Claudius Bombarnac - Jules Verne - E-Book

Claudius Bombarnac E-Book

Jules Verne.

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Beschreibung

Der Reporter Claudius Bombarnac berichtet im Auftrag der französischen Zeitschrift XX. Jahrhundert über seine Eindrücke vom Leben in Georgien und der Hauptstadt Tiflis. In Tiflis erhält er per Telegramm den Auftrag, mit der neueröffneten Groß-Transasiatischen-Bahn von Uzan-Ada am Ostufer des Kaspischen Meeres nach Peking zu fahren und dem XX. Jahrhundert über seine Reiseerlebnisse zu berichten. Claudius Bombarnac fährt mit dem Zug nach Baku und überquert mit dem Dampfschiff das Kaspische Meer. Auf seiner Reise lernt er den Amerikaner Fulk Ephrinell und die Britin Horatia Bluett kennen, die im Kaiserreich China Handel treiben wollen. Während der Überquerung des Kaspischen Meeres bemerkt der Reporter auf dem Schiff eine große Kiste, in der Kiste sitzt ein blinder Passagier. In Uzun-Ada lernt Claudius Bombarnac weitere Reisende kennen, die ebenfalls nach Peking fahren. Später wird ein weiterer Waggon an den Zug gehängt. Claudius Bombarnac findet heraus, dass sich in dem Waggon ein Sarkophag mit der Leiche des Mandarins Yen-Lu befindet, und telegraphiert diese Neuigkeit an seine Redaktion. Außerdem steigen zwei weitere Passagiere zu. Plötzlich wird der Zug von Banditen unter Führung des berüchtigten Ki Tsang überfallen. Die Reisenden setzen sich zur Wehr, aber erst als Seigneur Faruskiar den Anführer im Zweikampf tötet, fliehen die Räuber. Am letzten Abend der Reise besucht Claudius Bombarnac Kinko wieder einmal in seinem Versteck. Zufällig belauschen sie dabei ein Gespräch zwischen Ghangir und Seigneur Faruskiar, man will den Schatz stehlen. Er plant, den Lokführer und den Heizer zu ermorden, den Zug auf eine Nebenstrecke umzuleiten und einen halbfertigen Viadukt hinunterstürzen zu lassen. Claudius Bombarnac und Kinko können zwar nicht verhindern, dass die Besatzung der Lokomotive ermordet und der Zug umgeleitet wird, bringen jedoch die Lokomotive kurz vor Erreichen des Viadukts zum Stehen. Seigneur Faruskiar und Ghangir sind verschwunden.

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Jules Verne

Claudius Bombarnac

Notizbuch eines Reporters.

Inhalt

Erstes Capitel.

Zweites Capitel.

Drittes Capitel.

Viertes Capitel.

Fünftes Capitel.

Sechstes Capitel.

Siebentes Capitel.

Achtes Capitel.

Neuntes Capitel.

Zehntes Capitel.

Elftes Capitel.

Zwölftes Capitel.

Dreizehntes Capitel.

Vierzehntes Capitel.

Fünfzehntes Capitel.

Sechzehntes Capitel.

Siebzehntes Capitel.

Achtzehntes Capitel.

Neunzehntes Capitel.

Zwanzigstes Capitel.

Einundzwanzigstes Capitel.

Zweiundzwanzigstes Capitel.

Dreiundzwanzigstes Capitel.

Vierundzwanzigstes Capitel.

Fünfundzwanzigstes Capitel.

Sechsundzwanzigstes Capitel.

Siebenundzwanzigstes Capitel.

Erstes Capitel.

Tiflis.

Transkaukasien.

So lautete die Unterschrift einer Depesche, die mir am 13. Mai bei der Ankunft in Tiflis ausgehändigt wurde.

Diese Depesche hatte folgenden Inhalt:

»Alles übrige aufgebend wird Claudius Bombarnac am 15. dieses im Hafen Uzun-Ada, Ostküste des Caspisees, eintreffen. Hier durchgehenden Zug der Groß-Transasiatischen Bahn zwischen Grenze Europas und Hauptstadt Chinas benutzen. Reiseeindrücke berichten; interessante Persönlichkeiten interviewen, auch kleinste Erlebnisse je nach Bedarf durch Draht oder Brief mittheilen.

›XX. Jahrhundert‹ rechnet auf Eifer, Verständniß, Thätigkeit, Gewandtheit seines Berichterstatters, dem es unbegrenzten Credit eröffnet.«

An demselben Morgen also, wo ich in Tiflis mit der Absicht eintraf, hier drei Wochen zu verweilen, um die Provinzen Georgiens im Interesse meines Journals und – wie ich hoffte – zur Befriedigung seiner Leser zu besuchen, machte mir der galvanische Draht diesen Strich durch die Rechnung.

Das ist so ein Zwischenfall, eine Laune des Schicksals im Leben eines wandernden Reporters.

Jener Zeit standen die Bahnlinien Rußlands bereits mit der Poti-Tiflis-Baku-Bahn in Verbindung. Nach langer interessanter Fahrt durch die russischen Südprovinzen, hatte ich den Kaukasus überschritten und hoffte nun in der Hauptstadt Transkaukasiens einmal ordentlich Athem zu schöpfen .... Da ... da gestattete mir die befehlerische Verwaltung des »XX. Jahrhundert« nicht mehr als einen halbtägigen Aufenthalt in dieser Stadt. Kaum ausgestiegen, war ich gezwungen, weiter zu reisen, ohne daß mir die Zeit gegönnt blieb, einmal meinen Handkoffer aufzuschließen. Ja, was meinen Sie? Den Forderungen der Berichterstattung, dem letzt modernen Zwange des Interviews, muß man sich wohl oder übel fügen.

Ich war für das transkaukasische Gebiet sorgsamst vorbereitet und mit bezüglichen geographischen und ethnologischen Hilfsmitteln reichlich versehen. Bemühen Sie sich einmal erst, zu lernen, daß die turbanartige Pelzmütze, mit der sich hier die Bergbewohner und die Kosaken den Kopf bedecken, »Papakha« heißt; daß der um die Lenden eingezogene Rock, an dessen Seiten Patronentaschen hängen, von den Einen »Tscherkeska«, und »Bechmet« von den Andern genannt wird! Seien Sie einmal in der Lage, behaupten zu können, daß der Georgier und der Armenier sich mit zuckerhutförmiger Filzmütze bedecken daß die Kaufleute die »Tulupa«, d.i. einen Pelz aus Schaffell anlegen, daß der Kurde und der Parsi noch die »Burka«, einen aus plüschähnlichem Gewebe bestehenden und durch Appretur wasserdicht gemachten Mantel tragen!

Und der Kopfputz der schönen Georgierinnen, der »Tassakravi«, hergestellt aus leichtem Bande, flockigem Schleiergewebe und seinem Musselin, der das reizende Gesicht der Frauen einrahmt; und ihre Kleider von leuchtender Farbe mit weit offenen Aermeln; ihre an die Taille geknöpften Unterkleider; der sammtene, mit Pelz verbrämte und mit Goldschnüren geschmückte Winterüberwurf; ihr Sommerumhang aus weißer Baumwolle; der »Tschadre«, den sie am Ellenbogen eng zusammenziehen – kurz alle diese Eigenthümlichkeiten der Nationaltracht, die ich in meinem Notizbuche schon sorgsam angemerkt habe, was beginne ich nun mit diesen? Es geschieht dem »XX. Jahrhundert« ganz recht, daß ich es nun nicht damit ausschmücken kann.

Lernen Sie nur einmal erst, daß die volksthümlichen Orchester bestehen: aus »Zurnas«, das sind scharf klingende Flöten; aus »Salamuris«, das sind schreiende Clarinetten; aus Mandolinen mit kupfernen Saiten, die mit einer Feder angerissen werden; aus »Tchianuris«, das sind Violinen, auf denen der Bogen in ganz senkrechter Richtung streicht, und aus »Dimplipetos«, einer Art Cymbeln, die ein Klappern wie das von Hagelkörnern an der Fensterscheibe hervorbringen.

Haben Sie erst einmal gelernt, daß der »Schaska« ein Säbel ist, der an einem, mit silbernen Nagelköpfen und Stickereien verzierten Bandelier hängt; daß der »Kindjall« oder »Kandjar« einen durch den Gürtel gesteckten Dolch darstellt, und daß die Ausrüstung des Soldaten vom Kaukasus durch eine lange Flinte mit Damascenerlauf vervollständigt wird.

An demselben Morgen, wo ich in Tiflis eintraf ...

Und nun, da ich mir mein Georgien so sorgsam »eingetrichtert« habe, nun zwingt mich ein Ukas, es zu verlassen! Nicht einmal so viel Zeit wird mir übrig bleiben, um den Berg Ararat zu besuchen, jene Stelle, auf der am vierzigsten Tage der Sindfluth die Arche Noah's, das primitive flachbodige Schiff des berühmten Patriarchen, sitzen blieb! Ich muß Verzicht leisten auf die Veröffentlichung meiner Reiseeindrücke aus Transkaukasien, und verliere dabei mindestens tausend Druckzeilen, zu denen ich die zweiunddreißigtausend Wörter unserer Sprache – so viele hat die französische Akademie amtlich festgenagelt – zur Verfügung gehabt hätte.

»Sie wollen nach Baku?«

Das ist hart, doch nicht dagegen anzukämpfen.

Nun zunächst ... um wieviel Uhr geht der Zug von Tiflis nach dem Caspischen Meere ab?

Im Bahnhofe von Tiflis münden drei Bahnlinien ein, die westliche, die bis Poti am Schwarzen Meere hinführt, d.h. nach dem Hafen, in dem die aus Europa kommenden Reisenden landen; die östliche, d.i. die nach Baku, dem Einschiffungsplatze für die Fahrt über den Caspisee, und endlich die Eisenbahn, die die Russen in einer Länge von hundertvierundsechzig Kilometern zwischen Ciskaukasien (Circassien) und Transkaukasien, von Wladikavkaz nach Tiflis, gebaut haben und die, in einer Höhe von viertausendfünfhundert Fuß den Rücken des Arkhot überschreitend, die Hauptstadt von Georgien mit den Bahnen des südlichen Rußlands verbindet.

Ich begebe mich eiligst nach dem Bahnhof und stürme hier in die Abfahrtshalle.

»Wann geht der Zug nach Baku ab? frage ich.

– Sie wollen nach Baku?« erwidert der Schalterbeamte.

Er mißt mich dabei durch das Schiebfenster mit dem mehr militärischen als – höflichen Blicke, der unter dem Schilde jeder moskowitischen Dienstmütze hervorzuleuchten pflegt.

»Ich meine, antworte ich, vielleicht etwas vorschnell, es ist doch Keinem verboten, nach Baku zu gehen? ...

– Nein, erwidert er mir trocknen Tones, vorausgesetzt, daß man mit ordnungsmäßigem Passe versehen ist.

– Der wird mir nicht fehlen,« stoße ich gegen den bärbeißigen Beamten hervor, der mehr die Rolle eines Gendarmen zu spielen scheint.

Dann frag' ich nun noch einmal, um wieviel Uhr der Zug nach Baku abgehen werde.

»Um sechs Uhr Nachmittag.

– Und trifft am Ziele ein? ...

– Am folgenden Tage früh sieben Uhr.

– Noch rechtzeitig, um an den Dampfer nach Uzun-Ada Anschluß zu haben?

– Zeitig genug.«

Der Schalterbeamte erwidert meinen Gruß mit mechanischer Präcision.

Die Paßangelegenheit beunruhigt mich nicht; der französische Consul wird mir die von der russischen Verwaltung aufgestellten Vorschriften schon erfüllen helfen. Um sechs Uhr Nachmittag, und jetzt ist's schon um neun Uhr Vormittag! Gleichviel! Ist man nach gewissen Reiseführern im Stande, Paris binnen zwei, Rom binnen drei und London binnen vier Tagen zu besuchen, so müßt' es doch sonderbar zugehen, wenn man Tiflis nicht in einem halben Tage besuchen könnte; übrigens verstehe ich nach drei Seiten gleichzeitig zu sehen. Zum Teufel, man ist entweder ein ganzer Reporter oder gar keiner!

Es versteht sich, da mein Journal mich nach Rußland entsendet hat, ganz von selbst, daß ich russisch englisch und deutsch ziemlich geläufig spreche. Von einem Berichterstatter die Kenntniß der verschiedenen tausend Zungen zu verlangen, in denen die Bewohner aller fünf Erdtheile ihre Gedanken ausdrücken, das wäre denn doch etwas gar zu arg. Mit den genannten drei Sprachen und der französischen zur Aushilfe kommt man in der Alten und der Neuen Welt weit genug. Freilich herrscht in der Gegend hier auch noch die türkische Sprache, von der ich mir einige Redensarten gemerkt habe, und dann die chinesische, von der ich kein Wort verstehe. Deshalb ist aber nicht zu fürchten, daß ich in Turkestan und im Himmlischen Reiche nur mit offenem Munde dastehen müßte. Unterwegs trifft man genug dienstbereite Dolmetscher, und ich hoffe, mir bei dieser Fahrt mit der Groß-Transasiatischen Bahn nichts von Bedeutung entgehen zu lassen. Ich verstehe zu sehen und werde also sehen. Warum denn leugnen? Ich gehöre zu denen, die da glauben, daß hienieden Alles zu einer Wochenplauderei Stoff liefert, daß Erde, Mond, Sonne und Weltall nur geschaffen sind, um in Journalartikeln verarbeitet zu werden, und meine Feder soll unterwegs nicht feiern.

Ehe ich Tiflis besichtige, ist es doch nöthig, die Paßangelegenheit in Ordnung zu bringen. Zum Glück handelt es sich nicht um Erlangung eines »Poderojnaïa«, den früher jeder, der Rußland bereiste, mit sich führen mußte. Das war zur Zeit der Couriere, der Postpferde, und Dank seinem mächtigen Einflusse, hob dieser officielle Passirschein alle Schwierigkeiten, sicherte dein Reisenden die schnellste Beförderung durch Relais, die liebenswürdigste Zuvorkommenheit der Geschirrführer, die ihre Pferde so antrieben, daß ein gut empfohlener Reisender die zweitausendsiebenhundert Werst lange Strecke zwischen Tiflis und St. Petersburg binnen acht Tagen zurücklegen konnte. Dafür hatte es freilich auch seine großen Schwierigkeiten, sich einen solchen Paß zu verschaffen.

Heutzutage genügt ein einfacher Reise-Erlaubnißschein – ein Schein mit kurzer Angabe, daß der Inhaber weder ein Mordgeselle, noch ein politisch Verurtheilter, daß er, was man so sagt, ein ehrlicher Mann aus civilisirtem Lande ist. Mit Hilfe unseres Consuls in Tiflis hoffe ich, die Paßfrage bei der russischen Behörde bald erledigt zu haben.

Das kostet mich zwei Stunden und zwei Rubel. Dann widme ich mich ganz und gar, mit Augen, Ohren und Beinen, der Erforschung der georgischen Hauptstadt, doch ohne einen Führer in Anspruch zu nehmen – denn vor diesen Leuten hab' ich einen heiligen Schrecken. Ich hätte übrigens jeden beliebigen Fremdling durch das Straßennetz der von mir schon vorher sorgfältig studirten Stadt geleiten können – das ist Naturgabe.

Auf meinem Wege erkenne ich denn: zunächst die »Duma«, das Rathhaus, in dem der »Golowa«, etwa der Bürgermeister, seinen Sitz hat. Hätte mir der Leser die Ehre erwiesen, mich zu begleiten, so hätte ich ihn nach der Promenade Krasnoïa-Gora am linken Ufer der Kura geführt. Diese Stelle bildet etwa die Elysäischen Felder der Stadt, eine Art Kopenhagener Tivoli oder den Jahrmarkt des Boulevard Belleville, mit ihren »Katchelis«, das sind prächtige Schaukeln, deren spitzfindig ausgeklügelte Bewegungen die richtige Seekrankheit erzeugen. Und unter dem Haufen von Jahrmarktsbuden bewegen sich hier festlich gekleidete Frauen mit unverhülltem Gesicht, also offenbar Georgierinnen oder Armenierinnen, die der christlichen Kirche angehören.

Die Männer, reine Apollogestalten, erscheinen ziemlich reich gekleidet, haben das Aussehen von Fürsten, und ich frage mich, ob sie nicht alle solche wirklich sein mögen. Sie stammen ja in der That alle ab von ... doch, die Genealogie später. Setzen wir weit ausschreitend unseren Besuch fort. Eine verlorene Minute sind verlorene zehn Berichtszeilen, und zehn Zeilen betragen ... Das hängt von der Freigebigkeit des Blattes und von seinem Verwaltungsrathe ab.

Schnell nach der großen Karawanserai. Hier rasten die aus allen Theilen Asiens herangezogenen Karawanen. An dieser Stelle trifft eben eine solche, aus armenischen Händlern bestehend, ein; an der anderen zieht, aus persischen und russischen Kaufleuten zusammengesetzt, eine zweite Karawane fort. Ich hätte mit der einen ankommen und mit der andern fortziehen mögen. Das ist leider unmöglich – ich beklage es tief. Seit Errichtung der transasiatischen Eisenbahnen begegnet man kaum noch jenen endlosen, malerischen Zügen von Reitern, Fußgängern, Pferden, Kameelen, Mauleseln und Planenwagen. Bah! Ich fürchte deshalb doch nicht, daß meine Reise durch Centralasien so uninteressant verlaufen wird. Ein Reporter des »XX. Jahrhundert« wird ihr schon die nöthige Würze zu geben verstehen.

Da steh' ich nun in den Bazars mit den tausenderlei Erzeugnissen Persiens, Chinas, der Türkei, Sibiriens und der Mongolei. Hier giebt's im Ueberfluß Webstoffe aus Teheran, Chiraz, Kandahar und Kabul, Teppiche feinster Art und von herrlichster Farbenpracht, und auch Seidenstoffe ... die freilich denen von Lyon nicht gleichkommen.

Soll ich Einkäufe machen? ... Nein! Sich bei einer Fahrt vom Caspisee bis zum Himmlischen Reiche mit Gepäckstücken belasten ... nimmermehr! Den kleinen Koffer in der Hand, die umgehängte Reisetasche mit den nöthigsten Kleidungsstücken, das ist genug für mich. Leibwäsche? ... Die besorg' ich mir nach englischem Vorbild unterwegs.

Verweilen wir jetzt einmal vor den berühmten Bädern von Tiflis, deren Thermalwasser bis sechzig Grad Celsius annehmen kann. Hier übt man die Massage in größter Vollendung, macht man das Rückgrat geschmeidig und läßt die Glieder tüchtig knacken. Ich erinnere mich, was darüber der ältere Dumas gesagt hat, dessen Wanderzüge nie ereignißlos verliefen. Im Nothfalle erfand er solche, dieser geistsprudelnde Volldampf-Berichterstatter.

Halt! »Hôtel de France«! Wo gäb' es auch kein Hôtel de France? Ich trete ein und lasse mir ein Frühstück auftragen ... einen georgischen Imbiß, begossen mit einer gewissen Weinsorte Kacheliens, die im Rufe steht, nicht berauschend zu wirken, vorausgesetzt, daß man sie nicht mehr einathmet als trinkt, bei Benützung der weithalsigen Flaschen, in die die Nase eher eintaucht als die Lippen. Das lieben aber die Eingebornen Transkaukasiens gerade ganz besonders. Den im Allgemeinen nüchternen Russen genügt, wie es scheint, ein Theeaufguß, dem man jedoch etwas »Vodka« den landesüblichen russischen Branntwein, zuzusetzen pflegt.

Ich als Franzose und noch dazu als Gascogner, trinke meine Flasche Kachelier, wie wir unseren Chateau Lafitte zu jener jetzt betrauerten Zeit tranken, wo die Sonne diesen noch auf den Rebenhügeln von Pauillac destillirte. In der That paßt jener etwas säuerliche kaukasische Wein recht gut zu dem gebratenen Huhn, sagen wir, dem »Pilau«, und giebt ihm einen besonders angenehmen Beigeschmack.

Das wäre abgemacht. Nun mischen wir uns unverzagt unter die sechzigtausend Bewohner, die die Hauptstadt Georgiens heute zählt. Verlieren wir uns in dem Labyrinth von Straßen und Gassen, inmitten ihrer kosmopolitischen Bevölkerung. Hier giebt's zahlreiche Juden, die ihre Kaftans von rechts nach links hin zuknöpfen, wie sie im Gegensatz zur arischen Rasse ja auch schreiben. So wie anderswo gar häufig sind die Juden hier aber nicht die Herren des Landes, was ohne Zweifel daher kommt, daß – nach localem Sprichwort – sechs Juden dazu gehören, um einen Armenier zu betrügen, und in den transkaukasischen Provinzen giebt es Armenier in großer Menge.

Ich komme nach einem sandigen Platz, wo Kameele mit vorgestrecktem Kopf und eingeschlagenen Vorderbeinen zu Hunderten lagern. Früher waren es Tausende. Seit der nun einige Jahre zurückliegenden Eröffnung der Transcaspischen Eisenbahn aber hat sich die Zahl dieser buckelrückigen Lastträger gewaltig vermindert. Versuch's doch Einer mit einfachen Saumthieren gegen die Gepäckwagen und die Güterzüge eines Schienenstranges aufzukommen!

Die zuweilen steil abfallenden Gassen hinuntertrottend, gelange ich nach den Uferstraßen der Kura, die die Stadt in zwei ungleiche Hälften theilt. Zu beiden Seiten aufkletternd, erheben sich die Häuser, hocken eines auf dem andern und steigen über den vorderen Nachbar empor, so daß jeder Bewohner auf das Dach des nächsten unter ihm hinabsieht. In den Stadttheilen längs des Flusses herrscht eine lebhafte Handelsthätigkeit. Da ziehen Weinverkäufer mit ihren zu kleinen Ballons aufgeschwellten Schläuchen umher, und Wasserverkäufer mit den aus Büffelhaut hergestellten Behältern, die wieder mit den Elephantenrüsseln ähnlichen Schlauchstücken versehen sind.

Nun irre ich aufs Geradewohl dahin. Errare humanum est, sagen die Collegschüler in Bordeaux so gern, wenn sie die Quais der Gironde abflaniren.

»Mein werther Herr, jüdelt mich da ein Männchen an, indem er nach einem recht unansehnlichen Gebäude hinzeigt, Se sind hier fremd? ...

– Vollständig.

– Dann gehn Se mer nicht vorbei an dem Hause da, ohne einmal stehen zu bleiben und es nach Verdienst zu bewundern.

– Was ist daran so wunderbares?

– Hat doch da gewohnt der berühmte Tenorsänger, der Satar, der das Contra-f mit Bruststimme sang ... und was hat man'n gezahlt davor!«

Ich wünsche dem kunstsinnigen Patriarchen sich ein noch besser bezahltes Contra-e angewöhnen zu können, und steige die Anhöhen des rechten Kura-Ufers hinan, um einen Ueberblick über die Stadt zu gewinnen.

Auf dem Gipfel des Hügels, einem kleinen Platze, wo ein Gesangs-Declamator unter ausgiebigen Gesten Verse von Saadi, dem berühmten persischen Dichter, ableiert, überlasse ich mich der Betrachtung der transkaukasischen Hauptstadt. Was ich hier thue, beschließe ich, nach vierzehn Tagen in Peking zu wiederholen. An Stelle der Pagoden und Yamens des Himmlischen Reiches zeigt Tiflis meinen Blicken Mauern von Citadellen, Glockenthürme von Kirchen verschiedener Bekenntnisse, eine Metropolitankirche mit Doppelkreuz und Häuser von russischer, persischer oder armenischer Bauart; wenig Dächer, dafür mehr Terrassen; wenig verzierte Façaden, dafür breite Balcons in allen Stockwerken; ferner zwei deutlich abgegrenzte Theile, den niederen mit georgischem Charakter, und den höheren moderneren, durchschnitten von einer mit schönen Bäumen besetzten Alleestraße, in der sich der Palast des Fürsten Bariatinsky erhebt. Das Ganze ein regelloses, launisches, fast einzig in seiner Art dastehendes Relief, ein Wunder von Unregelmäßigkeit, das der Horizont mit großartiger Gebirgsumrahmung abschließt.

Es ist bald fünf Uhr. Ich habe keine Zeit mehr, mich dem Redestrome des Erzählers und Bildermalers zu überlassen. Eilen wir hinunter nach dem Bahnhofe.

Hier drängt sich eine bunte Menge von Armeniern, Georgiern, Mingreliern, Tataren, Kurden, Israeliten, Russen vom Strande des Caspischen Meeres, von denen die Einen – o, diese orientalischen Farben! – Fahrkarten bis nach Baku, die Anderen solche nach Zwischenstationen lösen.

Jetzt war ich mit allem Nöthigen ausgerüstet. Weder der Schalterbeamte mit dem Gendarmengesicht, noch die Gendarmen in eigener Person konnten meiner Abfahrt noch ein Hinderniß bereiten.

Man händigt mir ein bis Baku giltiges Billet erster Classe aus. Ich begebe mich nach dem Perron, der den Zutritt nach den Waggons vermittelt. Nach alter Gewohnheit acht' ich darauf, mich in der Ecke eines Coupés bequem einzurichten. Gleichzeitig steigen noch einige Reisende ein, während der kosmopolitische Schwarm die Wagen zweiter und dritter Classe anfüllt. Nach stattgefundener Billetcontrole werden die Thüren zugeschlagen. Ein letztes gellendes Pfeifen der Locomotive meldet, daß der Zug sich in Bewegung setzen wird ....

Plötzlich vernimmt man laute Ausrufe, in denen sich Wuth und Verzweiflung zu gleichen Theilen zu erkennen geben, und ich höre die deutsch hervorgestoßenen Worte:

»Anhalten! ... Halt! Halt an!«

Einige Beamte wollen ihn zurückhalten.

Ich sehe durch das niedergelassene Fenster.

Ein großer starker Herr mit kleinem Koffer in der Hand, einen helmförmigen Hut auf dem Kopf und die Beine in den Falten seines langen Ueberziehers verwickelt, rennt daher, daß ihm der Athem ausgeht. Er hat sich verspätet.

Einige Bahnbeamte wollen ihn zurückhalten ... Versuche nur Einer gefälligst, eine Bombe mitten im Fluge aufzufangen. Auch im vorliegenden Falle unterliegt das Recht der Gewalt.

Die teutonische Bombe beschreibt einen sehr glücklich berechneten Bogen und platzt in das Nebencoupé, dessen Thür ein gefälliger Reisender offen hält, polternd und schnaufend hinein.

Im gleichen Augenblicke rückt der Zug an, die Räder der Locomotive gleiten auf den Schienen, dann steigert sich die Geschwindigkeit ...

Wir sind abgefahren.

der nicht ganz pünktlich ist, gleicht dem Geometer, der es unterläßt, seine Rechnung bis zur zehnten Decimalstelle fortzuführen. Diese Verzögerung von drei Minuten hat es dem Deutschen ermöglicht, noch mit unserem Zuge fortzukommen. Ich denke, der Mann wird mir noch Futter für meine Feder bieten; doch das ist vor der Hand nur so eine schwache Vermuthung.

»Claudius Bombarnae, der sich freut auf die Fahrt in Gesellschaft des Herrn ...«

Zweites Capitel.

Unter dem hiesigen Breitengrade ist es im Monat Mai um sechs Uhr Nachmittags noch ganz hell. Ich habe mir einen Fahrplan angeschafft und studiere denselben. Die beigefügte Landkarte zeigt hier Station für Station, den Weg der Eisenbahn zwischen Tiflis und Baku. Nicht zu wissen, in welcher Richtung die Locomotive dahinbraust, ob der Zug nach Nordosten hinauf oder nach Südwesten hinabfliegt, das wäre mir rein unerträglich, destomehr, weil ich nach Einbruch der Nacht doch nichts mehr sehen werde, denn ich bin kein Nyctalope wie die Eulen, Uhus, die Fledermäuse oder die Katzen auf dem Dache.

Mein Fahrplan lehrt mir zunächst, daß der Schienenstrang sich nahe der Fahrstraße zwischen Tiflis und dem Caspisee hinzieht und dabei Sachanlong, Poily, Elisabethpol, Karascal, Aliat mit Baku durch das Thal der Kura verbindet. Einer Eisenbahn gestattet man keine »Höflichkeitsbesuche«. Sie muß möglichst die gerade Linie verfolgen. Das thut die transgeorgische Bahn.

Unter den Stationen, die sie berührt, ist eine, die ich gern mit Muße in Augenschein genommen hätte, Elisabethpol; vor Empfang der Depesche des »XX. Jahrhundert« hatte ich geplant, daselbst eine Woche über zu verweilen. Und nun, da ich die verlockendsten Schilderungen von der Stadt gelesen, sollte ich daselbst nur fünf Minuten lang – zwischen zwei und drei Uhr des Morgens – Halt machen! Statt Elisabethpol im Sonnenglanze zu betrachten, davon nur einen unbestimmten Gesammteindruck in der blassen Beleuchtung des Mondes mit hinwegnehmen!

Nach gründlicher Durchsicht des Fahrplans gehe ich daran, meine Reisegefährten etwas näher zu betrachten. Zusammen ihrer Vier, nahmen wir natürlich die vier Ecken des Coupés ein. Ich habe an der Zwischenwand eine Ecke erobert und sitze mit dem Gesicht nach vorn.

In den beiden Winkeln der andern Wagenlängsseite lehnen zwei Reisende einander gegenüber. Kaum eingestiegen, und nachdem sie die Mütze über die Ohren gezogen, haben sie sich in ihre Decken gewickelt – zwei Georgier, so weit ich's zu errathen vermochte. Sie gehören aber jedenfalls zu der Specialrasse privilegirter Bahnwagenschläfer und werden vor dem Eintreffen in Baku schwerlich wieder erwachen. Von diesen Leuten war nichts zu wollen; für sie ist das Coupé kein Wagen, sondern ein Bett.

Vor mir ein Mann von ganz abweichendem, keineswegs orientalischem Typus: zweiunddreißig bis fünfunddreißig Jahre alt, Gesicht mit röthlichem, ziemlich entwickeltem Kinnbart, Blick sehr lebhaft; Nase eines Vorstehhundes; Mund sucht offenbar zu sprechen; Hand sehr familiärer Art, zum Drücken Anderer wie geschaffen; ein großer, kräftiger Mann mit breiten Schultern und mächtigem Torso. In der Art und Weise, wie er's sich bequem gemacht, seine Reisetasche ohne Zögern untergebracht, wie er einen großen carrirten Plaid handhabt, erkenne ich den »Traweller« angelsächsischer Abkunft, der sich, an weitere Reisen gewöhnt, weit mehr an Bord der Eisenbahnen oder der Packetboote als in seinem »Home« befindet, wenn er überhaupt ein solches Home sein eigen nennt. Das muß ein Handlungsreisender sein. Ich bemerke an ihm eine Masse Schmuckgegenstände, Ringe an den Fingern, eine Nadel in der Cravatte, Manschettenknöpfe mit Photographien und allerlei Berloques an der Uhrkette. Obwohl er keine Knöpfe in den Ohrläppchen und auch keinen Ring durch die Nase trägt, würde es mich gar nicht wundern, wenn er ein Amerikaner – ja noch mehr – ein Yankee wäre.

Da bin ich ja mitten im Geschäft. Meine Aufgabe als Reporter, die Interview's jeder Art nöthig macht, ist es, herauszufinden, wer meine Reisegefährten sind, woher sie kommen und wohin sie gehen. Ich werde also mit meinem Gegenüber den Anfang machen. Das scheint übrigens nicht schwierig. Er scheint weder an Schlaf noch an Betrachtung der vorüberfliegenden Landschaft zu denken, obgleich die letzten Sonnenstrahlen diese recht schön beleuchten. Irre ich nicht, so verspürt der Mann ebensoviel Lust, mir zu antworten, wie ich ihn zu fragen – und umgekehrt.

Schon will ich losschießen ... da hält mich eine Befürchtung zurück. Wenn nur der Amerikaner – ich wette, daß es einer ist – nicht selbst ein Berichterstatter, etwa für die »World« oder den »New-York Herald«, und ganz ausschließlich beauftragt ist, die großtransasiatischen Bahnzüge zu begleiten und literarisch auszuschlachten. Das könnte mich in Wuth bringen. Lieber Alles als einen Rivalen!

Mein Zögern verlängert sich. Frage ich ihn ... frage ich ihn nicht? Schon kommt die Nacht heran. Endlich entschließe ich mich, den Mund aufzuthun, da kommt mir mein Reisegefährte zuvor.

»Sie sind Franzose? redet er mich in meiner Muttersprache an.

– Ja, mein Herr,« antworte ich ihm in der seinigen.

Nun also, wir verstanden uns gegenseitig.

Das Eis ist gebrochen und jetzt wechseln die Fragen von einer zur andern Seite.

Alle Welt kennt ja wohl das orientalische Sprichwort:

»Ein Narr kann in einer Stunde mehr fragen, als ein Weiser im ganzen Jahre.«

Da wir indeß Beide, mein Gefährte so gut wie ich, auf besondere Weisheit keinen Anspruch erheben, lassen wir uns gehen und vermischen unbewußt beide Idiome.

»Wait a bit!« sagt mein Amerikaner.

Ich unterstreiche diese Redensart, weil sie sehr häufig wiederkehren wird, wie der Knoten des Strickes, mit dem die Schaukel bewegt wird.

»Wait a bit! Ich wette zehn gegen eins, daß Sie Reporter sind? ...

– Da würden Sie gewinnen! ... Ja ... Reporter, im Auftrage des ›XX. Jahrhundert‹, um einen Bericht über diese Eisenbahnfahrt zu liefern.

– Sie gehen nach Peking? ...

– Wie Sie sagen.

– Ganz mein Fall,« erwidert der Yankee.

Das fürchtete ich.

»Ein College? ... fragte ich und runzelte die Augenbrauen mit gewiß nicht anziehendem Gesichtsausdruck.

– Nein, beruhigen Sie sich. Wir ›machen‹ nicht in denselben Artikeln, mein Herr ...

– Claudius Bombarnae, der sich freut auf die Fahrt in Gesellschaft des Herrn ...

– Fulk Ephrjuell vom Hause Strong Bulbul and Compagnie, von New-York, Staat New-York (V. St. v. A.).«

Er setzte wirklich V. St. v. A. hinzu.

Jetzt hatten wir uns also gegenseitig vorgestellt. Meine Wenigkeit Händler mit Neuigkeiten und er Händler mit ... Ja, womit? ... Das muß ich erst noch erfahren.

Das Gespräch geht weiter. Fulk Ephrjuell ist selbstverständlich schon überall – und auch noch etwas darüber hinaus, wie er hinzufügt – umhergefahren. Er kennt Nord- und Südamerika und fast ganz Europa. Jetzt kommt er jedoch zum erstenmal nach Asien. Er spricht ... plaudert, doch immer schaltet er sein Wait a bit! mit beängstigender Unverdrossenheit ein. Sollte der Hudson vielleicht dieselbe Eigenthümlichkeit wie die Garonne haben, die Zunge manchmal hängen bleiben zu machen?

Ich hörte seinen Worten nahezu zwei Stunden lang zu. Kaum drangen mir die Namen der Stationen Sachanglong, Peily, und andere, die bei jedem Aufenthalt ausgerufen wurden, bis ins Ohr. Und doch hätt' ich mir eigentlich gern das Land angesehen, das der Silberschimmer des Mondes überfluthete, und hätte mir während der Fahrt einige Notizen gemacht.

Zum Glück hatte der Gefährte mit dem unermüdlichen Mundwerk die östlichen Provinzen Georgiens schon früher bereist. Er machte mich auf die Landschaft, Flecken und Städtchen, die Wasserläufe und die am Horizonte auftauchenden Berge aufmerksam .... Ich sehe dennoch fast nichts ... Verdammte Eisenbahn! Man fährt ab, kommt an und hat unterwegs nichts gesehen!

»Nein! ruf' ich, jetzt fehlt doch gänzlich der Reiz einer Fahrt im Postwagen, in der Troika, dem Tarantaß, mit den Zufälligkeiten des Weges, der Originalität der Gasthöfe, den Plauderstündchen beim Pferdewechsel, dem kräftigen Schluck Wodka, den die Yemtchiks zu sich nehmen ... und so dann und wann ein hübscher Ueberfall durch Räuber, deren Rasse wahrlich ganz im Verlöschen ist ...

– Herr Bombarnae, fragt mich Fulk Ephrjuell, ist es Ihr Ernst, daß Sie sich dieser schönen Dinge wegen beklagen?

– Völliger Ernst, geb' ich zur Antwort. Mit dem Vortheil der geraden Linie der Eisenbahn verlieren wir alles Malerische der Bogenlinie oder der gebrochenen Linie der ehemaligen großen Landstraße. Und gestehen Sie nur, Herr Ephrjuell, wenn Sie die etwa vierzig Jahre zurückliegenden Beschreibungen von Reisen in Transkaukasien lesen, dann bedauern Sie auch die heutige Veränderung der Verhältnisse. Werde ich denn ein einziges jener Dörfer zu Gesicht bekommen, die von Kosaken – halb Soldaten, halb Ackerbauern – bewohnt sind? Werd' ich jetzt nur einer jener festlichen Aufführungen beiwohnen können, die sonst den Touristen erfreuten, einer jener ›Djiquitovkas‹, bei der die Reiter auf den Pferden stehend die Säbel schwingen, die Pistolen abfeuern und die Ihnen Geleit geben, wenn Sie sich in Gesellschaft eines hohen moskowitischen Beamten oder eines Obersten der Staniza befinden?

– Freilich ... zugegeben ... Diese schönen Dinge haben wir eingebüßt, nimmt mein Yankee das Wort. Dank dieser Eisenbahn aber, die unsere Erdkugel bald umkreisen wird, wie eine Tonne Cider oder einen Baumwollenballen, gelangen wir binnen dreizehn Tagen von Tiflis nach Peking. Haben Sie also – so zur Abwechslung – auf Zwischenfälle gerechnet ....

– Ganz bestimmt, Herr Ephrjuell!

– Täuschung, Herr Bombarnae! Es wird nichts passiren, weder Ihnen noch mir. Wait a bit! Ich verspreche Ihnen die einfachste prosaischte Fahrt, das gemüthlichste Dahinkutschieren auf der Erde, Alles so einfach, flach, wie die Steppen von Kara-Korum, die die transasiatische Bahn in Turkestan durchzieht, oder die Wüstenebene von Gobi, durch die sie in China führt ....

– Na, werden aufpassen, erwiderte ich, denn ich reife zur Unterhaltung meiner Leser ...

– Während ich einfach in Geschäften reise.«

Diese Antwort erregte in mir den Gedanken, daß Fulk Ephrjuell sich nicht als der von mir geträumte Reisegefährte entpuppen werde. Er hat Waaren zu verkaufen und ich wollte keine kaufen.

Ich ersehe hieraus, daß sich aus unserem ersten Zusammentreffen nicht die für eine so lange Fahrt wünschenswerthe Vertraulichkeit entwickeln wird. Das muß einer von den Yankees sein, von denen man zu sagen pflegt: wenn sie einen Dollar in der Hand haben, so kann ihnen den kein Teufel entreißen ... und ich werde ihm auch nichts, was der Rede werth wäre, entlocken.

Wenn ich nun auch von ihm weiß, daß er für Rechnung des Hauses Strong Bulbul and Co., New-York, reist, ist mir dieses Haus doch völlig fremd. Hört man diesen amerikanischen Handlungsreisenden, so erscheint es, als ob die sociale Stellung von Strong Bulbul and Co. der ganzen Welt bekannt sein müßte. Wie kommt es denn aber, daß ich es nicht kenne, ich, ein Schüler Chincholle's, unserer Aller Meister! Ich entdecke da eine Lücke meines Wissens, daß ich vom Hause Strong Bulbul and Co. noch niemals habe reden hören.

Ich nahm mir also vor, Fulk Ephrjuell hierüber zu fragen, als dieser mich wieder ansprach.

»Sind Sie schon einmal in den Vereinigten Staaten von Amerika gewesen, Herr Bombarnae?

– Nein, Herr Ephrjuell.

– Werden Sie unser Land gelegentlich besuchen?

– Vielleicht!

– Dann vergessen Sie nicht, in New-York das Haus Strong Bulbul and Co. zu durchforschen.

– Durchforschen?

– Ja, das ist das richtige Wort.

– Schön, werde nicht verfehlen.

– Sie werden da eine der hervorragendsten gewerblichen Anlagen der Neuen Welt sehen.

– Daran zweifle ich nicht, doch könnt ich wohl erfahren ...

– Wait a bit, Herr Bombarnae! fährt Fulk Ephrjuell lebhafter fort. Stellen Sie sich eine ungeheure Werkstatt vor, gewaltige Gebäude für die Zurichtung und letzte Vervollkommnung der Stücke, eine Maschine von fünfzehnhundert Dampfpferdekräften, Ventilatoren mit sechshundert Umdrehungen in der Minute, Generatoren, die täglich hundert Tonnen Steinkohlen verbrauchen, einen Schornstein von vierhundertfünfzig Fuß Höhe, ganz unermeßliche Niederlagen zur Aufspeicherung der Erzeugnisse, die wir nach allen fünf Erdtheilen ausführen, einen Generaldirector, zwei Unterdirectoren, vier Secretäre, acht Untersecretäre, ein Personal von fünfhundert Beamten und neuntausend Arbeitern, eine ganze Legion Reisender, wie Ihr ergebener Diener, die Europa, Asien, Afrika, Amerika, Australien durchstreifen, endlich einen Umsatz, der jährlich hundert Millionen Dollars übersteigt! Und das Alles, Herr Bombarnae, zwecks Herstellung und Vertriebes von Milliarden ... ja, ich sage von Milliarden ...«

Da fängt der Zug an, seine Geschwindigkeit unter der Wirkung der Luftbremse zu vermindern, und sehr bald darauf steht er still.

»Elisabethpol! ... Elisabethpol!« rufen der Zugführer und die Bahnhofsbeamten.

Unser Gespräch wird dadurch unterbrochen. Ich lasse das Fenster auf einer Seite nieder und öffne die Thür, um meine Beine ein wenig gelenkig zu machen. Fulk Ephrjuell steigt nicht mit aus.

So schlendre ich denn über den Perron des ziemlich gut erleuchteten Bahnhofs. Ein Dutzend Reisende haben unseren Zug bereits verlassen, mehrere Georgier drängen sich noch auf den Trittbrettern. Elisabethpol – zehn Minuten Aufenthalt; der Fahrplan gewährt uns nicht mehr.

Mit dem ersten Glockensignal kehre ich nach unserem Waggon zurück, steige ein, und als die Thür sich wieder geschlossen hat, bemerke ich, daß mein Platz besetzt ist. Richtig ... gegenüber dem Amerikaner hat sich eine Reisende mit jener angelsächsischen Rücksichtslosigkeit eingerichtet, die keine Grenzen als die Unendlichkeit kennt.

Ist sie jung? Alt? Hübsch? Häßlich? Bei dem herrschenden Halbdunkel vermag ich das nicht zu beurtheilen. Jedenfalls verbietet mir die angeborne Galanterie, auf Räumung meiner Ecke zu dringen, und ich setze mich also neben diese Person, die sich nicht einmal entschuldigt.

Unser der Gesellschaft »Kaukasus und Merkur« gehöriger Dampfer heißt »Astara«.

Fulk Ephrjuell scheint mir zu schlafen, so weiß ich also immer noch nicht, was das Haus Strong Bulbul and Co. in New-York milliardenweise herstellen läßt.

Der Zug rollt weiter. Wir haben Elisabethpol hinter uns gelassen. Was hab' ich nun von dieser hübschen Stadt mit zwanzigtausend Einwohnern, die sich hundertsechzig Kilometer von Tiflis am Gandja-tchaï, einem Arme des Kura, erhebt, eigentlich gesehen? Und wie genau hatte ich sie schon vorher studiert! Nichts von ihren unter üppigem Grün versteckten Backsteinbauten, nichts von ihren merkwürdigen Ruinen, nichts von der prächtigen Moschee, die aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts herrührt, und nicht das Geringste von ihrem Maidan-Platze. Von den herrlichen Platanen, die von Krähen und Ameisen so besucht sind, und die selbst bei so großer Sonnenhitze hier noch eine erträgliche Temperatur sichern, hab' ich kaum die höchsten Zweige bemerkt, auf denen ein Lichtschein zittert. Und an den Ufern des Flusses, der mit silbernen murmelnden Wellen längs der Hauptstraße hinströmt, kaum einige Gartenhäuschen, die kleinen zinnenbekrönten Festungen gleichen.

Was mir in Erinnerung geblieben, ist nur eine unbestimmte Silhouette, die ich zwischen den Rauchwolken, die unsere Locomotive auspustet, im Fluge aufgefangen habe. Daß jene Wohnstätten alle wie zur Vertheidigung eingerichtet erscheinen, hat seinen Grund darin, daß Elisabethpol ein viel umstrittener Platz und früher oft den Einfällen von Lesghiern aus Chiwa ausgesetzt war, und diese Bergbewohner stammen, wenn man den bestunterrichteten Geschichtsschreibern glauben darf, in gerader Linie von den Horden Attila's ab.

Jetzt war es ziemlich Mitternacht. Die Ermüdung lud mich zum Schlummer ein, und doch wollt' ich als guter Reporter nur mit einem Auge und mit einem Ohr schlafen.

Ich verfiel jedoch in jene Art Schlafsucht, die von den regelmäßigen Erschütterungen eines dahinbrausenden Zuges, von dem gelegentlichen schrillen Pfeifen, von dem knarrenden Reiben der Bremse vor dem Anhalten, von dem betäubenden Gerassel beim Begegnen zweier Züge so leicht erzeugt wird. Dazu kommt das Ausrufen der Stationsnamen während der kurzen Aufenthalte und das Klappen der Coupéthüren, wenn diese sich fast mit metallischem Klang öffnen oder schließen.

So hör ich Geran, Varvara, Udjarny, Kiurdamir, Klurdane, nachher Karasul, Navagi u.s.w. abrufen .... Ich richte mich auf; da ich aber die Ecke nicht mehr einnahm, aus der man mich so schnöder Weise herausgesetzt hatte, war mir's unmöglich, durch das Fenster etwas zu sehen.

Da frag' ich mich denn, was diese Anhäufung von Decken, Mäntelchen, Röcken und dergleichen, die ich auf meinem usurpierten Platze erblicke, wohl verbergen möge. Wird diese Reisende bis zum Endpunkt der Groß-Transasiatischen Linie meine Gefährtin bleiben? Werde ich vielleicht in den Straßen von Peking mit ihr einen freundschaftlichen Gruß austauschen? Von der Begleiterin gleiten meine Gedanken hinüber zu dem Begleiter, der in seiner Ecke schnarcht, daß ihn die Ventilatoren des Hauses Strong Bulbul and Co. darum beneiden könnten. Ja, und jene ungeheure Werkstatt, was zum Teufel liefert sie denn jetzt eigentlich? Eiserne oder stählerne Brücken, Locomotiven, Panzerplatten, Dampfkessel oder Wasserpumpen für Bergwerke? Nach dem, was ich von meinem Amerikaner flüchtig gehört halte ich sein Haus für einen Rivalen von Creusot, von Cokerill oder Essen, für irgend ein ungeheures industrielles Etablissement der Vereinigten Staaten von Amerika. Er hat sich darüber nicht näher ausgesprochen ... denn er scheint mir kein »Grüner« zu sein, wie man bei ihm zu Hause sagt ... das heißt, er hat nicht gerade ein sehr naives Aussehen, genannter Fulk Ephrjuell.

Es scheint mir doch, daß ich allmählich in einen rein bleiernen Schlaf versinken werde. Allen Einflüssen der Außenwelt entrückt, hör' ich nicht einmal mehr das gewaltige, schnurrende Athmen meines Yankee. Der Zug trifft in der Station Aliat ein, hält hier zehn Minuten an und rollt wieder fort, ohne daß ich etwas davon bemerke. Das bedaure ich; denn Aliat ist ein kleiner Hafenort; ich hätte hier den ersten Ausblick auf das Caspische Meer gehabt und das Land sehen können, das dereinst Peter der Große verwüstete .... Das hätte ... wenn ich gleichzeitig nach le Bouillet's und nach Larousse's Berichten arbeitete – zwei Columnen historisch-phantastischer Chronik gegeben .... Doch obwohl ich nichts von dem Lande und seiner Hauptstadt gesehen, wird es mir nicht schwer fallen, meiner Einbildungskraft die Sporen zu geben.

»Baku! Baku!« ...

Dieser beim Halten des Zuges wiederholte Name weckt mich aus dem Traume .... Es ist um sieben Uhr Morgens.

Drittes Capitel.

Das Schiff geht vor drei Uhr Nachmittags nicht ab. Diejenigen meiner Reisegefährten, die über das Caspische Meer weiter wollen, beeilen sich, nach dem Hafen zu kommen. Es ist auch nicht unwichtig, eine Cabine zu erhalten oder einen Platz in den Salons des Packetbootes zu belegen.

Fulk Ephrjuell hat mich spornstreichs verlassen mit den kurz hervorgestoßenen Worten:

»Ich habe keinen Augenblick zu verlieren! Ich muß die Ueberführung meines Gepäcks überwachen ....

– Haben Sie davon so viel? ...

– Zweiundvierzig Kisten.

– Zweiundvierzig Kisten! rief ich verwundert.

– O, ich bedaure, nicht die doppelte Zahl bei mir zu führen. Sie erlauben ... nicht wahr? ...«

Und wenn er eine Ueberfahrt von acht Tagen statt hier von vierundzwanzig Stunden zu machen, wenn er das Atlantische Meer statt des Caspischen zu überschreiten gehabt hätte, mehr hätte sich der Mann auch nicht beeilen können.

Der Yankee hat, so wahr ich lebe, nicht einmal daran gedacht, unserer Reisegefährtin die Hand zu reichen, um ihr aussteigen zu helfen. Ich trete an seine Stelle. Die Reisende stützt sich auf meinen Arm und hüpft ... nein, setzt langsam den Fuß auf die Erde. Als ganze Belohnung erhielt ich ein »thank you, Sir«, das sie mit trockner, echt britannischer Stimme hervorbringt.

Thackeray hat einmal gesagt, eine wohlerzogene englische Dame sei das vollendetste Geschöpf des Herrn auf dieser Erde. Mich verlangt nun, diese galante Behauptung bezüglich meiner Reisegenossin zu bestätigen. Sie hat ihr Jaquet wieder angelegt. Ist es eine junge Frau oder ein altes Mädchen? Bei diesen Engländerinnen weiß man nicht, woran man ist. Sie scheint fünfundzwanzig Jahre zu zählen, hat den Teint Albions, einen tüchtigen Schritt, ein Kleid, das sich wie die steigende Fluth aufbauscht, und keine Brille, trotz ihrer wasserblauen, scheinbar kurzsichtigen Augen. Während ich mich vorbeugend den Rücken krümme, beehrt sie mich mit einem Gruße mit dem Kopfe, der kaum die Wirbel ihres langen Halses in Anspruch nimmt, und geht entschlossen nach der Ausgangsthür zu.

Höchst wahrscheinlich treffe ich diese Persönlichkeit an Bord des Dampfschiffes wieder. Ich selbst denke nach dem Hafen erst in der Abfahrtsstunde hinunterzugehen. Ich bin in Baku, habe einen halben Tag vor mir, Baku zu besuchen, und ich mag keine Stunde verlieren, da mich der Zufall nach Baku geworfen hat.

Es ist ja möglich, daß dieser Name die Neugier des Lesers keineswegs erweckt. Vielleicht entzündet es aber seine Einbildung, wenn ich hinzufüge, daß Baku die Stadt der Guebren, der Sitz der Parsis, die Metropole der Feueranbeter ist.

Mit einem dreifachen Band von schwärzlichen, mit Zinnen versehenen Mauern umgeben, ist diese Stadt nahe dem Cap Apcheron, an den letzten Ausläufern der Kaukasuskette erbaut. Doch wie! Bin ich in Persien oder in Rußland? – Natürlich in Rußland, da Georgien eine moskowitische Provinz ist; man könnte sich aber recht gut einbilden, in Persien zu sein, da Baku seine persische Physiognomie so vollständig bewahrt hat. Ich besuche hier einen Palast der Khans, ein reines Erzeugniß der Baukunst aus der Zeit Schamir's und der Scheherazade, »der Tochter des Mondes«, seiner geistvollen Erzählerin, einen Palast, dessen seine Sculpturen noch so frisch erscheinen, als hätte sie der letzte Meißelschlag eben erst vollendet. Weiterhin erheben sich die schlanken Minarete, nicht jene bauchigen Dächer des heiligen Moskau, an den Ecken einer alten Moschee, die man betreten darf, ohne die Stiefeln auszuziehen; der Muezzin sandte freilich nicht mehr die wohltönenden Koranverse zur Stunde des Gebets über die Umgebung hinaus. Baku besitzt übrigens Quartiere, die nach Sitte und Aussehen völlig russisch sind, mit Häusern aus Holz und ohne jede orientalische Färbung, einen großartigen, jeder Hauptstadt Europas oder Amerikas würdigen Bahnhof und am Ende seiner Straßen einen modernen Hafen, dessen Atmosphäre von dem aus den Dampfbooten aufwirbelnden Kohlenwolken verdüstert ist.

Man fragt sich wirklich, was die Steinkohle hier in der Stadt der Naphta zu thun hat. Wozu ist dieses Brennmaterial nöthig, da der dürre, nackte Erdboden des Cap Apcheron, auf dem nur pontischer Wermuth gedeiht, so reich an Mineralöl ist? Um achtunddreißig Mark für hundert Kilo liefert er weiße oder dunkle Naphta, die durch den ausgebreitetsten Gebrauch doch in absehbarer Zeit nicht erschöpft wird.

In der That eine wunderbare Erscheinung! Bedürfen Sie auf der Stelle einen Apparat zum Leuchten oder zum Erwärmen? Höchst einfach; bohren Sie ein Loch in den Erdboden, daraus quillt Gas hervor, und das zünden Sie an. Das ist ein natürlicher Gasometer, den sich auch der ärmste Geldbeutel leisten kann.

Gern hätt' ich das berühmte Heiligthum von Atesch-Gah besucht; das liegt aber zweiundzwanzig Werst von der Stadt entfernt, und dazu fehlt es mir an Zeit. Dort brennt, seit Jahrhunderten von aus Indien gekommenen Parsipriestern genährt, das ewige Feuer. Diese Priester enthalten sich jeder thierischen Nahrung. In anderen Ländern würde man die bescheidenen Vegetarianer einfach »Grasfresser« nennen.

Dieses Wort erinnert mich daran, noch nicht gefrühstückt zu haben, und da es ein Uhr schlägt, begebe ich mich nach dem Restaurant des Bahnhofs, natürlich mit dem Vorsatz, nicht der Nahrungsweise der Parsis von Atesch-Gah zu huldigen.

Bei meinem Eintritt in den Saal, stürmte Fulk Ephrjuell eben hinaus.

»Nun, kein Frühstück? fragte ich.

– Bereits abgethan, antwortet er mir.

– Und Ihre Colli? ...

– Noch neunundzwanzig nach dem Dampfer zu schaffen .... Doch, Verzeihung ... ich habe keinen Augenblick zu verlieren. Wenn man das Haus Strong Bulbul and Co. vertritt, das wöchentlich fünftausend Kisten seiner Erzeugnisse fortschickt ...

– Gehen Sie, gehen Sie, Herr Ephrjuell, wir treffen uns an Bord ja wieder. Doch halt, haben Sie denn unsere Reisegefährtin wieder gesehen?

– Welche Reisegefährtin?

– Die junge Dame, die meinen Platz im Coupé eingenommen hatte ...

– Was ... mit uns ist eine junge Dame gefahren?

– Gewiß.

– Davon hör' ich durch Sie, Herr Bombarnae, das erste Wort!«

Damit eilt der Amerikaner durch die Thür und verschwindet. Hoffentlich erfahre ich noch vor der Ankunft in Peking, was die Firma Strong Bulbul and Co. in New-York eigentlich fabriciert. Fünftausend Kisten in der Woche .... Welche Leistungsfähigkeit und welcher Umsatz!

Nach schneller Erledigung des Frühstücks ziehe ich wieder ins Feld. Bei meiner Promenade hab' ich Gelegenheit einige prächtige Lesghier zu bewundern die mit der mattgrauen Tscherkesse und den Pistolenhaltern daran in lebhaft rothem seidnen Bechmet einherschreiten. Sie tragen silbergestickte Gamaschen und niedrige Schuhe ohne Absätze, den Schaska und den Kandjiar im Gürtel – kurz, wandelnde Arsenale, so wie es wandelnde Orchester giebt, doch von stolzer Erscheinung, Leute, die im Gefolge des russischen Kaisers sicherlich eine herrliche Wirkung hervorbringen müssen.

Schon ist die zweite Nachmittagsstunde herangekommen und ich muß daran denken, mich nach dem Landungsplatze zu begeben. Dabei führt mich der Weg über den Bahnhof zurück, weil ich hier meinen leichten Handkoffer zur Aufbewahrung gegeben habe.

So schreite ich mit dem wenigen Gepäck in der einen und dem Stock in der andern Hand dahin und biege in eine nach dem Hafen führende Straße ein.

Am Ende eines freien Platzes und nahe der Stelle, wo die Stadtmauer unterbrochen ist, um Zugang nach dem Quai zu bieten, ziehen zwei andere Personen, die nebeneinander denselben Weg einhalten, ich weiß nicht recht warum, meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich halte die Leute im Reisecostüm für ein Ehepaar.

Der Mann mag fünfunddreißig, die Frau fünfundzwanzig bis dreißig Jahre alt sein – der Mann mit braunem, schon etwas grau schillerndem Haar und lebhaften Augen, geht, sich in den Hüften wiegend, leichten Schrittes dahin – die Frau eine recht hübsche Blondine, mit blauen Augen, etwas verblaßtem Teint, das lockige Haar unter dem Hut hervorquellend, trägt einen Reiseanzug, der weder in seinem unmodernen Schnitt, noch in den schreienden Farben besonders guten Geschmack verräth. Die beiden Leutchen sind jedenfalls mit dem Zuge von Tiflis gekommen, und wenn mich mein Spürsinn nicht ganz täuscht, sind das zwei Franzosen.

Während ich sie aufmerksam betrachte, schenken sie mir doch keine große Beachtung. Sie sind viel zu beschäftigt, um mich zu bemerken. In den Händen und auf den Schultern schleppen sie Reisetaschen, Sitzkissen, Decken, Stöcke, Regen- und Sonnenschirme. Sie führen Alles mit sich, was man an kleineren Gepäckstücken nur ersinnen kann, die im Dampfer mit den Koffern und Ballen nicht verstaut werden können. Es drängt mich, ihnen meine Hilfe anzubieten. Es ist ja ein glücklicher und obendrein ein seltener Zufall, Franzosen außerhalb Frankreichs zu begegnen.

Gerade als ich auf das Paar zutreten will, erscheint Fulk Ephrjuell wieder auf der Bildfläche, zieht mich mit fort, und ich lasse die Beiden hinter mir zurück. Die Partie ist deshalb noch nicht aufgegeben. Ich werde das Ehepaar auf dem Dampfer ja wieder treffen, und dann machen wir auf der Ueberfahrt Bekanntschaft miteinander.

»Na, fragte ich den Yankee, wie steht es denn mit der Einschiffung Ihres Gepäcks? ...

– Eben ist die siebenunddreißigste Kiste auf dem Wege, Herr Bombarnac ...

– Bisher ohne Unfall?

– Ohne den geringsten.

– Und bitte, was enthalten denn Ihre vielen Kisten?

– Was sie enthalten? Ah, da kommt die siebenunddreißigste!« ruft Fulk Ephrjuell und läuft nach einem Karren, der nach dem Quai hinunterrollt.

Hier herrscht ein tolles Leben, der ganze Wirrwarr der Abfahrt und der Ankunft. Baku ist nicht nur der besuchteste, sondern auch der sicherste Hafenplatz des Caspischen Meeres. Das mehr nördlich gelegene Derbent kann nicht gegen Baku aufkommen, denn letzteres nimmt fast allein den Verkehr des Meeres oder vielmehr des großen Binnensees auf, der mit dem Nachbarmeere ohne jede Verbindung ist. Selbstverständlich hat die Gründung von Uzun-Ada am gegenüberliegenden Ufer den Transit über Baku gegen früher verdoppelt. Die transcaspische Eisenbahn, die jetzt für Reisende und Güterverkehr eröffnet ist, bildet die Haupthandelsstraße von Europa nach Turkestan.

Da entfährt Fulk Ephrjuell ein Schrei grimmigster Entrüstung.

Schon in naher Zukunft berührt vielleicht eine zweite Linie die persische Grenze als Verbindungsglied der südlichen russischen mit den englisch-ostindischen Eisenbahnen – womit den Reisenden die Fahrt über das Caspische Meer erspart bleibt. Und wenn dies ausgedehnte Bassin durch Verdunstung endlich ganz trocken gelegt ist, warum sollte dann ein auf seinem sandigen Grunde daherziehender Schienenweg nicht auch Bahnzügen gestatten, von Baku nach Uzun-Ada ohne Umladung der Frachten auf Schiffe zu gelangen?

In Erwartung der einstigen Erfüllung dieses frommen Wunsches, muß man vor der Hand doch ein Packetboot in Anspruch nehmen, und dazu schickte ich mich jetzt in zahlreicher Gesellschaft an.

Unser der Gesellschaft »Kaukasus und Merkur« gehöriger Dampfer heißt »Astara«. Es ist ein großes Räderschiff, das die Verbindung von einem Ufer zum andern dreimal in der Woche unterhält. Sehr breit gebaut, ist es darauf berechnet, große Waarenmengen aufzunehmen, und die betreffenden Ingenieure sind überhaupt mehr für das bequeme Unterbringen von Frachtstücken, als für das Wohlbefinden der Reisenden besorgt gewesen. Da es sich jedoch nur um eine Ueberfahrt von vierundzwanzig Stunden handelt, ist ja darüber kein Wort zu verlieren.

Lärmend liefen die Reisenden aus allen Zonen am Rande des Einschiffungsplatzes hin und her, Leute, die eben angekommen, und solche, die im Abfahren begriffen waren, die meisten freilich Einwohner von Baku selbst. Doch unter diesen befanden sich viele Turkmenen, ferner etwa zwanzig Europäer verschiedener Nationen, einige Perser und auch zwei Originaltypen aus dem Himmlischen Reiche. Diese Beiden begaben sich jedenfalls nach China.

Die »Astara« ist mit Frachtgut buchstäblich vollgepfropft. Der Schiffsraum hat dasselbe nicht ganz aufnehmen können und ein guter Theil ist auf das Deck zurückgeströmt. Dessen Hintertheil ist für Passagiere bestimmt; von der die Radkasten überspannenden Commandobrücke aus bis nach der Gallion am Vordertheil liegt aber eine große Menge von Waarenballen aufgestapelt, die alle mit getheerten Planen überdeckt sind, um sie gegen überschlagende Wogen zu schützen.