Clara Zetkin und ihre Söhne - Felix Huby - E-Book

Clara Zetkin und ihre Söhne E-Book

Felix Huby

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Beschreibung

Clara Zetkin (1857-1933) ... war klug, mutig, unbestechlich, aber auch sehr eigenwillig. Ihre ganze politische und journalistische Arbeit widmete die Sozialdemokratin und spätere Kommunistin dem Kampf um die Frauenrechte. Unbeugsam stritt sie mit den Mächtigen, schuf den Weltfrauentag und nahm es im Deutschen Reichstag, den sie 1932 als Alterspräsidentin eröffnete, gar mit den Nationalsozialisten auf. Sie war Weggefährtin Rosa Luxemburgs, die zu ihrer besten Freundin wurde. Friedrich Engels schätzte sie, Lenin war, solange er lebte, ihr Gesprächspartner. Aber auch der Industrielle Robert Bosch zählte zu ihren Freunden. Als sie 1933 in Moskau beerdigt wurde, trugen Stalin und Molotow ihre Urne. 600 000 Trauernde fanden sich auf dem Roten Platz ein, um ihr die letzte Ehre zu erweisen. Ihr ganzes politisches Leben lang wurde Clara Zetkin von ihren Söhnen Maxim und Konstantin (Kostja) begleitet. Maxim wurde nach 1945 ein berühmter und hoch geachteter Mediziner in der DDR. Während Kostja sich den Kommunisten entzog, nach Amerika ins Exil ging und in Kanada starb. „Clara Zetkin und ihre Söhne“ ist der dritte historisch biografische Roman nach „Die Kerners“ und „Die Schubartin“, den die Autoren Hartwin Gromes und Felix Huby vorlegen. Über Huby schreibt die ZEIT: „Manchmal genügt Felix Huby schon ein Satz, um eine Figur zur Person zu machen, und seine Handhabung der Sprache ist dabei unübertroffen.“ Der Südkurier nennt ihn „einfach einen großen Erzähler.“ Und im Süddeutschen Rundfunk hieß es: „Huby und Gromes – da haben sich zwei gefunden, die sich mit ihren Begabungen wunderbar ergänzen.“

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Inhalt

Titelei

Vorwort

1872 ff. - Jugendjahre in Leipzig

1882 ff. - Pariser Exil

1886 - Wieder daheim

1889 - Ossips Tod in Paris

1891 - Neuanfang in Stuttgart

1896 - Eine neue Liebe

1898 - Clara trifft Rosa Luxemburg

1907 - Mit Lenin in Sillenbuch

1908 ff. - Szenen einer Ehe

1912 - Friedenskongress in Basel

1914 - Der Krieg

1915 - Clara in Berlin

1917 - Fristlos entlassen

1917 - Festungshaft für Rosa Luxemburg

1918 - Die Deutsche Republik

1919 - Ermordung Rosa Luxemburgs

1920 - Leben auf dem Lande

1920 - Claras erste Reise nach Sowjetrussland

1921 ff. - Rigoros und linientreu

1924 - Reise durch den wilden Kaukasus

1925 ff - Letzte Jahre in Sillenbuch

1932 - Bei Maxim und Emilia in Moskau

1932 - Alterspräsidentin im Berliner Reichstag

1933 - Abschied von Deutschland

1933 - Clara Zetkin stirbt

1933 - Das letzte Treffen der Brüder

1934 - 1945 - Kostja kehrt Moskau den Rücken

1938 - Die Zeiten ändern sich

1953 - Maxim

1967 - Kostja

EPILOG

1980 - Henriette zu Besuch in Kanada

Felix Huby

Hartwin Gromes

Gemeinsame Projekte

Handelnde Personen und Organisationen

Benutzte und weiterführende Literatur

Dank

Verlag Akademie der Abenteuer

Impressum

Buchempfehlungen

Die Bootsbauer - Felix Huby

Entführt - Anita Rehm

Uigurische Geschichten - Ingrid Widiarto

Wie der Fluss in meinem Dorf - Nasrin Siege

ONS - One-night-stand - Boris Pfeiffer

Lockdown - ein C-movie - Michèle Meister & Boris Pfeiffer

Felix Huby &

Hartwin Gromes

 

 

 

 

 

CLARA ZETKIN

UND IHRE SÖHNE

 

 

Ein biografischer Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das vorliegende Buch ist ein Roman und stützt sich auf eine Fülle von Quellen aus Büchern, Zeitschriften, Archiven, Internetfunden, von denen die wichtigsten in der Literaturliste verzeichnet sind. Wie heißt es in der Geschichte vom Herrn Keuner ‚Originalität’? „Heute, beklagte sich Herr K., gibt es Unzählige, die sich öffentlich rühmen, ganz allein große Bücher verfassen zu können…Wie wenig brauchen diese alle zu ihrer Tätigkeit! Ein Federhalter und etwas Papier ist das Einzige, was sie vorzeigen können! Und ohne jede Hilfe, nur mit dem kümmerlichen Material, das ein Einzelner auf seinen Armen herbeischaffen kann, errichten sie ihre Hütten! Größere Gebäude kennen sie nicht, als solche, die ein Einziger zu bauen imstande ist!“

1872 ff. - Jugendjahre in Leipzig

„Ich habe immer gesagt, ich will hier nicht weg und schon gar nicht in diese Riesenstadt“, sagte Gottfried Eißner.

Die Familie saß nach dem Abendessen in der großen Küche der Lehrerwohnung in Wiederau.

„Du hättest schon vor Jahren nach Leipzig gehen sollen, als sie dir angeboten haben, als Organist in der Thomaskirche zu spielen“, antwortete seine Frau Josephine, schon leicht gereizt. Es war ja nicht das erste Mal, dass das Thema zur Sprache kam.

„Mein Platz ist hier!“, gab ihr Mann kurz angebunden zurück.

„Willst du denn gar nicht einsehen, dass meine Kinder hier keinerlei Möglichkeit haben, einen angemessenen Beruf zu erlernen? Und das bei ihrer Begabung.“

„Es sind auch meine Kinder! Und wenn ich denke, wie ich mich aus eigener Kraft hocharbeiten musste …“

„Aber du bist keine Frau“, fuhr ihm Josephine in die Parade. „Clara und Gertrud sind kein Haar weniger begabt als unser Arthur.“

„Die Mädchen werden sowieso heiraten.“

Die fünfzehnjährige Clara lachte hell auf. „Die Zeiten haben sich geändert, Papa!“

„Ich will schon gerne heiraten“, meldete sich die dreizehnjährige Gertrud, „aber nur einen reichen Mann.“

Clara sah ihre kleine Schwester kopfschüttelnd an. „Dümmer geht ’s nimmer.“

Wütend wendete sich der Hausherr gegen seine Frau. „Das kommt doch alles von diesen Weibern aus deinem Frauenverein, dieser Louise Otto-Peters und dieser Auguste Schmidt. Mit denen du ständig korrespondierst!“

„Das hat mir immerhin eingebracht, dass Frau Schmidt unsere Clara in ihre Schule aufnehmen will. Sie hat ihr sogar eine Freistelle versprochen. Dass ihr Seminar einen hervorragenden Ruf hat, müsstest du wissen, besonders für Fremdsprachen, die sogar von Lehrern aus den jeweiligen Ländern unterrichtet werden.“

„Was streitet ihr euch überhaupt?“, fragte der zwölfjährige Arthur. „Es ist doch sowieso beschlossene Sache.“ Er wendete sich an seinen Vater. „Was willst du denn sonst hier machen, jetzt, wo du pensioniert bist?“

„Hier können wir wenigstens mit dem wenigen Geld, das uns bleibt, leben. Die Großstadt ist viel zu teuer. Außerdem kann ich in Wiederau immer mal etwas dazu verdienen, und die Leute sind uns so wohlgesonnen – da fällt schon das ein oder andere ab.“

Empört rief Josephine: „Ich, eine Josephine Vitale, soll von den Almosen der Bauern hier leben?“

„Ja, ja“, höhnte der Schulmeister, „du, die Tochter eines napoleonischen Offiziers, die feine Französin ist sich natürlich zu gut dafür!“

„Jetzt hört doch auf“, mischte sich Clara ein. „Müsst ihr immer streiten?“

„Ich denke, du könntest in Leipzig genauso gut oder gar besser etwas zu deiner schmalen Pension hinzuverdienen“, sagte Frau Eißner zu ihrem Mann.

„Ich geh doch nicht in der Stadt Klinken putzen!“

Josephine blieb hart: „Es geht um die Zukunft der Kinder. Und da darf uns nichts zu viel sein, Gottfried.“

1872, im Frühjahr übersiedelten die Eißners nach Leipzig. Der große Aufschwung, dank des gewonnenen Krieges gegen Frankreich, der Reichsgründung in Versailles und speziell der an Deutschland zu zahlenden Reparationen, ging an den Eißners völlig vorbei. Sie kamen zunächst nur in einem Notquartier unter, zogen aber schon bald in die Innenstadt. Gottfried Eißner versuchte sich durch Privatstunden etwas hinzuzuverdienen, was wenig genug war, während seine Frau Schüler und Studenten gegen Entgelt in Pension aufnahm und verköstigte.

Doch Gottfried Eißner wurde in Leipzig nicht heimisch. Schon drei Jahre nach dem Umzug starb er.

 

„Möchtest du am Samstag zu unserem Teenachmittag zu mir nach Hause kommen?“, fragte Auguste Schmidt eines Tages Clara Eißner. Der Schülerin verschlug es den Atem. Sie riss ihre graugrünen Augen auf, und es gelang ihr mit Mühe hervorzubringen: „Ja, aber gerne!“ Sie wusste genau, welche Auszeichnung dies war. Nur ein kleiner Kreis der besten Schülerinnen genoss das Privileg, den Samstagnachmittag im vertrauten Kreis mit der Schulleiterin Schmidt und ihrer Freundin, der bekannten Frauenrechtlerin Louise Peters, zu verbringen.

Als sie nach Hause kam und ihrer Mutter berichtete, blitzte der Stolz in den Augen Josephines auf. „Jetzt weißt du, warum es so wichtig war, auch gegen den Willen deines Vaters hierher zu ziehen.“

 

Der Star in der Samstagsgruppe im Hause Schmidt war eine Schülerin aus Russland – groß gewachsen, blond, immer exquisit gekleidet und mit einem ausgeprägten Selbstbewusstsein ausgestattet. Warwara kam aus St. Petersburg, stammte aus einer wohlhabenden Familie und sollte in Leipzig vor allem Deutsch lernen, um später in der Schweiz studieren zu können. Sie und Clara freundeten sich schnell an, gingen gemeinsam in Konzerte und ins Theater und schwärmten um die Wette für den einen oder anderen Schauspieler, den sie aus der Ferne anhimmelten.

Überraschend fragte die Russin ihre neue Freundin Clara eines Tages: „Hättest du nicht Lust, mit mir in den Weihnachtsferien nach St. Petersburg zu kommen?“

Clara schüttelte traurig den Kopf. „Das kann ich mir nicht leisten.“

Warwara lachte. „Du bist natürlich eingeladen.“

„Ich weiß nicht, ob das geht. Ich muss meine Mutter fragen.“

Am Abend trat Clara in das Arbeitszimmer ihrer Mutter: „Wollen wir vielleicht noch eine Tasse Tee zusammen trinken?“

Josephine hob den Kopf. „So förmlich, mein Kind? Was ist denn passiert? Hoffentlich nichts Schlimmes?“

Eine halbe Stunde später saßen die beiden in der Küche. Die Mutter sah Clara, die während der ganzen Zeit kaum gesprochen hatte, auffordernd an. „Jetzt aber raus mit der Sprache!“

„Weißt du, Warwara … also … ähm …“

„Habt ihr euch verkracht?“

„Ganz im Gegenteil! Sie hat mich zu Weihnachten nach St. Petersburg eingeladen.“

„Ausgeschlossen. Das Geld dafür haben wir nicht.“

„Ich hab doch gesagt, sie hat mich eingeladen!“

Die Mutter schien echt verwundert. „Und wo ist dann das Problem?“

„Du würdest mich fahren lassen, wenn Warwara die Kosten übernimmt?“

„Ich war immer fürs Teilen. Du weißt, wie oft wir das Wenige, was wir hatten, mit den Armen in Wiederau geteilt haben. Alles kommt irgendwann zurück, hat deine Großmutter bei solchen Gelegenheiten gesagt.“

 

Und so verbrachte Clara wunderschöne Wochen in St. Petersburg, der Hauptstadt des großen russischen Reiches, dem Sitz des Zaren. Sie genoss das Leben in dem reichen Haus von Warwaras Eltern. Sie tanzte auf den Bällen der gehobenen Gesellschaft in prachtvollen Sälen, wurde zu Teegesellschaften in reiche Bürgerhäuser eingeladen, ging mit ihrer Freundin ins Theater und in die Oper, fuhr unter Schellengeläut in der Troika durch die tief verschneite Landschaft bis zu dem 25 Kilometer entfernten Zarskoje Selo mit dem Katharinenpalast, wo sie das berühmte Bernsteinzimmer bewunderte. Und für all diese Anlässe wurde sie von Warwaras Eltern im Kaufhaus Gostini Dwor und in der gegenüberliegenden Galerie Passage neu eingekleidet. Diese unbeschwerte Reise war und blieb Claras einziger Ausflug in die Welt der Reichen. Sie genoss die unbekümmerten Freuden wohlhabender Jugend.

 

Wieder zurück in Leipzig zeigte sich Warwara von einer ganz anderen Seite. Sie nahm ihre Freundin Clara zu den regelmäßigen Treffen eines Zirkels russischer Studenten mit. Dort ging es meist hoch her. Die jungen Leute redeten sich die Köpfe heiß über die Notwendigkeit, in Russland einen revolutionären Umsturz herbeizuführen, und debattierten nicht selten ganze Nächte durch. Freilich blieb es beim gemeinsamen Bechern, wilden Diskussionen und dem Absingen revolutionärer Lieder wie der Warschawjanka:

 

Wir haben der Freiheit leuchtende Flamme

Hoch über unseren Häuptern entfacht.

Die Fahne des Sieges, der Völkerbefreiung,

Die sicher uns führt in die letzte Schlacht.

 

Die Studenten berauschten sich mehr an ihren Gesängen und dem üppig fließenden Wodka, als dass sie zur Tat geschritten wären. Und genau das hielt ihnen ein Mann vor, etwas älter als die meisten, der nur gelegentlich erschien, um ihnen die Leviten zu lesen. Eines Abends sah ihn Clara zum ersten Mal. Als er den Raum betrat, erstarben die Gespräche, und eine ungewöhnliche Stille trat ein. Er begann zu reden. Mit seinem leidenschaftlichen Ton ergriff er die Zuhörer schon nach wenigen Sätzen. Auch die junge Clara Eißner hing gebannt an seinen Lippen, obwohl sie kein Wort verstand. Flüsternd fragte sie Warwara:

„Wer ist denn das?“

„Das ist Ossip.“

„Und von was redet er?“

„Das Gleiche wie immer: ‚Was tut ihr eigentlich für die Revolution, von der ihr immer redet? Habt ihr überhaupt schon mal einen russischen Arbeiter gesehen? Habt ihr auch nur ein Flugblatt gedruckt und verteilt? Wo seid ihr wann auf die Barrikaden gegangen …?’ Ossip redet uns allen halt mal wieder ins Gewissen.“

„Und hat er denn recht?“, fragte Clara.

„Wenn man für die Revolution ist, schon.“

„Ich finde ihn faszinierend.“

„Ist er auch. Die Zetkins sind eine reiche Familie in Odessa, die er verlassen hat. Er hat auf alles Geld verzichtet, sein ganzes Erbe.“ Sie machte ein nachdenkliches Gesicht. „Ob das wirklich klug war? Ich könnte das jedenfalls nicht. Es würde auch meine Eltern kränken. Du kennst sie ja. Aber er ist eben anders als wir. Er studiert nicht nur, sondern arbeitet auch in einer Tischlerwerkstatt, um dem Proletariat näher zu sein.“ Als sie in das erwartungsvolle Gesicht ihrer Freundin blickte, fuhr sie fort: „Soll ich dich mit ihm bekanntmachen?“

„Ich weiß nicht“, Clara sah nochmal zu dem Russen hinüber. „Spricht er denn deutsch?“

Warwara lachte. „Ja, sicher.“ Sie stand auf und ging zu Zetkin, den sie genau in dem Moment erreichte, als er von seinem Stuhl sprang, den er für seine Rede bestiegen hatte. Er stützte sich leicht auf Warwaras Schulter und schien ihr aufmerksam zuzuhören. Sein Blick wanderte zu Clara Eißner. Er nickte, trat auf sie zu und reichte ihr die Hand. „Ossip Zetkin“, stellte er sich vor.

„Clara Eißner.“ Sie sah zu ihm auf. Er war gut einen Kopf größer als sie und sehr schlank. Seine dichten schwarzen Haare waren weit aus der hohen Stirn nach hinten gekämmt und fielen rechts und links bis zu seinen Ohren herab. Das ebenmäßige Gesicht war um das Kinn und unter der langen, geraden Nase von einem Bart umhüllt, der trotz der jungen Jahre des Mannes, schon graue Strähnen zeigte. Doch das eindrucksvollste in diesem klaren Gesicht waren die dunklen Augen. Clara konnte im Licht des düsteren Raums nicht erkennen, ob sie dunkelbraun oder gar schwarz waren. Er trug eine graue Jacke aus einem groben Stoff, darunter ein offenes weißes Hemd. Seine Stimme hatte einen weichen Klang: „Sie haben sicher nichts von dem verstanden, was ich gesagt habe.“

„Nein, und Warwara hat nur ein paar Sätze übersetzt. Viel zu wenige. Ich glaube, sie war zu gebannt von Ihrer Rede.“

Er lachte kurz auf, ohne dass sich der melancholische Ausdruck in seinem Gesicht verändert hätte. „Vielleicht holt sie es nach.“ Zetkin verbeugte sich ein wenig steif und schickte sich an, die Versammlung zu verlassen.

„Sie wollen schon gehen?“, fragte Clara.

„Was ich zu sagen hatte, habe ich gesagt. Die Debatten, die jetzt geführt werden, bringen uns nach all meinen Erfahrungen nicht weiter.“ Das schmale Lächeln um seinen dünnen Mund schien die Melancholie in seinen Augen noch zu verstärken.

„Kann ich Sie ein Stück begleiten?“ Clara war von dieser plötzlichen Idee selbst überrascht.

Zetkin sah sie an. „Wie bitte?“

„Ich habe ja von dem, was Sie gesprochen haben nichts verstanden, vielleicht können wir uns auf dem Weg noch ein wenig unterhalten.“

Warwaras Blicke wanderten zwischen den beiden hin und her. Sie glaubte, ihre sonst so zurückhaltende Freundin nicht wiederzuerkennen. „Ich möchte aber noch bleiben“.

Clara ging nicht darauf ein. „Gehen wir?“, sagte sie zu Ossip Zetkin. Er nickte nur und schritt voraus zur Tür. Dass Warwara ihr nachrief „Na dann, viel Glück, Clara“, hörte die Freundin schon nicht mehr.

 

Die schwere Eichentür fiel hinter den beiden zu. Plötzlich war es ganz still. Eine schartige Steintreppe führte aus dem Kellerraum, in dem die Versammlung stattgefunden hatte, zu einer dunklen Gasse hinauf. Ein heftiger Wind fegte über das Pflaster und trieb Staub, Papierreste und Baumblätter vor sich her. „Wo wohnen Sie denn?“, fragte Clara.

„Bei meinem Meister, dem Tischler Mosermann. Es ist gar nicht weit von hier.“ Zetkin marschierte los und Clara hatte Mühe Schritt zu halten. Kurzerhand hakte sie sich bei ihm unter, „sonst laufen Sie mir ja davon!“

Unwillkürlich verlangsamte er sein Tempo, und als sie fragte: „Worum ist es denn nun gegangen in Ihrer Rede?“, blieb er sogar stehen.

„Worum wohl? Um die Revolution, die hier, wie bei uns in Russland, unbedingt kommen muss.“

Clara legte den Kopf schief. „Ein bisschen allgemein, oder?“

„Es geht darum, dass die Arbeiterschaft ein Bewusstsein als Klasse entwickelt. Grade hier in Deutschland, der Heimat von Karl Marx. Deutschland erlebt eine dynamische industrielle Entwicklung … ja, ja, man sieht es erst in Ansätzen. Aber was da auf uns zukommt, verlangt dieses neue Bewusstsein der Arbeiter, vor allem der deutschen. Sie könnten die Speerspitze eines weltweiten Kampfes um die proletarische Emanzipation sein. Ich träume von einer …“ Er unterbrach sich, schüttelte den Kopf und sagte: „Ich halte schon wieder Reden.“

„Ja, aber was Sie sagen, interessiert mich. Ich besuche zwar nur ein Lehrerinnenseminar, trotzdem weiß ich, was Ausbeutung und Unterdrückung der arbeitenden Menschen bedeutet. Wovon träumen Sie?“

„Von einer Sozialistischen Internationale, und, glauben Sie mir, die wird kommen, mein Fräulein.“

„Clara“, sagte sie mit fester Stimme. „Ich heiße Clara!“

Sie gingen weiter. Der Wind nahm zu. Dunkle Wolkenfetzen wurden in schneller Fahrt über den mondhellen Himmel getrieben.

„Warwara hat erzählt, Sie stammen aus einer reichen Familie.“

„So, sagt sie das?“

„Stimmt es denn nicht?“

Diesmal blieb Zetkin nicht stehen. Im Gegenteil, seine Schritte wurden schneller. „Doch. Es ist eine jüdische Kaufmannsfamilie in Odessa, wirtschaftlich sehr erfolgreich.“

Clara sagte nichts darauf und Ossip Zetkin fuhr fort: „Schon als Schüler habe ich mich der Narodniki-Bewegung angeschlossen.“

„Narodniki …?“

„Auf Deutsch übersetzt heißt das etwa Volkstümler. Wir waren für soziale Gerechtigkeit und gegen das Zarenregime, verstehst du?“ Das „du“ war ganz selbstverständlich über seine Lippen gekommen.

„Hm“, machte Clara.

„Wir wurden von der Staatsmacht verfolgt, und wer nicht geflohen ist, landete in einem Straflager in Sibirien, wenn er nicht gleich liquidiert wurde.“

„Und hier sind Sie … - bist du frei?“

„Solange wir Sozialisten nicht verfolgt werden … - Aber das kann sich jederzeit ändern. Wilhelm Liebknecht glaubt, dass Bismarck die Sozialdemokratie früher oder später verbieten will.“ Der Name Liebknecht sagte Clara etwas. „Kennst du ihn denn?“

„Ja, ganz gut sogar“, diesmal war Ossip Zetkins Lächeln viel offener. „Ich habe das Glück, dass mir Wilhelm manchmal ganz gerne zuhört, wenn ich … - na ja, wenn ich meine Gedanken entwickle, und er hat einen aufgeweckten kleinen Sohn, der manchmal schon mitdiskutiert wie ein Erwachsener. Aber reden wir nicht weiter über mich. Du willst Lehrerin werden wie Warwara?“

„Ja, zum Glück habe ich ein Stipendium bekommen. Meine Lehrerin, Frau Schmidt …“

„Etwa Auguste Schmidt?“

„Du kennst sie?“

„Nein, aber ich weiß: Sie hat zusammen mit Louise Otto-Peters den Allgemeinen Deutschen Frauenverein gegründet. Eine hervorragende Sache! Es geht ja nicht nur um die Emanzipation der Arbeiter, sondern auch um die der Frauen.“ Er blieb wieder stehen und fasste nach Claras Händen. „Unsere Generation muss beides schaffen, Freiheit und Gleichheit für die Arbeiter und für die Frauen.“

Clara lachte. „Das würde meiner Mutter jetzt gefallen.“

„Deiner Mutter?“

„Ja, sie ist nämlich Mitglied des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins. Dabei ist sie Französin, eine geborene Vitale. Ihr Vater hat unter Napoleon gedient. Aber er hat ihn verflucht, als der sich zum Kaiser krönen ließ.“

Ossip fasste Claras Hände fester. „Das sind ja die besten Voraussetzungen, um bei uns mitzumachen.“

Clara entzog Ossip ihre Hände. „Ich weiß nicht. Später vielleicht.“

Kurz umfasste der großgewachsene Mann mit seinen beiden Händen ihr Gesicht. „Ich werde dich überreden.“

Es waren nur noch wenige Schritte bis zur Tischlerei Mosermann. Ossip zog seine Taschenuhr hervor und ließ den Deckel aufspringen. „Schon fast Mitternacht. Kann ich dich bis nach Hause begleiten?“

„Danke. Es sind ja nur noch ein paar Schritte. Wann fängst du denn morgens mit der Arbeit an?“

„Um sieben Uhr.“

„Ja, dann aber ab ins Bett!“ Sie drückte seine Hand, und ging mit schnellen Schritten davon.

„Sehen wir uns denn wieder?“, rief er ihr nach.

Sie drehte sich noch einmal kurz um. „Das will ich doch hoffen!“

 

Am nächsten Morgen nahm Clara nicht den direkten Weg zum Seminar, sondern richtete es so ein, dass sie an der Tischlerei Mosermann vorbeikam, obwohl es ein gutes Stück weiter war.

Ossip Zetkin arbeitete im Hof der Werkstatt an einem langen Vierkantholz, das auf zwei Böcken lag. Obwohl es an diesem frühen Morgen noch kühl war, trug er nur eine blaue Hose. Der nackte Oberkörper glänzte vom Schweiß. Weit vorgebeugt schob er einen schweren Hobel über das Holz. Breite Späne rollten sich auf und fielen zu Boden. Ossips Bewegungen folgten einem klaren Rhythmus, und Clara hörte, wie er leise dazu sang. Er bemerkte sie nicht. Sie hatte sich in einen Hauseingang auf der gegenüberliegenden Straßenseite zurückgezogen und beobachtete ihn fasziniert.

Der Meister kam aus der Werkstatt und trat zu ihm. Ossip Zetkin unterbrach seine Arbeit. Wie er nun so aufrecht dastand, seine Hände aneinander abklopfte und ein Gespräch mit dem Tischler Mosermann begann, wusste Clara, sie wollte diesen Mann so bald wie möglich wiedersehen.

 

Am nächsten Wochenende war sie es, die ihre Freundin Warwara, die eigentlich lieber die Aufführung eines kleinen Laientheaters sehen wollte, überredete, mit ihr zum Treffen der russischen Studenten zu gehen.

„Ist es wegen Ossip?“, fragte die Freundin.

Clara wurde rot. „Wie kommst du denn auf so was?“

Warwara lachte. „Du bist durchschaut, meine Liebe. Also mir wäre er zu dogmatisch und außerdem zu alt.“

„Zu alt?“

„Ja natürlich. Er ist sieben Jahre älter als wir.“

„Das würde mich nicht stören“, sagte Clara etwas zu schnell.

„Wobei denn?“, fragte Warwara mit einem spitzbübischen Lächeln.

Clara ging nicht darauf ein. „Und was meinst du mit ‚zu dogmatisch’?“

„Er redet doch über nichts anderes als über die Not der Arbeiter, über die vielen Ungerechtigkeiten, unter denen sie leiden und über die Notwendigkeit einer Revolution. Und dabei steigert er sich immer so rein und wird so fanatisch.“

„Fanatisch sagst du? Ich würde es überzeugend nennen.“

Warwara sah die Freundin an, legte den Kopf ein wenig schief und sagte: „Clara, Clara, ich fürchte, du hast dich verliebt.“

„Quatsch“, entfuhr es der anderen, und dabei wusste sie doch, dass Warwara recht hatte.

An diesem Abend verließen Clara Eißner und Ossip Zetkin wie selbstverständlich wieder gemeinsam die Versammlung. Es war einer der ersten warmen Frühlingstage. Sie gingen dicht nebeneinander. Im Hof der Tischlerei setzten sie sich auf einen rohen Baumstamm, der drauf wartete, in Bretter zersägt zu werden. Es roch nach warmer Erde, Harz und Holz. Auf dem Weg hatten sie nicht viel gesprochen. Jetzt sagte Ossip: „Was wirst du denn nach deinem Studium machen?“

„Ich weiß noch nicht. Vielleicht komme ich irgendwo als Privatlehrerin unter. Auf jeden Fall aber möchte ich mich politisch engagieren.“

„Aha? Und wo?“

„Bei den Sozialdemokraten natürlich. Und du bist schuld!“, antwortete Clara lachend.

„Das gefällt mir“, antwortete Ossip, legte seine Hand in ihren Nacken, zog sie zu sich heran und küsste sie.

 

Sie trafen sich nun öfter. Nicht nur bei den Versammlungen der russischen Emigranten und den Zusammenkünften der deutschen Sozialdemokraten, bei denen Ossip Zetkin hoch angesehen war. An manchen Sonntagen machten sie lange Spaziergänge durch die Wälder rund um Leipzig, oder sie verabredeten sich zu Wanderungen durch die Dübener Heide. In ihren Rucksäcken hatten sie belegte Brote und Wasserflaschen dabei. So auch an einem warmen Sonntag im Juni. Als sie sich zu einer Rast am Ufer eines Sees niederließen, dauerte es nicht lange, und sie waren wieder einmal in eine politische Diskussion verwickelt.

„Ich habe kürzlich einen Vortrag von August Bebel über die Frau und der Sozialismus gehört. Er arbeitet wohl an einem Buch zu diesem Thema. Bebel meint, dass Frauen in der Arbeiterklasse doppelt benachteiligt seien: Als Arbeiterinnen und als Frauen. Sie hätten unter der wirtschaftlichen Abhängigkeit aller Proletarier zu leiden und seien zudem von den Männern abhängig. Er glaubt fest daran, dass die Befreiung der Frauen nur durch die Lösung der sozialen Frage möglich sein wird.“ Zetkin sprang auf. „Die Frau in der neuen Gesellschaft wird sozial und ökonomisch vollkommen unabhängig sein, keiner Herrschaft und Ausbeutung mehr unterworfen. Sie steht dem Mann frei und gleich gegenüber. Ihre Erziehung wir gleich sein, wie die der Männer …“

Er wurde durch Claras fröhliches Lachen unterbrochen.

„Was ist?“, fragte er irritiert.

„Du hältst hier eine große Rede, und ich bin doch allein dein Publikum.“

„Entschuldige!“ Er ließ sich wieder neben sie ins Gras fallen.

„Du musst dich doch nicht entschuldigen. Ich finde spannend, was du sagst … - nur wie du es hier, mitten in der Natur … - wie soll ich sagen? Predigst!“

Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. „Manchmal reißt es mich einfach fort. Es sind nun mal sehr wichtige Gedanken. Sieh mal, es gibt zwar die bürgerliche Frauenbewegung …“

„Zu der auch meine Mutter gehört“, warf Clara ein.

Ossip fuhr unbeirrt fort: „Sie stellt immer nur neue formale rechtliche Forderungen auf. Das ist zu wenig. Es genügt doch nicht, irgendwelche Gesetze zu machen, die Frauen formal den Männern gleichstellen, wenn für die große Masse der Frauen die gesellschaftliche Versklavung weiter besteht.“

„Du musst mich nicht überzeugen“, sagte Clara. „Ich weiß doch, dass die Frauen wirtschaftlich von ihren Ausbeutern abhängig bleiben, egal, ob es nun die Vorgesetzten sind, oder die Ehemänner, die ja auch meistens so tun, als wären sie unsere Vorgesetzten. Das muss man ändern!“

Ossip nahm sie in die Arme. „Ich muss dich offensichtlich gar nicht überzeugen.“ Leise sagte er: „Eine Frau wie dich habe ich immer gesucht. Ich liebe dich!“

Clara küsste ihn, legte sich zurück ins Gras und lächelte glücklich. Ossip stand auf und ging die wenigen Schritte zum Seeufer hinab. Clara sah ihm aus halb geschlossenen Augen nach. „Er ist ein so sanft wirkender Mann“, hatte Mosermann neulich zu ihr gesagt, „aber er hat einen stählernen Willen. Ich lerne viel von ihm, und umgekehrt sei es genauso. Und da meine ich nicht die Tischlerei. Seitdem ich Lehrling war, beschäftige ich mich mit der sozialen Frage.“

„Dann sind Sie also auch Sozialdemokrat?“

„Ja, aber ich rede nicht darüber“, hatte der Tischlermeister geantwortet, „das wäre mir in diesen Zeiten zu gefährlich. Ich kann ja nicht ins Exil gehen, wenn es mal hart auf hart kommt. Was soll dann aus meinem Betrieb werden?“

Mosermanns Ahnungen sollten sich bestätigen. Es kam, wie Wilhelm Liebknecht vorhergesagt hatte: Nachdem Bismarck 1880 die Sozialistengesetze durchgesetzt hatte, wurde Ossip Zetkin auf einer Versammlung mit August Bebel und Wilhelm Liebknecht festgenommen und als „lästiger Ausländer“ abgeschoben. Er ging nach Paris.

Clara war 21 Jahre alt, Ossip 28. Sie versprachen sich gegenseitig, auch wenn sie nun erst einmal getrennt sein würden, für immer zusammenzubleiben.

 

1882 ff. - Pariser Exil

„Ihr könnt euch das nicht vorstellen. Es war noch ganz früh am Morgen. Ich stehe in der Küche und bade Kostja, mein Baby. Maxim, der Zweijährige, ist als nächster dran. Plötzlich klopft es an der Tür.“ Clara lachte kurz und unfroh auf. „Es war die Polizei. ‚Sie müssen auf der Stelle die Wohnung räumen’, sagt ein Beamter.“

„Das gibt’s doch nicht!“, rief einer ihrer Zuhörer entsetzt.

„Und ob es das gibt! Natürlich sage ich sofort: ‚Unmöglich!’ und frage: ‚Warum denn?’“

„,Sie sind seit Monaten die Miete schuldig’, blafft mich einer von denen an.

Alles Reden hilft nichts. Ossips Honorar für eine größere Übersetzung war nicht gekommen. Ich konnte kaum etwas arbeiten, so kurz nach Kostjas Geburt. Wir hatten nichts. Und was wir besaßen, mussten wir dalassen. Selbst die Wäsche für die Kinder wurde beschlagnahmt. Und ich durfte nicht mehr als meinen Unterrock, eine Jacke und mein cache-misère mitnehmen, eben das, was ich gerade anhatte. Und so standen wir auf der Straße. Ich mit Maxim an der Hand und Kostja auf dem Arm. Die nächsten Stunden verbrachten wir drei auf einer Parkbank. So fand uns Ossip. Er versuchte sofort, Geld aufzutreiben.“

Die Freunde, denen Clara ein paar Monate später diese Geschichte erzählte, waren voller Mitgefühl. „Hat er denn etwas gefunden?“, fragte eine junge Frau.

„Na ja, erstmal nicht. Irgendwann gelang es Ossip, bei Freunden Geld zu borgen und für ein paar Tage ein Zimmer zu mieten. Das sollte aber leider erst am Abend frei werden, wenn endlich der Vormieter seinen Zug nach Lyon erreichen konnte. Doch als wir zu viert vor der Wohnungstür standen, schrie die Hauswirtin in ihrem höchsten Diskant: ‚Das kommt überhaupt nicht in Frage! Der Herr hat ja Familie!’ Darauf Ossip, nun wirklich empört und ebenso laut, was bei ihm ja selten vorkommt: ‚Liebe Frau, ich habe Ihnen doch beim Mieten gesagt, dass ich verheiratet bin!’ Darauf die liebe Frau: ‚Jawohl, das haben Sie gesagt: Verheiratet. Und Sie können das Zimmer auch haben mit Ihrer Frau, wegen mir mit zwei Frauen oder zehn – aber nicht mit kleinen Kindern! Das hier ist ein anständiges Haus!’ Es war nichts zu machen.“

„Schrecklich“, rief eine der Freundinnen, eine andere: „Widerlich!“

„Da standen wir nun wieder auf der Straße. Mittlerweile war es spät geworden. Zum Glück schliefen die Kinder in meinen Armen ein. Ossip ging wieder auf die Suche und traf wohl rein zufällig eine Bekannte, eine russische Revolutionärin, die gerade aus der Verbannung in Sibirien nach Paris gekommen war. Sie trat uns ihr Zimmer ab und kam selbst bei einer Freundin unter.“ Clara schmunzelte. „Dagegen leben wir hier jetzt geradezu luxuriös. Zwei Zimmer, Küche, vierter Stock.“

„Das wäre unter der Commune nicht passiert“, sagte einer in der Runde, „sie hat ja ausdrücklich die Verpfändung von Kleidungsstücken, Wäsche und Möbeln verboten.“

„Aus der Wohnung hättet ihr auch nicht vertrieben werden können.“

Clara nickte. „Stimmt! Aber wichtiger war noch, dass Frauen das Recht auf Arbeit und auf den gleichen Lohn wie die Männer bekommen sollten.“

„Und was ist uns davon geblieben?“, fragte eine junge Frau traurig.

„Wir müssen weiterkämpfen“, gab Clara zurück.

Wie an vielen Abenden saßen in der kleinen Wohnung fast ein Dutzend Freunde, die meisten auf dem Boden, ein Glas Wein in der Hand und in mehr oder weniger anspruchsvolle Gespräche vertieft. Clara und Ossip mochte es schlechtgehen, aber sie waren immer bereit, ihre Freunde und Genossen zu empfangen und das Wenige, was sie hatten, mit ihnen zu teilen.

 

Clara war Ossip ein Jahr nach dessen Ausweisung aus Deutschland gefolgt. Die beiden hatten sich regelmäßig geschrieben. Claras Sehnsucht nach dem Geliebten war groß und war in den Monaten der Trennung immer stärker geworden. Ihm erging es nicht anders. In jedem seiner Briefe hatte Ossip gefragt: Wann kommst du endlich?

Clara, die inzwischen nach Zürich gezogen war, lebte dort bei ihrer Freundin Warwara, die zur Fortsetzung ihrer Studien von Leipzig in die Schweiz übergesiedelt war, weil nur dort Frauen an der Universität studieren durften. Die Russin hatte ihre Freundin eingeladen und ohne Umstände bei sich aufgenommen. Und auch jetzt war es wieder Warwara, die Clara in einen Zirkel politischer Emigranten einführte, wie damals, als sie noch auf das Lehrerinnenseminar in Leipzig gingen. Diesmal waren es Deutsche, die seit Bismarcks Sozialistengesetz von1878 im Exil lebten. Darunter der bekannte marxistische Theoretiker und Herausgeber der Zeitschrift ‚Der Sozialdemokrat’ Eduard Bernstein und der Verleger des Blattes Heinrich Dietz. Über die beiden fand Clara Eißner ihren ersten Kontakt zu Friedrich Engels in London.

Während der wenigen Monate in Zürich bildete sie sich in den Kursen Bernsteins weiter und stellte sich furchtlos der „Roten Feldpost“ zur Verfügung, einer Organisation, die auf verschlungenen Wegen illegale politische Literatur nach Deutschland schmuggelte.

Clara begann zu schreiben, aber noch traute sie sich nicht, ihre Artikel einer Zeitschrift anzubieten. Je intensiver sie sich mit ihrem Hauptthema, den Frauenrechten, beschäftigte, umso mehr hatte sie das Gefühl, ihre eigenen Erkenntnisse reichten noch nicht aus, um sie unter die Leute zu bringen. Aber sie würde ihr Ziel irgendwann erreichen. Zu ihrer Freundin Warwara sagte sie: „Eines Tages wird es mir gelingen, die Menschen davon zu überzeugen, dass die Gleichheit zwischen Männern und Frauen unausweichlich ist.“

Das Leben in der Schweiz war aufregend, und wirtschaftlich ging es Clara nicht schlecht. Dennoch fühlte sie sich unglücklich, weil ihr der geliebte Ossip Zetkin so sehr fehlte. Wie gerne hätte sie die Gedanken, die sie Tag und Nacht umtrieben, mit ihm geteilt.

 

Als Clara dann endlich im Herbst 1882 in Paris eintraf, empfing sie ein glücklicher Freund. In seinem ärmlichen Dachstübchen in Montmartre hatte er auf dem wackligen Tisch ein bescheidenes Festmahl aus Baguette, der neuen Weißbrotsorte, die Paris im Sturm erobert hatte, Käse und Rotwein vorbereitet. Zwei Kerzen gaben ein freundliches mildes Licht. Aber Clara begriff sofort, dass selbst dies eine große Ausnahme war. Sie musste feststellen, dass er in absoluter Armut lebte, ohne Aussicht auf Besserung. Da Ossips Einkünfte aus gelegentlichen Übersetzungen kaum für ihn selbst ausreichten, musste sie sofort nach Arbeit suchen. Clara gab wenige schlecht bezahlte Stunden in Deutsch (wer wollte schon in Frankreich nach der schmählichen Niederlage im Siebziger Krieg die Sprache des Feindes lernen?), fertigte gelegentlich Übersetzungen an und arbeitete als Wäscherin in fremden Haushalten. In den seltenen Stunden, die sie für sich allein hatte, füllte sie Seite um Seite in ihrem Notizbuch mit ihren Überlegungen zum Thema Freiheit und Gleichheit der Frauen.

 

Ossip und Clara erlebten in dieser ersten Pariser Zeit wunderbar glückliche Tage ihrer großen Liebe. Ohne zu zögern nahm Clara den Namen Zetkin an, was nach französischem Namensrecht möglich war, ohne dass man heiratete.

In dieser Zeit fielen die ersten kleinen Erfolge Claras als Autorin. Erste Artikel erschienen in verschiedenen europäisch Zeitungen, die den Sozialisten nahestanden und brachten ab und zu ein schmales Honorar ein, das der Haushaltskasse guttat. Clara bestritt in ihren Aufsätzen nicht, dass es aufgrund des Geschlechts Verschiedenheiten zwischen Männern und Frauen gebe. Aber die Frauen, so schrieb sie, müssten ihre Tätigkeiten und Gebiete wählen dürfen, die ihren Wünschen, Neigungen und Anlagen entsprechen, und zwar unter den gleichen Bedingungen wie die Männer.

Theorie und Praxis waren allerdings auch für Clara Zetkin nicht immer überein zu bringen. Neun Monate nach ihrer Ankunft in Paris wurde ihr Sohn Maxim geboren. Nach weiteren anderthalb Jahren kam Maxims Brüderchen Konstantin zur Welt, den sie von Anfang an nur Kostja nannten.

An Warwara schrieb sie: Ich bin Hofschneider, Koch, Wäscherin etc., kurz: Mädchen für alles. Dazu kommen noch die beiden Pipiptschlinge, die mir keine ruhige Minute lassen. Schreibe ich an einem Aufsatz, der meine ganze Konzentration erfordert, muss ich Nummer 1 die Nase putzen, setze ich mich dann wieder zum Schreiben hin, will Nummer 2 abgefüttert werden. Dazu kommt noch die Misere eines Bohèmelebens, für das ich nicht gemacht bin. Ossip und ich sind eingebunden in vier verschiedene revolutionäre Zirkel. Du kannst dir vorstellen, liebe Warwara, dass wir buchstäblich keinen Abend für uns haben. Und jetzt wirst du fragen: Wo bleiben die Kinder? Zu den Abendterminen nehmen wir sie mit. Wir können sie ja nicht alleine lassen. Meist schlafen sie in einem Nebenzimmer, während unsere lautstarken Diskussionen toben. Aber trotz der ganzen Misere sind wir glücklich, Ossip und ich. Denn Arbeit und Kampf lassen uns Flügel wachsen, die uns empor tragen. Arbeit und Kampf sind der Pulsschlag unseres Lebens.

 

Die Strapazen gingen nicht spurlos an Clara vorüber. Sie wurde von immer stärker werdenden Hustenanfällen geschüttelt. Fieberschübe kamen und gingen. Sie wurde immer schwächer. Endlich rief Ossip eine befreundete russische Ärztin, und die diagnostizierte den Beginn einer Tuberkulose. Sie riet Clara dringend, sich für einige Zeit der ständigen Überforderung zu entziehen.

„Wie soll ich das machen, ohne einen Franc?“, fragte Clara.

Schon ein paar Tage später traf überraschend eine großzügige Überweisung von Heinrich Dietz über 100 Mark für einen ihrer Artikel ein. Das entsprach dem Verdienst einer Arbeiterin von mehr als zwei Monaten. Zudem schickte Claras Bruder Arthur, der wie sein Vater Lehrer geworden war, etwas Geld und lud sie nach Leipzig ein. Fahrtkosten und Unterbringung wollte er übernehmen.

Clara stieg mit ihren beiden Kindern am Bahnhof Gare de l’Est in den Zug nach Deutschland. 22 Stunden später erreichten sie den Hauptbahnhof Leipzig.

 

1886 - Wieder daheim

„Endlich, endlich“, kaum diese zwei Worte brachte Mutter Josephine heraus, als Clara mit den Kindern – Maxim rechts an der Hand und den einjährigen Kostja auf dem Arm – vor ihr stand. Arthur hatte die drei vom Bahnhof abgeholt. Er hatte es sich verkniffen, irgendeine Bemerkung über das schlechte Aussehen seiner Schwester zu machen. Mager war sie geworden, geradezu verhärmt sah sie aus. Kleid, Mantel und Schuhe waren abgetragen. Arthur wurde klar, dass die Zetkins in Paris weder genug zu essen hatten, noch dass es für etwas Vernünftiges zum Anziehen reichte. Man musste sehen, wie man Clara und ihre Söhne etwas aufpäppeln konnte. In Gedanken überschlug er seine Ersparnisse und seine Einkünfte, die grade mal so für ihn selbst und seine Mutter reichten. Für ein paar Wochen würde es wohl gehen.

 

Josephine Eißner war jede Art von Sentimentalität in ihrer Kindheit vom strengen Vater ausgetrieben worden. Er hatte es nie verleugnen können, dass er einstmals als Offizier unter Napoleon gedient hatte. Aber als sie nun ihre Tochter Clara in die Arme schloss, kämpfte sie doch mit den Tränen. Sie küsste die Enkel, mit denen sie sich, zumindest was den aufgeweckten zweijährigen Maxim betraf, gut auf Französisch unterhalten konnte, und bat die ganze Familie herein, wo schon das Mittagessen auf dem Tisch stand, ein Rinderbraten, was in ihrem Haus auch nicht alle Tage vorkam.

Natürlich fiel auch Josephine auf, dass es ihrer Tochter in Paris nicht gutgehen konnte. Wie eine Dreißigjährige sah sie nicht aus, und als sie Grüße von Ossip ausrichtete, fragte sich die Mutter, wie schon so oft in den vergangenen Jahren, ob sie diese Verbindung nicht hätte verhindern können. Ihr war von Anfang an klar gewesen, dass Ossip niemals eine gute Partie sein würde, schon weil er gar keine gute Partie sein wollte. Jemand, der aus den besten Kreisen kommt und sich wegen irgendeiner abstrakten Vorstellung von Gerechtigkeit partout als Hilfsarbeiter durchs Leben schlagen will - verstehe, wer das wolle. Josephine jedenfalls verstand es nicht, obwohl sie selbst doch einstmals diesen Habenichts aus Wiederau geheiratet hatte. Aber ihrer klugen Tochter hätte sie doch ein besseres Leben gewünscht.

 

Clara erholte sich schnell. Maxim fand ebenso schnell Spielkameraden unter den Nachbarkindern, und schon bald begann er Deutsch zu radebrechen. Seine Mama war selig, wieder in Leipzig zu sein. Sie machte die Runde bei den Freundinnen von früher, die alle begierig waren, etwas aus der großen Welt zu erfahren. Clara blieb meist im Allgemeinen. Von den Ereignissen, die ihr auf den Nägeln brannten, den großen Kongressen der internationalen Arbeiterbewegung zum Beispiel, wollten ihre Freundinnen nichts wissen, und die mondänen Welten der Mode und des Luxus waren Clara fremd, schon weil ihr das Geld dafür fehlte.

Einer ihrer ersten Wege führte sie in die Werkstatt des Meisters Mosermann, in dessen Tischlerei vor Jahren Ossip Zetkin gearbeitet hatte. Der kluge Handwerker hatte dem russischen Studenten damals nicht nur die Grundbegriffe der Schreinerei beigebracht, sondern er hatte ihn auch zu einem kundigen Marxisten erzogen. „Nicht alle Genossen müssen tischlern können, aber alle Tischler müssen die Grundbegriffe des dialektischen Materialismus kennen“, pflegte der Handwerksmeister zu sagen. Ossip hatte schnell die Grundlagen des Marxismus gelernt, und Clara wiederum hatte von Ossip gelernt. Und so sagte sie eines Tages lachend zu Mosermann: „Weißt du, dass ich eine Enkelschülerin bin von dir?“ Mosermann freute sich sichtlich darüber und forderte die junge Mutter prompt auf, doch einmal zu einem der heimlichen Treffen der Sozialdemokraten, die sich seit Bismarcks Verbot nicht mehr öffentlich stattfinden durften, mitzukommen, und als weitgereiste Genossin zu erzählen, was sie inzwischen über den Sozialismus gelernt hatte. Immerhin war sie in Paris eine enge Vertraute der Lafargues geworden, Tochter und Schwiegersohn des großen Karl Marx.

Und so kam es, dass sich Clara eines Abends zusammen mit Mosermann zu einer illegalen Versammlung sozialdemokratischer Arbeiter und ihrer Frauen in einer versteckten Hütte mitten in einer Kleingartenanlage auf den Weg machte. Die Leute, es mochten 20 oder 25 sein, saßen dicht gedrängt in dem engen Raum und schauten ihr erwartungsvoll entgegen. Mit zitternden Knien stieg sie auf das improvisierte Podium, räusperte sich ein paar Mal und begann stockend und viel zu leise zu reden, bis von hinten Rufe kamen: „Lauter, Mädchen!“ Prompt blieb sie stecken, verlor den Faden und wusste nicht weiter. „Ich hatte das Gefühl, als ob das Pult mit mir in die Luft ginge“, sagte sie später zu Mosermann. „Wenn du mich nicht gerettet hättest …“ Mosermann winkte ab. „Ich hab doch nur gesagt: Ruhig bleiben, weiterreden!’ Und es war dann doch auch ein richtiger Erfolg.“

 

Dieser ersten Rede folgten viele weitere, alle heimlich in Lauben von Schrebergärten, in Arbeiterwohnungen, in abgelegenen Waldlokalen. Immer in der Gefahr, von der Polizei entdeckt zu werden. Deshalb durften auch ihr Bruder und ihre Mutter nichts davon erfahren.

Und Clara wurde zunehmend sicherer, ihre Vorträge gerieten immer lebhafter. Die junge Frau zeigte mehr und mehr Freude am Reden selbst, an der Rhetorik, die sie ja schon als Schülerin im Lateinunterricht gelernt hatte. Und sie spürte von Mal zu Mal, wie ihr alles flüssiger und freier von der Zunge ging, wie nicht nur die Inhalte ihrer Reden auf ein Echo stießen, sondern auch die Art ihres Vortrags. Es kamen auch immer mehr Frauen zu ihren Vorträgen, weil sich herumgesprochen hatte, dass Clara in ihren Reden gerade auf ihre Belange, ihre Forderungen einging. Sie hielt den Leipzigerinnen als Vorbilder die Revolutionärinnen der Pariser Commune vor Augen, die Barrikadenkämpferinnen, die sie kennengelernt hatte:

Es gilt vorwärtszustürmen. Die von allen Seiten eingeschlossene Commune hatte nur Aussicht auf den Tod; sie konnte nichts, als tapfer sein, und das war sie. Sie hat der Zukunft das Tor weit aufgerissen; die Zukunft wird hindurchschreiten. Und im Geiste der vielen Frauen, die damals auf den Barrikaden kämpften, sind wir sozialistischen Frauen von einer stolzeren Rasse, als es Königinnen sind. Königinnen mögen zu Kreuze kriechen, sozialistische Frauen kriechen nicht zu Kreuze. Sie kämpfen für den Umsturz der Gesellschaft, deren Ketten den Leib bedrücken, dem Geist die Flügel knicken; sie tragen Stein um Stein zum endlichen Aufbau der sozialistischen Ordnung bei. Und sie wissen, dass sie in diesem ihrem Tun unsterblich weiterleben. So wie die Frauen der Commune.

Manchmal, wenn sie so von ihrer eigenen Rede fortgerissen wurde, dachte sie danach, ein bisschen weniger Pathos wäre wohl besser gewesen. Aber dann erinnerte sie sich an die Begeisterung ihrer Zuhörer, vor allem ihrer Zuhörerinnen. Und das nächste Mal redete sie sich wieder genauso in Feuer.

 

An einem dieser Abende zählte auch Wilhelm Liebknecht zu ihren Zuhörern. Nachdem ihre Rede zu Ende war, und die Zuhörer aufgehört hatten, zu applaudieren, war er mit zwei Biergläsern auf sie zugetreten. „Ich habe schon viel von dir gehört, aber dein Auftritt heute Abend hat alles übertroffen, was man sich so über dich erzählt.“ Er reichte ihr eines der Gläser. „Prost, Genossin Clara!“ Sie tranken sich zu und redeten an diesem Abend noch lange miteinander.

 

Meist hatte Clara ihre Kinder dabei, Kostja wurde gewöhnlich von einem Genossen getragen und ließ sich das gerne gefallen. Er war ein unkompliziertes Kind, meist fröhlich und guter Dinge, solange seine Mama in der Nähe war. Während ihres Vortrages und der sich anschließenden Diskussion wurden die beiden Kleinen schlafen gelegt und nach der Versammlung nach Hause getragen.

 

Eines späten Abends nach einer hitzigen Versammlung hatte Josephine auf ihre Tochter und die zwei Enkel hinter der Wohnungstür gewartet, bis ihre Begleiter im Dunkel der Nacht verschwunden waren.

„Ach, du bist noch auf? Haben wir dich geweckt?“ Claras Stimme klang besorgt.

„Es ist zwar ein bisschen albern, wenn eine alte Mutter ihre dreißigjährige Tochter fragt, wo sie herkommt zu so später Stunde, aber du wirst mich schon richtig verstehen. Bring erst mal die Kleinen ins Bett, sie sind doch völlig übermüdet. Ich mache uns einen Tee. Wir müssen miteinander reden, Kind!“

Als sich die beiden Frauen später in der Küche trafen, sagte Clara: „Ich habe mich mit Genossen von früher getroffen, Mama, du musst dich nicht beunruhigen.“

„Natürlich beunruhige ich mich. Die Gefängnisse sind voll von Leuten, die du deine Genossen nennst. Das ist leichtfertig von dir. Denk an die Kinder.“

Es trat eine kleine Pause ein, in der Josephine sorgfältig den Tee aufgoss und so tat, als wäre sie ausschließlich auf dieses Geschäft konzentriert.

„Der muss noch etwas ziehen.“ Sie setzte sich auf den zweiten Stuhl und sah ihre Tochter nachdenklich an. „Ich habe mich gefragt, woher du diesen aufrührerischen Geist hast. Von deinem Vater sicher nicht.“

Clara lächelte. „Nein, dann schon eher von dir, Mama. Oder von deinem Vater. War der nicht beim Sturm auf die Bastille dabei?“

„Das nun gerade nicht. Aber mit Napoleon ist er so lange durch die Welt gezogen, bis der sich zum Kaiser krönen ließ. Davor allerdings kämpfte er unter Bonapartes Befehl für egalité, fraternité und liberté.“

„Darum geht es immer noch.“

„Aber es steht nirgendwo geschrieben, dass du das alles durchsetzen musst, du, eine Frau mit zwei kleinen Kindern.“

„Ich hab das doch von dir, chère maman“, Clara klopfte mit ihren Fingern den Takt einer Melodie auf den Tisch.

Josephine nickte. „Ich weiß … die Marseillaise?“

„Ja, du hast den Takt immer an die Fensterscheibe bei uns in Wiederau getrommelt. Das habe ich nie vergessen! Den Traum von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hast doch auch du geträumt, Mama! Du warst es, die im Ort den Mädchenturnverein gegründet hat. Und den Frauenverein.“

Tatsächlich hatte die geborene Josephine Vitale, spätere Frau Eißner, zu den Ersten gehört, die sich in Frauenvereinen organisierten und für die Gleichberechtigung zu kämpfen begannen. Oft zitierte sie damals ihren Vater: „Revolution braucht Leidenschaft und kaltes Blut zu gleichen Teilen, wenn sie erfolgreich sein soll.“ Je älter sie allerdings wurde, desto ferner rückten ihr revolutionäre Gedanken. Nicht dass sie die Verhältnisse, wie sie in Leipzig und so ähnlich im ganzen Reich herrschten, vorbildlich gefunden hätte, aber mit ihren nunmehr 60 Jahren glaubte sie nicht mehr daran, dass sich durch Gewalt etwas ändern ließe.

---ENDE DER LESEPROBE---