City of Elements 4. Der Ruf des Feuers - Nena Tramountani - E-Book

City of Elements 4. Der Ruf des Feuers E-Book

Nena Tramountani

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Beschreibung

Jetzt war da etwas, das uns beweisen konnte, ob ich die ganze Zeit über recht gehabt hatte mit meinen schlimmsten Befürchtungen. Nein, nicht etwas. Jemand. Ein Happy End mit Will schien so nah. Doch plötzlich ist da Marcia, die genau wie Kia das Kind zweier verschiedener Elemententräger und zu allem Überfluss auch noch wunderschön ist. Und genau wie bei Kia ist es Wills Bestimmung, sie zu schützen und in ihrer Nähe zu sein. Keine einfache Situation für Kia, zumal Will auf einmal verändert scheint. Spricht nur die Eifersucht aus ihr oder steckt mehr dahinter? Ausgerechnet mit Marcia soll Kia nun trainieren, um für den Kampf gegen die Omilia stärker zu werden. Die Migma will zuschlagen und Tessarect ein für alle Mal befreien. Kann das gelingen gegen eine Doktrin, der die Talentierten seit Jahrhunderten verfallen sind? Welche Opfer müssen die Verbündeten dafür bringen? Eins scheint sicher: Nun wird nicht nur über die Zukunft Tessarects, sondern ihrer aller Zukunft entschieden. Und Kia ist der Schlüssel zu allem. Noch mitreißender, noch temporeicher, noch prickelnder: Das fulminante Finale!

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Mabero

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Wirklich eine tolle Reihe die ich jedem nur empfehlen kann, schade das es vorbei ist.
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Über dieses Buch

Jetzt war da etwas, das uns beweisen konnte, ob ich die ganze Zeit über recht gehabt hatte mit meinen schlimmsten Befürchtungen. Nein, nicht etwas. Jemand.

 

Ein Happy End mit Will schien so nah. Doch plötzlich ist da Marcia, die genau wie Kia das Kind zweier verschiedener Elemententräger und zu allem Überfluss auch noch wunderschön ist. Und genau wie bei Kia ist es Wills Bestimmung, sie zu schützen und in ihrer Nähe zu sein. Keine einfache Situation für Kia, zumal Will auf einmal verändert scheint. Spricht nur die Eifersucht aus ihr oder steckt mehr dahinter?

Ausgerechnet mit Marcia soll Kia nun trainieren, um für den Kampf gegen die Omilia stärker zu werden. Die Migma will zuschlagen und Tessarect ein für alle Mal befreien. Kann das gelingen gegen eine Doktrin, der die Talentierten seit Jahrhunderten verfallen sind? Welche Opfer müssen die Verbündeten dafür bringen? Eins scheint sicher: Nun wird nicht nur über die Zukunft Tessarects, sondern ihrer aller Zukunft entschieden. Und Kia ist der Schlüssel zu allem.

 

Noch mitreißender, noch temporeicher, noch prickelnder: das fulminante Finale!

Für Michelle Michalk.

Weil ich es deinetwegen geschafft habe, diese Geschichte zu beenden.

EINSMagenta

Melamarcia – Damals

Ich hatte keine Chance. Sie waren zu fünft. Auf ihren Gesichtern lag die gewohnte Mischung aus Vergnügen und Hass. Ich wusste nicht, was ich verbrochen hatte. Ich wusste nur, es musste etwas sehr Schlimmes sein.

»Was treibst du dich alleine hier draußen rum?«, rief Seth, während ich mich hastig aufrappelte und das Buch hinter meinem Rücken versteckte, als könnte ich es so vor ihnen beschützen. Die Worte darin waren zu lang und zu kompliziert für mich, doch es beruhigte mich, über die schwarzen Buchstaben auf dem vergilbten Papier und über den abgewetzten Einband zu streichen. Mir die fremde Welt vorzustellen, die sich zwischen den Buchdeckeln befand.

Ich träumte oft von fremden Welten, egal, ob ich wach war oder schlief. Und manchmal beschlich mich der Verdacht, dass auch ich aus einer stammte. Dass dies der Grund war, wieso ich nicht in diese passte.

Die Sonne war hinter den Baumkronen und einer ungewöhnlich dunklen Wolke verschwunden. In Sekundenschnelle verwandelte sich die malerische Idylle in etwas Bedrohliches. Ich war heute extra eine halbe Stunde durch das Waldstück neben unserem Haus gestapft, um zu diesem Ort zu gelangen. Um ungestört zu sein.

Vergebens.

Sie kamen auf mich zu. Wie Raubtiere, die ihre Beute umkreisten, positionierten sie sich um mich herum.

»Die kleine Psychopatin hat bestimmt versucht, Geister heraufzubeschwören!«

»Oder sie redet mit ihren imaginären Freunden.«

Seth allein war schon schlimm genug, aber zusammen mit seinen Freunden war er nicht zu halten. Sie waren groß, hatten schmutzige Hände und leere Blicke.

Die blauen Flecken auf meiner Haut schienen jedes Mal wieder zu pochen, wenn einer von ihnen in meine Nähe kam.

»I-ich wollte nur lesen«, brachte ich hervor und wünschte mir eine Sekunde später, ich hätte den Mund gehalten, als sie in schallendes Gelächter ausbrachen.

»Seit wann kann deine Schwester lesen, hm, Colville?«

Seth sah aus, als sei er drauf und dran, seinem Freund an die Gurgel zu gehen. »Sie ist nicht meine Schwester, wie oft noch?!«

Es tat nicht mehr weh, wenn er so etwas sagte. Ich hatte Mum gefragt, ob es stimmte. Mit glasigen Augen hatte sie mich angesehen, den Kopf geschüttelt und mir übers Haar gestrichen. Das hatte wehgetan. Mum berührte mich fast nie, und immer, wenn sie es tat, erinnerte ich mich daran, wie schön es sich anfühlte.

»Weißt du, was dein Name bedeutet, Psycho?«, rief Jonathan. Er war jetzt so nah, dass ich seinen Schweiß roch. Für einen kurzen Moment flackerte mein Blick zu den Mohnblumen zwischen den grünen Grashalmen. Was wünschte ich, ich könnte meine Nase darin vergraben und tief einatmen …

Reflexartig trat ich einen Schritt zurück. Weglaufen brachte nichts, das hatte mir das letzte Mal deutlich gezeigt. Aber wenn ich noch zwei Schritte rückwärtsging, würde ich ins Leere treten. Wir befanden uns direkt an einer Klippe.

»Me-la-mar-cia.«

Er zog die Silben meines Namens auseinander und lachte hämisch. Ich mochte den Namen auch nicht besonders, er war lang und komisch und ganz anders als die der anderen Kinder. Noch etwas, das mich von ihnen und dieser Welt trennte.

»Ein fauler Apfel! Das passt ganz gut, oder?«

Die Worte stachen, sie nisteten sich in mir fest, und ich wusste, heute Nacht, wenn ich ihnen schutzlos ausgeliefert war, würden sie erneut zum Vorschein kommen, um mich heimzusuchen. Doch sie waren nicht so schlimm wie das, was folgen würde. Sie waren nur der Anfang.

»Bitte«, piepste ich und sah zu Seth. Obwohl es zwecklos war, konnte ich es nicht lassen, etwas in seiner Miene zu suchen, woran ich mich festklammern konnte.

Er preschte nach vorn, in zwei großen Schritten war er bei mir und packte mich bei den Schultern. »Die Welt wäre besser dran ohne dich, verstehst du das?«, zischte er. »Wir wollten dich nie! Du gehörst nicht hierher!«

Mit diesen Worten gab er mir einen kräftigen Stoß.

Es gab nichts, was ich tun konnte. Ich stolperte nach hinten, mein Magen überschlug sich, und mein Herz setzte aus. Für ein paar Sekunden krochen die Eindrücke wie in Zeitlupe auf mich zu. Das Grün der Bäume, ein kleiner Fleck strahlendes Himmelblau, ein schreiender Vogel.

Wie schön ein Ort sein konnte, obwohl die grausamsten Dinge an ihm geschahen.

Dann glitt das Buch zu Boden, und ich trat ins Nichts.

Ich schrie nicht. Ich presste die Augen nicht zu. Ich fiel einfach.

Es dauerte nicht lang. Im einen Moment spürte ich den Luftzug an meinem Körper, im nächsten verschwand die Umgebung vor mir in weißem Licht.

Nun stürzte ich nicht länger nach unten, ich begann mich zu drehen, schneller und schneller, wie wenn ich mich einen Hügel herabrollte, bloß dass ich jetzt schwebte. Da waren Bilder. Sie flogen an mir vorbei. Oder flog ich an ihnen vorbei? Die Hände meiner Mutter. Ein zersprungener Teller. Hestia, meine Lieblingspuppe, bevor Seth sie mit einem Küchenmesser zerfetzt hatte.

Mein Name ertönte. Sanft. Gesprochen von der einzigen Stimme, die Wärme ausstrahlte.

War er hier?

War Phos zu meiner Rettung geeilt?

Eigentlich weinte ich nicht mehr, aber jetzt wollte ich es tun. Mir war so schlecht.

Plötzlich verschwand alles. Die Bilder. Die Gedanken. Die Geräusche. Die Übelkeit blieb. Da waren Buchstaben. Ein Wort. Es brannte lichterloh. Ich brauchte einen Augenblick, um es zu entziffern.

Entscheide.

Meine Lider flatterten zu, und ich spürte die Tränen. Und dann begriff ich. Ich war im Himmel. Und im Himmel konnte man sich Dinge wünschen.

Lass mich hierbleiben, dachte ich und drückte die Augen noch fester zu. Wenn ich wirklich entscheiden darf, dann bitte lass es zu Ende sein.

Kiana – Heute

Nicht ausrasten.

Die Sonne ergoss sich über die Wiese und ließ ihre dunklen Locken funkeln. Schokoladenbraun. Genau wie ihre Augen.

Atmen.

Ihre Lippen verzogen sich zu einem unwiderstehlichen Lächeln. Sie sah ausschließlich mich an. Neugierig. Herausfordernd.

»Kiana Lyberth.« Obwohl sie gerade die Klippe hinaufgeklettert war, ging ihr Atem regelmäßig. »Es wurde aber auch langsam Zeit, dass wir uns kennenlernen.«

Mit ganzer Macht konzentrierte ich mich darauf, nicht zu Will zu schauen. Solange ich seinen Gesichtsausdruck nicht sah, konnte ich mir einbilden, alles war beim Alten. Er hatte gerade nicht die Nerven verloren, weil sich die schöne Fremde in Gefahr gebracht hatte. Das hier war nur eine gewöhnliche Unterhaltung mit einer weiteren Sympathisantin der Migma. Keine große Sache.

Trotzdem spürte ich ihn neben mir, hörte seine abgehackten Atemzüge, die er im Gegensatz zu ihr ganz und gar nicht unter Kontrolle hatte. Als hätte er gerade einen Bungeesprung hinter sich, nicht die junge Frau vor mir …

»Du siehst exakt so aus wie in meinem Kopf«, fuhr sie samtweich fort, und ihr Lächeln wurde breiter, bevor sie mir ihre Hand hinstreckte.

»W-was?«

Bewegungslos starrte ich sie an. Diese Kälte in ihrem Blick, trotz des Lächelns. Dieser Olivteint, um den ich Evelyn schon immer beneidet hatte …

Plötzlich schob sich ein anderes Gesicht vor ihres. Eins, das zur Hälfte von Narben entstellt war.

Nero neben mir vor dem Feuer spuckenden Vulkan bei den Pyro. Nero, wie er mich festhielt und mich zwang, in die Lava zu schauen, wie er mich anschrie, als er meine Vision sah.

Wer war das?

Wer war dieses Mädchen?

Sie ließ ihre Hand wieder sinken und zuckte mit den Schultern. »Ich hatte schon eine Vision von dir. Da warst du allerdings in der Lage, ganze Sätze von dir zu geben.«

Glühende Hitze kroch in meine Wangen.

»Ich auch«, brachte ich halb krächzend hervor, und schließlich etwas gefasster: »Ich habe dich auch schon gesehen.«

Ein Funkeln trat in ihre Augen, und ihr Lächeln verblasste. »Wie schön. Du kannst mich Marcia nennen.«

Ohne meine Antwort abzuwarten, wandte sie sich von mir ab und meinem Inventi zu.

»Hi!« Sie strich sich eine widerspenstige Locke hinters Ohr. »Du hingegen siehst noch besser aus als gedacht. Ich wollte dir keinen Schrecken einjagen, sorry, wir dachten nur, wir testen die Verbindung am besten gleich.«

Wie in Zeitlupe drehte ich mich zu Will und bereute es sofort. Seine Augen waren rot gerändert, sein Gesicht kalkweiß, und er zitterte am ganzen Körper, während er sie völlig entgeistert anstarrte.

Marcia.

Melamarcia.

Was war das für ein bescheuerter Name?

»Was haltet ihr davon, wenn wir uns erst mal setzen und einen Tee trinken?«, klinkte sich Phos mit sanfter Stimme ein und deutete auf das gläserne Haus am Klippenrand.

Mein Kopf ruckte zu ihm. Ich hatte ganz verdrängt, dass er noch neben uns stand. Er legte Marcia eine Hand auf den Rücken, beugte sich zu ihr. »Es gibt viel zu besprechen, und die beiden haben sicherlich eine Menge Fragen.«

Will beachtete ihn nicht. Er trat einen Schritt nach vorn, bis ihn keine Armlänge mehr von ihr trennte.

Alles in mir zog sich zusammen.

Spürte er ihren Herzschlag?

Traf ihn die Übelkeit wie ein Fausthieb, wenn er nicht ganz nah bei ihr war?

»Wie zum Teufel ist das möglich?«, hauchte er. »Wenn du … wenn du Neros und Gaias Tochter bist … also eine Mischung aus Erde und Wasser … Wie kann ich …« Er presste sich eine Hand aufs Herz, und wie auf Knopfdruck schien meines einen Schlag auszusetzen.

Gott, was wünschte ich, ich hätte seine Gabe! Was wünschte ich, ich wüsste, ob meine schlimmsten Befürchtungen sich gerade bewahrheiteten.

»Wie du mein Inventi sein kannst?«, flüsterte sie. Die Luft zwischen ihnen schien zu vibrieren. »Wir waren uns auch nicht sicher, ob es funktionieren würde. Ich hatte noch nie einen, und du bist anscheinend nicht nur ein Inventi für die Kreuzung zwischen Feuer und Wasser.« Ihr Blick flackerte für den Bruchteil einer Sekunde zu mir, und ein Schatten legte sich über ihre Augen, ehe sie wieder zu Will schaute. »Du hast gerade bewiesen, dass du ein Inventi für alle Mischlinge bist.« Sie streckte einen Arm aus und legte ihre Hand auf seine. »Was fühlst du, William Lowe?«

Stille.

Nichts als das rauschende Blut in meinen Ohren.

Wie konnte ich sie möglichst höflich darauf hinweisen, dass sie bitte ihre Pfoten von meinem offenbar wehrlosen Inventi nehmen sollte?

Ich öffnete den Mund – keine Ahnung, was herauskommen würde, ich war fertig mit der Welt, und ich brauchte dringend Schlaf –, doch genau in dem Moment trat Will abrupt zurück und brachte so Abstand zwischen sich und Marcia.

»Tee«, brachte er hervor. »Tee klingt nach einer guten Idee.«

Zum ersten Mal, seit Marcia aufgetaucht war, wandte er den Kopf und nahm mich mit seinen Mitternachtsaugen ins Visier. Eine Emotion, die ich nicht benennen konnte, flackerte darin auf, dann griff er nach meiner Hand und klammerte sich an mir fest, als hinge sein Leben davon ab.

Ich versuchte ein Lächeln. Es ist alles okay, wollte ich sagen. Mach dir keine Sorgen, wir meistern das zusammen. Wir haben uns endlich wieder, und es gibt nichts, was das ändern kann. Es wird alles gut, ich bin hier.

Kein einziges Wort verließ meine Lippen. Mein Lächeln fühlte sich mehr wie eine Grimasse an, also ließ ich es schnell wieder bleiben, konzentrierte mich stattdessen auf die Wärme seiner Haut an meiner.

Fünf Minuten später waren wir zu dem Haus herübergelaufen und saßen an einem knarzenden Holztisch mit je einer dampfenden Tasse Tee vor uns. Phos und Marcia saßen Will und mir gegenüber. Abwechselnd musterte er uns beide, während sie mit selbstzufriedener Miene Zucker in ihren Tee löffelte.

»Wir beginnen am besten von Anfang an«, sagte Phos und faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. »Darling, möchtest du erzählen? Es ist immerhin deine Geschichte.«

Darling?

Sie schenkte ihm einen glühenden Blick, ehe sie ihren Teelöffel mit einem lauten Klappern auf die Untertasse fallen ließ. »Es ist unsere Geschichte.« Dann schaute sie zu Will, der völlig verkrampft neben mir auf der hölzernen Sitzbank saß und seine Finger in seinem Schoß ineinandergekrallt hatte.

»Ich bin am Rande der Stadt im Pyro-Bezirk bei den Colvilles aufgewachsen«, begann sie mit gesenkter Stimme. »Seit ich denken kann, habe ich mich fehl am Platz gefühlt. Anders als die anderen. Als ich alt genug war, um zu verstehen, was Blutsverwandtschaft bedeutet, warf mir mein Bruder im Streit an den Kopf, dass ich überhaupt nicht richtig zu ihnen gehöre. Dass ich nur in die Familie gekommen war, weil niemand den Tod seiner kleinen Schwester vor ein paar Jahren verkraftet habe und ich nichts als ein schäbiger Ersatz für sie sei. Eine Lückenbüßerin.«

»Meine Mutter kam nie über den Verlust ihrer einzigen Tochter hinweg«, klinkte Phos sich nun doch ein. Wehmut zierte seine Züge. »Firenza kam schon mit einem Herzfehler auf die Welt. Sie starb im viel zu jungen Alter von zehn Jahren, an meinem achtzehnten Geburtstag. Danach war bei uns zu Hause nichts mehr wie zuvor. Neben meinem Vater, von dem ich das Gen geerbt habe, der allerdings ebenfalls nicht mehr am Leben war, war ich der einzige Talentierte in der Familie, und ich verbrachte die meiste Zeit in der Omilia, um nicht jede Sekunde mit diesem dunklen Loch konfrontiert zu werden. Schon zuvor war die Stimmung in meiner Familie angespannt gewesen, meine Mutter schimpfte ständig auf das Zentrum der Elemente, als sei die Omilia verantwortlich für die Krankheit meiner Schwester. Nun aber wurden meine Brüder, die immer neidisch auf mich gewesen waren, in ihrer Abneigung immer radikaler, während meine Mutter in ihrer Trauer versank. Als sie uns eines Tages eröffnete, dass sie ein neugeborenes Mädchen adoptieren würde, dachte ich zunächst, es handelte sich um einen Scherz. Doch sie blieb eisern. Melamarcia kam zu uns, niemand wusste, woher, meine Mutter verriet mir lediglich, dass ihre leibliche Mutter viel zu jung war, um sich selbst um sie zu sorgen, kaum älter als ich.«

Wut blitzte bei Phos’ letztem Satz in Marcias dunklen Augen auf. »Meine Mu… Jennifer Colville hat schnell gemerkt, dass sie ihre Tochter nicht ersetzen konnte«, nahm sie den Faden auf. »Und ich musste es ausbaden. Meine Brüder hatten recht – ich war eine Lückenbüßerin. Sie liebte nicht mich, sondern das Mädchen, das ihr vom Schicksal genommen worden war. Der Einzige, der mich wirklich gesehen hat, war Phos.« Schon wieder lächelte sie, ohne dass es ihre Augen erreichte. »Meine anderen Brüder hassten mich. Was ziemlich ironisch ist, da sie nicht die leiseste Ahnung hatten, wer ich wirklich war. Vielleicht hat ein Teil von ihnen schon immer gewusst, dass nicht nur mein Aussehen mich von ihnen unterschied. Sie schikanierten mich, wo sie nur konnten, zwangen mich zu waghalsigen Mutproben und zur Drecksarbeit, ließen keinen Tag verstreichen, an dem sie mich nicht daran erinnerten, dass ich nicht willkommen war. Schon in jungen Jahren schlossen sie sich der Asphalia an. Phos versuchte, mir zu helfen, so gut er konnte, wenn er zu Hause war. Doch die meiste Zeit verbrachte er in der Omilia.«

»Ich hätte mehr für dich da sein müssen«, flüsterte Phos heiser und nahm einen großen Schluck von seinem Tee. »Doch die Trauer trieb mich fort. Trotzdem habe ich versucht, was ich konnte, wann immer ich zu Hause war. Obwohl Marcia nicht meine leibliche Schwester war, fühlte ich mich ihr so viel mehr verbunden als meinen Brüdern. Ich wollte sie vor den anderen beschützen, aber sobald ich ihnen den Rücken kehrte, ging alles wieder von vorne los.«

»Rückblickend war es gut, dass er mich nicht beschützen konnte«, sagte Marcia und zwinkerte Will zu, der nach wie vor bewegungslos vor ihr saß. Ich hörte ihn nicht einmal mehr atmen. »Sonst hätte ich womöglich niemals herausgefunden, wer ich wirklich bin.« Jetzt fixierte sie mich abschätzig. »Du bist ganz behütet aufgewachsen, nicht wahr?«, fragte sie. »Deine Adoptiveltern wurden angewiesen, dich unter keinen Umständen irgendwelchen Gefahren auszusetzen?«

Eindeutig erwartete sie keine Antwort von mir, denn sie lachte lediglich trocken auf, bevor sie fortfuhr. »Mein Leben war das exakte Gegenteil. Ich war elf Jahre alt, als meine Brüder und ein paar ihrer Freunde mich von einer Klippe schubsten. Der Fall war nicht das Problem. Sondern das Meer, in das ich stürzte. Die Strömung riss mich mit sich. Ich wäre beinahe draufgegangen, hätte Phos mich nicht rechtzeitig gefunden.«

Eiskalt rieselte es mir den Rücken herunter. Egal, wie unsympathisch ich sie fand, ich konnte nichts gegen das Mitgefühl ausrichten, das mich überkam. Und auch nicht gegen den Teil in mir, der wusste, dass sie die Wahrheit sagten, auch wenn es noch so irrsinnig klang. Ihre Erzählung passte zu der von Jonathan Slater, dem ehemaligen Asphalia-Mitglied, das ich aufgesucht hatte, um mehr über Phos zu erfahren.

Die Colvilles zählten fast ausschließlich zur Asphalia. Manche waren radikaler als die anderen, doch alle waren sie mehr oder weniger Mitglieder. Außer seiner kleinen Schwester hatte niemand aus der Familie ein besonders enges Verhältnis zu Phos.

Das waren seine Worte gewesen.

Aber wieso zur Hölle war Marcia ausgerechnet in Phos’ Familie gelandet?

»Es war das erste Mal, dass mein Talent ausgelöst wurde«, durchbrach ihre melodische Stimme meine Überlegungen. »Damals hatte ich natürlich keine Ahnung, womit ich es zu tun hatte, doch ich vertraute mich Phos an. Auch er wusste nicht weiter. Wir dachten beide, die Bilder seien eine Art Selbstschutz gewesen. Das menschliche Unterbewusstsein ist darauf ausgerichtet, uns vor allem Übel der Welt zu bewahren, selbst wenn es uns dafür Märchengeschichten erzählt. Aber es waren keine Geschichten in meinem Kopf. Es waren Gesichter und Gesprächsfragmente. Es war Vergangenes und Zukünftiges. Es waren Möglichkeiten.«

Ich hatte meine erste Vision nach dem Fall aus meinem WG-Zimmer auch als Selbstschutz abgestempelt. Mein Gehirn hatte einfach verzweifelt versucht, mich abzulenken – so weit meine Theorie damals.

Mein Herz pulsierte heftig in meiner Brust.

Phos kannte den Auslöser meines Talents, weil er den Auslöser ihres Talents kannte. Weil wir ein und denselben hatten.

Heilige Scheiße … Konnte das wirklich wahr sein?

Vergangenes und Zukünftiges …

Ich schüttelte den Kopf. »Wenn … wenn du Neros und Gaias Tochter bist … Wie kannst du dieselbe Gabe haben wie ich? Ich kann in die Zukunft und in die Vergangenheit, weil ich die Kreuzung zwischen einem Ydor und einer Pyro bin. Du solltest als halbe Choys doch etwas anderes können, oder nicht?«

Ihre perfekt geformten dunklen Brauen schossen in die Höhe. »Sag bloß, du hast die Legenden der bösen Teufelsbrut noch nicht gehört.«

Ich runzelte die Stirn. In den letzten Wochen hatte ich so einige Legenden gehört, und eine war verwirrender als die andere.

»Wie oft hast du deine Gabe schon ausgelöst, Kiana?« Sie sprach meinen Namen wie eine Beleidigung aus.

»Keine zehn Mal«, gab ich zu, woraufhin sie höhnisch grinste.

»Wie süß. Und dabei ist dir nie aufgefallen, dass du nicht nur – leicht abgewandelt – die Talente von Feuer und Wasser, sondern auch die anderen beiden beherrschst?«

Ich biss mir auf die Unterlippe und funkelte sie an.

Doch. Doch, tatsächlich war mir das aufgefallen. Wenn ich meine Visionen durch das Berühren der Narben erneut aufrief – die Wiederholung eines Moments war das Talent der Choys –, konnte ich die Zeit gefrieren lassen wie die Pnoe. Will und ich hatten auch schon die Theorie gehabt, dass ich gewissermaßen alle vier Talente beherrschte …

»Marcia und du seid gleich«, kam es in beruhigendem Ton von Phos. Sie zuckte angesichts seiner Worte zusammen, was ihm nicht aufzufallen schien. »Ihr besitzt das Talent, alternative Realitäten in der Vergangenheit und der Zukunft zu sehen, wenn ihr dem Tod nahe kommt. Der einzige Punkt, in dem ihr euch unterscheidet, ist, dass Marcia im Gegensatz zu dir nicht gemeinsam mit anderen Pyro in die Zukunft springen kann, sondern mit anderen Choys die Zeit wiederholt.«

Sie schnaubte. »Der eigentliche Unterschied zwischen ihr und mir ist, dass sie keinen blassen Schimmer von ihrem Können hat, während ich seit Jahren trainiere.«

Was war eigentlich ihr Problem?

Ich war hier diejenige, die ein beschissenes Verhalten an den Tag legen sollte. Immerhin hatten sie uns völlig aus dem Nichts überrumpelt.

»Wieso erfahren wir das erst jetzt?«, zischte Will plötzlich, bevor ich auch nur die Chance hatte, etwas zu sagen. Er starrte Phos an. »Ich dachte, wir arbeiten zusammen und gehen vollkommen offen miteinander um.«

Um ein Haar hätte ich vor Erleichterung aufgelacht. Es war nur ein kleiner Hoffnungsschimmer, doch für den Moment genügte er. Das klang wieder nach meinem Inventi, wie ich ihn kannte und liebte.

»In dieser ganzen verfluchten Stadt kann man sich auf niemanden verlassen!«, machte er weiter und wurde mit jedem Wort lauter. »Woher sollen wir wissen, dass wir Ihnen vertrauen können, verdammt noch mal?«

Voller Mitgefühl erwiderte Phos seinen Blick. »Das ist genau der Grund, wieso wir abgewartet haben, William. Auch wir wussten nicht, ob wir euch vertrauen können. Nero Lagarde ist derjenige, der euch in diese Welt eingeführt hat. Wie sollten wir uns sicher sein, dass ihr ihm nichts von Melamarcia erzählt?«

Will verengte die Augen zu Schlitzen und war drauf und dran, die nächste Schimpftirade loszulassen, doch ich kam ihm zuvor.

»Wie ist es möglich, dass Nero nichts von ihr weiß? Wenn er wirklich ihr Vater ist, müsste er doch sein Talent bei ihrer Geburt verloren haben! Aber er ist der Älteste der Ydor. Was –«

»Nero hat sein Talent nicht verloren«, fiel Phos mir ruhig ins Wort und fuhr sich mit der flachen Hand über die Stirn, als würden unsere Fragen ihm Kopfschmerzen bereiten. »Genauso wenig wie deine Eltern ihre Talente verloren haben, als du zur Welt kamst, Kiana.«

»Woher … woher wollen Sie das wissen?«

»Er weiß es, weil Gaia ihr Talent ebenfalls nicht verloren hat.« Melamarcia verdrehte die Augen. Obwohl sie gelangweilt wirkte, schwang ein seltsamer Unterton mit, als sie Gaias Namen aussprach.

Meine Augen brannten vor Erschöpfung. Jede beantwortete Frage brachte drei neue unbeantwortete mit sich.

»Wo ist Gaia?«, wollte ich wissen und griff nach meiner Teetasse. Diese Frage hatten wir schon öfter gestellt, seit wir zum ersten Mal in die Migma gebracht worden waren, und niemand schien uns darauf antworten zu wollen.

Ich trank, ohne irgendetwas zu schmecken. Meine Gedanken überschlugen sich. »Und wie … wie habt ihr überhaupt rausgefunden, dass du ihre Tochter bist?«

Phos bemühte sich sichtlich um einen freundlichen Gesichtsausdruck. Die dunklen Ringe unter seinen Augen verrieten mir, dass er Schlaf vermutlich genauso nötig hatte wie Will und ich. Einzig Marcia sah erfrischt und munter aus.

»Wir versuchten oft, etwas aus meiner Mutter herauszubekommen, um Marcias wahre Herkunft zu ergründen«, erklärte er, »doch sie schwieg eisern und nahm das Geheimnis schließlich mit ins Grab. Den ersten richtigen Verdacht hegte ich, als der Skandal um Agnia und Kai publik wurde und die ganze Stadt erfuhr, dass sie ein gemeinsames Kind in die Welt gesetzt hatten. Dass Marcias Visionen außergewöhnlich waren, konnten wir nicht bestreiten, vor allem nicht, da sie immer präziser wurden. Gaia und ich freundeten uns an, als wir beide zu den Ältesten unserer Elementen-Gruppen wurden. Zwischen Nero und ihr gab es Spannungen, und sie vertraute sich mir an, nachdem ich mehrmals erwähnt hatte, dass ich die Trennung und die Grenzkontrollen in Tessarect für überholt hielt.«

»War diese Einstellung nicht gefährlich? Vor allem, da Sie doch gerade Ältester geworden waren?«, hakte ich nach.

»Er hat es natürlich nicht in der Öffentlichkeit herausposaunt«, erwiderte Marcia mit einem leisen Stöhnen. Phos legte ihr eine Hand auf den Arm und sah sie tadelnd an. Ein paar Sekunden verstrichen.

Schließlich lächelte er. »Was hältst du davon, wenn du einen Spaziergang mit William machst, während ich mich ein wenig mit Kiana unterhalte? Dann könnt ihr beide euch schon etwas näher kennenlernen.«

Wie bitte?

»Eine hervorragende Idee«, flötete Melamarcia und sah dabei nur mich an.

Ich biss die Zähne zusammen und drehte mich zu Will.

Nie im Leben würde er –

Meine Hoffnung wurde jäh zerschlagen, als er, ohne zu zögern, auf der Sitzbank nach außen rutschte und aufstand. Sein Blick huschte für den Bruchteil einer Sekunde zu mir.

All die Wut und die Zweifel von eben waren verschwunden. Ein entrückter Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Was zum Teufel ging hier vor sich? War das ihr Werk? Oder eine Taktik von ihm? War er vielleicht der Meinung, er konnte mehr über sie herausfinden, wenn er unter vier Augen mit ihr sprach?

Aber wenn er wirklich ihr Inventi war … Scheiße, wenn er wirklich auf dieselbe Art mit ihr verbunden war wie ich mit ihm …

Will beugte sich kurz zu mir herunter, strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr und drückte mir völlig unerwartet einen Kuss auf den Mund. Die Kälte seiner Lippen, die seltsame Verzweiflung dahinter ließen mich zusammenzucken.

»Bis später«, murmelte er, und obwohl er mich dabei direkt ansah, konnte ich nichts als Leere in seinen Augen erkennen. Blitzschnell richtete er sich wieder auf und nickte Marcia zu. »Wollen wir?«

Sie war schneller aufgestanden, als ich bis drei zählen konnte. Im nächsten Augenblick verschwanden die beiden durch die gläserne Eingangstür, und ich musste mich zusammenreißen, um nicht aufzuspringen und ihnen hinterherzurennen.

»Ist er bei ihr sicher?«, platzte es aus mir heraus, als ich mich von ihrem Anblick losriss und mich wieder Phos zuwandte.

Er musterte mich mit einem nachsichtigen Lächeln und nippte seelenruhig an seinem Tee. »Bitte entschuldige ihre forsche Art, Kiana. Sie hat in ihrem jungen Leben sehr viel durchgemacht und war jahrelang nicht unter Gleichgesinnten.«

Das war nicht meine Frage.

Unverwandt starrte ich ihn an und wartete, bis er weitersprach.

»Wir wissen nicht genau, wie das Verhältnis zwischen William und ihr sein wird, aber ich vermute, es wird deinem und seinem sehr ähneln. Immerhin war seine Lokalisierungsgabe bisher so präzise, weil du seine einzige Talentierte bist. Jetzt ist seine Gruppe auf zwei erweitert worden, das dürfte keinen allzu großen Unterschied machen.«

Mir wurde schlecht.

War das seine Art, mich zu beruhigen?

Das, was er in meinem Gesicht las, verriet wohl eine Menge über mein Innenleben, denn er schüttelte hastig den Kopf.

»Ich kenne sie in- und auswendig, sie würde nie einer Fliege etwas zuleide tun. Erst recht nicht ihrem neuen Beschützer. Mir ist bewusst, dass die Situation für dich nicht einfach ist, aber bitte, mach dir keine Sorgen. Es wird jetzt alles gut. Keine Geheimnisse mehr zwischen uns.«

Ich rang mir ein Nicken ab. »Erzählen Sie mir mehr von Gaia. Ich wusste, dass Nero und sie zusammen waren, aber was ist danach passiert? Wie kann sie ein Kind zur Welt gebracht haben, ohne dass jemand davon erfuhr?«

Meinen Eltern war von ihren Freunden und Familienmitgliedern dabei geholfen worden, das Geheimnis zu wahren. Sie waren zusammen gewesen, bis Nero sie an die Omilia verriet.

»Nero war fuchsteufelswild«, sagte Phos mit beklemmendem Unterton. »Gaia hat mir erzählt, dass er und dein Vater sehr gute Freunde waren und es sie nur weiter zusammengeschweißt hat, dass sie beide eine verbotene Beziehung führten. Nero wurde von seinen eigenen Eltern verraten. Natürlich hat er nicht auf das Verbot, Gaia zu treffen, gehört. Er war bereit, mit Gaia durchzubrennen, und hatte schon konkrete Pläne zur Flucht vorbereitet.«

Ich nickte. Das hatte mir Arielle, Eves Tante und Neros kleine Schwester, schon erzählt.

»Gaia erfuhr ziemlich genau zur gleichen Zeit von ihrer Schwangerschaft«, erzählte Phos weiter. Seine Stimme wurde immer leiser, als fürchtete er, man könnte uns belauschen. Völlig eingenommen von der Geschichte, beugte ich mich ein bisschen über den Tisch, um ihn besser zu verstehen.

»Sie war verzweifelt und hatte keine Möglichkeit, mit Nero darüber zu sprechen. Also vertraute sie sich ihrer Mutter an, die genau wie meine keine Talentierte war und wenig von der Elementen-Magie verstand, obwohl sie natürlich wusste, was geschehen würde, wenn jemand von dem Kind erfuhr, allen voran ihr Mann, der sehr angesehen in der Omilia war. Sie versprach ihrer Tochter, ihr zu helfen, die Schwangerschaft geheim zu halten, wenn sie ihr im Gegenzug schwor, den Kontakt zu Nero abzubrechen und das Kind nach der Geburt wegzugeben, damit es in Sicherheit aufwachsen konnte. Gaia war untröstlich. Sie hat Nero wirklich geliebt und war bereit gewesen, mit ihm die Stadt zu verlassen, doch das Kind in ihrem Bauch änderte alles. Es brach ihr das Herz, aber schließlich willigte sie ein. Sie traf Nero ein letztes Mal. Als sie mir davon erzählte, hat sie so sehr geweint, dass sie kaum weitersprechen konnte. Sie hat ihm wohl sehr überzeugend klargemacht, dass es vorbei ist und er ihr nie etwas bedeutet hat. Das war der Pakt mit ihrer Mutter, nur so würde Nero ihre Liebe aufgeben. Daraufhin erzählte diese überall herum, dass sie Gaia in eine geschlossene Institution außerhalb der Stadt bringen würde, wo sie von dem Rausch geheilt werden sollte – in Wahrheit tauchte Gaia unter und brachte das Kind im Verborgenen zur Welt.«

Ich sah mich gemeinsam mit Liam Lowe im dunklen Archiv der Omilia stehen, vor uns Neros Patientenakte … Mania … Konversionstherapie … Auch Nero hatte versucht, sich vom Rausch zu heilen, allerdings war es bei ihm nicht nur ein Vorwand gewesen.

»Währenddessen wurde der Skandal in Tessarect von einem neuen überdeckt, denn Nero, der in seinem Schmerz eine 180-Grad-Wende hinlegte, verriet deine Eltern an die Omilia. Wahrscheinlich versprach er sich davon Läuterung von seinen Sünden.«

Phos verstummte und beäugte mich voller Sorge. Die Übelkeit in mir hatte sich immer mehr verstärkt, doch das lag nicht daran, dass er mir gerade eröffnet hatte, dass Nero meine Eltern verraten hatte. Diesen Teil der furchtbaren Geschichte hatte ich schon längst durch Eve erfahren.

»Nero wurde also zum skrupellosen Mistkerl, weil seine große Liebe ihm das Herz gebrochen hat?«, entfuhr es mir. »Soll ich jetzt Mitleid mit ihm haben?«

»Natürlich ist das keine Entschuldigung für sein Verhalten, Kiana«, versuchte Phos mich zu beschwichtigen. »Ich möchte nur, dass du alles erfährst, jetzt, da wir endlich offen miteinander reden können.«

Ich holte tief Luft. »Okay. Und was dann? Wie zur Hölle ist Melamarcia in Ihre Familie gekommen? Warum sollte Gaias Mutter sie in einen fremden Bezirk bringen und nicht aus der Stadt schaffen, so wie ich nach England gebracht wurde?«

Phos seufzte. »Sehr berechtigte Fragen. Gaias Mutter stand unter Zeitdruck, und sie hatte nicht viele Möglichkeiten, denn alles musste im Geheimen ablaufen, und ihr Mann war gut vernetzt in der Stadt. In ihrer Verzweiflung muss ihr ihre alte Freundin eingefallen sein, die im Süden, am Rand der Stadt, lebte und ihre Tochter vor ein paar Jahren verloren hatte. Seitdem hatten die beiden vermutlich kaum mehr Kontakt miteinander gehabt, denn auch wenn sie keine Talentierten waren und sich frei in Tessarect bewegen konnten, zog sich meine Mutter nach dem Tod meiner Schwester zurück und mied den Kontakt zu all ihren Mitmenschen. Gaias Mutter muss sie auserwählt haben, weil sie sie zum einen von früher kannte und zum anderen wusste, dass die Colvilles Rebellen waren, die mit Ausnahme von mir kaum etwas mit der Omilia am Hut hatten. So konnte sie das Mädchen im Auge behalten, weil es sich immer noch in der Stadt befand, sie musste jedoch nicht befürchten, dass jemand etwas von ihrer Existenz mitbekam. Niemand kümmerte sich um die Colvilles. Wir galten als Abschaum.«

Ich runzelte die Stirn. »Sie wollen damit sagen … Sie wissen es gar nicht genau? Sie kennen den wahren Grund nicht? Das sind nur Mutmaßungen?«

Phos nickte. »Gaias Mutter hat Gaia nie erzählt, in welche Familie sie das Kind gebracht hat. Wahrscheinlich befürchtete sie, Gaia würde sonst doch eines Tages vor unserer Haustür stehen und ihre Tochter zurückfordern. Das war schließlich der Grund, wieso Gaia zur Ältesten wurde. Zum einen wollte sie beweisen, dass niemand verrückt wurde, weil er sich in einen fremden Talentierten verliebte, doch hauptsächlich wollte sie diese Macht nutzen, um ihre Tochter zu finden.«

»Wie können Sie sich dann so sicher sein, dass Melamarcia tatsächlich ihre Tochter ist?«, hakte ich weiter nach. Irgendwie schien mir diese Geschichte noch immer nicht ganz wasserdicht.

»Sie ist Gaia wie aus dem Gesicht geschnitten.« Phos fuhr sich gedankenverloren über die Lippen. »Und wir haben die Talente der Choys und der Ydor getestet – gemeinsam mit Talentierten dieser Elementen-Gruppen ist sie in der Lage, Gebrauch davon zu machen. Es besteht kein Zweifel daran, wer sie ist.«

Eine Weile herrschte Stille. Ich trank meinen inzwischen eiskalten Tee aus, während seine Erzählungen in meinem Kopf ein Eigenleben entwickelten. So viel Schmerz, so viel Unglück … Und das alles, weil die Omilia jahrhundertealte Regeln über die Liebe stellte? Weil sie Angst vor der Vermischung und den Mischlingen hatte und dabei vergaß, dass wir nicht nur talentiert, sondern auch alle nur Menschen waren?

»Du siehst müde aus«, erklang Phos’ sanfte Stimme. »Vielleicht ist es an der Zeit, dass du dich ein wenig ausruhst.«

Wie auf Knopfdruck wurde ich mir meiner bleischweren Lider bewusst. Am liebsten hätte ich meinen Kopf auf den Tisch gelegt und wäre eingedöst, doch es gab einfach noch zu viel Ungeklärtes.

»Was ist jetzt Ihr Plan?«

»Marcia wird dir helfen, dein Talent kennenzulernen.«

Meine Miene war wohl ziemlich eindeutig, denn er lachte leise auf.

»Keine Sorge, ich bin mir sicher, ihr werdet euch noch aneinander gewöhnen. Am besten verschwenden wir keine Zeit mehr und machen uns sofort an die Arbeit, sobald du wieder zu Kräften gekommen bist. Und denk daran: Du kannst sehr von ihr profitieren. Sie hat ihr Talent wieder und wieder ausgelöst, Kiana. Sie kennt jede Facette davon, und sie ist bereit, ihr Wissen mit dir zu teilen.«

Irgendetwas sagte mir, dass Marcia das anders sah, doch ich widersprach nicht, sondern nickte. Nach dem anfänglichen Schock konnte ich nicht leugnen, dass die Existenz eines zweiten, erfahreneren Mischlings durchaus auch Vorteile haben könnte. Mehr über mein Talent herauszufinden war von Anfang an meine Hauptmotivation gewesen.

»Also bleiben Will und ich hier?«, wollte ich wissen. »Wir kehren nicht zurück?«

Phos schüttelte den Kopf. »Es ist unbedingt notwendig, dass ihr zurückkehrt und Nero eine heile Welt vorspielt, jetzt, da er Vertrauen zu dir gefasst hat. Wir sind so kurz davor, das System zu stürzen.«

»Wird es nicht auffallen, wenn wir heute fehlen?«

»Momentan herrscht Ausnahmestimmung in der Omilia. Sie sind abgelenkt wegen der Rebellionsfeier. Außerdem haben mir meine Kontakte berichtet, dass Nero sich immer noch nicht dort hat blicken lassen. Ich glaube, für die nächsten Stunden wird es in Ordnung sein. Sollte er William kontaktieren und nach dir verlangen, wird dieser dich natürlich unverzüglich zurückbringen.«

Wir erhoben uns und liefen Seite an Seite zur Glastür. Reflexartig suchte ich die grünen Weiten dahinter nach einem weißblonden Haarschopf ab. Nichts. Direkt vor dem Haus befand sich der gähnende Abgrund.

»Du musst dir wirklich keine Sorgen wegen Will machen«, sagte er, als hätte er schon wieder in meinem Gesicht gelesen, was mich beschäftigte. »Es ist normal, dass er jetzt erst mal auf sie fixiert ist.«

Ich schluckte hart und versuchte verzweifelt, meine Züge zu glätten.

Normal? So wie es bei mir normal gewesen war?

»Es wird sich wieder legen, da bin ich mir sicher. Ich weiß nicht, ob er dir erzählt hat, wie genau er sich gefühlt hat, als er zum ersten Mal auf dich traf, doch ich stelle es mir jetzt so ähnlich vor.«

Ich griff nach dem Türgriff und riss die Tür ein bisschen zu heftig auf.

»Er konnte nicht mehr aufhören, an mich zu denken.«

Meine Stimme brach.

Phos wollte noch etwas sagen, doch ich schüttelte hastig den Kopf. »Wo kann ich mich hinlegen?«

Ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen. »Evelyn wartet im Wald auf dich, sie wird dir den Weg weisen. Ich hoffe, du hast keine Höhenangst?«

Eve kam mir entgegengerannt, als ich gerade die ersten hohen Espen erreichte, die den Anfang des Waldstücks markierten. Der Anblick war so idyllisch. Die Vögel zwitscherten, die Blätter der Bäume raschelten im Wind.

Für ein paar Sekunden blieb ich stehen und betrachtete die vertraute Gestalt meiner Freundin. Ihre schwarzen Haare, der knallrote Trenchcoat, der im Wind flatterte, die Entschlossenheit in ihren Zügen.

Sie fiel mir um den Hals und drückte mich fest an sich, ehe sie mich von sich schob, um mich eingehend zu betrachten. Ihr blumiger Duft stieg mir sofort in die Nase. Sorge blitzte in ihren dunklen Augen auf. Der Moment erinnerte mich so sehr an jenen, als ich sie zum ersten Mal in der Omilia gesehen hatte, völlig ahnungslos, dass die einzige Freundin, die mir in Leeds noch geblieben war, Teil der Verschwörung war. Nur, dass ich jetzt nicht die Kraft hatte, böse zu sein, sondern einfach nur erleichtert war, jemanden vor mir zu haben, mit dem ich normal über den Krieg in meinem Kopf reden konnte.

»Alles okay?«, brachte sie atemlos hervor. »Wie war die Rebellionsparty? Es muss ziemlich heftig gewesen sein, zu fliehen, oder?«

Pause.

»Melamarcia«, würgte ich dann das einzige Wort hervor, zu dem ich momentan in der Lage war. Ich musste die Frage nicht aussprechen. Sie verstand.

»Ich durfte dir nichts sagen, Kia. Aber ich habe Tag und Nacht versucht, Phos zu überreden, endlich ehrlich zu dir zu sein.«

»So wie damals, oder?«, wisperte ich und strich mir das strähnige Haar nach hinten.

Heftig schüttelte sie den Kopf. »Die Migma ist nicht wie die Omilia. Und Phos nicht wie mein Onkel.«

»Also vertraust du Marcia?«, wollte ich wissen. »Sie ist immerhin deine Cousine, oder?«

Die Ähnlichkeit zwischen den beiden war nicht zu leugnen, wenn man es wusste. Und gleichzeitig hatte Eve so überhaupt nichts mit dieser Frau gemeinsam, die pure Kälte ausstrahlte.

»Sie ist in Ordnung, das schwöre ich«, erwiderte sie leidenschaftlich und hakte sich bei mir unter, um mich in den Wald zu führen. »Sie hat nur eine Menge Mist durchgemacht.«

So ähnlich hatte Phos es auch formuliert. Aber hatten nicht irgendwie alle eine Menge Mist durchgemacht? Was war mit ihm? Mit Nero? Gaia?

»Wusstest du, dass Will ihr Inventi ist? Dass Will anscheinend der Inventi von allen Mischlingen ist?«

Sie nickte. »Die Theorie hatte Phos schon länger, aber er konnte sich nie sicher sein. Also ist es wirklich wahr?«

»Jep.« Ich richtete meinen Blick nach vorn, auf das leuchtende Grün im Sonnenschein, damit sie den Schmerz in meinen Augen nicht sah.

Natürlich war es zwecklos. Sie kannte mich schon viel zu lange und viel zu gut.

»Wie … wie ist es denn gerade zwischen euch?«

»Super«, presste ich hervor.

»Du kannst mit mir reden, Kia«, sagte sie. »In diesem ganzen Wahnsinn werde ich immer und an erster Stelle deine Freundin sein.«

»Und trotzdem hast du mir nichts von ihrer Existenz erzählt«, entfuhr es mir, bevor ich die Worte zurückhalten konnte. Ich wollte nicht so vorwurfsvoll klingen. Ich wollte ihre Loyalität nicht infrage stellen. Aber ich hatte es satt, ständig im Dunkeln zu tappen, um dann zu erfahren, dass die Menschen in meiner Umgebung schon längst mehr wussten.

»Phos hatte Angst, dass Nero es schafft, dich zu manipulieren«, sagte sie mit einem Seufzen.

Ich drehte den Kopf zu ihr und funkelte sie an. »Und du hast ihn nicht eines Besseren belehrt? Du glaubst, ich würde das mit mir machen lassen?«

Nun schimmerte Mitleid in ihren Augen. »Er hat Will gequält, oder? Und daraufhin hast du ihm den Trigger deines Talents verraten?«

Ich machte mich von ihr los. »Was hättest du an meiner Stelle getan?«, zischte ich.

»He, das sollte kein Vorwurf sein! Nero ist einfach krank, und jeder hätte genauso reagiert wie du. Ich wollte damit nur sagen, dass Phos es dir zu deinem eigenen Schutz nicht erzählt hat.«

»Du meinst, zu ihrem Schutz.«

Eve blieb stehen, fasste mich am Arm und wartete, bis ich sie ansah.

»Erzähl’s mir«, sagte sie dann leise. »Erzähl mir, was dich beschäftigt.«

Ohne dass ich es verhindern konnte, schossen mir Tränen in die Augen. Ihr einfühlsamer Blick und ihre sanfte Stimme waren einfach zu viel.

»Ich habe gestern Nacht erfahren, dass Phos quasi seine ganze Familie in die Luft gejagt hat, um mich zu schützen. Und jetzt erfahre ich, dass Nero eine geheime Tochter hat, die genau mein Talent hat – nur tausendmal ausgereifter –, mich nicht leiden kann und gerade dabei ist, sich an meinen Inventi ranzuschmeißen, mit dem ich mich wohlgemerkt vor ein paar Stunden erst wieder versöhnt habe. Und der jetzt vermutlich exakt das für sie empfindet, was er die ganze Zeit über geglaubt hat, für mich zu empfinden!«

Mit jedem weiteren Wort bröckelte meine Selbstbeherrschung ein bisschen mehr. Wütend wischte ich mir die Tränen fort, die über meine Wangen liefen.

»Mir ist schon klar: Ob Wills Gefühle für mich aufrichtig sind oder nicht, sollte gerade meine letzte Sorge sein, aber … aber … verdammt noch mal, ich will doch einfach für ein paar Sekunden glücklich sein, ohne dass die Welt im nächsten Moment wieder untergeht, ist das zu viel verlangt?«

Auch Eves Augen glänzten mit einem Mal feucht. Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Nein, ist es nicht. Und Kia, das zwischen Will und dir, das ist ungewöhnlich, weil ihr diese Verbindung habt, aber du kannst das doch nicht alles auf das Inventi-Ding schieben!«

»Wieso nicht? Wieso sollte es irgendetwas anderes sein?«

Erneut schüttelte sie den Kopf, doch kein weiteres Wort kam ihr über die Lippen. Es gab nichts, was sie darauf sagen konnte. Die ganze Zeit über hatte ich nie mit Sicherheit sagen können, wie es in Will aussah. Nicht einmal er selbst hatte es wirklich wissen können.

Du bist nicht mein Schicksal, hatte er gesagt und es wirklich geglaubt. Du bist die beste Entscheidung, die ich je getroffen habe.

Jetzt würde ich Gewissheit bekommen. Jetzt war da etwas, das uns beweisen konnte, ob ich die ganze Zeit über recht gehabt hatte mit meinen schlimmsten Befürchtungen.

Nein, nicht etwas. Jemand.

»Wir müssen hier hoch«, holte mich Eves Stimme aus meiner Gedankenspirale.

Sie deutete auf einen besonders dicken Baumstamm, und ich folgte ihrem Blick nach oben. Schon bei unserem letzten Spaziergang waren mir die silbrig glänzenden Zelte in den Baumkronen aufgefallen, die förmlich zwischen den hohen Bäumen zu schweben schienen.

In einem anderen Leben hätte ich mich wegen meiner Höhenangst dagegen gewehrt, dort hochzuklettern. In diesem gab es weitaus Schlimmeres, als mehrere Meter über dem Boden in der Luft zu schweben.

»Lass mich raten, wir klettern durchs Innere des Stamms nach oben?«, fragte ich und seufzte tief.

Das musste man auch tun, um in das geheime Quartier der Migma zu gelangen, und obwohl ich mir beim ersten Mal vor lauter Panik beinahe in die Hose gemacht hätte, hatte ich mich anschließend recht schnell daran gewöhnt. Vermutlich hatten sich meine Grenzen dank meines Talents und der ständigen Extremsituationen tatsächlich verschoben.

Das war es, was Eve mir immer und immer wieder gesagt hatte, nicht wahr? Ich war stärker, als ich dachte.

Auch wenn ich mich gerade alles andere als das fühlte.

Eve schenkte mir ein kleines Lächeln. »Du lernst schnell.«

Und mit diesen Worten ging sie in die Hocke und schob eine Laubdecke beiseite, wodurch das dunkle Loch im Boden freigelegt wurde sowie die dicken Wurzeln des Baumes, die sich wie mehrere Schlangen umeinanderwanden.

Nacheinander kletterten wir nach oben, sie flink und geübt, ich so unkonzentriert, dass ich mehrmals ausrutschte, obwohl die Ausbuchtungen im Stamm nicht zu verfehlen waren. Mein Herzschlag reagierte nicht einmal mehr. Womöglich war es die Müdigkeit, die langsam, aber sicher Besitz von mir ergriff. Oder es lag daran, dass mein armes Herz schlichtweg nicht mehr konnte.

Eve wartete oben auf mich und half mir auf einen dicken Ast, von dem aus wir noch ein Stück höher kletterten.

Aus der leichten Brise war ein relativ starker Luftzug geworden.

»Schau jetzt bloß nicht nach unten«, murmelte sie und umklammerte mein Handgelenk. »Wir müssen hier rüber.«

Ungefähr in der Mitte des Astes, an dem ich mich festhielt, baumelte eines der Schwebebetten. Der transparente Stoff des Zeltes schimmerte in der Mittagssonne, und ich erkannte weiße Bettwäsche dadurch. Mindestens zwei Menschen schienen drinnen bequem Platz zu haben. Na ja, bequem, wenn man davon ausging, dass man sich entspannen konnte, während man in einem Zelt in luftiger Höhe an nur einem Seil baumelte … Im Wind schaukelte es hin und her.

»Schön, oder?« Eve strahlte mich an.

»M-hm, es geht nichts über Höhe.«

Sie lachte. »Du schlägst dich echt gut für deine Verhältnisse.«

»Ich hatte in letzter Zeit ziemlich viel Übung.«

Sie wartete, bis ich Halt unter den Füßen hatte und mich mit beiden Händen am Baum festhielt, kletterte dann auf einen Ast weiter unten, der sich auf Höhe des Zeltes befand, duckte sich unter ein paar großen Blättern hindurch und verschwand aus meinem Sichtfeld.

Stück für Stück arbeitete ich mich vor. Als ich einen Ast mit besonders vielen Blättern beiseiteschieben wollte, wanderte mein Blick in die Tiefe.

Mein Magen machte einen Satz, und automatisch schwankte ich. Der Waldboden war so weit weg, dass ich nichts als verschwommenes Grün wahrnahm. Meine Finger rutschten an den Ästen ab, und ich umklammerte das Holz fester.

Ein Schritt. Ein falscher Schritt, und alles wäre vorbei. Es ginge so leicht.

Welche Vision ich wohl als letzte sehen würde?

Keine, die in der Zukunft spielte, so viel stand fest …

»Kia! Kommst du?«

Ich zwang mich, wieder aufzuschauen, und folgte Eves Stimme.

Eine kleine hölzerne Plattform, von der aus man ins Zelt steigen konnte, war an den Baum genagelt worden. Eve befand sich bereits im Inneren. Sie hatte den dreieckigen Zugang geöffnet und streckte eine Hand nach mir aus, als ich auf die Plattform wankte.

Im Handumdrehen hatte sie mir ins Zelt geholfen. Unter unserem Gewicht ächzte es und wippte noch heftiger im Wind.

»Geschafft!«

Sie beugte sich über mich, um den Reißverschluss wieder zuzuziehen, ehe sie an den Rand rutschte und sich nach hinten auf ein weißes Kissen fallen ließ. »War gar nicht so schwer, oder?«

Ich streckte meine Beine aus und glitt ebenfalls vollständig nach hinten. Das Zwitschern der Vögel war hier noch lauter. Es roch nach Frühling und Freiheit und Natur und Frieden. Mit geschlossenen Augen wirkte nicht einmal das Wanken bedrohlich. Ein bisschen wie Wellenschaukeln.

Es könnte alles so schön sein. In einer Parallelwelt, in der ich diese Stadt entdeckte, ohne ein seltsames übernatürliches Talent zu haben.

Ich kniff die Augen zu. »Hat das alles irgendwann ein Ende?«

»Was?«

Eve rutschte näher zu mir. Ich spürte ihre Nähe, auch wenn ich sie nicht sah.

»Diese Art von Leben. Wird irgendwann alles gut sein?«

Eve tastete nach meiner Hand und verschränkte ihre Finger mit meinen.

»Lass mich meinen lieben Freund Oscar Wilde zitieren«, wisperte sie. »Am Ende wird alles gut sein. Und wenn es nicht gut ist, dann ist es nicht das Ende.«

Alles in mir zog sich zusammen. Ich konzentrierte mich auf ihre gleichmäßigen Atemzüge. Versuchte, an alles zu denken, außer an Will.

»Phos plant, deine Eltern zu befreien, Kia«, fuhr Eve irgendwann fort, so leise, dass ich glaubte, es mir eingebildet zu haben. »Das ist der nächste große Schritt in seinem Plan.«

Meine Lider flatterten wieder auf, und ich drehte mich zu ihr. Der Gedanke an Agnia und Kai in ihren Gefängniszellen verfolgte mich, seit wir ins Desmot eingebrochen waren.

»Du vertraust ihm zu hundert Prozent, oder?«

Eve nickte und lächelte. »Es wird alles gut.«

Sie wiederholte die Worte, bis sie wie ein beruhigendes Mantra in meinem Kopf widerhallten.

Und dann, als meine Augen erneut zufielen und ich es zuließ, dass die Erschöpfung mich vollkommen übermannte, da wanderten meine Gedanken plötzlich zu Jonathan Slater und zu der Geschichte, die er von Phos erzählt hatte. Zu dem Vertrauensbeweis, den er mir geliefert hatte.

Die Migma ist dafür verantwortlich, dass du noch am Leben bist, Kiana Lyberth.

Sie hatten das Hauptquartier der Sekte niedergebrannt. Um mich zu schützen.

Niyol hatte Phos ebenfalls in Schutz genommen, nachdem ich mich darüber entrüstet hatte, dass er all diese Leute getötet hatte.

Kia, hörst du nicht? Er hat es für dich getan.

Nur dass er es nicht für mich getan hatte.

Sondern für die Frau mit der Dunkelheit im Herzen und der Kälte in den Augen. Für seine Schwester.