Die Mädchen sind frei - Gabriel Chevallier - E-Book

Die Mädchen sind frei E-Book

Gabriel Chevallier

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Beschreibung

Dominique, neunzehn, unverheiratet, aus bürgerlichem Haus, erwartet ein Kind. Was tun? In Tagebucheintragungen und Briefen schildert sie sehr freimütig die folgenden aufregenden Monate mit all ihren Verwicklungen und Problemen. Die Kernfrage ihrer Auseinandersetzungen mit der Familie, den Freunden und Bekannten: Wie frei ist ein Mädchen wirklich? Chevallier nimmt hier einmal nicht die Kleinbürger der französischen Provinz auf die spitze Feder. Boshaft entlarvt er mit der Geschichte des Mädchens Dominique die sogenannten »besseren« Kreise. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 348

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Gabriel Chevallier

Die Mädchen sind frei

Roman

Aus dem Französischen von Eugen Helmlé

FISCHER Digital

Inhalt

Die Sitten sind die [...]Die Mädchen sind frei [Teil 1]Die Mädchen sind frei [Teil 2]

Die Sitten sind die Heuchelei der Nationen; die Heuchelei ist mehr oder weniger perfektioniert.

Balzac

Ich will sagen: was ist eine Frau? Ich versichere Ihnen, daß ich es nicht weiß. Ich glaube auch nicht, daß Sie es wissen.

Virginia Woolf

Sobald eine Frau den Mann entdeckt, hört sie auf, eine Törin zu sein.

Abbé Paul Jury

Sie sind in Herzensdingen volljährig geworden.

Valery Larbaud

Dominique Sartier, Avenue Foch, Paris an Sylvia Crosset, Avenue Paul-Doumer, Paris

Paris, den 2. Oktober 195 ..

Ein böser Nackenschlag, mein Liebes! Ich kriege ein Kind! Ja, ich bin schwanger. Ich sag es nur Dir, weil Du mein anderes Ich bist. Aber erzähl es nicht weiter. Es gibt Neidhammel, die überglücklich wären, wenn sie es wüßten. Bist Du wahnsinnig? wirst Du mich fragen. Ich darf gar nicht daran denken … Es genügt ja schon so wenig, so entsetzlich wenig, um reinzufallen, und das, weißt Du, finde ich einfach ungerecht! Wenn man sich in den Ferien nicht einmal einen kleinen Augenblick gehenlassen darf, womit soll man dann seine Zeit ausfüllen und seinen Körper beschäftigen? Du bist betäubt von der Hitze, die Haut brennt Dir unter der Glut der Sonne, das einschläfernde Meer, die Einbuchtungen an der Küste entlang, die zu zärtlichen Zwiegesprächen geradezu herausfordern, die schweren Sportwagen, die mit einem davonbrausen, und der aufreizende Jazz, der von überall her grölt und dessen wildes Toben den Rhythmus der körperlichen Liebe ausdrückt …

Du weißt, daß der Trieb bei mir vorhanden ist, seitdem wir als Vierzehnjährige einen Vorgeschmack der Liebe suchten. Du warst so sanft in Deinem Schmachten und konntest so wunderbar erröten! Du hast mir vorgeworfen, ich sei heftig wie ein Mann, aber ich war nur voller Ungeduld. Der schöne Jef behauptet, daß ich »beim Startschuß schon auf dem Sprung« bin, und das ist selten, wie es scheint. Doch ich kann nichts dafür, ich bin nun mal so. Jef, Serge, Harry und all die Jungens, die mit ihren großen, muskulösen Leibern um mich herumstreichen, machen mich ganz schwach. Ich bin schon hinüber, kaum daß sie zum Angriff angesetzt haben. Ich schließe die Lider, vor meinen Augen sprühen Funken, ich fühle mich windelweich werden, und nun tut mit mir, was ihr wollt, ihr Herren und Meister. Diese brutalen Burschen!

Wenn ich ehrlich sein soll: man kann nicht immer sagen, daß es ihre Schuld ist. Von einigen Ausnahmen abgesehen, sind die Jungens eher einfältig und unbeholfen: junge, tolpatschige Hunde. Das kläfft, springt umher und schnuppert an dir herum wie an einer Hammelkeule. Aber sie bleiben zurückhaltend, sie zaudern. Was soll man da tun? Man hat sein Schamgefühl, man hat einen Rest kühler Vernunft … Ach Du, es ist zum Verrücktwerden, einfach zum Verrücktwerden, wenn einer sich nicht entschließen kann, ranzugehen! Es gibt Augenblicke im Monat (ich meine in unserem Monat), da würde ich mich für ein Nichts schon auf den Rücken legen. Zum Glück weiß es niemand.

Einen Augenblick, Liebste. Ich werde gerufen. Wahrscheinlich Besuch. Wenn es sich um eine alte Faselliese handelt, komme ich sofort wieder zurück.

Dominique Sartier schrieb diesen Brief, den sie im ersten Impuls begann, weder fertig, noch brachte sie ihn je zur Post. Als sie den Anfang wieder durchlas, wurde ihr brennend klar, daß sie dem Papier allzu intime Dinge anvertraut hatte. Immerhin bestand die Möglichkeit, daß der Brief in falsche Hände geraten konnte, und dieser Gefahr wollte sie sich lieber nicht aussetzen. So begnügte sie sich, ihrer Freundin einen weniger kompromittierenden Brief zu schreiben, den man im Folgenden lesen wird.

Dominique Sartier, Avenue Foch, Paris an Sylvia Crosset, Avenue Paul-Doumer, Paris Bitte nachsenden!

Paris, den 2. Oktober 195 ..

Meine liebe Sylvia!

Ich war furchtbar traurig, daß ich Dich nicht telephonisch erreichen konnte, seit ich wieder in Paris bin. Ich rief nach Dir, wie man um Hilfe ruft.

Mir ist eben erst wieder eingefallen, daß Du Ende September noch gar nicht nach Paris zurückkommen, sondern Deine Mutter nach Italien begleiten solltest. Du hattest es mir im Sommer gesagt, als wir uns das letztemal sahen. Ich hatte es vergessen. Entschuldige bitte, aber ich habe im Augenblick ganz den Kopf verloren.

Ich hoffe, daß Eure schöne Reise ihrem Ende zugeht. Ein sehr egoistischer Wunsch von mir. Aber ich möchte Dich so gern bei mir haben. Es ist mir etwas sehr, sehr Unangenehmes zugestoßen, eine Sache, die ich dem Papier nicht anvertrauen will. Ich warte ungeduldig auf die Gelegenheit, es Dir mündlich zu erzählen. Rate, wenn Du kannst. Deine Gegenwart wäre mir ein großer Trost und eine Stütze.

Schreibe mir schnell das Datum Deiner Rückkehr. Und komme zu mir, sobald Du zurück bist.

Tausend Küsse

Nique

 

P.S. Ich hatte diesen Brief in der Absicht begonnen, Dir ausführlich zu schreiben. Da sehr intime Dinge darin standen, habe ich den ersten Entwurf nicht abgeschickt und sende Dir dafür diese Zeilen zum Ersatz. Aber Dir entgeht nichts: Ich werde mich auch weiterhin jeden Tag schriftlich mit Dir unterhalten. Ich werde Dir alles vorlesen, wenn Du zurück bist. Du bist meine einzige Vertraute. Komm bald zurück, Liebes.

Der erste Schritt war getan. Da sie über sich selber und ihre Situation Klarheit bekommen wollte, schrieb Dominique Sartier fortan ihre Gedanken in aller Offenheit nieder. So wurde aus dem Anfang eines Briefwechsels ein Tagebuch jener Zeit, da sie frühzeitig und voreilig zur Frau geworden war. Sie war neunzehn Jahre alt.

Wie man vom Standpunkt der Moral und der Schicklichkeit auch darüber denken mag, will uns doch scheinen, daß man Dominique Sartier weder intellektuelle Aufrichtigkeit noch den Mut, zu ihren Handlungen zu stehen, absprechen kann. Sie hat ihre Wahrheit außerhalb der Konvention gesucht und sich dabei von Ideen leiten lassen, die in der Luft lagen. Dreißig oder fünfzig Jahre früher hätte sie zweifellos anders gehandelt.

Dominique versteckte ihr Tagebuch in einer verschlossenen, doppelbödigen Schublade ihres Schreibtisches. Sie nahm es erst wieder hervor, um es Sylvia vorzulesen. Anschließend unterhielten sie sich lange darüber. Es besteht nämlich ein sehr wesentlicher Unterschied zwischen einem Gespräch, dessen Wendungen nachträglich so schwer einzufangen sind, und einem schriftlichen Text. Nur das kann wirklich gut ausgedrückt werden, was sich bereits in einem Stadium des Denkens befindet, wo die Niederschrift zur Fixierung unerläßlich ist.

Noch etwas anderes müssen wir hier erwähnen. Wortkühnheiten, Wörter, die man gemeinhin »ordinär« nennt, sind heutzutage in allen Kreisen gebräuchlich. Und in einer Privatkorrespondenz schreibt man häufig so, wie man spricht.

Auch der Tatsache, daß die Form der Briefe und Tagebücher zu den intimsten Schriften gehört, die große Freiheiten erlauben, ist Rechnung zu tragen. Man braucht sich nur daran zu erinnern, welchen Gebrauch berühmte Autoren davon machten.

Obgleich nur ein Altersunterschied von zwei Monaten zwischen ihnen bestand, empfand Sylvia für Dominique mehr als nur Freundschaft. Sie empfand eine Art Bewunderung für sie, weil sie klar erkannte, daß Dominique den stärkeren Charakter besaß. Auch schien sie ihr größere Schönheit zuzubilligen. Daß sie gerade auf einem für Frauen so delikaten Gebiet Dominiques Überlegenheit anerkannte, war der Beweis unleugbarer Aufrichtigkeit. Da Dominique fühlte, daß sie großen Einfluß auf Sylvia ausübte, hatte sie keinerlei Geheimnisse vor dieser zärtlichen und ein wenig weichen Natur, die ihr ganz ergeben war.

Als ihr klarwurde, daß ihr Tagebuch Wichtiges enthalten werde, ließ sie bei einem Sattler einen schönen Ledereinband mit Verschluß machen, dessen Schlüssel sie an ihrem Schlüsselbund trug. Ihre Geheimnisse waren somit doppelt geschützt vor jeder Indiskretion.

TAGEBUCH

3. Oktober 195 ..

Ich sitze also in der Klemme, mein Kleines, und frag nicht wie. Es sind jetzt schon gut zwei Monate her. Am Anfang sagt man sich: es wird sich schon noch irgendwie einrenken. Aber Pustekuchen! Ich mußte mich also dazu entschließen, mit der Frau Mama zu reden. Sie war einfach fertig, die Arme. Ich kann’s verstehen. Für sie war ich immer noch das kleine Mädchen, das gerade zur ersten Kommunion ging. Sie glaubte, daß ich die gute, alte Rolle spielen würde: Unschuldig bis zur Hochzeit. Ich hätte mich neben Lulu C., die die Unschuld an ihrem sechzehnten Geburtstag verloren hat, prächtig ausgenommen.

Übrigens muß ich dir noch erzählen, was mir Lulu neulich anvertraut hat. Sie hat sehr lange gebraucht, bis sie Frau wurde. Wir waren es schon lange (und wir brüsteten uns damit!), während sie immer noch darauf wartete und fast verzweifelte. Sie empfand es regelrecht als eine Demütigung, das ist das Wort, das sie gebraucht hat. Es hat tatsächlich eine Zeit gegeben, wo sie ganz scheu war und bei jeder Gelegenheit losheulte. Das kam alles nur davon. Du kannst dir also vorstellen, wie sie sich hineingestürzt hat, sobald sie sich verändert fühlte. Was man sich als Kind nicht alles in den Kopf setzen kann! Lulu lacht jetzt darüber, aber sie behauptet, daß ihr das einige Jahre verpfuscht hat. Sie wagte sich niemandem anzuvertrauen, nicht einmal ihrer Mutter. »Vor allem meiner Mutter nicht.« Ich weiß nicht, was dahintersteckt, aber es gibt Eltern, die so wenig Verständnis haben, die uns so fern sind … Sie möchten die Kinder in ihre eigene Epoche herüberziehen und können nicht einsehen, daß die Welt seitdem weitergegangen ist. Sie wurden in ihrer Jugend anständig gezwiebelt, und nun wollen sie uns ebenfalls zwiebeln. Dabei zählt doch nur die Jugend, der Rest des Lebens ist ja weiter nichts als ein Anhang dazu. In welchem Alter ist eine Frau eigentlich abgewirtschaftet? Unsere Mütter sind nicht mehr taufrisch. Gewiß, es gibt welche, die sich gut gehalten haben, aber uns können sie nichts vormachen.

Kannst du dir vorstellen, daß man noch unerfahren in die Ehe geht? Wie zu Methusalems Zeiten! Es ist das gleiche, als wollte man mit geschlossenen Augen heiraten. Man steckt dich zu einem Herrn ins Bett, den du überhaupt nicht kennst. Du bist allein mit so einem Schnauzbart, einem behaarten Bären, einem Gorilla, und du weißt von nichts, hast von nichts die geringste Vorstellung, keine Ahnung, wozu du jetzt herhalten mußt … Ist das nicht entsetzlich? Aber genauso ist die Ehe, wie sie unsere Eltern sich vorstellen, und früher ging es auch so zu. Die armen Frauen müssen ja Furchtbares mitgemacht haben. In einer einzigen Nacht stürzte eine Welt in ihnen zusammen. Du kennst doch die Ziviacchi, die aussieht wie eine alte, abtrünnig gewordene Nonne? Sie war so entsetzt, als sie in der Hochzeitsnacht den nackten Kerl sah, daß sie furchtbare Schreie ausstieß und die ganze Nachbarschaft aufweckte. Als er nichts erreichen konnte, war er darüber so aufgebracht, daß er sie im Hemd auf dem Balkon aussperrte und seine Hochzeitsnacht in einem Freudenhaus verbrachte. Zum Glück war es in Venedig, wo die Temperatur mild ist. Ich habe gehört, wie man sich die Geschichte heimlich erzählt hat, sie gehört zum berühmtesten Eheklatsch. Schließlich hat die alte Ziviacchi doch in die Pfanne hüpfen müssen, aber das hat sie nicht umgestimmt. Sie hat eine Art, die Männer anzuglotzen! Als wären es Wilde!

Es wird augenblicklich viel über die Geschichte der Coston-Bridals geredet, die einen Tag vor den Ferien geheiratet haben (du warst ja auf der Hochzeit). Sie waren vierzehn Tage auf Hochzeitsreise, und als sie zurückkamen, trennten sie sich; jeder ging seine eigenen Wege. Was mag wohl dahinterstecken? Rirette war bestimmt noch unerfahren, bei ihr war es die ideale Hochzeit. Ein loyaler Versuch vor der Ehe hätte den Skandal vermeiden können.

Alle Beteiligten lügen natürlich in dieser Angelegenheit. Die Eltern, aus Angst, sie nicht mehr an den Mann zu bringen, streuen das Gerücht aus, der junge Ehegatte sei impotent. Coston-Bridal, dem das zu Ohren kam, ist ganz aufgebracht. »Wenn die Augen größer sind als der Bauch, dann soll man eben nicht heiraten. Ich bin das Opfer eines Betrugs geworden.« Das erzählt er nun überall herum, als Antwort auf die Verdächtigungen des gegnerischen Lagers. Er würde besser schweigen, aber andererseits hätte man ihn auch nicht provozieren sollen. Wenn es um ihre Männlichkeit geht, verstehen die Männer keinen Spaß mehr. Ob die arme Rirette überhaupt gewußt hat, was los ist? Es scheint, daß es Fälle von Mißbildung gibt. Ich bedaure die Mädchen, die so was haben. Wenn schon Krüppel, dann wollte ich lieber einen Buckel haben oder schielen; da stehen einem immer noch mehr Möglichkeiten offen.

Coston-Bridal und impotent? Man braucht ja nur Loulou B. zu fragen, die lange Zeit sein Sonntagsvergnügen war. Wenn sie nicht gar zu blöde wäre, hätte sie ihn gekriegt. Aber die Herren behaupten, sie sei nur in der Horizontalen zu ertragen. Sobald sie wieder steht und den Mund aufmacht, ist es eine Katastrophe. Ein ausgesprochen blödes Weib! »Eine aufgeblasene Doofe«, sagte Jef, der sie nicht riechen kann. Aber Harry meint, die Blödheit kleide sie gut, weil man Lust bekommt, sie ein bißchen zu entblättern, um zu sehen, was drunter ist. Eine Frau, die solche Lust zu erwecken weiß, ist nie ganz verloren. Loulou hat Formen, niemand kann das Gegenteil behaupten. Vielleicht ein wenig üppig, aber für die Aktstudie ist das gerade das Richtige. Sieh doch nur mal, wie uns die Statuen darstellen. Ich habe von den Jungens gehört, daß die Mageren nicht gewinnen, wenn sie ausgezogen sind. Sie wollen uns zwar schlank, aber nicht ohne Rundungen. Ich werde dir wohl keine Zeichnung zu machen brauchen? Übrigens hast du ja alles, um voll und ganz zu gefallen. Es ist sicher, daß unser Schicksal als Frau von unserem Äußeren abhängt. Und deshalb sage ich mir auch immer: Wir sollten uns endlich angewöhnen, uns so zu beurteilen, wie uns die Männer beurteilen, und nicht, wie sich die Frauen gegenseitig beurteilen. Unser Leib ist unser Leben, das ist die Wahrheit unseres Geschlechts. Und ist der Leib nicht unsere ständige Sorge? Zuviel Po, nicht genug Po … Welche Wichtigkeit dieser Körperteil doch für die Frauen hat – und welche Frau spricht davon? Nachdem ich am Strand beobachtet habe, wie der Hintern einer Frau eingeschätzt wird, glaube ich, daß man sich in dieser Hinsicht schon recht viel erlauben kann und daß ein Zuviel immer noch besser ist als ein Zuwenig. Vor allem darf er nicht platt sein: eine schöne Rundung oberhalb der Schenkel! Das Mißfallen kommt erst mit den Falten und dem Riesenformat. Aber soweit sind wir noch nicht. Auf Grund der Mode ist der Typ: mollig mit magerem Gesicht, sehr gefragt. Auch die Brust ist zu berücksichtigen, die in hohem Ansehen steht. Jef sagt, daß sie durch das Kino stark gewonnen hat. Gina Lollobrigida, Sophia Loren, Jane Mansfield und andere haben die Schlacht der Busen siegreich geschlagen. Die Wirkung ist unbestreitbar: mit einer schönen Brust kann man die Partie gewinnen. Aber auch damit sind wir beide ausreichend versehen. Übrigens hat auch Loulou B. eine ganz prächtige. Da sieht man gern über ihre Dummheit hinweg. Die Generation unserer Mütter zitiert gern die Rundungen Suzy Messemins, die dreißig Jahre lang berühmt und glorreich waren. Es sieht so aus, als sei ihr Busen auch heute noch intakt, hoch, unverwelkt. Man weiß es von der Frauengarderobe her, im Club. Allerdings hat sie für die Männer keine Anziehungskraft mehr. Schrecklich! Schon wieder werde ich gerufen. Es ist Mamas Besuchstag, du kannst dir also vorstellen, was los ist. Ich werde die alten Schachteln sehen, die Tee trinken und Gebäck knabbern. Die können so furchtbar weitschweifig sein! Bis bald.

 

4. Oktober 195 ..

Ich empfinde ein deutliches Glück der Aufheiterung und der Vertiefung, wenn ich schreibe. Ich entdecke Dinge, von denen ich vorher nichts wußte oder die zu denken ich nicht imstande war. Da mich mein Zustand von der Gesellschaft der andern absondert, muß ich mich auf mich selbst beschränken. Ich habe in dem »Tagebuch der Marie Lenéru«, die im Alter von dreizehn Jahren taub geworden ist, einen Präzedenzfall entdeckt. Ihre Taubheit isolierte sie völlig von der Umwelt, es blieb ihr nur die Schrift, um sich den Menschen mitzuteilen. Sie suchte sich Freunde jenseits des gewöhnlichen Bekanntenkreises, in jener geistigen Familie, der die Schriftsteller angehören. Ich habe hierüber folgendes aus ihrem Buch notiert:

»Durch Schreiben lernt man auswählen, mit sich zu Rate gehen, lernt man, einen wohlbegründeten Entschluß fassen, lernt eine Unendlichkeit in den Nuancen und den Unwägbarkeiten des Fühlens kennen, lernt zu koordinieren, Ordnung zu wollen und zu schaffen, lernt die Neugierde kennen, das heißt Wünschen und Streben, das heißt den Willen.

Durch Schreiben lernt man ergreifen und begreifen.

Da Schreiben also die tiefste Art zu denken ist, ist Schreiben auch die tiefste Art zu leben.«

Ich möchte noch hinzufügen: Schreiben heißt fast zweimal leben. Das erstemal im Rohzustand; das zweitemal durch den Geist, indem man das Erlebte wieder aufleben läßt, um es unter einem anderen Licht schillern zu lassen. Und man lernt, sich selbst und andere zu beurteilen, was für mich ein ganz neues Vergnügen ist. Ohne meinen Unfall hätte ich es vielleicht nie entdeckt.

Ich muß jetzt weggehen, habe noch eine Anprobe und einen Termin beim Friseur. Außerdem muß ich meinen Wagen zum Abschmieren in die Werkstatt bringen. Mein Nachmittag wird dabei draufgehen. Ich kann schon froh sein, wenn es mir gelingt, bei diesem Höllenverkehr alle meine Besorgungen zu machen. Und dann erst das Parken … In der Sperrzone bekam ich schon einige Strafzettel verpaßt. Im allgemeinen ziehe ich mich ja aus der Affäre, indem ich dem Schutzmann schöne Augen mache. Die sind ganz weg, wenn man ihnen ein bißchen um den Bart geht. Aber neulich bin ich auf einen gestoßen, der eisern war und nichts wissen wollte. Ich habe ihm schließlich eingeredet, ich sei die Frau vom Kabinettsdirektor des Innenministers, seines obersten Chefs. »Na ja denn«, sagte der Schupo schließlich, »wenn Sie diese Dame sind.« Und zerriß den Strafzettel. Einfach zum Schießen.

Ich habe mein Studium der Archäologie an der Ecole du Louvre wiederaufgenommen. Die Vorlesungen dort sichern mir eine große Freiheit, ich kann gehen und kommen, wann ich will. Das ist eben das Gute beim Studium, daß man der Familie entfliehen kann, daß man sie nicht ständig auf dem Halse hat. Es entbindet einen von den Stickabenden im trauten Familienkreis. Und wenn man wirklich einmal Rede und Antwort stehen muß, kann man sich immer herausreden. Ich glaube nicht, daß die Frauen an sich so versessen darauf sind, außerhalb des Hauses zu arbeiten und die Tyrannei eines festen Stundenplans zu ertragen. Aber wir entgehen halt der Kontrolle, wenn wir so tun, als bereiten wir uns auf den Unterricht vor. Das ist sehr bequem. Daraus erklärt sich auch die zunehmende Zahl von Studentinnen, die der Ansicht sind, daß sie sich bestimmt keinen Jungen nach ihrem Geschmack angeln werden, wenn sie zu Hause bleiben.

Das Schlimmste war die Beantwortung der peinlichen Fragen gewesen, bei der großen Beichtszene.

– Hat dieses Kind auch einen Vater, dessen wir uns nicht zu schämen brauchen? Worauf wartet dieser Vater eigentlich noch, um für das, was er angerichtet hat, geradezustehen?

– Ich habe ihn aus den Augen verloren …

– Das war wirklich der richtige Augenblick! Aber er wird ja zu finden sein. Kennst du seinen Namen?

– Ich kenne seinen Vornamen. Eigentlich nur die Abkürzung seines Vornamens …

Ich wurde plötzlich gewahr, daß ich sonst nichts von ihm wußte. Jacou … Drei Wochen lang hatte er sich unserer Gruppe angeschlossen. Hatte sich viel mit mir beschäftigt. Ich fand ihn nicht übel, das war aber auch alles. Und eines Abends … Es war sehr drückendes Wetter, ein Gewitter hing den ganzen Nachmittag über uns, aber es kam nicht zur Entladung. Du weißt, wie einen das fertigmacht …

– Und das ist alles, was du von ihm weißt?

– So ziemlich …

– Unerhört, brüllte Vater, einfach unerhört! Zu meiner Zeit hatte man wenigstens noch so viel Anstand, daß man sich vorstellte, bevor man mit einem Mädel schlief!

– Seine Eltern haben einen Buick, sagte ich, um etwas zu sagen.

Ich habe zu spät gemerkt, daß es dumm war.

– Jetzt höre sich das mal einer an! Das ist doch unwahrscheinlich! Wir brauchen also nur noch eine Annonce in die Zeitung zu setzen: »Der Fahrer des Buick mit der Kennnummer soundso wird gebeten, sich zu melden. Hohe Belohnung.« Ich kann euch schwören, daß ich niemals etwas so Ungeheuerliches gehört habe!

– Laß sein, Arthur, hat Mutter gesagt. Ich werde sie allein fragen. Geh ein wenig Luft schnappen. Du bist ja ganz außer dir.

Aber was hätte ich Mutter noch mehr sagen können? Und wie hätte ich es ihr erklären sollen? Sie sah mich lange traurig an, und dieser Blick war schwer zu ertragen.

– Mein armes, armes Kind!

Was mochte sie wohl vermuten? Wie tief glaubte sie mich gefallen?

– Es ist nur ein Unfall, weißt du …

Zum Glück versuchte sie nicht, noch mehr darüber zu erfahren. Sie verlor ihre übliche Sanftmut nicht, und das war das Allerschlimmste. Es waren sehr unangenehme Augenblicke.

Sylvia Crosset, Hotel Plaza, Via del Corso, Rom an Dominique Sartier, Avenue Foch, Paris

Rom, 5. Oktober 195 ..

Meine Nique,

Dein Brief, der mir von Paris aus nachgeschickt wurde, ist zum Verrücktwerden. Über die Widerwärtigkeiten, von denen Du sprichst, kann ich nur Vermutungen anstellen. Sollst Du etwa gegen Deinen Willen verheiratet werden? Eltern haben oft diese fixe Idee, weil ihnen das in den Kram paßt. Aber Du läßt Dich ja nicht unterkriegen. Es muß also was anderes sein.

Wir sollten schon längst zurück sein. Meine Mutter hat jedoch einen italienischen Grafen hier kennengelernt. Er ist dreiunddreißig Jahre alt und macht ihr hartnäckig den Hof. Man sieht nur noch diesen schönen Pomadenhengst bei uns. Seine Honigworte behexen die, die doch im Grunde auf mich aufpassen sollte. Es wäre beinahe angebracht, daß ich auf sie aufpasse. Ein Graf, meine Liebe, mit seinem Wappen auf der Karosserie seines Alfa-Romeo. Du kannst Dir also vorstellen, in welchem Zustand Madame Frivole sich augenblicklich befindet. Ihre dreiundvierzig Lenze bekommen einen überraschenden Glanz davon ab. Man würde ihr direkt zehn Jahre weniger geben. Ich bin ganz erstaunt über diese närrische große Schwester, die ich bisher noch nicht kannte. Kaum zu glauben, daß es meine Mutter ist. Was soll ich nur tun, um dieses große Kind, das unter dem strahlenden Himmel Italiens vor Unbekümmertheit und Koketterie sprüht, wieder zur Vernunft zu bringen? Sie ist von einer überraschenden Widerstandsfähigkeit und kann wie ein Teenager die ganze Nacht durchtanzen. Ich habe es aufgegeben, sie zu begleiten. Wo sie wohl hinfahren mag, wenn sie mit dem auf Hochglanz polierten Alfa davonbraust und mich die Museen und Denkmäler besichtigen läßt? »Amüsier dich gut, mein Liebling!« Dabei läuft sie nur ihrem eigenen Vergnügen nach!

Weshalb sollte ich sie bei dieser Verjüngungskur stören? Ich habe mir schließlich gesagt: laß sie doch auskosten, was ihr noch bleibt. Wir sind hier weit vom Heimathafen entfernt, und auf jeden Fall steht Vaters Ehre nicht mehr auf dem Spiel. Meine Eltern haben sich schon lange auseinandergelebt, und jeder geht seinen eigenen Weg. Warum sollte Mutter also nicht ihren Grafen haben, Vater hat ja auch seine kleine Freundin (seinen Betthasen), ein hübsches Mädchen von vierundzwanzig Jahren, dem er gerade eine Wohnung eingerichtet hat. Kürzlich hat er mir das Dämchen vorgestellt: es war ihm gar nichts anderes übriggeblieben, denn ich bin mitten auf der Avenue Matignon auf sie gestoßen. Wir haben uns erst im letzten Augenblick gesehen. Vater war sehr munter und lebhaft. Er hatte die Kleine eingehängt. Er sah ganz verliebt aus und wölbte die Brust. Du hättest das nur mal sehen sollen. Die Inkarnation des schönen Mannes von fünfzig Jahren, so im Stil Curd Jürgens. Die Kleine war vielleicht ein wenig vulgär, aber jung und gut gebaut. Ihrem harten Blick sah man an, daß sie hoch hinauswollte. Sie war nicht wenig stolz auf ihre Eroberung. Vater ist natürlich ganz was anderes als so ein kleiner, mittelloser Jüngling. Er hat ihren Lebensstandard gewaltig verbessert. Das ist so ein Hungerluder, weißt Du, das nichts mehr wissen will von den bescheidenen Verhältnissen, aus denen es kommt. So die Art Sekretärin-auf-den-Knien, mit wogendem Busen. Und dabei eine Taille und Hüften, na ja, Du kannst es Dir schon vorstellen. Dieses gerissene Weibsstück hat mich mit tausend Liebenswürdigkeiten überhäuft und die lebhafteste Bewunderung geheuchelt. Natürlich wollte sie sich bei mir lieb Kind machen. »Aber davon haben Sie mir ja gar nichts erzählt, Art, daß Sie solch eine schöne Tochter haben!« Mir ihren Schutz als große Schwester anzubieten, hat sie allerdings nicht gewagt …

Kurz, die ganze Familie ist von der Kette gelassen. Mein Bruder Jacky schlägt ebenfalls über die Stränge. Aber er weiß Bescheid über die kleinen Geschichten der Eltern, die am wenigsten Grund haben, ihm Vorwürfe zu machen. Sie sind alle drei lose Vögel, denen das im Blut steckt. Sie ergänzen sich gegenseitig aufs wunderbarste. Vater wird gut daran tun, seinen Betthasen von seinem Sohn fernzuhalten. Jacky würde es wahnsinnig Spaß machen, wenn er den Alten betrügen könnte. Und das Dämchen würde bestimmt nicht einen Augenblick zögern, wenn es eine Möglichkeit sehen würde, sich noch fester in der Familie zu verankern. Ohne daß sie nun so dumm wäre, den Sohn dem Vater vorzuziehen, wegen dem Kleingeld.

Ich habe hier sehr nette und liebenswürdige Franzosen kennengelernt, reiche Fabrikanten aus Ostfrankreich. Ich gehe mit den beiden Töchtern aus, und wir besichtigen Rom zu dritt. Wenn man allein ist, wird man auf der Straße nicht einen einzigen Augenblick in Ruhe gelassen. Ständig kleben dir diese Italiener mit ihren Blicken hungriger Wölfe an den Fersen. Hinzu kommt noch, daß ich blond bin: das ist für sie das gleiche wie für den Stier das rote Tuch. Im großen und ganzen unterhalte ich mich recht gut, weil es viel zu sehen gibt, aber ich kann nicht sagen, daß ich mich wirklich amüsiere.

Meine Liebschaften sind in Paris zurückgeblieben. Übrigens nichts Heftiges: ein kleiner Flirt, damit ich in Herzensdingen nicht völlig beschäftigungslos bin. Ich halte mir den Jungen zum Ausgehen, bis ich etwas Besseres finde. Er betet mich an, aber er ist so linkisch und unbeholfen, daß er mir ein wenig auf die Nerven geht. Ich glaube, daß jetzt gerade die richtige Saison ist, um sich einen neuen Verehrer anzuschaffen. Findest Du nicht auch? Mit Semesterbeginn kleiden sich viele Herzen neu ein. Man hat die Ferien benutzt, um die alten Liebesverträge aufzulösen, jetzt versucht man neue abzuschließen. Ich glaube, auf manchen Gesichtern kann man ganz deutlich lesen: Herz ist frei, günstige Gelegenheit. Ich muß unbedingt zurückkommen.

Ich wollte, Madame Frivole würde ihrem Grafen endlich die letzte Gunst gewähren. Ich bin schon so weit, daß ich die Abenteuer meiner Mutter unterstütze. Ich sage mir, daß der Graf vielleicht mit ihr brechen wird, sobald er bemerkt, daß sie gar nicht so frisch und auch gar nicht so widerspenstig ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Natürlich gäbe es in diesem Falle ein Drama. Weinend, aufgelöst und plötzlich gealtert käme sie zurück, das Herz in der Binde. Sie wäre bestimmt imstande, an meiner Schulter bitterlich zu weinen. Ich habe den Mut, ihr die Tränen zu trocknen und sie zu hätscheln, wenn das nötig sein sollte, um Paris wiederzusehen.

Allerdings muß man berücksichtigen, daß die Frauen von Vierzig viel hartnäckiger sind als wir und sich wie Kletten festklammern. Die letzten Patronen. Ich werde also eine andere Lösung finden müssen: den Grafen nach Paris einladen. Mutter wäre entzückt, ihn in die Kreise einzuführen, in denen sie verkehrt. Und dieser Polospieler wäre die Sensation in Bagatelle. Das ist eine Idee, die ich ihr nach und nach beibringen werde. Der Graf könnte uns doch gut in seinem Sportwagen nach Paris zurückbringen. Bis bald, hoffentlich. Und faß Mut, Liebling, es wird alles wieder gut. Dir kann nichts Unangenehmes passieren. Das wäre zu ungerecht. Wenn die Natur ein Wunder geschaffen hat, darf das Leben ihm nur Gutes erweisen.

Ich küsse Dich tausendmal

Sylvia

 

P.S. Weißt Du, wen ich auf der Via Veneto getroffen habe? Mimi Macabier. Du kannst Dich doch noch erinnern, daß sie vor zwei Jahren ganz unüberlegt mit einem Abenteurer auf und davon ist, einem hübschen, aber nicht sehr vertrauenerweckenden Burschen. Man hatte sie zwar gewarnt, aber die Liebe war stärker. Kaum ein Jahr später wurde der Kerl wegen einer großen Betrugsaffäre verhaftet. Es war nicht seine erste. Sie hat noch schwer Glück gehabt, daß sie von der Polizei nicht als Komplicin mit in die Sache hineingezogen wurde. Er bekam drei Jahre Gefängnis aufgebrummt. Was aus ihr geworden war, wußte kein Mensch. Was sie in Rom wohl treiben mag? Sie hat sich sehr zu ihrem Nachteil verändert: das verkommene Aussehen der Animierdame und Barnutte, die immer mehr oder weniger auf dem Sprung ist, sich selbst zu verschachern. Ich hätte sie trotzdem angesprochen, ich hatte ihr bereits zugelächelt. Aber sie wollte mich nicht wiedererkennen. Daraus folgere ich, daß es ihr nicht sehr glänzend geht. Man spricht davon, daß sie ein Kind hat und es auf dem Lande großziehen läßt. Ich finde das mutig von ihr, und bestimmt würde ich sie deswegen nicht verurteilen. Muß sie sich prostituieren, um ihr Kind großzuziehen? Wenn ich an diese Abscheulichkeit denke, dann sage ich mir, daß es doch viel sicherer ist, einen Ehemann zu haben, der die Verpflichtung für unsere Fruchtbarkeit und unsere junge Person übernimmt. Wenn wir die schutzlosen Törinnen spielen, riskieren wir viel zuviel. Es kommt ab und zu vor, daß ich daran denke, und ich muß gestehen, daß mich das abkühlt.

Es ist jetzt zwei Uhr morgens, und ich will meinen Brief schließen. Madame Frivole ist noch nicht ins Hotel zurückgekommen. Ich werde mich hinlegen und schlafen oder wenigstens so tun. Ich kenne sie: sie ist imstande, mich ein oder zwei Stunden lang wach zu halten, um mir ihre nächtlichen Amüsements zu erzählen. Ich kenne auch ihre Schlußfolgerung auswendig: »Du mußt lieben, mein kleines Mädchen, du mußt lieben! Sonst zählt nichts im Leben.« Sie ist wirklich naiv!

TAGEBUCH

5. Oktober 195

Der Schimpf der Familie, die Schande auf einem makellosen Namen, das traurige Beispiel, das ich meiner Schwester gebe (die bestimmt nicht so unwissend ist) und so weiter. Du kannst dir wohl denken, was ich alles zu hören bekam. Im Augenblick hat es ein wenig nachgelassen, denn es nützt ja doch nichts, immer die gleichen Dinge zu wiederholen. Mutter hat sich für mich ins Zeug gelegt, damit das Lamento endlich aufhört. So untröstlich und fassungslos sie auch ist, kennt sie als Frau doch die Abhängigkeit und die Schwächen unseres Geschlechts. Deshalb verteidigt sie mich allein schon aus einem Gefühl der Solidarität heraus. Sie ging in ihrer Ehe stets den Weg der Unterwerfung, wenigstens der scheinbaren Unterwerfung, und es ist ihr gelungen, daß sie wegen ihres exemplarischen Lebenswandels gefürchtet wird. (Wenn die Frauen aus ihrer Tugend Münze schlagen, sind die Männer in großer Verlegenheit. Ich habe manchmal den Eindruck, daß es Vater lieber wäre, wenn er eine weniger tugendhafte Gattin hätte, die ihm etwas freien Lauf ließe.) Was mich betrifft, so steht man Tatsachen gegenüber, die eben hinzunehmen sind. Es sind ernste Entscheidungen zu treffen, über die man, ohne mich diskutiert. Vater wirft mir empörte Blicke zu, dann scheint er ohne Übergang bereit, weich zu werden. »Dieses Kind, das vor meinen Augen geboren wurde …« Aber dann überkommt ihn wieder nach und nach die Wut.

– Wie hast du das bloß angestellt, kleiner Unglücksrabe?

Ich habe Lust, ihm zu antworten: Wie bin ich denn geboren worden? Mutter beeilt sich, vermittelnd einzugreifen.

– Arthur, ich bitte dich, sie kann in ihrer Lage keinen Ärger und keine Aufregung vertragen.

– Wirklich eine saubere Lage! sagt er schon etwas gedämpfter. Wenn ich denke, daß sie meine Tochter ist …

– Es ist nun mal geschehen, Arthur!

– Das ist es ja gerade, was ich ihr vorwerfe! Einen ungebetenen Gast in meine Wohnung zu bringen …

Ich stehe vom Tisch auf und gehe hinaus, das Taschentuch vor den Augen. Unter uns gesagt, ich möchte ja am liebsten lachen, wenn ich sehe, wie er von seinen widersprüchlichen Gefühlen hin- und hergerissen wird, wie er vor Wut fast erstickt und violett wird. Aber ich muß wenigstens auf mein Benehmen achten! Ich bin ein gefallenes Mädchen, ich wage nicht mehr, mich ihm zu nähern. Neulich abends hat er mit etwas belämmertem Gesicht zu mir gesagt: »Du könntest mir ja doch einen Kuß geben.« Ich habe einen kühlen, zurückhaltenden Kuß bekommen, der nicht mehr meine Wange zerquetschte. Er kann sich nicht mehr an meiner Frische reiben, wie er das immer so gern tat. Armer Arthur! Du weißt ja, wie abgöttisch er mich geliebt hat. Er strahlte vor Stolz, wenn wir Arm in Arm miteinander ausgingen und die Leute sich nach uns umdrehten. In der Rue de la Paix und in der Rue du Faubourg-Saint-Honoré haben wir uns stundenlang zusammen die Schaufenster angeguckt, und in der Rue Jacob und der Rue du Cherche-Midi haben wir bei den Antiquaren herumgestöbert. Ich habe ihn sogar in die Gemäldegalerien geschleppt. Ich habe ihn gezwungen, sich die Bilder von Soutine anzusehen. »Man könnte meinen, daß sei überreifer Camembert!« sagte er, wenn er vor den Bildern stand. Arthur und die Malerei, einfach köstlich! Und erst bei den Abstrakten.

– Na, mein Töchterchen, könntest du mir das erklären?

– So was kann man nicht erklären. Das fühlt man.

– Und du fühlst es?

– Sehr gut. Aber man muß sich davor setzen und sich langsam inhibieren lassen.

– Wie sagst du?

– Inhibieren, Papa.

– Ah …

Ich verpasse ihm Wörter, die ihn ganz aus der Fassung bringen. Er sagt sich, daß er eine tolle Tochter hat. Ich sehe, wie er sich vor diesen Bildern krümmt und wie er gähnt. Nach einer Weile:

– Na, Papa?

– Willst du die Wahrheit wissen? Ich langweile mich entsetzlich. Gehen wir lieber ins Kino. Willst du?

– Ich gehe gern mit dir ins Kino.

– Wen siehst du lieber? Lollo, Sophia oder B.B.?

– Wähl du nach deinem Geschmack, Paps.

– Diese B.B. hat so ein gewisses Etwas … Ich spreche natürlich von ihrem Talent.

– Natürlich Paps.

– Da ich gerade daran denke: du brauchst deiner Mutter nicht zu erzählen, daß wir im Kino gewesen sind. Sie kann B.B. nicht ausstehen.

– Warum denn nicht?

– Sie wirft ihr vor, daß sie ihren Popo zeigt.

Ich in aller Unschuld:

– Das ist also etwas Schlimmes, wenn man ihn zeigt?

Er wird ganz rot.

– Na hör mal, du Unglückswurm!

Darauf bringe ich bedächtig meine Ansicht vor.

– Im kleinen Kreis, da kann ich das noch verstehen. Aber vor Millionen von Menschen, ich sehe wirklich nicht ein, was daran schlecht sein soll. Das ist nur eine Frage der Berühmtheit. Und des Patriotismus, denn B.B.s Popo bringt harte Dollars ins Land.

Er sieht mich ganz verdutzt an.

– Daran hatte ich gar nicht gedacht. Ich glaube, daß du recht hast. Sehen wir uns also B.B. an.

Was habe ich doch für einen Spaß gehabt, wenn ich allein mit ihm ausgegangen bin! Er ist ein fabelhafter Vater. Es tut mir leid, daß ich ihm Kummer machen muß. Aber was willst du tun, es gibt halt Augenblicke, in denen du nicht an deinen Vater denkst!

 

7. Oktober 195 ..

Das Tollste aber ist, daß ich mich trotz allem wohl fühle. Ich möchte gern schuldbewußt und reuevoll aussehen, damit die Familie wenigstens diese Genugtuung hat. Aber ich strotze vor Gesundheit. Ich habe nie eine solche Überfülle gekannt. Ich habe einen regelrechten Wolfshunger und ich schlafe wunderbar. Ich durchsuche sogar heimlich den Eisschrank, um mich satt zu essen. (Bei Tisch halte ich mich aus Sittsamkeit zurück.)

Meine Brüste schwellen an, sie werden fest und richtig arrogant … Das geniert mich etwas. Sie ziehen sogar Vaters Augen auf sich. Sein Blick bleibt ganz mechanisch an ihnen hängen, dann wendet er ihn errötend ab. Diese Kurven gehören mit zum Familienerbteil, und unter anderen Umständen würde er sich auch damit brüsten. Er ist an sich schon etwas eitel, aber in dieser Hinsicht ist er es ganz besonders. Es gibt Gimpel, die zu mir sagen: »Ich weiß gar nicht, Sie sind derart verändert. Sie haben augenblicklich eine blendende Form.« Während sie diese liebenswürdigen Worte sagen, schielen sie gierig nach meinem Busen. Man könnte meinen, daß sie sonst nichts an mir sehen.

Auf der Straße rufe ich mit diesem Busen eine unheimliche Wirkung hervor, vor allem wenn ich einen engen Pullover anhabe. »Tolle Kurven!« scheinen die Männer zu sagen, die an mir vorbeigehen und sonst nichts von meiner Figur betrachten, die doch immerhin in mancherlei Hinsicht des Betrachtens wert ist. Kürzlich hat mir ein Kerl, der ganz in Trance zu sein schien, im Vorübergehen zugeflüstert: »Ist das ne Wucht!« Und ein Pariser Straßenjunge hat mir in der Rue de Babylone, als er an mir vorüberradelte, zugerufen: »Mensch, was für Apparate! Brauchst du nicht mein Dreirad, um deine Milchdosen zu transportieren?« Daran kannst du die Wirkung ersehen.

Also die Sünde schlägt bei mir gut an, es ist schon ein Skandal. Ich strotze vor Gesundheit und verspüre nicht das geringste Unwohlsein. Ich betrachte mich im Spiegel und streichle über meinen glücklichen Leib. Du wirst lachen, aber ich beginne langsam zu verstehen, welch ein Vergnügen die Jungens dran haben, unseren Körper zu betasten: diese glatten und runden Volumen, die Hügel und die sanften Täler, die sich dem heiligen Hain zuschlängeln … Du kannst mir ruhig glauben: wenn ich ein Junge wäre, ich würde die Mädchen nach allen Richtungen hin drehen und wenden. »Zeig mal her, kleines Mädchen.« Aber ich verliere völlig den Kopf!

 

Ich wollte dir folgendes sagen. Es ist einfach unglaublich und wundervoll, wie die Natur in uns arbeitet. Ich bin ganz aufgewühlt davon. Ich spüre, wie es Wurzeln in mir schlägt, ich bin ein Beet, in dem es keimt, das reich und fruchtbar ist wie die Erde selbst, mit Knospen, Wurzelreis und Blüten. Einige Monate hindurch trägt uns die Mutterschaft zum Gipfel der Entfaltung und verleiht uns einen unvergleichlichen Glanz. An diesem Punkt bin ich angelangt, sanft eingerollt in die Reife, die sich in mir vollzieht. Ich bin durch und durch Weib und vom Sein berauscht. Ich glaube, daß es nichts Vergleichbares und nichts Vollkommeneres gibt. Der Leib herrscht, Liebling, denn zuallererst einmal sind wir lebendige Leiber. Welch eine Mickrigkeit, sich seines Leibes zu schämen! Das Menschsein geht von unserem Fleisch aus, von diesem Fleisch, das von allen Seiten her bedroht ist und das uns Augenblicke des Glücks und der Fülle verschafft. Ich werde noch schwere Stunden durchzustehen haben, ich bin darauf gefaßt, aber das ungeheure Wohlbefinden, das ich im Augenblick verspüre, hilft mir, ihnen mit heiterer Gelassenheit entgegenzusehen. Ich bleibe Schuldnerin der Natur. Wie schade, daß dieses Kind verheimlicht werden muß.

Die Moral, die Moral … Was kann ich dafür, wenn der Leib Forderungen stellt, wenn er sich über die Schicklichkeit hinwegsetzt? Aber glaube ja nicht, daß ich ihm so leicht nachgebe. Im Gegenteil, ich widerstehe ihm, widerstehe ihm oft wochenlang. Ich werde dann grillenhaft, reizbar und einfach höllisch. Ich bekomme für nichts und wieder nichts Weinkrämpfe. »Was hat die Kleine?« fragt man sich in der Familie. »Es fehlt ihr doch nichts.« Nichts als die Hauptsache! Diese Dinge geschehen nur durch die Schuld der Eltern, die uns zu lange auf das warten lassen, was uns von der Natur versprochen wurde und was sie fordert. Sie behalten uns zu lange für sich. Ich las kürzlich, daß man vor der Französischen Revolution die Mädchen schon sehr früh verheiratete, manchmal mit zwölf oder dreizehn Jahren, sobald sie eben Frauen waren, und das hängt weder vom Verstand noch von einem Diplom ab. Und das geschah in der aristokratischen Gesellschaft jener Zeit: ein Fräulein d’Aubigné, ein Fräulein de Mortemart, eine Prinzessin von Savoyen schmückten das Lager eines Mannes, sobald sie mannbar waren. Man verlor keine Zeit, diese Zeit, die man später bedauert. Das Vergnügen ist so kostbar, es bringt das Sein so wunderbar ins Gleichgewicht. Gewiß, zwölf, dreizehn Jahre ist ein bißchen jung. Aber sechzehn Jahre wäre ein sehr passendes Alter, um sich lieben zu lassen, wenn man Gefallen daran findet. Meinst du nicht auch? Unsere Vorfahren wußten die Frucht zu pflücken, wenn sie ihren ersten Flaum hatte. Diejenigen, die man nicht an den Mann brachte, steckte man ins Kloster, in diesen Eisschrank der Tugend. Das war weise und vorsichtig.

Daß man uns warten läßt, bis wir zwanzig sind und älter, ist unmenschlich. Denk doch nur einmal daran, wie vollkommen nutzlos eine Frau ist, die nicht liebt und nicht geliebt wird. Man erkennt sie sofort, sie hat irgend etwas Trockenes und Verwelktes an sich, wie eine Pflanze, die kein Wasser hat. Soviel ist sicher, daß die Liebe uns verschönt, uns gesellig macht, daß wir durch sie nachsichtiger und großzügiger werden. Ist das nicht der Beweis dafür, daß wir die Liebe organisch und geistig notwendig haben?

Ich habe auf einmal eine unbändige Lust, geliebt zu werden. Ich gehe jetzt weg. Ich will mich mit Hubert treffen.

Dominique Sartier, Avenue Foch, Paris an Sylvia Crosset, Hotel Plaza, Via del Corso, Rom

Paris, 8. Oktober 195 ..

Wie lieb Du bist, Sylvia. Ich habe Deinen Brief, der heute morgen angekommen ist, zehnmal gelesen. Er bringt mir ein wenig von Deiner Gegenwart hierher, ich verspüre darin Deine treue Freundschaft. Du bist meine einzige wirkliche Freundin, und ich glaube, daß ich das auch für Dich bin. Zwischen uns gibt es keine Eifersucht, jene stupide Eifersucht der Weibchen, die vor den Männchen das Rad schlagen, so wie dickbäuchige Hühner vor dem Hahn mit den Flügeln schlagen und dabei die Augen verdrehen.

Du hast eine bezaubernde Art, von den römischen Liebschaften Madame Frivoles zu erzählen, diesem alten Backfisch, der sich hoffnungslos in die Leidenschaft der Nachsaison verstrickt. Diese Mütter wollen einfach in der ersten Linie bleiben und uns das Terrain nicht überlassen. Ein wenig lächerlich, findest Du nicht auch? Ich frage mich, ob wir auch so zäh sein werden, wenn wir einmal über Vierzig sind … In einem gewissen Sinne ist es ja ermutigend, die Altersgrenze wird immer weiter zurückgeschraubt. Ich hoffe, daß der italienische Graf mit seinen dreiunddreißig Jahren nicht allzusehr nach Gigolo aussieht.