Clochemerle-Babylon - Gabriel Chevallier - E-Book

Clochemerle-Babylon E-Book

Gabriel Chevallier

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Beschreibung

Gabriel Chevalliers vergnüglich frivole ›Clochemerle‹-Romane haben als Buch und Film »die Runde um die Welt gemacht«. Da sind sie wieder, die Bewohner Clochemerles. Nach wie vor guten Wein anbauend, auch in diesen so turbulenten dreißiger Jahren. Die Technik hat zwar einiges verändert; dank des Kinos und der Illustrierten haben sich die Träume der jungen Generation gewandelt, aber eigentlich sind sie alle die alten geblieben ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 479

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Gabriel Chevallier

Clochemerle-Babylon

Roman

Aus dem Französischen von Roland Schacht

FISCHER Digital

Inhalt

Erster Teil: Neue ZeitenI Ein Tod – Wunder und GesängeII Die Welt ändert sichIII Der FortschrittIV Clochemerle blüht aufV Religiöse VerwicklungenVI. Religiöse Verwicklungen (Fortsetzung)VII Endet mit hundert Kilometern die StundeZweiter Teil: Der ArbeitsloseI New York und ClochemerleII Tistin läßt sich eintragenIII Junggesellen, Witwen und ein FreudenmädchenIV Macht der FrauenV Die Politik im VordergrundVI KonflikteVII RückwirkungenVIII Der Zukunft entgegen

Erster Teil: Neue Zeiten

Verwechseln Sie nicht Lärm mit Ruhm!

P.L. Courier

 

Das Weib hat einen güldnen

Becher in der Hand, voll Greuels und

Unsauberkeit ihrer Hurerei,

 

Und an ihrer Stirn geschrieben einen

Namen, ein Geheimnis: Die große

Babylon, die Mutter der Hurerei und

aller Greuel auf Erden.

Offenbarung Johannis

 

Statt eines Vorworts

»Man muß ein Buch aufschlagen und sorgfältig erwägen, was darin gesagt wird.«

Rabelais

 

»Nichts gibt es in uns, das keine Materie wäre. Jede Absonderung tut dem Körper gut, und alles, was diesen erleichtert, erleichtert auch die Seele: wir sind Maschinen der Vorsehung.«

Voltaire

 

»Unser aller Ahnherr, der altgriechische Aeschylos, behauptete, daß Tragödien pompöse Nichtigkeiten seien.«

Alfred de Vigny

 

»Ich schreibe nicht für meine kleine Schwester.«

Jules Renard

 

»Es gibt Leute, die die Meinung vertreten, daß alles schiefgeht, die den Fortschritt dafür verantwortlich machen und von der Gegenwart behaupten, daß sie schlechter sei als die Vergangenheit. Beweisen können sie das nicht, ich auch nicht. Aber da es zu allen Zeiten Unzufriedene gegeben hat, kann man daraus schließen, daß in der Vergangenheit, als sie noch Gegenwart war, ähnlich von ihr geredet wurde.«

Courteline

I Ein Tod – Wunder und Gesänge

Der Pfarrer Ponosse war gestorben.

Dies Ereignis kam völlig unerwartet, und es versetzte, nach dem ersten erschrockenen Staunen, das ganze Clochemerle von 1933 in tiefe Trauer. Selbst ausgemachte Zyniker zollten eine Träne, wenn sie sich erinnerten, wie sie mit dem berühmtesten gutmütigen Pfarrer, den es je im Beaujolais gegeben, fröhlich getrunken und gescherzt hatten. Dieser Trauerfall drohte, die Meinung über Gott zu ändern.

Clochemerle fand sich sehr gut mit einem ländlichen, demokratischen und sozialistisch gesinnten Gott ab, der in anregenden Frühlingszeiten über Holzdiebe, Wirtshausrenommisten und emsig sich unter den dichten Büschen von Fond-Moussu betätigende Liebespaare gnädig hinwegsah. Ein Versuch vor der Hochzeitsnacht war unter Mädchen und Burschen fast allgemeiner Brauch. Diese instinktiv unternommenen Proben befreiten sie rechtzeitig von ihren Komplexen und kamen der allgemeinen Volksgesundheit zugute, weil beide Teilnehmer befriedigt waren. Uneheliche, nur aus Liebe gezeugte Kinder sind von Natur vergnügt, warmherzig und unternehmend, was man von unglücklichen, widerwilligen und verdrießlichen Umarmungen Entsprossenen nicht behaupten kann. Diese von Nachtigallensang und Drosselschlag begleiteten, unter Büschen zustande gekommenen Vereinigungen ergaben eine neue Generation kräftiger und optimistischer, inmitten von Licht, Blumenduft, auf weichem Rasenpolster in beiderseitiger Wonne erzeugter Ahnherren. Die Einsegnung der Ehe bedeutete demgegenüber nur eine Art Formalie, die einen beiderseits gebilligten Tatbestand legitimierte. Der von dem toleranten Ponosse verkündete liebe Gott von Clochemerle hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt, weil er in seiner Weisheit wußte, daß die Zeit heißer Liebe eine andere ist als die der Geduld und kühler verstandesmäßiger Überlegung. Alles Leben beginnt mit dem Knistern von Funken unter geschlossenen Lidern und den sehnsüchtigen Stößen des Begehrens, die den Leib der Begehrenden erzittern lassen. Je enger ein Wesen in Berührung mit der Erde steht, desto ungezwungener überläßt es sich dem süßen Drang der Zeugung.

Es konnte ja auch kein Zweifel darüber bestehen, wieviel darauf ankam, daß das auf windgekühltem Berg gelegene Clochemerle mit seinen dicht beieinander liegenden grünen Weinbergen einen fest geschlossenen Block bildete, in dem die harmonische Entspannung der Geschlechter, ihr gutes Einvernehmen und ihre Befriedigung der Familie Dauer verlieh und regelmäßige Geburten sicherte, was selbstverständlich nicht ausschloß, daß es auch heimliches Begehren, Enttäuschungen und sinnlose Phantasien gab. Denn über irgend etwas muß ja geredet und gedacht werden. Wer aber selbst eine ordentliche Frau, einen guten Gatten hatte, dem hätte es schlecht angestanden, gegen Zuteilung von Schönheit Einspruch zu erheben, über die bereits entschieden war.

Machte sich einmal Verbitterung geltend, drückte einförmige Gewohnheit allzusehr, oder traten Unverträglichkeit oder Unfähigkeit gar zu deutlich hervor, fand man stets Ausgleichsmöglichkeiten. Gab einmal eine Nachbarin dem Nachbarn nach, wurde keineswegs gleich eine Katastrophe daraus, sofern nur alles blieb, wie es war, die Kinder bei der Mutter, und der grüne Besitz seinem Eigentümer. Lieber ein mit Philosophie aufgenommener Seitensprung, als ewiger Zank und Streit über materielle Interessen. Lieber wollte man sich zeitweise in den Besitz eines Körpers teilen, als einen Grundbesitz zerstückeln. Körperliches Begehren schwächt sich mit der Zeit ab, aber am Besitz von Grund und Boden hängt das Herz eines Mannes unablässig. Grund und Boden hat etwas Endgültiges, Ewiges, eine Parzelle vermittelt dem Besitzer den Wachsdrang der Schöpfung, macht ihn der Ewigkeit der Welt teilhaftig.

Betrogene Ehemänner gab es daher in Clochemerle wie überall in der Welt, aber doch in sehr vernünftigem Maße und eigentlich, infolge stillschweigender Zustimmung und weiser Einsicht, mehr der Ordnung halber. Jedermann sah ein, daß gewisse Hochgestochene, die sich, von Liebesdrang besessen, zu den schlimmsten Übergriffen hätten hinreißen lassen, sich austoben mußten. Man zog also vor, in dieser Beziehung kleine Konzessionen zu machen (und wenn es sich um die Frau des Nachbarn oder den Gatten der Nachbarin handelte, war man sehr großzügig), die sie beruhigten, als Mord und Totschlag im Land zu haben.

Auch über diese Verirrungen und außerehelichen Seitensprünge sah der liebe Gott des toleranten Ponosse hinweg. Er verließ sich darauf, daß menschliche Leidenschaften kurzlebig sind und daß die sie hervorrufenden berauschenden Tatbestände, Anlässe, Objekte sich nach einer kurzen Zeit der Vollblüte den zerstörerischen Wirkungen zweier Jahrzehnte nicht zu entziehen vermögen. Oder wie der alte, in hohen Jahren zum Philosophen beförderte Tuvelat es ausdrückte:

»Ihr lieber Gott würde eine Seele nie wegen einer Unterleibsgeschichte verdammen. Das hieße, dem Unterleib größere Bedeutung beimessen als der Seele.«

Aber Pfarrer Ponosse war nun tot. Und mit ihm ein ziemlich jovialer und friedliebender Gott, der Spaß verstand, ein dörflicher Gott, freimütig und aufgeschlossen, mit dem man gern angestoßen und im Paradies Kugeln gespielt hätte. Und der, ganz unter Männern gesagt, sicher nicht dagegen gewesen wäre, wenn man, wie es Brauch ist, über Frauen aufgeräumt und renommistisch gesprochen hätte. Denn wie oft stehen solche in Weinlaune nachträglich behaupteten Ruhmestaten für wirklich begangene Sünden! Wenn viele Frauen so entgegenkommend wären, wie man es ihnen nachsagt, steckte die Welt bis zum Halse in Vergnügen und würde zu einem riesigen Bordell. Bekanntlich ist das nicht der Fall, und ebenso bekannt ist, daß viele Frauen mit ihren Reizen so geizig sind wie mit ihren Groschen. Beides geht im allgemeinen Hand in Hand.

Die Erde ist das Reich der Leiber, wie der Himmel später das Reich der reinen Geister sein wird. Man kann vom Diesseits nicht erwarten, daß es der Tummelplatz einer Geistigkeit sei, die ständig von fleischlichen Notwendigkeiten behindert wird. Es ist des Menschen Unglück, daß er aus zwei zueinander in Widerspruch stehenden Elementen zusammengesetzt ist, das eine flüssig und beweglich, das andere von Blei. Vergebens öffnet die Seele ihre Schwingen zum Höhenflug, sie kann die dumpfe, den Gesetzen der Schwere unterliegende Materie nicht mit hochreißen. Es bedarf also eines Ausgleichs zwischen Himmel und Erde, zwischen Leib und Seele, und die eigentliche Kunst des Lebens besteht eben darin, die richtige Dosierung dieses Ausgleichs zu finden. Aber Künstler sind leider immer nur selten, und das gilt auf allen Gebieten. Pfarrer Ponosse, der oft genug erlebt hatte, wie seelischer Aufschwung in peinlichem Gleitflug endete, hatte die Notwendigkeit des Ausgleichs begriffen.

Aber der war nun tot. Man hatte sich in langen Jahren an ihn gewöhnt, und daß dieser gutmütige Diener nicht mehr war, drohte alle Begriffe Clochemerles von Gottes Herrschaft zu verändern.

Pfarrer Ponosse war im Monat der Weinlese gestorben, während sein geliebtes Clochemerle im Glanz eines leuchtenden und heißen Septembers nach Most duftete. Der alte Priester war in der Glorie eines großen Weinjahres dahingegangen, eines jener Jahre, deren duftende Seele später den Flaschen entsteigen wird, um der Menschen Herz zu erfreuen, die Üppigkeit der Erde zu feiern nebst der Erinnerung an glückliche Tage und vollkommene Sommer.

Sicher hatte es die Vorsehung mit dem alten Priester gut gemeint, daß er gerade in diesem Jahre starb. Denn noch lange danach pflegten die Clochemerler, wenn sie von dem besten Wein sprachen, den ihre Berge seit dreißig Jahren hervorgebracht hatten, zu sagen: »Das ist Wein aus dem Jahr von Ponosse«, und als dieser Wein selten und ehrwürdig geworden war, hieß er sogar kurzweg: Ponosse-Wein. Für einen alten Pfarrer aus dem Beaujolais, der zu seinen Lebzeiten überzeugt gewesen war, daß Weinbau und Weinpflege eine der großen menschlichen Aufgaben hienieden seien, war das eine nachträgliche Belohnung. Er hatte nie glauben wollen, daß seine Pfarrkinder schlecht oder verdammenswert waren, weil seiner Meinung nach eine anständige Arbeit, die, abgesehen von ihrer Mühseligkeit, darin besteht, hilfreichen und trostvollen Wein, der die Seele erfreut, zu erzeugen, auch Gott angenehm sein müsse. Beim Winzer ist reiner Wein ohne ein reines Herz nicht möglich. Und Gott, der alles weiß, wußte auch, wie rein der Wein von Clochemerle war.

An jenem schönen Septembertag, der der letzte seines Lebens sein sollte, wollte Pfarrer Ponosse einen Morgenspaziergang im Ort machen, der ständig Bütten übervoll von prallen Trauben aufnahm. Sein altes Birett auf dem Kopf, ging er mit kurzen Schritten, auf seinen Stock gestützt, die Hauptstraße hinauf. Er grüßte die Clochemerler und die Clochemerler grüßten ihn.

»Geht’s nach Wunsch, Herr Ponosse?«

»Ganz wie Gott will«, gab er mit seiner altersschwachen Stimme zur Antwort. »Und ihr, meine Lieben, seid ihr zufrieden?«

»Und wie, Herr Ponosse! Nach dem herrlichen August wird das ein erstklassiger Wein.«

»Auch genug?«

»Vielleicht nicht so viel wie letztes Jahr, Herr Ponosse. Aber an Qualität nicht zu vergleichen. Und auf die Qualität kommt’s doch an, nicht wahr? Sie müssen mal probieren kommen, Herr Ponosse.«

»Das werde ich versuchen, meine Lieben. Versuchen, ja. Aber ich vertrage den Wein nicht mehr so gut wie früher.«

»Sie werden sehen, der heurige geht Ihnen runter wie nichts.«

»Und ich bin auch nicht mehr bei Kräften …«

»Wie denn, Herr Ponosse? Sie stehen doch so fest auf den Beinen wie der heilige Rochus aus Stein in der Kirche. Junger Wein tut dem Leib wohler als – mit Verlaub gesagt – Weihwasser.«

»Ein Christ braucht beides. Und ans Weihwasser geratet ihr alle einmal, meine Lieben.«

»Na schön. Hauptsache, es kommt nicht in unseren Wein.«

Die Clochemerler lachten. Und der alte Ponosse mit ihnen. Derartige Neckereien gehörten zur Freundschaft und stärkten das Vertrauen. Sie kannten einander schon so lange, ihre Beziehungen beruhten auf gegenseitiger Nachsicht, die aus Achtung und langem Umgang herrührte.

Der alte Priester war der Meinung, daß auch ein bißchen heidnisch gesinnte Kraftnaturen, sofern sie nur nicht böse waren, Gottes Absichten dienen könnten. Die Kirchenfürsten haben Gesetze zur Regelung der Religion auf Erden ausgehen lassen, wie die weltlichen Regierungen Gesetze ausgehen lassen, die bis zu einem gewissen Grade Gerechtigkeit und Ordnung gewährleisten. Aber alles, was Menschen anvertraut ist, bleibt, auch wenn sie als Gottes Vertreter handeln, immer einigermaßen unvollkommen und ist nicht immer reibungslos durchzuführen. Ebenso wie es dem irdischen Gesetz zum Vorteil gereicht, wenn es in den Händen gutmütiger Gendarmen liegt, so darf auch Gottes Gesetz, wenn es den Menschen Kummer und Elend ersparen soll, seine Kraft und sein Ansehen nur aus Nachsicht, Barmherzigkeit und sanftem Wohlwollen ziehen. Die Riten gehören zur äußeren Erscheinung der Religion und sind sicher unentbehrlich, um einfache Gemüter zu beeindrucken. Aber sind die, die allzugroßen Wert auf die Riten legen und sich ihrer bedienen, um über andre herzuziehen, immer die Besten?

Pfarrer Ponosse wußte aus dem Beichtstuhl wohl, daß sich hinter der Religion auch harte Herzen und neidische Seelen, haßerfüllte Harpyen und Heuchler verstecken, die im Schatten Gottes ihre bösen Pläne ausdenken und reifen lassen.

Und deswegen war auch der alte Ponosse geneigt zu glauben, daß es neben der offiziellen Religion, der er, so gut er konnte, diente, noch eine andere, ganz besondere gebe, manchen zarten Seelen eigen, die etwas von himmlischer Reinheit und Liebe ausstrahlen lassen.

Natürlich hatte er diese Theorie nicht gerade Seiner Exzellenz dem Herrn Erzbischof vorgetragen, der vielleicht einen Ansatz von Ketzerei in ihr erblickt hätte und es übrigens auch nicht gern sah, wenn Dorfpfarrer sich so weit vorwagten. Die Kirche bedarf eines festen Verwaltungsbaus und betrachtet Untergebene, die Neigung bezeigen, allzu heilig zu sein, mit Mißtrauen. Für einen Bischof wäre es nicht weniger beunruhigend, zu sehen, daß seine Geistlichen daran gingen, direkt der »Nachfolge Christi« nachzuleben, als für einen General, der merkt, daß seine Unteroffiziere es schlankweg Napoleon nachtun wollen. Tugend, Verdienst und Begabung müssen sich in erträglichen Grenzen halten und dürfen Bestehendes nicht erschüttern.

Pfarrer Ponosse jedoch war viel zu bescheiden, um etwas reformieren oder Neuerungen einführen zu wollen, etwas, das von Konzilbeschlüssen abgewichen wäre oder den festen Bau des Glaubens erschüttert hätte. Was ihm in seiner langen Amtszeit eingefallen war, waren eher Träumereien über das menschliche Dasein, aus denen er, jede Systematisierung für unheilvoll haltend, sich wohl hütete, grundsätzliche Schlüsse zu ziehen. Allerdings war er nicht der Überzeugung, daß der Gedanke, die nicht praktizierenden Clochemerler könnten unmöglich eines seligen Todes teilhaft werden, auch Gott wohlgefällig sei. Paßte das zu der Vorstellung eines gnädigen Gottes? Weiß denn jemand, nach welchen Maßstäben der Allmächtige diejenigen, die er zu seiner Rechten sitzen läßt, auswählt? Ist es nicht ein eitles Unterfangen, nach menschlichen Gesichtspunkten feststellen zu wollen, wie ER in seiner Gnade über das Los jedes einzelnen entscheidet? Denn es kommt ja vor, daß die äußerlich sichtbaren Handlungen eines Lebens nichts über dessen verborgene Vorzüge besagen. Der alte Priester fühlte sich also mit allen Clochemerlern, Männern und Frauen, ohne Unterschied befreundet. Die Clochemerler dankten es ihm mit herzlicher Verehrung und ließen jeden Meinungsstreit um seinetwillen ruhen.

Beispielsweise hatte vor drei Jahren der linksstehende Gemeinderat ohne weiteres die Kredite zur Wiederherstellung des Pfarrhauses bewilligt. So versäumte der Senator Piéchut, der Kandidat der Freidenker und wahrscheinlich sogar Angehöriger einer Freimaurerloge war, nicht, dem Pfarrer alljährlich ein Fäßchen seines besten Weines und ein paar Liter Schnaps zu schicken. Und Babette Manapoux, die Königin der Klatschweiber, pflegte im Waschhaus unter dröhnendem Gelächter zu rufen: »Dieser Pfarrer ist wirklich aus heiligem Holz geschnitzt. Sein lieber Gott tut keiner Fliege was zuleide. Ich sage euch: kein Clochemerler kommt in die Hölle!«

Die Waschweiber waren einverstanden und ließen ihre Wäsche im fließenden Wasser sich aufblähen.

Pfarrer Ponosse war bis zum Großen Platz von Clochemerle gekommen, wo er so oft sein Brevier gelesen und sonntags zwischen Vesper und Angelus Kugeln gespielt hatte. Es war eine gute Art, den Clochemerlern einen bescheidenen Vertreter Gottes sympathisch zu machen, wenn er als guter Spieler seiner Mannnschaft keine Schande machte.

Auf dem Patz war es kühl. Dichtbelaubte Kastanien um eine breite Linde herum bildeten ein grünes schattiges Gewölbe. Im Laub sangen Vögel, alle durcheinander wie Schuljungen auf dem Hof in der Pause. Der alte Pfarrer setzte sich an die Brüstung der Terrasse und blickte ins Land hinaus. Eine Lücke in den Weinbergen gab den Blick auf das Saônetal frei, das wie ein breiter See glänzte. Hier und da bemerkte man in diesem flirrenden Schimmer, wie kleine Segelschiffe auf dem Meer, die zarte und leuchtende Silhouette eines Kirchturms. Dahinter, wo die Luft nur noch ein unendlich feiner Staub schien, tauchte eine Kette zackiger Berge, die Alpen, auf. Leichtes Zirpen in der von frischen Brisen stoßweise erfüllten Luft kündigte einen Tag an, so schön und warm, wie man ihn sich während der Weinlese nur wünschen kann.

In diesem kleinen, so zauberhaften wie großartigen Winkel hatte Pfarrer Ponosse lange Jahre nach bestem Vermögen seines Amtes gewaltet und sich bemüht, seinen Mitbürgern ein wirklicher Bruder zu sein. Er hatte getauft, getraut, die Beichte abgenommen, beerdigt, ohne sich über die irdische und himmlische Zukunft der Geschöpfe auszulassen. Tatsächlich waren seine geistigen Kräfte dem Problem Mensch nicht gewachsen, das ihn immer aufs neue in Verwunderung versetzte. Wäre er allmächtig gewesen wie sein Herr, hätte er eine riesige Jakobsleiter vom Himmel herabkommen lassen und allen Menschen, Lebenden und Toten, Reinen und Unreinen, zugerufen: »Kommt alle herbei, damit wir das ändern. Ich will euch alle im Glanze meiner Macht und meiner festlichen Ewigkeit glücklich machen.« Aber das war anscheinend auch wieder nur eine menschliche Vorstellung, Gott hatte sie nicht, und der alte Priester wollte sich mit göttlichen Dingen nur soweit befassen, wie sein Stand als Dorfpfarrer es zuließ.

Doch hielt er an der Ansicht fest, daß der Mensch mehr töricht als böse ist, daß Torheit seine Erbsünde sei, aus der sich alles ergab: das Böse, der Haß, die Unordnung, weil der Mensch so wenig weiß was ihm zuträglich ist, daß er mit all seinen Bestrebungen nur ein allgemeines Durcheinander anrichtet. Auch diese furchtbare und unlenkbare Torheit war ein Geheimnis, das große grundlegende Geheimnis der irdischen Wirrnis. Man muß wohl bis zum Friedhof warten, ehe man in diesem Chaos ein wenig klar sieht.

 

»Guten Tag, Herr Ponosse. Wie geht es Ihnen?«

»So gut, wie es einem alten Mann gehen kann, der nur noch auf Abruf auf Erden lebt. Und Ihnen, Herr Tafardel?«

»So gut, wie es einem alten pensionierten Lehrer gehen kann. ›Aeternum vale, Tafardel‹, haben mir die Kinder zugerufen. Jetzt haben sie einen anderen Lehrer.«

Da saßen sie vor dem farbenfrohen Abgang des Sommers, der alte Lehrer und der alte Pfarrer von Clochemerle, der eine pensioniert, der andere am Rande des Grabes, beide nach langen, mit Überzeugung und Hingabe wahrgenommenen Dienstjahren. Fünfundvierzig Jahre gewissenhaften Schulunterrichts hatten Tafardel trocken und steif gelassen wie das Lineal, mit dem er so oft auf sein Pult geschlagen hatte, und hatten auch die Grundsätze, nach denen er sein kämpferisches Leben geführt hatte, nicht erweicht. Er verkündete immer noch die Befreiung des Menschen durch den Menschen und daß der Mensch aus sich selbst heraus zu hohen Würden gelangen vermag. Voller Aufopferung führte er mit grenzenloser Gewissenhaftigkeit den Schriftwechsel der Bürgermeisterei, da nur er allein imstande war, sich in den Akten, Erlassen und hunderttausend Formalitäten des französischen Staatslebens zurechtzufinden. Das Publikum bat ihn um die Abfassung von Eingaben und Reklamationen.

In früheren Zeiten hatten die Verhältnisse den Pfarrer und den Lehrer zu Gegnern gemacht, zu so erbitterten Gegnern, daß sie sich jetzt selbst darüber wunderten. Nun waren sie zwei alte Männer, die gelernt hatten, sich gegenseitig zu achten.

»Sie werden also«, sagte Pfarrer Ponosse, »Clochemerle nicht mehr verlassen, Herr Tafardel?«

»Wo sollte ich hin, Herr Ponosse? Ich stehe allein im Leben und habe allen Clochemerlern, die nicht über fünfzig sind, das Lesen beigebracht. Die sind meine Familie. Sofern«, fügte er ironisch hinzu, »Sie nicht der Meinung sind, daß unsere wirkliche Familie nicht von dieser Welt ist, wie der Bürger Jesus sich ausgedrückt hat?«

Tafardel hielt darauf, deutlich hervortreten zu lassen, daß seine Freundschaft mit einem Pfarrer keine Konzessionen einbegriff. Pfarrer Ponosse war dieser kleine Sparren des Lehrers bekannt. Und so gab er, ohne sich aufzuregen, zur Antwort:

»Meine Familie ist überall da, wo meinesgleichen und meine Brüder sind. Aber meine liebste Familie ist hier, in unserem lieben Clochemerle. Ich weiß noch, wie ich als junger Priester hierher kam …«

»Und ich«, fiel Tafardel ein, »als junger Lehrer. Ich traf vier Jahre nach Ihnen in Clochemerle ein, Herr Ponosse.«

»Kann schon sein, Herr Tafardel. Als ich herkam, lebte Frau Baronin im alten Glanz einer großen Dame. Sie war prächtig.«

»Unser Abgeordneter war konservativ.«

»Mein Kirchlein war dringend reparaturbedürftig.«

»Mein Schulzimmer war unhygienisch. Nie ließ sich ein Inspektor bei uns blicken.«

»Clochemerle hatte beim Erzbischof keine gute Nummer.«

»Es gab zu viele Analphabeten im Bezirk.«

»Wir haben aber unser Bestes getan, Herr Lehrer. Gott wird das anerkennen.«

»Beziehen Sie das auf sich, Herr Ponosse. Ich erwarte Lohn nur von Menschen.«

»Ich weiß, Herr Tafardel. Das beweist, daß Sie mutiger sind als ich.«

»Meine Religion ist der Mensch und meine Lehre Laienpflicht.«

»Das wird Gott nicht abhalten, Ihre Leistungen gemäß Ihren guten Absichten anzuerkennen.«

»Sie glauben also, daß in Ihr Paradies auch nichtchristliche Christen kommen?«

»Ganz unter uns gesagt, Herr Tafardel, ich glaube, daß Gott sehr großzügig ist und daß er alles in allem auf anständige Leute Wert legt. Die Messe ist ein gutes Ding, aber sie allein tut es nicht.«

»Sagen Sie mal, Herr Ponosse, lehren Sie das auch von der Kanzel herunter?«

»Auf der Kanzel, Herr Tafardel«, gab Pfarrer Ponosse ruhig zur Antwort, »kann ich nicht vom Dogma abgehen. So wenig wie Sie von den durch Ihre Behörde genehmigten Schulbüchern. Ich unterstelle Gott edelmütige Absichten, von denen ich überzeugt bin, daß ER sie hat. Aber meinen beflissenen und strengen Pfarrkindern könnte das mißfallen. Sie wissen, wie Kämpfernaturen sind: sehr oft royalistischer als der König selbst.«

Ernest Tafardel zog nachdenklich an seinen grauen Schnurrbartenden, wobei sein Zeigefinger mechanisch den Knorpel seiner vorspringenden und leicht schiefen Nase rieb, auf der er die Brille vor seinen träumerischen Augen zurechtrückte.

»Herr Ponosse«, sagte er feierlich, »ich konnte im Namen eines Ideals, dessen Verwirklichung meiner Meinung nach die Kirche im Wege stand, Ihr Gegner sein, weil Sie ein Priester waren. Aber gegen Sie als Mensch habe ich nie etwas gehabt.«

»Herr Lehrer«, sagte Ponosse, »ich habe immer gewußt, daß in Ihnen das Feuer eines Apostels brennt. Jeder aufrichtige Glaube verdient gleiche Würdigung.«

»Ich habe dafür gekämpft«, erklärte Tafardel, »daß nicht schon kleinen Kindern zwangsweise ein Gott mit einem engherzigen politischen Standpunkt aufgedrängt wird. Ein Gott der Unterdrückung, der Mißbräuche und skandalöse Vorrechte begünstigt.«

»Gott wird mit allen Saucen gereicht, ohne daß er gefragt wird. Ich habe einem Gott gedient, der mir notwendig schien, und wünsche mit niemandem Streit zu haben. Ein Gott, der Ärgernis haßt und vor allem auf Ehrlichkeit des Herzens sieht.«

»Wie die Priester so Gott, Herr Ponosse! Wenn es nur solche wie Sie gäbe …«

»Wie der Herr so der Unterricht, Herr Tafardel. Wenn alle Lehrer wären wie Sie …«

»Ich muß Ihnen sagen, Herr Ponosse, daß ich keineswegs gegen eine liberale Religion bin, die sich von Übergriffen fernhält. Wahrscheinlich gibt es Leute, die ohne Religion nicht leben können.«

»Davon bin ich auch überzeugt, Herr Tafardel. Menschen, die sich selbst hinreichende Grundsätze zu geben fähig sind, sind selten. Ich stelle aber nicht in Abrede, daß es welche gibt und daß sie sich bisweilen höchst verdienstlich aufführen. Die große Gefahr, die sie bedroht, ist die Überhebung.«

»Was Ihre Anhänger gefährdet, ist die Heuchelei. Sie zählen sich auf billigste Weise zu den Gerechten. Sie schaden dem Ansehen Ihres Gottes und erwecken Haß gegen ihn.«

»Ach«, seufzte Pfarrer Ponosse, »ich muß meine Christen nehmen, wie sie sind. Sind Sie immer mit Ihren Anhängern zufrieden?«

»Ich gebe zu«, sagte der alte Schulmeister, »daß sie von ›Freiheit‹ und ›Brüderlichkeit‹ manchmal sonderbare Begriffe haben.«

»Das ist wie mit der Barmherzigkeit unter den Meinigen. Sie läßt oft viel zu wünschen übrig.«

»Herr Ponosse«, erklärte Tafardel, »dies Gespräch hätten wir vor dreißig Jahren haben sollen!«

»Sicher, Herr Tafardel. Aber wäre das möglich gewesen? Damals krankten wir an Fanatismus. Unsere Anhänger, Ihre wie meine, hätten vielleicht über Verrat gezetert. Anführer sind selten frei und können selten nach eigenem Ermessen entscheiden.«

»Herr Ponosse«, sagte Tafardel ernst, »ich habe nie Kompromisse geschlossen, die ich nicht hätte verantworten können.«

»Davon bin ich überzeugt, Herr Tafardel. Aber das Verantwortungsgefühl kann sehr spitzfindig sein. Ich sage das aus eigener Erfahrung.«

»Herr Ponosse«, begann Tafardel wieder, »im Schutz einer Religion und auf sie gestützt, konnten Sie sich behaglich ausruhen. Ich im Laizismus konnte das nicht. Keine Religion haben ist eine anspruchsvolle Religion, wenn man gegenüber seinesgleichen seiner Pflicht nachkommen will.«

»Das gebe ich gern zu«, sagte der gute Ponosse, »und mir wäre es auch zu anstrengend gewesen. Die Sicherheit, daß es Gott gibt, hat mir das Leben erleichtert. Aber ich frage mich doch, ob nicht der wirklich religiöse Geist in Ihnen, Herr Tafardel, lebte.«

»Und in Ihnen der Geist des Liberalismus.«

»Das ist nicht mein Verdienst: das hängt mit meiner natürlichen Nachsicht zusammen, die man auch als Mangel an Kampfgeist hat bezeichnen können. Katholiken haben mir Schwachheit vorgeworfen. Aber ich habe mich mir nie in einem anderen Beruf vorstellen können oder daß ich ihn in anderer Weise ausgeübt hätte. Sie etwa?«

»Ich auch nicht«, sagte Tafardel. »Wenn ich wieder anfangen müßte, würde ich wieder Schulmeister werden. Junge Geister zu bilden …«

»Einfachen Seelen zu helfen …«, murmelte Ponosse.

Dieses Gespräch endete auf der Schwelle des Pfarrhauses, zu dem sie langsam zurückgekehrt waren, wobei der Lehrer seinen Schritt der tastenden Gehweise des alten Priesters anpaßte. Jetzt wollten sie sich voneinander verabschieden. Mit ausladender Geste nahm Tafardel seinen Panamahut ab und blieb barhäuptig.

»Herr Ponosse«, sagte er, »ohne irgend etwas von meiner Überzeugung aufzugeben, verneige ich mich vor Ihnen und grüße Ihres Herzens Edelmut.«

Auch Pfarrer Ponosse nahm sein Birett ab.

»Herr Tafardel«, sagte er, »ich neige mich vor der Festigkeit Ihres Charakters und Ihrer Aufopferung für die Sache der Menschen.«

Er reichte dem Lehrer die Hand, der sie drückte.

»Kommen Sie einen Augenblick mit herein?« fragte er, die Haustür öffnend.

»Ein andermal«, sagte Tafardel. »Aber ich verspreche Ihnen, Sie bald zu besuchen.«

 

Pfarrer Ponosse war nicht bei Appetit. Zu Mittag aß er ein kleines Omelett und etwas Kompott. Dazu trank er ein Glas mit einem gewissen alten, zart duftenden Clochemerler Wein, von dem er einen kleinen Vorrat hatte. Sein Magen konnte nur noch diesen Wein vertragen, der ihn ein klein wenig stärkte.

Über dem Verdauen kam ihm das Eßzimmer, ein feuchter Raum im Erdgeschoß, kühl vor. Er ging hinaus in den Garten, tat ein paar Schritte an der Mauer entlang und ließ sich die Schultern von der Sonne bescheinen. Da ihm die Sonnenstrahlen den Nacken verbrannten, legte er unter sein Birett ein buntgewürfeltes Taschentuch, das er als Vorhang über den Nacken fallen ließ. Eine seltsame Schwerfälligkeit befiel ihn, die aber nicht unangenehm oder beängstigend war, sondern eher Aufgabe, Verzicht bedeutete und ihm eine etwas zaghafte und sanfte Schwäche verlieh. In einem Winkel des Gartens stand im Schatten eines orangenen, auf einen eisernen Tisch montierten Sonnenschirms ein großer Polsterstuhl mit Kissen. Er setzte sich und ließ seinen Körper ausruhen.

Honorine brachte ihm dann seinen Kaffee und eine Flasche eines fünfundzwanzig Jahre alten Branntweins, den ihm jemand gestiftet hatte. Er nahm einen Tropfen auf ein Stück Zucker, um den Magensaft anzuregen (auf Ratschlag von Doktor Mouraille). Honorine brachte ihm auch seine Pfeife, seinen Tabaksbeutel und sein Brevier. »Jetzt haben Sie alles, was Sie brauchen«, brummte die Magd. »Jetzt werden Sie mal versuchen, ein bißchen stillzusitzen und sich auszuruhen. Sterben tut heute niemand. Während der Weinlese wird niemand krank, weil kein Mensch Zeit hat, sich um andre zu kümmern.«

»Gut, Honorine«, sagte Ponosse langsam. Er hatte vor seiner alten Magd Angst.

»Überall rumzulaufen, wie Sie das tun, hat in Ihrem Alter gar keinen Sinn. Sollte Ihnen der Herr Bischof nicht für die Hauptarbeit einen jungen Vikar schicken? Sollte er das etwa nicht?«

»Ich würde nie wagen, das von ihm zu verlangen.«

»Sie wagen es nicht, Sie armer Heiliger? Sie bringen sich lieber um, hä?«

»Ich werde im Dienst des lieben Gottes sterben, meine gute alte Honorine.«

»Der liebe Gott, der liebe Gott! Der liebe Gott hat Ihnen nicht vorgeschrieben, sich dumm zu benehmen. Was nützt es Ihrem lieben Gott und der Religion, wenn Sie tot sind? Und wen wird man schicken, um Sie zu ersetzen? Sie glauben doch nicht etwa, daß ich bei einem pausbäckigen Pfarrerlein mit Birett, der mit den Kindern herumturnt und Pfeifensignale gibt, in Dienst trete? Ich bin fast zu nichts mehr nutz. Sollte man uns nicht einen Ruhelohn zahlen, wenn man sieht, was aus uns beiden geworden ist? Ihre Religion ist wahrhaftig geiziger als die Gottlosen. Die zahlen ihren alten Dienern Pension.«

»Im Himmel wird es uns besser gehen.«

»Wenn ich denke, wie dumm ich hier auf Erden gewesen bin, wird mir angst, daß ich auch noch in Ihrem Himmel übers Ohr gehauen werde. Mir geht’s wie Ihnen, Sie Armer. Ihnen werden die guten Plätze auch an der Nase vorbeigehen. Glauben Sie ja nicht, daß die schlauen dicken Kanoniker aus Lyon nicht vor Ihnen reinkommen werden.«

»Was macht das, Honorine? Wir brauchen ja nicht viel Platz.«

»Schön, wenn Sie damit zufrieden sind. Ich habe die bescheidenen Plätzchen jetzt satt. Ich habe keine Lust, die ganze Ewigkeit lang die alte Küchenhonorine zu bleiben. Die bin ich lange genug gewesen. Und in Clochemerle auch.«

»Aber Honorine!« sagte der Pfarrer und fuhr, da er ihre schwache Seite kannte, fort, »ist der Wein von Clochemerle etwa nicht gut?«

»Na ja«, sagte Honorine, »das ist aber auch das einzige, was mich abgehalten hat, Ketzerin zu werden und Gott abzusagen.«

»Gott absagen! Honorine!«

»Ach, liebe Gotts gibt’s genug! Es gibt welche, die versprechen noch mehr als Ihrer. Himmel voller Feste mit Musikkapellen und bauchtanzenden Huris.«

»Honorine, Honorine! Sie denken doch nicht etwa daran, als Huri aufzuerstehen und Ihre Ewigkeit mit unanständigen Tänzen hinzubringen?«

»Das wäre immer noch unterhaltsamer als Geschirr spülen. Die Beine kann ich auch schwenken. Hier auf Erden habe ich meinen Beruf verfehlt, aber im Himmel werde ich mich schon entschädigen.«

»Das ist Aufruhr«, stellte Pfarrer Ponosse traurig fest, »der Geist Satans. Sie machen mir Kummer, Honorine.«

»Vor Ihrem Satan habe ich überhaupt keine Angst. Die, die mit ihrem Leibe schäkern, haben alles: Kleider, schöne Häuser, gutes Leben und Autos. Die Männer sehen sich die Augen aus dem Kopf nach ihnen und werden krank, wenn sie sie sich in gewissen Stellungen vorstellen.«

»Honorine! Das ist zuviel. Sie sind abscheulich!«

»Na schön«, unterbrach Honorine. »Bleiben Sie still sitzen und lassen Sie ihren Kaffee nicht kalt werden. Und dann machen Sie ein Schläfchen. Wenn die Clochemerler hinter ihren Bütten her sind, brauchen sie keinen Pfarrer. Ich werd’ jetzt bei Adèle ein bißchen Most probieren. Wenn Sie mich nötig haben, brauchen Sie nur zu läuten.«

Pfarrer Ponosse schloß die Augen. Es überkam ihn eine Schläfrigkeit, ohne den geringsten Wunsch, ohne das geringste Bedürfnis, auch nur irgendeine Bewegung zu machen, und seine Gedanken glitten ins Ungewisse. Unter der rosa Decke seiner Augenlider erriet er um sich herum seinen stillen, von Mauern eingesäumten Garten mit der großen reglosen Magnolie, der Weißtanne und der Hagebuttenhecke, dem Oleander, den Buchsbaumbüschen, den Hortensien und Lilien, mit denen man die Kapelle der Jungfrau schmückte. In der von Hitze knisternden Stille summten Insekten. Ein Vogel flog mit einem neckischen Triller auf einen Zweig. Die Luft war erfüllt vom Duft von Pfirsichen und Prinzeßbirnen, gemischt mit einem Ruch von Jasmin und warmen Brötchen aus dem Hause des Bäckers. Seine entspannende Schwäche, der tiefe und vertraute Frieden ringsum taten Ponosse wohl. Es war gerade die Art von Ruhe, deren sein verbrauchter Körper bedurfte. Er spürte diesen alten, von der Sonne erwärmten Körper kaum, während sein Geist in einem bläulichen Nebel schwamm, gleich denen der leuchtenden Morgen seiner Jugendjahre, in denen ganz von fern süß ein Choral von Engeln erklang, die sich lächelnd über die Erde neigten und über einen alten Landpfarrer unter einem orangenen Sonnenschirm, der allmählich das Bewußtsein, unter Menschen zu sein, verlor.

Hinter der Mauer der Sackgasse wurden Stimmen laut. Eine sprach von Clochemerle.

»Clochemerle«, murmelte Pfarrer Ponosse, »mein liebes Clochemerle …«

Sein Kopf beugte sich tief auf die Brust hinunter, die Pfeife entfiel seinen halbgeöffneten Lippen und sein Birett rollte über den hellen Kies des Gartens. Irgendwo erhob ein Hund ein langes Klagegeheul. Aber der Nachmittag leuchtete weiter, die Kirchenuhr schlug die Viertelstunden, die halben und die ganzen, die Fahrzeuge polterten und der Dunst gepreßter Weintrauben breitete sich weiter aus.

»Sind Sie da, Herr Ponosse? Wollen Sie wohl machen, daß Sie reinkommen! Es wird kühl, Sie werden sich erkälten. Wo sind Sie, Herr Ponosse, wo stecken Sie denn?«

Die Sonne ging hinter den Azerguer Bergen unter und lag nur noch auf den hohen Hängen und dem Wetterhahn des Kirchturms. Dunkelheit rollte ein, stieg in die Weinberge und hüllte die Natur in abendliche Halbtöne mit tieferem Grün. Septembernebel stiegen aus den Tälern. Abendläuten, in regelmäßigen Abständen plötzlich aufplatzend wie Seifenblasen, ging von Berg zu Berg.

»Sind Sie da, Herr Ponosse? Antworten Sie doch, Donnerwetter!«

Die alte Honorine hatte unmäßig viel Most getrunken und abwechselnd auch Wein vom vergangenen Jahr dazwischen. Die Clochemerler waren immer bereit, ihr einzuschenken. Sie hörten ihr gern zu, wenn sie frei von der Leber weg über den Bischof sprach und über die Reformen, die der Kirche durch vorbildliches Beispiel wieder ihre alte Autorität geben würden. Wenn sie ein Glas in der Nase hatte, legte die Magd das Dogma auf ihre Art, und zwar auf eine sehr radikale Art, aus. Dieser wortreiche Gerechtigkeitsfimmel war Honorine während der Wechseljahre gekommen, gerade als sie eine wilde Leidenschaft für das Trinken angenommen hatte. Zu derselben Zeit hatte sie angefangen, über den Glauben zu räsonieren, was, da sie ohne jedes theologische Gepäck reiste, die sonderbarsten Folgerungen zeitigte.

Gerade an diesem Abend hatte man sie mit starker Schlagseite die Schenke verlassen sehen. Es war allgemein bekannt, daß der alte Pfarrer vor seiner furchtbaren Magd Angst hatte. »Der arme Ponosse wird heute was von ihr auszustehen haben«, sagten die Clochemerler und lachten.

Aber nichts dergleichen geschah. Honorine entdeckte ihren Herrn hinten im Garten in seltsamer Haltung vor seiner nicht leer getrunkenen Kaffeetasse. Diese Tasse mit kaltem Kaffee, in der sich ein Stück Abendhimmel spiegelte, erschreckte sie mehr als die starre Haltung des alten Priesters. Zugleich aber ärgerte sie sich, daß er ohne Kopfbedeckung in der gefährlichen dämmerungsfeuchten Abendluft saß, obwohl er doch solche Angst vor Schnupfen hatte. Aber vom Wein wohlig erhitzt, war sie noch weit davon entfernt, an etwas Unabänderliches zu denken.

»Sie sind doch wohl nicht klug«, sagte sie, »zu dieser Zeit noch draußen zu sitzen! Sie werden sich erkälten. Hören Sie, Herr Ponosse?«

Ihr Herr gab keine Antwort. Die völlige Stille des Gartens, eine ungewöhnlich leere Stille, ließ sie plötzlich Schlimmes ahnen. Mit verzweifelter Energie schüttelte sie den Pfarrer an der Schulter. Er schwankte, aber seine Augen blieben geschlossen. Sein Körper atmete nicht mehr und auch sein Kehlkopf schnarchte nicht mehr leise wie sonst bei schlafenden Greisen. Und dann diese glänzende, nicht angerührte Tasse vor einem Menschen, der seinen Kaffee nie kalt werden ließ … Honorine begann sich zu fürchten.

»Jesus Maria!« rief sie aus. »Sie werden mir nicht erzählen, daß Sie tot sind, Herr Ponosse?«

Auch darauf gab der alte Priester keine Antwort.

»Sie sind doch nicht tot, he? Sie sind doch nicht tot, Herr Ponosse?« wiederholte Honorine automatisch. Ihre Stimme stieß wie ein Geläute gegen die Mauern des Gartens, dessen Rasenflächen immer mehr eindunkelten.

Honorine bemerkte das Birett mit seinem zerschlissenen Seidenfutter nach oben. Sie hob es auf und staubte mechanisch die Troddel ab. Dann, noch immer das Birett in der Hand, verließ sie so rasch, wie es ihre rheumatischen Beine und der genossene Wein gestatteten, den Bereich des Pfarrhauses und stürzte mit dem Ruf: »Fräulein Chavaigne! Fräulein Clémentine!« in die Mönchsgasse.

 

Im ersten Haus der Sackgasse öffnete sich ein Fenster. Etwas Strenges, Graues beugte sich heraus. Ein eckiges Gesicht zwischen glatten Haaren mit einem Dutt zeigte sich. Eine heisere Stimme fragte:

»Was gibt’s?«

»Kommen Sie rasch, Fräulein Chavaigne«, sagte Honorine und schwenkte das Birett. »Pfarrer Ponosse ist eingeschlafen wie tot.«

»Heißt das: er ist gestorben?«

»Ich fürchte mich hinzusehen«, sagte Honorine. »Aber es sieht ganz danach aus. Wenn ich rufe, gibt er überhaupt keine Antwort …«

 

Der Ort bereitete dem alten Pfarrer ein würdiges Begräbnis. Seine letzten achtundvierzig Stunden unter den Menschen verbrachte Augustin Ponosse in seiner geliebten Kirche, ganz hinten im Chor, wo die Bahre inmitten eines schönen Ruhealtars aufgestellt war, vor dem sich die frommen Frauen und einige Marienkinder, jung wie die Blumen, in Gebeten abwechselten.

Die Kirche war kühl, duftete nach Weihrauch und war erfüllt von Flüstern und Fürbitten. Die beiden Türflügel ließen einen Sturz Sonnenschein herein, das Geräusch von Wagen und rollenden Fässern. Über den Vorplatz hüpften Gottes Vögel und bedankten sich für das ihnen gespendete Futter mit lebhaftem Tschilpen. Ein paar wilde junge Hunde tollten, ihre zottigen Ohren schüttelnd, im Mittelgang und störten mit ihrem Schnüffeln die Andacht. Wenn man sie verjagte, blickten sie komisch erschreckt. Eine Ziege, weiß Gott woher, schaute herein und meckerte kläglich. Eine Schwalbe, die ihr Nest in ein Schalloch des Turmes gebaut hatte, kam durch eine Fensteröffnung herein und zog, mit den Flügeln gegen die verblichenen goldenen Sterne am Gewölbe schlagend, lange Kreise im Schiff. Die Pfarrkatze hatte sich aus dem Haus gestohlen, ging auf leisen Sohlen bis zum Katafalk und legte sich dort nieder. Niemand wagte, sie zu vertreiben. Draußen hörte man ruhige Stimmen, die sagten:

»Das ist ein verflucht gutes Jahr. Das gibt einen Wein! Claudius Brodequin wird allein aus dem Guten Abhang seine dreißig Fässer herausholen.«

Ein letztes Mal umgab den Pfarrer Ponosse das Landleben mit der Selbstverständlichkeit der von Gott geschaffenen Natur und der gesunden, von ihm gutgeheißenen Betriebsamkeit der Landarbeit, während Clochemerles guter Wein in den Bottichen gärte.

 

Dieser Tod zeitigte einige Wunder, an die gewisse Geister, die am Übernatürlichen und Fabelhaften besonderen Gefallen fanden, noch lange zurückdachten.

Eine Frau aus dem unteren Teil des Ortes, mit Namen Catherine Repinois schwor, sie habe, während sie allein an Ponosses Leiche weilte (weil ihre Gefährtin sich mal einen Augenblich entfernt hatte), vom Taufbecken her den Ton einer Klarinette mit einem Geräusch wie Flügelschlag gehört. Gleichzeitig habe ein süßer Duft die Kirche erfüllt (»ein Duft so köstlich, wie ich nie einen erlebt habe, ein Duft wie von himmlischen Blumen«, drückte sie sich aus). Ein flammender Glanz lag um den Katafalk. Und eine unendlich sanfte Stimme, die hoch aus der Apsis zu kommen schien, sprach die prophetischen Worte:

»Ein Tag wird kommen, da wirst du der heilige Ponosse sein, weil deine Demut Gottes Herz gerührt hat. Zu deinem Andenken werden im Lande große Wunder geschehen, ganz Frankreich wird auf Clochemerle blicken.«

Dann war das Licht erloschen, der Duft verflog, die Stimme schwieg und auch die Klarinette. Aber alsbald schien das Unaussprechliche auch den Zorn der höllischen Gewalten zu erregen. In den großen Bäumen des Kirchplatzes heulte schaurig ein Nachtvogel. Fledermäuse stießen blind schwirrend an die rote ewige Lampe über dem Hochaltar, die zu schwanken begann und ihr Öl verschüttete. Aus dem Innern des Harmoniums kam ein düsteres Grollen. Aus dem Beichtstuhl kam schrecklich schrilles Gelächter (»ein richtiges Teufelsgelächter, daß einen eine Gänsehaut ankam«, sagte Catherine Repinois). Im Gebälk des Kirchturms knackte es unheilverkündend, und die ganze Kirche begann, wie von einem Orkan hochgehoben, in der Nacht hin und her zu schwanken. Von Panik erfaßt, stürzte Catherine Repinois, alle Heiligen anrufend, aus der Kirche. Dort traf sie glücklicherweise Sophie Baratin und die Witwe Zoé Voinard, die jetzt mit Wachen an der Reihe waren, und berichtete ihnen, was sich getan hatte.

Im Innern der Kirche, wo die Kerzen brannten, sah es aus wie immer. Aber unter der ewigen Lampe des Hochaltars stand tatsächlich vergossenes Öl. Zoé Voinard glaubte einen leichten, aber wunderbaren Duft zu spüren, einen ganz eigenen Duft, der anders war als andere Düfte. Sophie Baratin spürte noch einen herben und nach Schwefel riechenden Dunst. Auch hingen die Stationen des Kreuzwegs schief an den Pfeilern, daß die Kirche sich wirklich bewegt haben mußte.

Am nächsten Tag wurden sämtliche Frauen von Clochemerle davon in Kenntnis gesetzt, was sich Wunderbares ereignet hatte. Die Aufnahme dieser Neuigkeiten war verschieden.

Der Preis der Frömmigkeit kam einigen alten Jungfern zu, an ihrer Spitze Clémentine Chavaigne, die die Nachfolgerin ihrer alten, seit Jahren verschwundenen Rivalin Justine Putet geworden war und auch deren Wohnung bezogen hatte. Diese Vestalinnen hatten, ohne Schönheit oder Familienpflichten, Zeit genug, sich um Gott und seinen Vertreter zu kümmern. Andererseits verlangte diese spießige und reizlose Schar, daß all und jedes, was mit Heiligkeit zusammenhing, ihrer Zensur unterlag. Diese Skapulierfräulein regelten die Angelegenheiten des Himmels, und ihre strengen Züge spiegelten heiligen Eifer wider. Das nächtliche Wunder faßten sie als einen Übergriff in ihre Rechte auf und wandten sich einstimmig dagegen. Clémentine Chavaigne stellte in ihrem Namen fest:

»Der Himmel offenbart sich nur Jungfrauen. Denken Sie an Jeanne d’Arc, an Bernadette, an die heilige Thérèse von Lisieux. Catherine Repinois mit ihren acht Kindern lügt und ist verrückt.«

»Vergessen wir nicht«, ließ sich honigsüß Pauline Coton vernehmen, »daß sie sich schon mit siebzehn Jahren in Repinois’ Bett gestürzt hat.«

»Das erklärt alles. Sie konnte es gar nicht erwarten.«

»Noch vor der Trauung!« beharrte Pauline Coton. »Ihr zweites Kind ist idiotisch, das dritte ein Albino. Ist das nicht eine Strafe Gottes?«

»Was mich wundert«, sagte die Chavaigne, »ist, daß der Herr Pfarrer in seinem Sarge sich zu einer derartigen Komödie hergibt.«

»Der Herr Pfarrer war eine so schwache Natur!« seufzte Pauline Coton. »Regieren tat im Pfarrhaus die Säuferin Honorine.«

»Heute nacht bleiben wir beide in der Kirche, liebe Pauline. Und schließen alle Türen. Sie wissen, wie furchtsam der Herr Pfarrer war. Wenn er, wie ich vermute, eine Mitteilung zu machen hat, wird er sich leichter in Gegenwart zweier Personen, zu denen er völliges Vertrauen hatte, dazu bereitfinden.«

In der folgenden Nacht ereignete sich ein zweites Wunder, das jedoch mit dem ersten nicht durchweg übereinstimmte. Gegen drei Uhr morgens begannen die Kerzen mit unerhörter Geschwindigkeit herabzubrennen und Funken zu sprühen (»wie die leidenden Seelen im Fegefeuer«, hieß es im Bericht). Dann flog durch die Dunkelheit eine von Licht schimmernde völlig weiße Taube (»von der jungfräulichen Weiße der Heiligen Jungfrau«). Vom Scheitel des Mittelschiffs senkte sich eine leuchtende Aureole auf den Katafalk hinab (»ungefähr wie eine feurige Zunge auf das Haupt eines Apostels«). Eine Stimme ließ sich vernehmen, eine unirdische Stimme, die trotzdem unverkennbar die von Pfarrer Ponosse war (»man erkannte sie gleich an ihrem etwas schleppenden Tonfall«), und diese Stimme sagte:

»Ich habe Sie, Fräulein Clémentine Chavaigne, ausersehen, über mein liebes Clochemerle zu wachen und die Verkündigung der Wunder entgegenzunehmen. Friede meinen guten Pfarrkindern. Nehmen Sie meinen letzten Segen!«

Die Aureole erhob sich in die Lüfte (»wie über dem Haupte eines zum Himmel auffahrenden Heiligen«) und verschwand, während ein linder Luftzug die schwarze Decke und das Silber des Sakramentaltars bewegte. Dann holten sich die beiden Fräulein aus der Sakristei neue Kerzen und reinigten die Leuchter von dem geschmolzenen Wachs. Jeder konnte tatsächlich am nächsten Morgen feststellen, daß die Kerzen ausgewechselt worden waren.

So lautete also der Bericht über die zweite Nacht der Wunder, den die frommen Frauen aus dem Munde von Clémentine Chavaigne vernahmen. Ähnliches verbreitete Pauline Coton. Nur in einem Punkt wich ihr Bericht von jenem ab. Danach hatte der hingeschiedene Pfarrer Ponosse gesagt:

»Fräulein Pauline Coton und Fräulein Clémentine Chavaigne, ich habe Sie ausersehen« usw.

Das war eine geringfügige Diskrepanz, die übelgesinnten Geistern nicht entging. Mélanie Boigne, Clochemerles tapferste Familienmutter, die fünfzehn Kinder zur Welt gebracht hatte, auf der Seite von Catherine Repinois stand und die alten Jungfern haßte, die nichts für die Menschheit leisteten, diese Egoistinnen, die, anstatt Kinder zu waschen und ihrem Mann das Essen zu kochen, mit dem lieben Gott herumwedeln, erklärte rundheraus, daß sie an diese zweite Erscheinung nicht glaube. Wenn sich wirklich etwas Übernatürliches in der Kirche abgespielt hätte, würde der große heilige Rochus, dem die Ohren sicher nicht in der Tasche steckten, es auf jeden Fall durch veränderte Haltung zu erkennen gegeben haben.

Einige verheiratete Frauen begaben sich zu einer Lokalinspektion. Aber der heilige Rochus hatte noch immer den gleichen granitenen Ausdruck von Seligkeit. Er schien keineswegs gesonnen, das zweite Wunder zu bestätigen. Es war sicher, daß der heilige Rochus, der Augustin Ponosse so oft hatte predigen hören, dessen Stimme besser kannte als irgend jemand. Er wäre sehr überrascht gewesen, diese Stimme plötzlich um drei Uhr morgens zu hören, wo er doch wußte, daß Ponosse in seinem Sarge lag und der Pfarrer von Clochemerle zu seinen Lebzeiten um diese Zeit friedlich zu schlafen pflegte. Ein Heiliger kann wohl den Rücken drehen, so blöde ist er nicht, um sich nicht, wenn ein solches Wunder geschieht, zu sagen: »Sieh mal an: der alte Ponosse ersteht wieder auf!« Folglich hätte er auch hingeguckt, selbst wenn er seinen Standort hätte wechseln müssen. Aber der heilige Rochus hatte sich nicht gerührt und in seiner Pilgertracht seine glückselige Miene unverändert beibehalten.

»Das hat«, erklärt Mélanie Boigne, »die Chavaigne erfunden, die mit ihrer boshaften Eifersucht noch mal enden wird wie seinerzeit die Putet! Diese alten Jungfern wissen eben nicht, womit sie sich beschäftigen sollen. Sogar die Heilige Jungfrau hat sich um das Jesuskind gekümmert. Sie mußte es abhalten, baden, ihm den Hintern wischen und das Trulala. Denn der kleine Jesus war eben ganz wie andere kleine Jungen, sonst hätte man ihn nicht beschneiden können wie die Juden. Die Heilige Jungfrau war eben wahrscheinlich eine Frau wie alle andern. Die natürlichen Dinge hat Gott mit eigenen Händen geschaffen, mit seinem Einverständnis kommen die Kinder zur Welt, weil er selbst diese Art von Geburt erfunden hat. Wenn Boigne faul wäre, hätte ich keine fünfzehn Kinder, alle christlich getauft und dann gefirmt, alle gute Clochemerler und gute Franzosen. Fünfzehn Seelen hab’ ich der Gemeinde geschenkt, wobei ich – ich scheue mich nicht, es zu sagen – durchaus, genauso wie Boigne, auf meine Kosten gekommen bin. Hat auch nur eine von diesen Dörrpflaumen etwas Ähnliches zustande gebracht? Ihre Tugend reicht gerade zum regelmäßigen Stuhlgang. Wir aber, die wirklichen Frauen, haben lebenspendende Bäuche, und unser Leib hat, wie es im Englischen Gruß heißt, Früchte getragen.«

Diese Rede entflammte die Mütter, die für den Bestand von Clochemerle und die Seelenzahl des Himmels gewirkt hatten. Sie einigten sich dahingehend, daß man eher Catherine Repinois Glauben schenken müsse, einer Mutter von sieben Kindern, wobei das letzte Wort noch nicht gesprochen war.

Die alten Jungfern ihrerseits fanden Anhänger für das zweite Wunder unter den Sterilen, die des Glaubens lebten, daß, wenn sie sich unter der unreinen Berührung durch einen Mann entzogen hatten, ihnen das ein Recht auf ein Monopol von Beziehungen zum Himmel gebe.

In diesen Gegensätzen schlummerten gefährliche Gärungskeime für später, Keime eines neuen Religionskrieges. Aber im Augenblick ließ man diese Dinge ruhen, Clochemerles Pfarrer durfte nicht inmitten von Streit und Gezänk beerdigt werden.

 

An dem Begräbnis nahm bis auf die Krüppel und die Kranken ganz Clochemerle teil. In einem Grade, daß eine schwangere Frau im Augenblick der Absolution eiligst nach Hause gehen mußte. Man bemerkte bekannte Gottesleugner in der Kirche und beobachtete, wie sie einen Finger ins Weihwasserbecken stippten. Unter ihnen war auch der Dr. Mouraille, der seine Patienten seit drei Jahrzehnten Ponosse übergab. Er wollte wissen, wie dessen Nachfolger aussah und ob der den Sterbenden die bittere Pille ebenso gut würde verzuckern können.

Auf dem Friedhof gruppierten sich die Clochemerler nach Geschlechtern, gesellschaftlichem Rang, Verwandtschaft und Nachbarschaft.

In der vordersten Reihe bemerkte man Frau Baronin Courtebiche, einstmals die schöne Alphonsine geheißen, die in der Zeit des Korsetts, der Cancans und der vielspännigen Equipagen in Paris ihre größten gesellschaftlichen Erfolge gehabt hatte. Damals war sie unter den berühmten und gesuchten Frauen eine der stürmischsten Amazonen gewesen, denen man im Bois begegnete. Ein russischer Großfürst, ein Riese mit einem Kinderlachen, der immer ein wenig von Wodka und Champagner betrunken war, war närrisch in ihren gebieterischen Reiz verliebt gewesen und hatte ihr auf ebenso verschwenderische wie ausgefallene Weise den Hof gemacht. Einige alte Pariser, die sich in der Aristokratie auskannten, hatten sie in Prousts Schilderung der Herzogin von Guermantes wiederzuerkennen geglaubt. Nur daß die Baronin weniger manieriert war und einen zuverlässigeren Charakter hatte. Wenn man den Ausdruck Husar auf eine Frau anwenden könnte, hätte keine diese Bezeichnung besser verdient als gerade sie. Sie griff mit einer casanovahaften Unverfrorenheit immer offen an. Ein italienischer Monsignore, den sie, als er in Rom die Basilika von St. Peter verließ, überrumpelte und umarmte, mußte zwei Jahre im Kloster von Monte Cassino zubringen, um sich von der Vergiftung durch ihre Liebkosungen zu reinigen. Sie versetzte die Männer in Flammen und verbrannte sie zu Asche. Jetzt war sie taub und häßlich, eine Karikatur dessen, was sie in ihrer Glanzzeit gewesen war, aber für ihr Alter noch immer stattlich, und galt im Lande als ein Original. Die Clochemerler waren auf ihre Schloßherrin stolz, über deren heftige Launen, unbekümmerte Mienen und ungeschminkte Sprache sie sich immer wieder wunderten.

Im Augenblick mißfiel ihr sehr, daß der Abgeschiedene unhöflich genug gewesen war, zu sterben, ohne sich vorher auf dem Schloß verabschiedet zu haben. Es war, als habe ihr ein alter Diener die Treue gebrochen. Seit anderthalb Jahrzehnten war der Pfarrer von Clochemerle jede Woche ihr Gast im Schloß gewesen. Er spielte mit ihr Domino, Tricktrack und nahm ihr die Beichte ab. Letzteres mehr der Form halber, als um einem religiösen Bedürfnis Genüge zu tun. Die Baronin pflegte sich dann in ein Ecksofa zu setzen (vor Gott wäre sie durchaus bereit gewesen, zu knien, das hätte sich auch nach ihrer Ansicht so gehört. Aber nicht vor Ponosse, diesem Lackel, der in seinem ganzen Leben ausschließlich Bischöfen die Hand geküßt hatte). Das ergab dann Unterhaltungen wie diese, bei denen der gute, aber schüchtern ehrfürchtige Pfarrer, der die Fehler einer großen Dame mit ehrerbietiger Nachsicht ansah, eine fast passive Rolle spielte.

»Meine Sünden?« sagte die Baronin und zuckte die Achseln, »ich weiß wahrhaftig nicht … Man kann mir Mangel an Geduld vorwerfen. Aber mit Dummen halte ich es nun einmal nicht aus.«

»Man muß ihren Gesichtspunkten Rechnung tragen, Frau Baronin.«

»Niemals, Ponosse! Das können Sie von mir nicht verlangen. Ich will gern barmherzig sein, aber ich werde nie zu den Dummen hinuntersteigen.«

»Die können ja nichts dafür, Frau Baronin.«

»Ich auch nicht!«

»Die ersten werden die letzten sein‹, Frau Baronin …«

»Hören Sie mir doch mit diesem Unsinn auf! Sollte Gott es tatsächlich vorziehen, sich mit Mittelmäßigkeiten zu umgeben, was soll ich dann von ihm denken? … Sie werden sagen, ich bin nicht demütig genug? Nun, Ponosse, wenn ich denke, was ich gewesen bin und mich mit den Frauen von heute vergleiche, die so überaus klägliche Figur machen, so muß ich sagen: ich bin viel zu demütig gewesen. Wirklich, Ponosse. So ist es. Wenn ich noch einmal leben könnte …«

»Sie denken nur daran, Frau Baronin?« unterbrach Ponosse erschrocken.

»Ja, noch eins: aber das hat keine Konsequenzen mehr. Einen hübschen Jungen oder einen schönen Mann sehe ich noch immer mit interessierten Augen an. Eine Gewohnheit, die mir von früher her geblieben ist, als meine feste Absicht, tugendhaft zu bleiben, selten länger als achtundvierzig Stunden den Antrieben meiner Natur widerstand.«

»Frau Baronin!«

»Doch, das ist so, Ponosse. Bis ich fünfzig wurde, habe ich furchtbar viele gute Absichten umgeworfen. Auf die angenehmste Weise, das schwöre ich Ihnen. Was ist Schlimmes dabei, mein Lieber? Tugendhaft zu sein, war mein Beruf nicht.«

Neben der Baronin stand ihre Tochter, Estelle de Saint-Choul, formlos und beleibt, die mit ihren dicken blassen Lippen und der ausgeprägten Bourbonennase wie eine der von Goya gemalten, verstörten Prinzessinnen aussah. Da die Taubheit nicht mehr die gefährliche Tragweite ihrer Stimme dämpfte, hörte man ihre Mutter ihr oft zuschreien: »Mein Kind, Sie sind die größte Dummheit meines Lebens!« Das trug nicht gerade dazu bei, Estelles Selbstgefühl oder Betätigungsdrang zu beleben.

Sonst waren an Standespersonen noch zugegen: Noémie Piéchut, die Gattin des Bürgermeisters und Senators, eine große, knochige und farblose Person, von der es hieß, daß sie mehr Wert auf Geld als auf Ehren legte; Frau Pimpalet, die Frau des neuen Notars, der sein Amt etwas bürgerlich herablassend ausübte; Frau Cudoine, die Frau des Chefs der Gendarmerie, eine Matrone, die stolz darauf war, auf der Seite des Gesetzes zu stehen und täglich mit der Staatsgewalt zu Bett zu gehen; Fräulein Auvergne, die Posthalterin; Fräulein Dupré, die Lehrerin; Frau Fouache, die würdige Einnehmerin im Tabaksbüro; Adèle Torbayon, die mit Recht wegen ihrer Molligkeit berühmte Schankwirtin, deren schöne umränderte Augen sich ein Feuer bewahrt hatten, das Jünglinge träumen ließ.

Unter den Winzerfrauen bemerkte man zunächst die Mütter vieler Kinder wie Mélanie Boigne, Catherine Repinois, Eulalia Quille, Marie-Louise Maffigue, Annette Soupiat usw. Mitten unter ihnen stand die frische appetitliche Rose Brodequin, das Musterbeispiel einer Frau und fröhlichen Gattin.

Weiter hinten standen die alten Jungfern und die enttäuschten Witwen um Clémentine Chavaigne und Pauline Coton herum. Von diesen Mageren und Verwelkten gingen kalte, lauernde, aber durchdringende Blicke aus, die verstohlen über alle anderen strichen. Diese Richterinnen urteilten streng über Männer und Frauen von Clochemerle, und seltsamerweise beschäftigten sich diese Unerfahrenen und Einsamen besonders mit dem geheimen Liebesleben der anderen.

Zwischen diese Verheirateten und die alten Jungfern hatte man die bunte Menge der errötenden und ein wenig dümmlichen, aber immerhin bereits hübschen und vielversprechenden Marienkinder gestellt als angenehme Unterbrechung, auf die alle jungen Burschen schauten, um sich, der eine fruchtbare Familienmutter, der eine zärtliche und hingebende Geliebte, der eine gute gelehrige Hausfrau auszusuchen. Schon konnte man in dieser reifenden Jugend jene herben und mürrischen Züge unterscheiden, die ihre Trägerinnen zur Einsamkeit und bitteren Zurückgezogenheit verurteilten, diejenigen, die eine ehrliche Chance hatten, eine gute Winzerfrau zu werden, die Frühreifen mit ihrem stolz über festen Hüften getragenen Brustkasten, deren vorzeitige Neugier die kleinen Schauer über ihrem soliden Rücken verrieten.

Eines dieser Marienkinder ließ an jugendlichem Reiz, an strahlendem Wesen und unnachahmlicher Anmut alle andern weit hinter sich. Sie war Frühling, Sommer, Herbst in einem. Einwandfrei hübsch, mit großen dunkelblauen Augen, blankem kastanienbraunem Haar, einem hübsch gezeichneten Mund, mit Botticelliwangen und einem sauber ausgeprägten Kinn. Der wirkliche Reiz ihrer Schönheit lag jedoch darin: man wurde froh, wenn man sie sah. Ihr Blick ließ die Leute merken, daß sie noch ein Herz hatten. Ihr Name war Marie Coquelicot. Wenn die Clochemerler sie zu Gesicht bekamen, pflegten sie zu sagen: »Sie ist doch reizend, die kleine Marie Coquelicot. So etwas Goldiges wie Marie Coquelicot gibt’s gar nicht wieder.«

Sie verschönte diesen sanften Septembertag, über ihr schien sich der Himmel reiner zu wölben. Die jungen Stutzer wagten nicht, sie renommierend oder zynisch anzusehen, und die reifen Männer nicht allzu sachkundig und zudringlich. Die Mütter wagten nicht, eifersüchtig auf sie zu sein, und die alten Jungfern nicht, ihr etwas nachzureden. Marie Coquelicot war ein Wunder, die Frauen waren auf sie als auf einen Ruhm ihres Geschlechts stolz. Die Männer lächelten ihr gern zu, um sie glücklich zu machen, aber hätten an nichts anderes gedacht, um nicht das Vertrauensvolle und Unmittelbare ihres Wesens abzuschrecken. Sie träumten davon, sie um ihrer selbst willen zu lieben, ohne mehr dafür von ihr zu verlangen, als daß sie sie nicht verachtete und die süße kleine Marie Coquelicot, das Wunder von Clochemerle, bliebe.

Lange war sie ein kleines Mädchen wie alle anderen gewesen, auf die niemand besonders achtgab. Dann hatten sich unter ihrem Mieder die knospenden Brüste bemerkbar gemacht. Dann hatte sie angefangen, die Haare hoch zu tragen, die den Nacken und ihre kleinen rosa Ohren freiließen. Ihre Natur begann sich zu entfalten wie eine Tulpe im Mai. Und eines schönen Tages sagten die Clochemerler, als sie so jung und strahlend im Frühlingssonnenschein einherging: »Haben Sie das gesehen? Wer war das denn?« Das war noch gar nicht lange her. Aber schon war ihr Name jedermann geläufig. Er erinnerte an Rosen- und Maiglöckchenduft, an wiegende Äste, an dahinziehende Wolken und Quellengeriesel, alles, was das Herz bewegt und träumen macht. Die Männer behielten diesen Namen in einem Winkel ihres Gemütslebens, der sonst voll von ungeschminktem Begehren und direkten Wünschen war, und aus diesem Winkel erklang es wie ein Lied aus ihrer Kindheit: Marie Coquelicot, Marie Coquelicot, Marie Coquelicot …

Um das Grab gedrängt, in das die sterblichen Überreste von Augustin Ponosse hinabgesenkt wurden, blickten die Clochemerler also mechanisch auf die kleine Marie Coquelicot, während die Verdienste von Clochemerles gutem Pfarrer, der jetzt bis zum Ende aller Tage unter seinen Lämmern ruhen sollte, durch Worte gefeiert wurden.

»Herr Pfarrer«, sagte Senator Piéchut (der in Paris zugelernt und in politischen Kreisen die Kunst rednerischer Nuancen begriffen hatte), »es steht mir nicht zu, festzustellen, ob Sie nach dem Gesetz der Kirche ein guter Pfarrer gewesen sind – wovon ich für meine Person übrigens überzeugt bin –, aber wohl steht mir zu, festzustellen, daß Sie ein guter Mitbürger unseres Beaujolais gewesen sind, ein brüderlicher und seinen Mitmenschen völlig ergebener Mann. Politisch gehörten Sie, Herr Pfarrer, durch Ihr Einstehen für die Armen und Schwachen zur Linken, ganz wie Ihr Herr und Vorbild Jesus Christus, den der römische Staat als Aufrührer marterte. Nicht das Kleid macht das Wesen eines Menschen aus, sondern sein gutes Herz. Das Ihrige war berühmt im ganzen Land und gehörte zu den Dingen, denen wir am stärksten verbunden sind. Es war der Honig in unserem Weinländchen. Mögen Sie, Herr Ponosse, in diesem Clochemerle, das Sie so geliebt haben und dessen warme Anhänglichkeit Sie noch lange spüren werden, ruhen. Sie haben sich Clochemerle hingegeben: Clochemerle behält Sie, Clochemerle betrauert Sie und beweint Sie. Ruhen Sie in Frieden für immer!«

 

Langsam ging die Menge auseinander und überließ den Pfarrer Ponosse der Sorge des Totengräbers, dem man den Beinamen Joanny Kadaver gegeben hatte. Die Clochemerler hatten Angst vor ihm, sie hatten das Gefühl, er lauere auf sie, ausschließlich darauf erpicht, sie, wie er sich ausdrückte, »in die Grube zu bringen«. Übrigens versprach er ihnen, pfleglich mit ihnen umzugehen, da er die Verstorbenen mit der Leidenschaft eines Sammlers liebte. Aber selbst dadurch ließ sich niemand locken. Die Frauen hielten ihn für imstande, jemandem etwas Böses anzuwünschen, und suchten seine Künste durch Trinkspenden abzuwehren. Dr. Mouraille hatte eine Heidenangst vor ihm; Joanny Kadaver hatte eine höhnische Art, ihm ins Gesicht zu sehen, die seine medizinische Wissenschaft herausforderte. Trotz seines Gleichmuts über den Tod der anderen, konnte sich Mouraille nicht an den Gedanken gewöhnen, daß er selbst einmal werde sterben müssen. Er verließ den Friedhof voll tiefen Abscheus, nachdem der Totengräber ihm zugeblinzelt und einladend auf das offene Grab gezeigt hatte. Er begab sich zu Torbayon und trank zwei oder drei Apéritifs, um wieder zu sich zu kommen.

An diesem Tage glich der Herbst einem milden Sommer, der auf übermäßige Hitze verzichtet hatte. Die Landschaft leuchtete gedämpft, was ihren Reiz erhöhte. Man brauchte nur die Trauben im Bottich gären zu lassen und konnte sich des schönen Wetters erfreuen.