

Als Eula und ich vor zehn Jahren dreißig wurden, waren wir schon unser halbes Leben beste Freundinnen. Kennengelernt haben wir uns in der Zehnten, die beiden einzigen schwarzen Mädchen im Leistungskurs Englisch. Eula war in dem Jahr neu an der Schule, ihre Familie war aus North Carolina zugezogen. Sie brauchte eine Freundin, ich brauchte auch eine. Wir waren beide Romantikerinnen, die auf den Seitenrändern ihrer Mathehefte ihre hawaiianische Doppelhochzeit planten. Unsere Männer sollten Eisenbahner sein wie unsere Väter. Wir würden an der High School unterrichten, uns bei den Kirchendamen engagieren und Tür an Tür wohnen. Unsere Kinder würden zusammen spielen.

Mit dreißig waren wir dann zwar High-School-Lehrerinnen und bei den Kirchendamen aktiv, der Rest unseres Traums allerdings fehlte. Wir feierten Eulas Geburtstag mit mengenweise Weinschorle bei ihr in der Wohnung, und am Ende saß sie mit hochgeschobenem Rock auf meinem Schoß. Ich sah den weißen Baumwollslip zwischen ihren prallen braunen Schenkeln. Sie roch nach Vanille.

»Hast du auch manchmal das Gefühl, dich zerreißt es?«, fragte sie. Ihr Atem blies mir fruchtig und heiß ins Gesicht.

Ich antwortete nicht; ich hatte Angst, mit einer ehrlichen Antwort könnte ich Eula verschrecken. Aber es spielte keine Rolle, denn sie redete schon weiter, ich solle sie anfassen, drängte sie mich, weil noch nie jemand sie da unten berührt hätte. Sie sei immer ein braves Mädchen gewesen, sagte sie mir. Aber das wusste ich ja sowieso. Anders als ich hatte sich Eula als Teenager nie hinter dem Rücken ihrer Eltern weggeschlichen, verlockt und dann enttäuscht von dem, was halbstarke Jungs zu bieten hatten. Und anders als ich hatte sie sich als Erwachsene keine kurzlebigen Affären mit Männern angetan, die es nicht wert waren, dass man sich auch nur ihre Namen merkte. Eula betete lieber und wartete auf ihren Boas, wie Ruth aus der Bibel.

Eula ist eine echte Gläubige. Sie treiben keine tausend Fragen um, so wie mich.

Aber in jener Nacht schob sie meine Finger unter diesen weißen Baumwollslip und vergaß jeden Gedanken an Boas. Wir blieben auf, bis wir beide glitschten vor Schweiß. Am Morgen bekämpfte sie ihre Reue mit Schweigen und Kaffee.

Einen guten Monat später war Silvester, und Eula rief an und sagte, sie hätte uns in Clarksville eine Suite gebucht. Ich brachte Pizza bianca und drei Flaschen Asti Spumante mit.

Für Eulas Geburtstag im Jahr darauf plante ich für uns zwei ein Festmahl bei mir zu Hause. Ich ging zum Fischmarkt an der Avery Street und kaufte alle Zutaten für ihr Lieblingsessen, Gumbo. Eula mag den Gumbo so, wie meine Grandma Pauline ihn macht, nur ohne Okraschoten, darum ließ ich die weg. Ich kochte ihn schon am Abend vorher, weil Grandma Pauline immer sagt, der Gumbo schmeckt besser, wenn er einen Tag lang im Kühlschrank durchzieht.

Als ich die Mehlschwitze rührte – für mich immer der lästigste Teil beim Gumbo-Kochen, weil er einem Geduld abverlangt –, rief Eula an: Ob wir unser Festmahl eventuell verschieben könnten? Reese, ein Anwalt aus unserem Singles-Bibelkreis, mit dem sie sich seit gerade mal sechs Monaten traf, wolle sie zu ihrem Geburtstag ausführen. Er habe eine Überraschung für sie. Ihre Worte überschlugen sich richtiggehend – OCarolettaichglauberwillmireinenAntragmachen –, und ich rührte weiter meine Mehlschwitze um.

»Das verstehst du doch, oder?«, fragte Eula.

»Klar.« Ich suchte nach irgendwelchen verbindlichen Worten, die keinen verletzten, bitteren Geschmack in meinem Mund hinterlassen würden. Aber mir fiel nichts ein. Es war auch nicht nötig, Eula plapperte atemlos weiter – wie es Reese wohl gelungen war, ihre Ringgröße zu erraten, und wie sie sich hinreichend überrascht geben konnte, wenn er die große Frage stellte.

Am Ende bekamen an dem Abend sowohl Eula als auch Reese ihre Überraschung. In ihr Candle-Light-Dinner in einem Dachterrassenrestaurant (die ursprüngliche Überraschung) platzte Reeses Noch-Ehefrau.

Als Eula nachts anrief, um sich bei mir Luft zu machen, fauchte ihre Wut geradezu aus dem Hörer. Ich saß im Bett und hörte mir alles an, meine zweite Schüssel Gumbo (mit Okra) auf den Knien, neben mir sanft schnarchend der Ehemann einer anderen Frau.

Im Lauf der Zeit hatte Eula andere Reeses, andere Beinahe-Treffer. Aber früher oder später servierte sie jeden von ihnen ab: zu alt, zu jung, zu pleite, zu schwer von Begriff. Oder sie wurde ihrerseits abserviert, wenn der Mann kapierte, dass er sie auch mit noch so vielen Schmeicheleien, noch so viel Druck nicht ins Bett bekam. Dieser Tage werden die Reeses immer spärlicher, und mit jedem Jahr, das vergeht, erinnern sie weniger an Boas.

Manchmal frage ich mich, ob Eula deshalb an allen diesen Männern etwas zu bemängeln findet, weil sie im Grunde keinen von ihnen will, sondern nur fremden Erwartungen zu genügen versucht.

Aber das gehört zu den Dingen, über die Eula und ich nicht reden.

Nach dem Duschen zieht Eula ein weißes T-Shirt und ein weißes Baumwollhöschen an. Sie lässt sich rückwärts auf das Kingsize-Bett fallen, in dieses Meer aus frischen weißen Laken, üppigen Kopfkissen und wogender Steppdecke. Um ihre Haare hat sie einen pinken Seidenschal gebunden. Sie nimmt einen langen Zug aus der zweiten Flasche André.

»Du auch?« Sie streckt mir die Flasche hin.

Vom Fußende des Bettes krabble ich auf sie zu. Als ich bei ihr ankomme, hält sie mir die Flasche an den Mund, kippt mir dann einen Schwapp in den Ausschnitt und kichert. »Das haben wir gleich«, sagt sie, stellt die Flasche auf den Nachttisch und schubst mich nach hinten in die Kissen. Dann setzt sie sich rittlings auf mich, zieht mir das Nachthemd aus und leckt überall da, wo der Sekt hingeflossen ist.

Ungefähr eine Stunde später wache ich auf, ziemlich beschwipst. Eula sitzt aufrecht im Bett und trinkt aus der letzten Flasche André. Der Fernseher ist stummgeschaltet, aber ich kann sehen, dass Dick Clark irgend so eine kleine Weiße mit bunt gesträhnten Haaren vorstellt, die Anfang des Jahres einen Hit gelandet hat. Der Name der Kleinen fällt mir nicht ein, was aber nichts macht, denn tanzen kann sie schon mal ums Verrecken nicht, singen auch nicht.

»Ich habe gerade einen Neujahrsvorsatz gefasst«, sagt Eula mit halb geschlossenen Augen. »Dieser Valentinstag wird definitiv mein letzter ohne einen Mann sein, der mir gehört, und zwar nur mir.«

»Da hast du dir ja was vorgenommen«, sage ich und greife nach der Flasche. Sie vom Alleinsein sprechen zu hören, perlt an mir nicht so leicht ab wie sonst meistens. »Und wie willst du das hinkriegen?«

»Wie der Pastor sagt, ein geparktes Auto kann auch der Herrgott nicht lenken. Ich muss selbst die Weichen entsprechend stellen und in meinem Leben Platz für einen Ehemann schaffen.«

»Nämlich wie?«

»Na ja, zum Beispiel habe ich den Bibelkreis ziemlich schleifen lassen. Wenn ich einen gottesfürchtigen Mann will, muss ich in den richtigen Kreisen verkehren.«

»Beim Bibelkreis hast du Reese kennengelernt …«

Eula verdreht nur die Augen. »In meinem Haus muss ich auch einiges umgestalten«, sagt sie. »So wie es jetzt ist, würde ein Mann gar nicht reinpassen. Ich will einem Ehemann Raum geben.«

»Durch Feng-shui?«

»Feng-was?«

»Egal.« Dann wird sich Eula also ab sofort diesen ganzen Männerfang-Aktivitäten hingeben, und ich mache derweil … was? Empfange ab und zu einen verheirateten Mann bei mir? Verbringe den nächsten Silvesterabend ohne sie? Ich will auch eine Veränderung, aber ich habe keinen Plan.

»Und ich trete in das Singles-Softball-Team ein, das sie in der Gemeinde haben«, fährt Eula fort.

»Du magst doch gar keinen Sport«, sage ich lachend.

»Lach mich ruhig aus.« Eula plustert die Kissen hinter sich auf. »Ganz im Ernst, du solltest auch langsam mal in die Gänge kommen! Caroletta, willst du denn niemanden, zu dem du heimkommen kannst? Mit dem du dein Leben verbringst? Möchtest du nicht glücklich sein?«

Ich sehe Eula an, ihre nicht mehr ganz frischen Löckchen, die verklebt sind von ihrem Tauchgang zwischen meinen Beinen. Etwas kocht in mir hoch, während ich über ihre Frage nachdenke, halb Grausamkeit und halb Mitleid. Seit wann interessiert sie mein Glück, seit wann weiß sie überhaupt etwas darüber? Auch nur das kleinste bisschen?

»Ich bin glücklich.« Ich versuche, meiner Stimme mehr Festigkeit zu geben, als ich in mir fühle. »Jetzt, in diesem Moment. Hier mit dir. Und es muss auch nicht nur diese Nacht sein. Wir könnten …«

»Du hast aber nicht aufgegeben, Caroletta, oder? Ich bin eisern entschlossen, einen Mann zu finden, sei du es doch auch!« Eula sagt es mit monotoner Stimme, wie eine zu Tode erschöpfte Verkäuferin. Sie rutscht von mir weg, vor zur Bettkante, das Gesicht dem Fernseher zugewendet.

»Eula, dreh dich um und schau mich an. Bitte.«

Eula schüttelt den Kopf. Sie sagt zum Fernseher: »Ich will nicht als Jungfrau sterben. Du etwa?«

Ich warte wohl einen Tick zu lange mit einer Antwort.

Eula fährt zu mir herum. »Wie, du bist …?«

Ich weiß gar nicht, was komischer ist: dass Eula glaubt, ich vierzigjährige alte Schachtel hätte in all diesen zig Jahren nie mit irgendeinem Mann Sex gehabt, oder dass sie uns für jungfräulich hält, nach allem, was wir in dieser selben Zeit miteinander gemacht haben.

»Eula.«

»Du hast irgend so einen Kerl rangelassen?« Eula schlägt sich die Hand vor den Mund. Für den Augenblick hat Eula, die Sonntagsschullehrerin, die Biologielehrerin Eula verdrängt. »Statt dich rein zu halten?«

»Eula!«

Halb rechne ich damit, dass sie ihre Kleider zusammenrafft und flüchtet. Aber das tut sie nicht. Sie bleibt am Bettrand sitzen und weint, dass ihr ganzer Körper bebt. »Das kann’s doch nicht sein!«, stößt sie immer wieder hervor. Ich bin mir nicht sicher, was »das« ist. Ich mit Männern? Sie mit mir? Das Leben?

»Wie soll es denn sein, Eula?«

Sie dreht sich um und schaut mich an. »Ich will einfach nur glücklich sein«, schluchzt sie. »Und normal.«

Ich möchte den Abstand zwischen uns überbrücken, möchte sie an mich ziehen und wiegen, bis sie aufhört zu weinen, ihr versprechen, dass alles gut wird, aber ich traue mich nicht. Ich kann nicht machen, dass alles gut wird, nicht auf die Art, die ihr vorschwebt.

»Aber wer sagt, was normal ist, Eula? Irgendwelche Männer, die schon seit Jahrtausenden tot sind? Die an der Sklaverei nichts verkehrt fanden und Frauen als ihr Eigentum betrachtet haben?«

»Die Bibel ist das unumstößliche Wort Gottes«, flüstert Eula so trotzig, wie man nur flüstern kann.

»Das glaubst du nur deshalb, weil eine andere Gruppe von Männern die erste Gruppe von Männern so ausgelegt hat. Wir sollen auf Gott vertrauen, nicht auf die Menschen, heißt es doch. Meinst du, Gott will, dass du oder irgendwer über viele Jahrzehnte unberührt bleibt? Das ganze Leben? Wie Sister Stewart, Sister Wilson, Sister Hill, meine Mutter, nachdem mein Vater gestorben war – alle diese Frauen in der Kirche, die glauben, sie müssten wählen zwischen Gottgefälligkeit und etwas so Elementarem, Menschlichem wie dem Bedürfnis nach Geborgenheit und Intimität? Wenn Gott wirklich einmal Mensch geworden ist …«

»Wenn?« Eula spuckt mir das Wort regelrecht entgegen.

»… warum sollte er dann Regeln aufstellen, die dich zu einer so schmerzhaften Wahl zwingen?«

»Ich hinterfrage Gott nicht.«

»Aber vielleicht solltest du mal die Menschen hinterfragen, die dir dieses Bild von Gott vermittelt haben. Weil du dir mit so einem Gottesbild nämlich keinen Gefallen tust.«

Eula schaut mich mit schmalen Augen an. »Du bist nicht die, für die ich dich gehalten habe.«

»Du bist auch nicht die, für die du dich gehalten hast.«

Im Fernseher geraten die Massen am Times Square immer mehr aus dem Häuschen. Es ist fast Zeit für den Countdown. Eula und ich liegen auf dem Bett, mit nichts an als unseren Millenniumsbrillen. Die Kracher sind noch in meiner Tasche.

»Irgendwann will ich den Jahreswechsel auch mal auf dem Times Square erleben«, sagt Eula, aber durch den André klingt es ziemlich vernuschelt.

»Mit mir? Vielleicht könnten wir nächstes Jahr hinfahren, statt hierherzukommen.«

Eula antwortet nicht.

»Unsere Freunde im australischen Sydney haben das neue Jahr schon vor Stunden eingeläutet«, sagt Dick Clark zu einer Frau in der Menge, einer Weißen mit einem taillierten Zylinder aus lila Samt auf dem Kopf. »Und auch in anderen Ländern ging der Jahreswechsel ohne Stromausfall oder Computerabstürze über die Bühne. Würden Sie sagen, der Y2K-Bug war viel Lärm um nichts?«

»Ich hab Angst, Caroletta.«

»Ich weiß.«

Eula fängt an zu flüstern. Ich schiebe mich näher an sie heran, um zu hören, was sie sagt, und merke, dass sie betet.

Als sie Amen sagt, steige ich aus dem Bett, gehe zum Fußende und knie mich hin. Eulas Zehennägel sind pink lackiert, der gleiche Farbton wie ihr Schal. Ich fasse sie um die Knöchel und ziehe sie zu mir her. Sie rutscht mit dem Hintern bis ganz vor zur Kante, die Füße links und rechts von mir auf die Matratze gestemmt. Sie spreizt die Knie. Ich drücke die Innenseiten ihrer Schenkel sanft auseinander, bis sie offen vor mir liegt, wie ein Altar.

10 – 9 – 8 …

Ich spreche in Zungen.

4 – 3 – 2 …

Eula hat ihre Gebete, ich habe meine.

NICHT-DANIEL

Ich parkte hinter dem Hospiz, wo es dunkel war, und wartete. Auf meinem Schoß lag eine Packung Kondome, Magnum XL. Als wäre ich wieder sechzehn, nur dass ich die Kondome jetzt selber gekauft hatte, statt mich auf den Jungen zu verlassen. Und der Junge war diesmal ein Mann, den ich bei unserer ersten Begegnung – vor zwei Wochen am Haupteingang des Hospizzentrums – mit einem ehemaligen Schulkameraden aus der Junior High verwechselt hatte. Ich kam gerade, er ging. Ich hielt ihn für Daniel McMurray, deshalb schaute ich einen Tick länger hin, und er schaute zurück. Später am Abend sah ich ihn dann aus dem Zimmer gegenüber dem meiner Mutter kommen. Seine Mutter hatte Brustkrebs, meine Eierstockkrebs.

Ich warf einen Blick auf mein Handy. 22:27. Ich hatte den Kondomkauf bei Walmart perfekt getimt. Noch drei Minuten, bis Nicht-Daniel aus der Station kam. Damit Schwester Irie, die Nachtschwester, nicht Lunte roch, gingen wir nie zur gleichen Zeit und kamen auch nie gleichzeitig zurück. Sie hieß eigentlich gar nicht Irie, so nannte ich sie nur hinter ihrem Rücken, weil sie Jamaikanerin war. Sie war außerdem ein ziemliches Biest. Ich hatte mich bei der Hospizleitung schon über sie beschwert und gefragt, ob sie mit ihrer giftigen Art nicht besser in der Pathologie aufgehoben wäre. Aber zu Nicht-Daniel war Schwester Irie nett. Ihn ranzte sie nicht an, wenn er Fragen zur Pflege seiner Mutter hatte. Ja, angeblich hatte sie sogar einmal mit ihm geschäkert, als er irgendwann spätabends in seinen knappen Joggingshorts über den Gang gelaufen war: »Boi, wenn du hier noch länger im Höschen rumtänzelst, komm ich mit dem Schwamm und wasch dich.«

Schwester Irie war nicht dumm. Vielleicht würde sie zwei und zwei zusammenzählen und folgern, dass Nicht-Daniel und ich … ja, was waren wir? Wie nennt man das, wenn eure beiden Mütter Nachbarinnen im Sterbehospiz sind und die Nächte endlos und schlaflos, und wenn hier jemand ist, der wie du den Tag damit verbracht hat, mit Versicherungen und Gläubigern und Banken und Pastoren und Verwandten und Freunden zu reden, manche davon wohlmeinender als andere? Ein so pflichtbewusster Sohn, wie du die pflichtbewusste Tochter bist, und damit wie du Blitzableiter für die ganze Familie, Chauffeur, Kautionsbürge, Therapeut, Berufsberater, Bankomat, Depp vom Dienst? Der wie du den Tod, diesen launenhaften Mitspieler irgendwo hinter den Kulissen, gleichermaßen fürchtet und herbeisehnt?

Wie nennt man es, wenn besagter Jemand einen Ehering trägt, aber seine Frau nie mit Namen erwähnt? Eine Frau und zwei Kinder im benachbarten Bundesstaat? Keine Fragen, keine Antworten.

Um Punkt halb elf klopfte Nicht-Daniel an das Beifahrerfenster. Die ersten Sekunden saßen wir stumm nebeneinander, wie immer am Anfang. Manchmal weinte dann ich, manchmal auch er, weil das erlaubt war hier draußen, weil wir hier sicher waren vor dem Jesus unserer Mütter, vor Pflegerinnen auf Autopilot, hohlen Phrasen und als Trost verkleideten Binsenweisheiten über den Willen Gottes. Und nach einer Weile fing dann einer von uns zu sprechen an.

Aber heute Abend … wie sollten wir heute Abend beginnen? Da weitermachen, wo wir gestern aufgehört hatten? Als die x-te mäandernde Unterhaltung über Begräbnisse und selbstsüchtige Geschwister unversehens in Küssen überging und ich plötzlich kein T-Shirt mehr anhatte, aber dafür Nicht-Daniels Mund an meinen Nippeln?

Letztlich lief es dann so: Nicht-Daniel nahm mir die Packung Kondome aus der Hand, zog eins heraus und stellte die Schachtel auf das Armaturenbrett, neben mein Handy. Seines legte er daneben. Ich wusste, dass sein Klingelton, wie meiner, auf die höchste Lautstärke eingestellt war, weil der Anruf, DER Anruf, jederzeit kommen konnte. Dann nahm er mein Gesicht in seine Hände und sah mich an. Ich schlug die Augen nieder.

»Nein«, sagte er. »Für das jetzt musst du … hier sein. Ganz. Hier.«

Ich hob den Blick. Ich kam mir vor wie Sisyphus, der seinen Stein wälzt. In seinen Augen las ich FrauKindersterbendeMutter. Ich blinzelte, blinzelte wieder, bis meine Sicht frei war.

Auf der Rückbank zog Nicht-Daniel erst mich aus, dann sich, und vergrub das Gesicht zwischen meinen Schenkeln. Ich streckte die Arme über den Kopf, klammerte mich am Türgriff fest, und während ich kam, mehrmals kam, weinte ich.

Als Nicht-Daniel sich schließlich das Kondom überstreifte und mich auf die Knie zog, waren meine Beine kraftlos und schlaff. Er drehte mich weg von sich und drückte mich nach vorn, die Hand in meinem Kreuz. Dann legte er sich auf mich und drang in mich ein. Er fasste mich derb an, aber nicht grob.

Ich fragte mich, ob er das Gleiche dachte wie ich: Was, wenn eine unserer Mütter stirbt, während wir hier unten, um einen Ausdruck meiner Großmutter zu verwenden, rammeln wie die Karnickel?

Aber in der Enge der Rückbank, so besetzt mit unserer Trauer und unserer Begierde, hatten Schuldgefühle oder Angst keinen Platz. Nur Erleichterung.

Und das sagte ich Nicht-Daniel auch, als wir beide verschwitzt und völlig ausgepumpt dalagen und das Sitzleder klebrig an der feuchten Haut spürten.

»Erleichtert?« Er runzelte die Stirn und grinste dann. »Erleichtert? Soll das heißen, ich hab nicht geliefert?«

»Nein, nein«, sagte ich. »Du hast sehr wohl geliefert. Und wie du geliefert hast. Aber eins muss ich doch fragen …«

»Raus damit.«

»Hattest du keine Angst, dass eine von ihnen stirbt, während wir hier unten sind?«

»Daran hab ich keine Sekunde gedacht.«

»Echt nicht?«

»Echt nicht. Also hör mal, ich kann entweder liefern, oder ich kann an meine Mama denken, lebendig oder tot. Beides zugleich geht nicht.«

Und ich lachte, obwohl ich ein schlechtes Gewissen dabei hatte. Obwohl nichts so war, wie es sein sollte.

LIEBE SCHWESTER

LIEBE JACKIE,

das ist bestimmt schon mein fünfter Anlauf zu diesem Brief. Ich sage mir jetzt einfach, entweder du liest ihn oder du liest ihn nicht, und wie ich ihn schreibe, ist letztlich egal. Die Frage ist viel eher, wer du bist und was du in deinem Leben durchmachen musstest und was es dir bedeutet – beziehungsweise ob es dir überhaupt etwas bedeutet –, denselben Vater zu haben wie meine Schwestern Renee, Kimba, Tasheta und ich. Vielleicht hat es ja keinerlei Bedeutung für dich. Vielleicht ist dein Leben ohne unseren Vater bestens verlaufen, was ich dir sehr wünschen würde. Vielleicht bedeutet es dir aber auch sehr viel, und du hast dich immer nach einem Vater gesehnt und zu kämpfen gehabt, weil er nicht da war. So oder so hast du ein Anrecht zu erfahren, dass unser Vater Wallace »Stet« Brown letzte Woche an einem schweren Schlaganfall gestorben ist.

Soviel wir wissen, hast du unseren Vater nie kennengelernt. Er hat dich zuletzt als Säugling gesehen. Wenn das stimmt, und falls es dir irgendein Trost ist: Du hast nicht viel verpasst. (Das soll ich dir von unserer jüngsten Schwester Tasheta ausrichten. Gerade sitzen wir in Grandmas Haus zusammen, und alle rufen durcheinander und sagen mir, was ich dir schreiben soll. Zum größten Teil ignoriere ich sie. Sie haben mich zur Briefschreiberin bestimmt, weil ich klare Ansagen mache und nicht um den heißen Brei herumrede. Und weil ich, im Gegensatz zu Tasheta, weiß, was Taktgefühl ist.)

Ach ja, falls du dich das fragst: Bei uns hieß es schon immer »Grandmas Haus«, obwohl Granddaddy auch hier gewohnt hat, als er noch lebte. Er ist 2002 gestorben, Herzinfarkt, Gott hab ihn selig. Granddaddy hättest du gemocht. Jeder mochte ihn. Er hatte immer irgendwelche Witze oder lustigen Geschichten auf Lager. Er war ein feiner Mensch, wie Grandma auch. Ihre Kinder haben die Kurve nicht gekriegt, sie sind alle Junkies geworden oder sonstwie vom Weg abgekommen, obwohl ihre Eltern sich die größte Mühe gegeben haben, sie anständig zu erziehen. Manche Leute schlagen nun mal einfach ihren eigenen Kurs ein.

Aber zurück zu Stet. Tasheta hat recht. Du hast nicht viel verpasst. Stet – so nannten ihn alle außer Grandma, weil er in der High School immer einen Stetson aufhatte –, also Stet war als Dad nicht gerade der Hit. Jede von uns Schwestern hatte eine andere Beziehung zu ihm, aber keine davon war gesund und keine so, wie wir es gebraucht hätten.

Kimba ist die Älteste, und sie ist die Schlichterin. Zu unserem Vater hat sie »Wallace« gesagt, aber hauptsächlich hat sie ihn wie Luft behandelt. Dass Tasheta und Renee sich im Lauf der Jahre nicht doch irgendwann erwürgt haben, ist allein ihr Verdienst. Sie hat in Harvard studiert. Ihre Mutter (Jan) und meine Mutter waren Freundinnen … bis Stet auftauchte. Aber als Kimba und ich in die