Claire hat Gäste - Gabriele Schock - E-Book

Claire hat Gäste E-Book

Gabriele Schock

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Beschreibung

Auf ihrem Anwesen in der französischen Provinz erwartet die literarisch ambitionierte Claire den von ihr ins Leben gerufenen Schreibzirkel: handverlesene Teilnehmer, seit Jahren miteinander bekannt. Alles ist – wie immer – perfekt und bis ins Detail arrangiert. Eine kleine Unachtsamkeit jedoch führt dazu, dass Claires sorgsam gepflegte Rituale und hohen Ziele in Frage gestellt werden. Loyalitäten wechseln und eine unvorhergesehene Eigendynamik stellt alle Beziehungen auf den Kopf.

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EPUB
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Seitenzahl: 280

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2025 novum publishing gmbh

Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt

[email protected]

ISBN Printausgabe: 978-3-99130-835-5

ISBN e-book: 978-3-99130-836-2

Lektorat: Falk-M. Elbers

Umschlagabbildungen: Parkinsonsniper, Lumppini I Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

PROLOG

Im Paradies

„Hier könnte man Bücher schreiben“, rufen viele Besucher aus, die zum ersten Mal Claires Anwesen betreten. Fast immer sind es die weiblichen unter den Gästen, die so ihr helles Entzücken bekunden. Nicht, dass eine von ihnen bis dahin ernsthaft vorgehabt hätte, jemals ein Buch zu schreiben (und dass es nach dieser einen, spontanen Aufwallung auch weiter so blieb, war in den meisten Fällen sicher auch gut so), oder gar, dass sie wüssten, worüber, wie man es anfängt und warum überhaupt. Auch könnten die wenigsten, fragte sie jemand danach, näher erklären, woran es liege, worauf es ankomme, dass ein Ort zum Schreiben beschaffen sei. Ihr Gefühl immerhin trügt sie nicht. Die Empfindsameren unter ihnen ahnen vielleicht etwas von der Versenkung und Ruhe, in der einst zwei Handvoll Mönche diese Prieuré als Gut des berühmten, nahegelegenen Klosters betrieben; auch wer nur betete, musste schließlich ab und zu essen und trinken. Die anderen sind beeindruckt von der Weitläufigkeit, von den Winkeln im Park, in denen sich ganze Nachmittage unentdeckt zubringen lassen, und von der übermannshohen Trutzmauer aus behauenem Stein, die das Anwesen gegen jeden Angriff schützend zu umarmen scheint, wenn auch die einst scharfen Zacken ihrer Krone längst bröckeln. Hat doch gerade dieses Zeichen der Vergänglichkeit etwas „unheimlich Romantisches“.

Die letzte Etappe sind die Ankömmlinge durch die burgundischen Weinberge gefahren, und die Kenner unter ihnen haben andächtig die Namen der berühmten Lagen geflüstert, die sie von den Schildern entlang der Strecke ablesen. Ein paar Kilometer noch, dann haben sie den Dorfplatz erreicht, um den sich, Schulter an Schulter wie eine Herde zur Futterzeit, ein gutes Dutzend Häuser schart: die Pharmacie mit den geschnitzten Regalen, das Haus des Zahnarztes, der vor zehn Jahren schon aufgegeben hat, der Laden für Lebensmittel, Zeitschriften und Kleinkram, der seit Neuestem auch Mobiltelefone und die Verträge dazu verkauft, und schließlich das Bistrot „Chez Marie“, vor dem unter einer grün-weiß gestreiften Markise drei Tische für die Stammgäste stehen, die hier ihre Vormittage verbringen. Nach kurzem Blick auf die Wegbeschreibung, die die Gastgeberin vorsorglich zugesandt hat (manche Navigationssysteme erfassen das Dorf immer noch nicht), biegen sie, gleich links, in die Zufahrt zwischen der hohen Umfriedungsmauer und einem länglichen Haus mit einem Sockel aus grob behauenem Feldstein. Und schon geraten die neu Angekommenen auch ins Schwärmen: „So einladend und freundlich“, begeistern sich die einen an dem blassrosa getünchten Haupthaus, aus dem gleich die Hausherrin treten wird. „Diese Proportionen! Wie wohltuend – Goldener Schnitt!“, beweisen andere ihr Kennertum. Fünf sandsteingefasste Fenster mit Läden im Rot der hiesigen Weine verteilen sich in gleichmäßiger Reihe über die Front. Darunter, exakt in der Mitte, das hohe Portal mit den beiden eisenbeschlagenen Flügeln (geöffnet wird, außer zu hohen Festen, nur noch eines), zu dem zwei flache, ausgetretene Steinstufen führen. Rechts und links davon, niedriger und bescheidener, zwei Zugänge, die auf Wunsch der Hausherrin – der besseren Helligkeit im Entrée wegen – heute verglast sind; früher mögen sie zu einem Wirtschaftsraum und zum Stall für die Ziegen geführt haben.

Manchen mag es erstaunen: Die hohen, schmiedeeisernen Torflügel der Zufahrt stehen Tag und Nacht offen. Aber so hat es die Hausherrin gleich zu Beginn verfügt und über Bürgermeister und Ortspfarrer im Dorf verbreiten lassen. Die Leute sollen nicht denken, auf eigenem Boden seien sie ausgeschlossen; von Fremden zumal. An jedem letzten Sonntag im Juli wird daher auch die Zufahrt mit französischen Kokarden und schwarz-rot-goldenen Fähnchen geschmückt und es gibt einen Empfang – mit dem Segen des Himmlischen Herrn durch seinen Statthalter im Dorf und gewundenen Toasts des Bürgermeisters auf ein blühendes Europa. Die Dame des Hauses reicht dazu große Mengen eigenhändig belegter Canapés und Wein aus Karaffen, und die Dorfbewohner erscheinen, Jahr für Jahr, ebenso zahlreich wie neugierig im Sonntagsstaat.

Geharkter Kies knirscht unter den Reifen. Man umrundet ein Rondell mit prachtvollen englischen Rosen. Von dessen Rand her schauen dem Besucher zwei in Stein gemeißelte Herren entgegen; wohlwollend neugierig der eine, eher skeptisch und hochmütig der andere. „Kant und Voltaire“, wird der Hausherr, so denn auch er einmal anwesend ist, denen, die danach fragen, erklären und lachen: Wer die beiden eingeladen habe, wisse er bis heute nicht; aber wenigstens wachten sie über den Geist des Hauses so streng, wie er über seinen Weinkeller.

Man parkt etwas seitlich am Rande, steigt aus und erahnt jetzt auch den weitläufigen Park, in dem ein Schwanenpaar lautlos wie ferngesteuertes Spielzeug über einen Seerosenteich gleitet. (Die Hausfrau hatte sich die anmutige Leda und ihren Zeus, der sein Gefieder gerne so protzig aufplustert, zum fünfzigsten Geburtstag gewünscht. Seitdem umhegt sie das Paar mit einer Hingabe, über die ihre Juristinnen-Tochter hinter vorgehaltener Hand als „romantisch-klimakterielles Syndrom“ spottet.) Vom Dorfplatz kommend war der Blick in den Park noch durch das langgestreckte Haus mit dem Feldsteinsockel verstellt, in dessen Mauern einst das Korn für das Kloster gemahlen wurde; die Mühlsteine lehnen noch, malerisch aufgereiht, neben dem Eingang. Heute ist es das Gästehaus – drei hübsch eingerichtete, geräumige Zimmer mit eigenem Bad, Kaffeemaschine, Kühlschrank und Blick in den Park. Man ist noch völlig gefangen vom Zauber des Ortes, wenn hinter der Haustür der Riegel zurückgeschoben wird, das Portal sich öffnet und die Hausherrin zum Willkommen hinaus auf die Stufen tritt. Claire.

Große Träume

Als sie klein war, wollte Claire Prinzessin werden. Sie sah sich in weißen Kleidchen mit wippenden Röckchen, mit Schleifen im Haar und silbernen Schühchen, auf Händen getragen und von allen für ihre Gaben bewundert; klug, liebreizend und die Schönste im Land. Das unterschied sie nicht von vielen anderen kleinen Mädchen. Was sie aber unterschied, war, dass sie recht schnell verstand, dass Prinzessinnen nicht in Städten wie Lüdenscheid oder Bad Münstereifel geboren wurden. Väter von Prinzessinnen arbeiteten auch nicht als Abteilungsleiter Haushaltskleingeräte in einem Provinzkaufhaus, in dem die Senior-Chefin am Abend persönlich die Kasse machte. Und Prinzessinnen-Mütter wussten Fremdwörter zu verwenden und ließen an der Ladentür nicht Damen den Vortritt, die sie ihres bestimmteren Auftretens wegen für vornehm hielten. Immerhin hatte das auch dazu geführt – und das dankt sie ihr heute noch –, dass ihre Mutter auf einem vornehm klingenden Namen bestand; Claire, so hieß sonst niemand in der Verwandtschaft. Mit zwölf oder dreizehn sah sie – hin- und hergerissen zwischen glühender Bewunderung und zum ersten Mal der ernüchternden Erkenntnis, wie ungerecht diese Welt doch sei – die scheu lächelnde Lady Diana, wie sie, in Seide und Spitze gehüllt, zum Altar schritt; vor aller Welt Augen und von derselben bejubelt. Da begriff sie, dass man, fing man es nur richtig an, zur Prinzessin auch werden konnte; man brauchte nur den passenden Prinzen zu finden.

Gero, Student des Bauwesens, dem sie zehn Jahre später, kurz vor seinem Abschluss, über die Freundin einer Freundin begegnen sollte, war zwar kein echter Prinz. Aber er fuhr damals schon einen gebrauchten Porsche; selbst finanziert und repariert, schließlich mit Gewinn verkauft und gegen ein schickes, neueres, teureres Modell eingetauscht. Er hatte eine Nase für solche Geschäfte und dieses wiederum Claire im Gefühl. Jahre erfolgreichen Bauens und vor allem Verkaufens und seine guten, von Claire mit Charme und Schick gepflegten Kontakte zu der Hand, die man die öffentliche nennt (die aber nicht immer öffentlich, das heißt, für alle durchschaubar ist und gibt), sollten ihm bald schon den Titel des „Freibäder-Königs“ eintragen. Immerhin. Außerdem sah er weit besser aus als Dianas Prinz Charles.

Die Wartezeit bis zur Begegnung mit ihrem Prinzen hatte Claire damit ausgefüllt, sich als Mittelpunkt eines „Salons“ zu träumen. Rahel Varnhagen und Henriette Herz in Berlin, Bertha Zuckerkandl in Wien, die arme Dorothea Schlegel und natürlich die Mesdames de Staël und Récamier – ihre Biografien hatte sie schon mit fünfzehn verschlungen; sie hatten sie in dieselben rauschhaft verklärten Zustände versetzt, wie ihre Freundinnen die Liebesgeschichten in der „Bravo“. Namhafte Künstler und Geistesgrößen, sie sah es schon vor sich, würden sich in ihrem Haus die Türklinke in die Hand und ihr die Ehre geben. Das Studium der Philosophie allerdings wurde ihr von den Eltern nach dem Abitur – Leistungskurse Deutsch, Geschichte und Politik – abgeschlagen; betrachtet aus deren Welt galt nur Lehramt als etwas Reelles, Rechtschaffenes für ein Mädchen, über das die Leute nicht reden sollten. In Claires Augen war die Welt ihrer Eltern nur wenig größer als deren Gemüsegarten hinter dem Haus; auch dort versuchten die beiden, ihre zarten Pflänzchen mit lächerlichen Zäunchen einzuhegen; böse Schädlinge sollten sich auf keinen Fall gegen alle elterlichen Mühen noch vor der Ernte daran gütlich tun. Auf Germanistik konnte man sich am Ende verständigen.

Claire war bereits schwanger, als sie die letzten Prüfungen bestand. Danach war sie verheiratet. Und dann jahrelang wütend. Nicht, dass sie ausdrücklich ihren Eltern oder Gero eine Schuld zuschob. Er war eine gute Partie, ihre Eltern waren mehr als zufrieden mit ihm und damit mit ihr. Gero gefiel ihr ja auch; im Grunde bis heute, zupackend, wie er in jeder Hinsicht war, auch im Schlafzimmer; soweit es noch dazu kam. Es lag an einem Gefühl, etwas zu versäumen, etwas Größeres, das über sie hinausreichte, ohne genau zu wissen, was es sein könnte. Nicht, dass sie laut rebelliert und Teller zerschlagen hätte: Ihre Wut glich eher einer anhaltend nervösen Gereiztheit, vergleichbar der, bevor sie ihre Tage bekam; ohne genau zu benennenden Grund entzündete sie sich an einem Nichts und erlosch ebenso schnell; vor allem, wenn man sie mit einem leichten Mittel wie einem Wochenende in einem schönen Hotel oder einer Opernpremiere betäubte oder – noch besser, höher dosiert – mit beidem zusammen.

Eine Zeit lang hatte sie noch Zuflucht und Perspektive in geistigen Duellen mit Papier und Feder nach dem Vorbild ihrer Idole in der Philosophie gesucht und bedeutungsschwere Briefwechsel begonnen; nur, leider, hatten ihr die Adressaten zu banal für ihre Erwartung und nach und nach gar nicht mehr geantwortet. Dem Gegenüber fehle es eben am Esprit eines Voltaire, war die einzige Erklärung, die Claire in Betracht zog, und sie war der Sache müde geworden.

Anstatt ihrer Wut auf den Grund zu gehen, sie zur Entladung zu bringen und mit der Energie, die das freisetzte, etwas Neues zu beginnen, ließ sie sie sang- und klanglos in kindisch kleinlichen Scharmützeln mit Gero verpuffen. Ihre Bestätigung bezog sie für die nächsten Jahre aus der Begleitung ihrer einzigen Tochter zu einem Spitzenabitur und anschließendem Studium der Rechtswissenschaften an den besten Universitäten und Abschluss in Harvard. Inzwischen geht Sophie ihrer eigenen Wege. Derzeit ist sie für die UN in Beirut. Davor war sie irgendwo in Zentralafrika. Gero versteht sie, ihr Wagemut gefällt ihm; Claire nicht. Zuletzt gesehen haben sie sich vorletzte Weihnachten. Sophie kommt nur noch selten nach Hause.

Als Gero vor gut zehn Jahren einem Geschäftsfreund den historischen Klosterhof zur Abwendung einer Insolvenz ab- und damit für sich den Freibrief für ausgedehnte Motorradtouren erkaufte, hatte sich Claire ihrer alten Sehnsucht erinnert. Jetzt, in ihren Fünfzigern, wird sie endlich schaffen, wovon sie immer geträumt hat, schwor sie sich. Sie wird der Mittelpunkt eines Kreises sein, der noch von sich reden macht. Sie wird ein Buch schreiben; und es wird ein Bestseller werden.

Die Konsequenz und Gründlichkeit, mit der sie ihr Ziel verfolgte, trug ihr selbst Geros aufrichtigen Respekt ein. Mit präzisen Vorstellungen war sie auf Kandidatensuche gegangen. Monatelang besuchte sie Literaturzirkel, Lesungen und Workshops, machte sich Geros Namen zunutze, verschaffte sich Einladungen und vertrat ihren Gatten bei Einweihungen, Jubiläen und Preisverleihungen mit hochkarätigen Gästen. Sie knüpfte Kontakte, beobachtete, bewertete, verwarf und trennte, nach und nach, durch das engmaschige Sieb ihrer strengen Kriterien, die Spreu vom Weizen. Schließlich war eine Handvoll ihr ebenso kultiviert wie ambitioniert erscheinender Adepten übriggeblieben, die sich in ihr Konzept fügen würden. In jedem von ihnen sah sie eine Bedeutung, die ihre eigene steigern würde.

Ihre Auserwählten reagierten zunächst überrascht, ob denn wirklich sie gemeint seien, sie kannten einander doch kaum. Jeder auf seine Weise hatten sie anfangs gezögert: Vier einander bis dahin Fremde, zu Gast unter demselben Dach (zugegebenermaßen einem traumhaft schönen, soweit auf Bildern zu sehen war) und ihr Obolus, zu entrichten in der Münze des gemeinsamen Schreibens nach einem straffen Plan, war das nicht ein gewagtes Unterfangen? Aber Claire kann man nur schwer etwas abschlagen. Ebenso wie ihren Charme weiß sie ihre Erscheinung zu nutzen: feenhaft blond und hellhäutig, weil sie die Sonne meidet, groß, aber nicht alle überragend und von der wohlgerundeten Schlankheit einer Madonna der Alten Meister, eine Figur, die sie sich niemals durch schweißtreibenden Sport ruinieren würde. So sorgfältig gepflegte Makellosigkeit weckt in Männern ein Gefühl bedingungsloser Anbetung und bei Frauen heimliche Furcht; manchmal auch umgekehrt. Stets liebenswürdig, wenn auch in ihrem Bemühen um eine aristokratische Attitüde ein wenig zu angestrengt und aus der Zeit gefallen, hat sie sich etwas Ätherisches zu eigen gemacht; in Gesellschaft bewegt sie sich, als berührte sie mit den Füßen nie ganz den Boden. Widerspruch duldet sie angesichts dieser Perfektion nur sehr selten und auch dann nicht von jedem. Und immerhin: war ihr Konzept nicht durchdacht und ihr Angebot mehr als verlockend?

DAS EREIGNIS DES JAHRES

Claires Gäste

Nun schon seit einigen Jahren, immer in den ersten Septembertagen, wenn das Licht milder, die Temperaturen angenehm und die Schatten wieder länger werden, treffen sich Claire und ihre Erwählten; hier, in der ländlichen Abgeschiedenheit des Burgund, wollen sie ihren Hang zu Literarischem teilen. Vor diesen Tagen flattert Claire durch das Haus, als erwarte sie einen heimlichen Liebhaber. Sie freut sich auf diese besondere Stimmung, in der sie als Gastgeberin aufblüht, rosige Wangen und glänzende Augen bekommt. Die Atmosphäre scheint sich dann im Haus aufzuladen. Es ist die Zeit vor der großen Buchmesse; die Longlist ist schon bekannt und sie werfen einander, wie Bälle, die Namen von Autoren, Verlagen und Buchtiteln zu, zitieren Kritiken und wann, wo und wie eine Neuerscheinung in den Himmel gehoben oder verrissen wurde. Claire ist als Fängerin ebenso gut wie im Abgeben, eine geschickte Spielmacherin. Dazwischen stößt sie Diskussionen über die großen Fragen der Zeit an und erntet Lob als großartige Gastgeberin. Entziehen kann sich dem keiner, will es auch nicht; sie hat sich die vier mit gutem Grund ausgesucht. Sie wissen den Wert einer Woche völliger Weltabgeschiedenheit zu schätzen und teilen ihre Ambitionen – wenngleich nicht mit derselben Absolutheit und Strenge; schreiben ist nicht alles in ihrem Leben. Aber sie tun alles, um Claire gute Mitspieler zu sein, lassen sich anstecken, und sie genießt das, als bade sie in Champagner. Dieses Jahr allerdings hat sie sich vorgenommen, muss es endlich einen entscheidenden Schritt vorangehen; Claire will heraus aus der gemütlich gewordenen Routine ihrer Treffen. Die Begeisterung ihrer Mitstreiter hat mit den Jahren an Farbe verloren wie eine zu oft gewaschene Bluse; zunehmend ferienselig geht diese Handvoll doch durchaus Begabter ihrer Liebhaberei nach – und das unbemerkt von der literarischen Welt. Nein, dem gibt sie nicht nach! Außer ihrem eigenen Manuskript muss wenigstens ein weiteres so weit gedeihen, dass es zum Abschluss kommt. Ein Textdokument mit Entwürfen für die Widmungen, nicht ohne gebührenden Dank an die Initiatorin, ohne deren Ägide und so weiter und so weiter und so weiter, hat sie bereits in der Schublade liegen. Claire überlässt nichts gerne dem Zufall.

Harold ist schon vor einigen Tagen angereist. Er hatte sich für eine Fachsitzung zum Thema „Deutsche Romantik aus französischer Sicht“ in Dijon gemeldet und sich am Rückweg von einem Kollegen absetzen lassen, auch wenn es für den einen Umweg bedeutete. Die Unbeholfenheit des von Geburt an Kurzsichtigen, die Harold im Lauf seines Lebens für sich einzusetzen gelernt und charmant kultiviert hat, verhilft ihm zu Gelegenheiten wie dieser. Ohne schlechtes Gewissen nimmt er sie als Schadenersatzleistung des Schicksals für die Nachlässigkeit der Natur, mit der sie sich um seine körperliche Vollkommenheit geschert hat; die hätte doch auch ihm gebührt! Außerdem konnte es nicht schaden, im Kollegenkreis für Klarstellung zu sorgen, welche Freundschaften zu unterhalten er, Harold Wesendonck, der allzu oft Übersehene, imstande war. Tatsächlich hatte Dr. Moeller aus dem Referat C – Moeller mit „oe“, wie er auch Claire gegenüber wieder betont – nicht schlecht gestaunt und sich bei ihr sofort mächtig ins Zeug gelegt. Wie immer dachte er wohl, Harold auch hier den Rang ablaufen zu können. Wie ein Pfau hatte er Räder geschlagen und Komplimente gemacht, für deren Mangel an Eleganz Harold sich für ihn schämte. Seine Belohnung erhielt der Kollege dann auch in nichts weiter als dem gekonnt dosierten Lächeln, mit dem ihn Claire schon nach wenigen freundlich-belanglosen Worten auf die Weiterreise komplimentierte. Claire stelle eben Ansprüche, hatte Harold mit Genugtuung für sich vermerkt. Und man durfte sie nicht unterschätzen.

Als einziger der vier Gäste wohnt Harold direkt auf dem Grundstück, im ehemaligen Bootshaus am Seerosenteich; Claire hat es zu einem idyllischen Versteck mit rüschigen Bettbezügen in Blümchenmuster und einer Waschschüssel aus Porzellan umgebaut. Gerne nimmt er dieses Sonderrecht in Anspruch, das Claire ihm im ersten Jahr (in ihrem Überschwang ein wenig voreilig und zu generös, wie sie es heute sieht) eingeräumt hat.

Eigentlich war er nicht die erste Wahl für ihre literarische Runde gewesen. Ursprünglich hatte sie sich auf den namhaften Feuilletonisten mit den ausgefallenen Brillen kapriziert, dessen Kritiken sie wöchentlich buchstäblich verschlang und so lange studierte, bis sie seine Argumente für ihre Eigengewächse hielt. Schon gleich, als sie ihm am Rande eines Neujahrsempfangs vorgestellt wurde, hatte sie allerdings einsehen müssen, dass es so einfach nicht war. Über ihre sorgfältig vorbereitete, geistreiche Bemerkung zu seiner jüngsten Rezension war ihr Kandidat schlichtweg hinweggegangen, und sein so sicher erwartetes Interesse an ihr war – verglichen mit dem ihren an ihm – als bestenfalls „höflich unbeeindruckt“ zu definieren gewesen. Mit spöttisch gekräuselten Lippen hatte sie die geplatzte Hoffnung wie eine Fussel von der Schulter gestreift – „eigentlich ist seine Meinung doch häufig recht Mainstream“ – und sich abgewandt. Dabei war sie in der Menge der Gäste, die plaudernd hinter ihr standen, gegen Harold gestoßen:

Dr. Dr. Harold Wesendonck, Regierungsbeamter im Ministerium für Kultur und Wissenschaft, kurz vor dem Ruhestand. Fragen, was denn genau seine Aufgaben sind, beantwortet er mit einem feinen Lächeln, was bei ihm jeder als Diskretion und Bescheidenheit, die höchste Zier des Staatsdieners, versteht. Zu mehr als einem diffusen „zbV“, zur besonderen Verfügung, lässt er sich nicht hinreißen. Das kann alles bedeuten: eine Vertrauensstellung mit kurzem Draht nach „ganz oben“, zu der Amtsleiterin, die landesweit für ihren kirschroten Lippenstift bekannt ist, bis hinab zum Abgeschoben-Sein auf einen Posten von nachgeordneter Bedeutung. Stellt er sich vor, zögert er vor seinem Nachnamen kurz, als sei er nicht sicher, ob er ihn nennen könne, ohne bei seinem Gegenüber den Eindruck zu wecken, er wolle sich wichtigtun. Kommt dann tatsächlich die Frage, ob er mit „den“ Wesendoncks zu tun habe, lächelt er bescheiden und gibt sich ein wenig geniert; da gebe es womöglich Verbindungen.

Claire hatte sich nach dem Zusammenstoß auf dem Empfang wortreich bei Harold entschuldigt, während er, formvollendet, ganz alte Schule, beteuerte, es sei nun wirklich nichts passiert, und falls doch, dann habe es womöglich eine Bedeutung. Solchen Stil hätte sie hinter diesem stillen Herrn mit der starken Brille niemals vermutet, der inmitten all der breitbrüstig zur Schau gestellten Männer-Wichtigkeit schon wieder auffällig war. Beide waren sie Beobachter am Rande. Sie auf der Teilnehmerliste in der Kategorie „Begleitung“, auf dem Schild am Revers ihres Kostüms Geros Name; er dienstlich, als Stellvertreter der Stellvertreterin. Sie dekoratives, er protokollarisches Beiwerk. So waren sie ins Gespräch gekommen. Als Harold Wesendonck ihr zuraunt, er habe die Lobreden auf diesen Feuilletonisten noch nie so recht verstanden, pflichtet sie ihm umgehend bei: „Unbedingt! Sehr überschätzt von der breiten Masse der Leser.“ Dessen Artikel wird sie von da an überaus kritisch zerpflücken.

In Harold hatte Claire den Plan-B-Kandidaten für ihr Projekt gefunden; er wird ihr dankbar sein und es ihr leicht machen. Mit seiner aus der Mode gekommenen Art, den kurzsichtigen Augen hinter der Privatgelehrtenbrille mit Goldrand, dem schütteren, fast farblosen Haar, das – sorgfältig in Wellen gelegt – frühere Fülle nur umso rührender vermissen lässt, erinnert dieser kleine Herr sie an einen dichtenden Dorfschullehrer, wie er auch in Romanen Jean Pauls nicht besser hätte beschrieben sein können.

Er wiederum, der ältliche Junggeselle, der sich angesichts einer Versammlung teurer Anzüge und wohlfeiler Aussagen mit dem Stolz des Philosophen wappnet, der dies alles nicht brauche, fühlt sich zum Ritter geschlagen. Die Aufmerksamkeit einer so eleganten, und (wie sich gegen jedes Vorurteil nach wenigen Sätzen herausstellte) unerwartet belesenen Dame auf sich zu ziehen, erlöst ihn nicht nur von der undankbaren Zuschauerrolle am Rande dieser Veranstaltung – nein, endlich findet auch sein intimes Wissen zu Hölderlin und seiner Diotima verständige Würdigung. Was Gero und die Mehrzahl der geladenen Gäste nüchtern Win-win-Situation genannt hätten, erhöhen sie beide sich zur Seelenverwandtschaft. Zum Abschied nahm Harold Wesendonck allen Mut zusammen und erlaubte sich, Claires Hand zu küssen. Sie war hochentzückt, dass er es tatsächlich beherrschte, also nicht seine Lippen auf ihre Finger presste, und ließ ihn, ganz Madame de Récamier, großmütig gewähren; Gero, der exakt in diesem Moment zu ihnen trat, lachte und klopfte ihm kräftig dazu auf die Schulter; dieser komische kleine Privatgelehrte war für ihn keine Gefahr.

Harold Wesendonck hat schon veröffentlicht. Anfangs haben sie sich dieses Wort in der Gruppe fast ehrfürchtig und auch nicht ganz frei von Neid zugeraunt; wussten sie doch, wie schwer es ist, ohne exotische Vita mit möglichst literaturfernem Hintergrund einen Verlag für sich zu gewinnen – Kriterien, die Harold Wesendonck schon auf den ersten Blick nicht erfüllt. Tatsächlich hat er einen schmalen Band mit einer fiktiven Geschichte zu Hölderlin verfasst, wobei er sich mit einer Virtuosität, die nicht zu leugnen ist, dessen Stilistik bedient hat. Inzwischen lassen sie Takt walten und machen es nicht mehr zum Thema, dass seit diesem einen kein weiteres Werk mehr gefolgt ist. Nur Claire kann es nicht lassen, immer wieder Harolds Erfahrung als Autor herauszustellen, legitimiert das doch seine Anwesenheit und prädestiniert ihn, das Häuschen am Teich beziehen zu dürfen.

Jetzt sieht Claire ihn mit übereinandergeschlagenen Beinen in weißer Leinenhose und passender Weste sinnend unter einem Schirm drüben am Seerosenufer sitzen, als diene er einem Maler zum Modell; hin und wieder wirft er eine Notiz auf ein Blatt vor sich auf dem Tisch.

Philippa, die Vielfliegerin, die auf einem Flug nach London – sie beruflich, Claire auf der Durchreise zu einem berühmten Züchter alter englischer Rosen in den Midlands – auf dem Platz neben ihr saß. Beide hatten sie gesehen, wie auch die andere noch vor dem Start ein Buch aus der Tasche holte, um zu lesen, sich freudig überrascht angeschaut und waren darüber ins Gespräch gekommen. Welche Bücher sie gerade gelesen hatten, Lieblingsautoren, Lesegewohnheiten. Claire hatte den einmal geknüpften Kontakt nicht mehr abreißen lassen und nach wohlkalkulierter Annäherungs- und Wartezeit den Mut gefasst, Philippa in ihre Runde zu laden.

Auch sie müsste demnächst eintreffen. Heute früh noch hatte sie die genaue Ankunftszeit per Kurznachricht bestätigen lassen: „Dear Claire – arrival Phil 01:30 p.m. Enjoy these days“, schrieb Reto inzwischen so vertraulich, als zähle er Claire ganz selbstverständlich zum innersten Zirkel seiner Chefin. Claire war geschmeichelt. Sie hatte ihn gegoogelt: Er trägt zum Anzug den Ohrring der Schweizer und sieht aus, als gebe er Skiunterricht für schon sehr Fortgeschrittene. Reto, Philippas Assistent. Den Neid, es selbst nie zu solchen Attributen des Erfolgs gebracht zu haben, wird Claire nie ganz überwinden. Aber der Stolz darauf, eine Frau von diesem Format vor aller Welt einfach „Phil“ nennen zu können, steht dagegen und hält ihn einigermaßen in Schranken; sie hält es sich als Charakterstärke und Reife zugute.

Sie sieht Philippa vor sich, wie sie mit dem Flugzeug auf dem kleinen Flughafen hier in der Nähe gelandet ist, ihr professionell auf Mindestmaß reduziertes Vielfliegergepäck, aus dem sie doch immer das passende Outfit für jede Gelegenheit zaubert (Claire versteht bis heute nicht, wie das gelingt), in das schon wartende Taxi wirft und in flüssiger Landessprache Claires Adresse anweist. Philippa ist polyglott, in allen aktuellen Themen zuhause und sicher auf jedem Parkett; stets höflich und diplomatisch, macht sie nie Umstände und bemüht sich, nicht merken zu lassen, wie gewohnt sie es ist, dass ihr zugearbeitet wird. Hoffentlich hat sie nicht wieder einen Jet-lag, wie im letzten Jahr, als sie den ersten Tag komplett verschlief; als Controllerin ist sie für ihre international aktive Firma ständig irgendwo auf der Welt. Deshalb freue sie sich so auf „ein paar Tage Weltabgeschiedenheit und Ruhe an deinem wundervollen Ort, meine Liebe“, schreibt sie Claire, wenn sie ihre Teilnahme zusagt.

Von ihrem Mann bestellt sie stets „unbekannterweise“ Grüße, als sei sie einen Nachweis schuldig, dass es ihn tatsächlich gibt. Claire hätte ihn nur zu gerne kennengelernt, aber Philippa hat jeden ihrer Versuche elegant abgebogen; sie sei dafür, die Dinge getrennt zu halten. Claire hat sich von den beiden das Bild eines in aller Unabhängigkeit aufeinander eingespielten Paares gemacht. Immerhin weiß sie so viel, dass er Galerist ist, in Hamburg und New York lebt und sie monatlich festlegen, wann und wo sie sich treffen. Es scheint zu funktionieren mit den beiden; Kinder haben sie keine, und ab und zu befällt Claire heißer Neid bei der Vorstellung, wie angenehm das Leben in einer so lässig auf interkontinentale Distanz geführten Beziehung doch sein müsse. Zu ihrem Trost unterzieht sie in solchen Momenten die Frau, die sie Freundin nennt, einer strengeren Prüfung und kommt zum Ergebnis, dass es doch etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit gebe.

Doch! Mit Philippa kann man sich sehen lassen. Philippa hat Stil – genau den, den sich Claire passend zu diesem Namen vorstellt: zurückhaltend, erlesen, elegant, irgendwie hanseatisch. Jedes Jahr zieht „Phil“ aus ihrer Reisetasche mit den verschlungenen Initialen im Herstellerlogo ein Gastgeschenk, eine Kleinigkeit, die Claire aus der jüngsten „Vogue“ kennt; ein dekoratives, modisches „Must-have“, wie es immer auch Philippa besitzt, nur in einer anderen Farbe. Etwas, das auffällt, ohne gleich Neid zu wecken. So ist auch sie selbst: Ihr mittelbraunes Haar trägt sie halblang und glatt, aber immer perfekt geschnitten. Ihre Haut ist trotz des vielen Fliegens gepflegt; man sieht, sie gibt Geld dafür aus. Make-up benützt sie, aber nur wenig. Sie erreicht – nicht ganz – Claires Größe und hält ihr Gewicht, wenn auch nicht so scheinbar spielend und mit gleichbleibend perfektem Ergebnis wie diese. Aber, „bei aller Freundschaft!“, all das reicht nicht aus, dass Claire in der späten Freundin, wie sie sie schwärmerisch nennt, eine ernsthafte Konkurrenz sehen müsste. Nur – ganz zu fassen bekommt Claire sie trotz aller Versuche, sie an sich und in ihr Vertrauen zu ziehen, nicht, und es entgeht ihrer eifersüchtigen Wachsamkeit nie, wenn die Freundin auch die anderen mit gemeinsamem Gelächter oder einem Zwiegespräch auszeichnet.

Thomas. Auf ihn, wenn sie ehrlich ist, freut sie sich immer am meisten; er bringt buchstäblich Musik in die Runde. Als Sänger an Opernhäusern wie Berlin, Wien und London (das ganz große, die Met, fehlt allerdings noch), hat er eine Stiftung gegründet, die Menschen in prekären Verhältnissen die Musik, die er so liebt, nahebringt; manchmal singt er in Notunterkünften oder Wärmestuben und bewegt sich dort in einer Welt, in die sich Claire nie auf Tuchfühlung gewagt hätte. Doch zu ihrer Überraschung ist er kein humorloser Gutmensch, der entsagungsvoll den Zustand der Welt beklagt. Thomas ist witzig und unkompliziert und verbreitet etwas Jungenhaftes um sich; sie weiß, es klingt kitschig, wenn sie denkt, es lasse die Welt heiterer und heller erscheinen, aber für sie fühlt es sich nun einmal so an. Den Ausgleich zum Singen sucht er in einer „leisen“ Kunst, wie er sein Schreiben nennt. Da muss er die Worte nicht laut hervorbringen; er muss nur in sich hineinhören, bis sie sich in ihm von selbst zu Sätzen mit einem Rhythmus aufreihen. So ähnlich, stellt er sich vor, müsse es Beethoven mit den Klängen ergangen sein, die er komponierte, als er schon taub war. Ins Gespräch miteinander sind sie nach dem Vortrag einer Döblin-Spezialistin gekommen. Seit Jahren versucht sich Thomas an einer aktuellen Version „Berlin, Alexanderplatz“ vor dem Hintergrund der Nachwendejahre.

Einer wie er wäre die richtige Prise Bohème und Nonkonformismus in ihrer Runde, hatte Claire mit ihrem Gespür für Inszenierungen überlegt. Außerdem gefällt er ihr; ausgesprochen gut sogar. Nicht mehr ganz schlank ist er, aber dennoch in Form und vital sieht er aus. Claire lässt der Gedanke nicht los, es müsse schön sein, sich an diese Brust zu lehnen und zu horchen, wie ein Mensch mit einer solchen Stimme atmet; ob es sich anders anhörte, als bei anderen Menschen, klangvoller, mehr wie Musik?

Mit seiner Löwenmähne – etwas störrische Locken, eine unentschiedene Mischung zwischen Dunkelblond und Hellbraun, bei denen Claire den Verdacht hegt, er kürze sie nur ab und an mit der Nagelschere – wirkt er verwegen. Jetzt, um die Fünfzig, mischen sich, wie von einem sehr guten Friseur verteilt, erste graue Strähnen darunter. Ein melancholisches Vorzeichen; es macht ihn umso anziehender für sie. Nur seine klarblauen Augen, die beim Lachen Sterne sprühen, im Eifer einer Diskussion aber auch Pfeile abfeuern können, lassen sie sich dann und wann fragen, ob sie sich in ihm nicht verschätzt. Mit seinem Witz, der ihn schnell zu ironischen Kommentaren verführt, die zwar friedlich gemeint, aber nicht jedem bekömmlich sind, kann er anstrengend werden. Dennoch: Mit seiner barocken Sonnigkeit hat er in ihrer Runde den Platz des großen Bruders in einer Familie eingenommen. In diesem Jahr hat er Claires Einladung auf einem Blatt beantwortet, das er aus der Partitur zu „La Traviata“ gerissenen hat, die Stelle, an der eine – unmissverständlich – romantische Einladung zu einem Tête-à-Tête in ein Landhaus besungen wird. Jedem anderen hätte Claire diesen Einfall als, nun ja, am Rande des guten Geschmacks übelgenommen. Aber Thomas? Der Mann hat eben Esprit! In den unbekümmert raumgreifenden Girlanden, seiner Handschrift, die so absolut seinem Naturell entspricht, schreibt er, er picke gerne wieder die Brosamen vom Tisch der illustren literarischen Runde und freue sich. Nur dort, in ihrem Haus in Burgund, finde er die Ruhe, die ihm die letzte Hoffnung nicht nehme, doch noch einmal den Buchpreis zu erringen – und sei es auch nur der von St. Helena oder sonst eines winzigen Eilandes am Ende der Welt.

Über sich selbst hat er nie viel erzählt; soweit man weiß, lebt er alleine. Als ihn Claire, ganz zu Beginn, mit Fragen, die harmlos klingen sollten, nach einer Frau einzukreisen versuchte, hat Thomas freundlich, aber sparsam geantwortet, es habe einmal jemand gegeben. Damit verbat sich jedes weitere Nachbohren. Stattdessen hat sie daraus die Legende einer großen Liebe gestrickt und ihm den Status des einsam Trauernden zugesprochen, den es irgendwann zu erlösen gilt.

Er kommt später am Nachmittag und, wie immer, mit dem Zug; fliegen und Auto fahren (er besitzt gar keins) mag er nicht – es gehe auch nicht schneller und man könne nicht entspannen dabei.Eva würde ihn am Bahnhof „aufsammeln“ und die letzte Strecke mitnehmen, hat er geschrieben; die Formulierung muss er von ihr übernommen haben, denn so prosaisch drückt sich nur Eva aus. Manchmal schreibt sie auch so (dass sie damit ihrem Text eine besondere Wucht gibt, muss ihr sogar Claire zugestehen). Die beiden haben sich also direkt, ohne ihre Vermittlung, verabredet. Ob sie auch sonst, das Jahr über, Kontakt halten? Thomas’ harmlose Mitteilung hatte Claire einen hauchfeinen Stich versetzt; nicht alles in ihrer Hand zu behalten, will ihr nicht gefallen. Nun gut, denkt sie, sollen sie doch. Hier ist immer noch sie die Gastgeberin und Herrin des Verfahrens.

Und dann noch Eva, die umstandslose, pragmatische Eva.Sie ist der einzige Missgriff, der ihr mit dem Zirkel, den sie um sich geschart hat, unterlaufen ist, wirft sich Claire manchmal vor und kann sich nicht mehr erklären, wie es passieren konnte. Nicht, dass es der Jüngsten unter ihnen, die Mitte vierzig hat Eva gerade hinter sich, an Bildung, Intellekt und Talent zum Schreiben gefehlt hätte; mit ihrer analytischen Begabung und zugleich einer entwaffnenden Offenheit ist sie in der Diskussion sogar eine Herausforderung, gegen die Claire manchmal Mühe hat, zu bestehen. Doch sie weiß aus dem allem gar nichts für sich zu machen; dass sie es vielleicht gar nicht will, es nicht braucht, ist keine Kategorie, die Claire in Betracht zieht.

Sie hatte Eva nach einer Podiumsdiskussion vor illustrer Runde (Geros monatliche „Dienstagsgesellschaft“, die er wieder für eine Motorradtour geschwänzt hatte) angesprochen, in der es um „gläserne Decken“ und „die Ressource Frau“ im Arbeitsleben ging. Wie sie eine dümmlich-provozierende Frage so freundlich, sachlich, aber trocken abschmetterte, dass sie die Lacher auf ihre Seite bekam, hatte Claire imponiert. Der Hintergrund hatte gestimmt: studierte, promovierte, berufstätige Mutter mit drei inzwischen fast erwachsenen Kindern, verheiratet mit einem Chefarzt an einer Münchener Klinik – Eva brachte mit, was Claire als gesellschaftlich adäquat und für das Gesamtbild ihres Zirkels angemessen erschienen war; sie vereint Beruf und Familie, gehört zu einer jüngeren Generation, ist weiblich und somit prädestiniert als Nachweis für Aufgeschlossenheit und Diversität ihrer Runde. Doch die Ungeniertheit, mit der diese Frau darüber lacht, dass sie an manchen Tagen Mann und Kinder zugleich ermorden könne, dreimal in Folge in derselben Hose, die so bequem sei, zum Frühstück erscheint, über den Fleck auf der Tischdecke einfach den Brotkorb stellt und freimütig im ersten Jahr eingestand, sie erlebe gerade eine schwierige Zeit mit ihrem „Laden“ (sie hat den elterlichen Betrieb, führend in Automatisierungstechnik, übernommen), irritiert Claire immer wieder aufs Neue. Wie konnte man nur so offen Niederlagen, Fehler und Schwächen einräumen!

Die anderen, mit Ausnahme von Harold – zumindest hat er einmal versichert, diese burschikose Generation Frauen sei ihm zu anstrengend –, scheinen diese Unbekümmertheit allerdings für herzerfrischend geerdet, eine Bereicherung ihrer Runde, ja, gar für eine Stärke zu halten. Eva also würde später, im Laufe des Nachmittags, kommen und Thomas mitbringen. Sicher nahm sie mit offenem Verdeck wieder den Umweg über die Landstraße mit den endlosen Kurven und würde völlig verschwitzt und staubig aus dem Auto steigen.

Ein Missgeschick