CLOUD - R. Luft - E-Book

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R. Luft

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Beschreibung

Leon, einfacher Wartungsingenieur im Genfer LHC (Large Hadron Collider), wird während einer Versuchsreihe schwer verletzt und fällt ins Koma. Als er erwacht ist er nicht mehr derselbe. Leon erinnert sich an Ereignisse, die er nie bewusst erlebt hatte. Auf der Suche nach Erklärungen trifft er auf Sarah. Sarah vermisst ihren Ehemann, der die Versuchsreihe leitete und seit dem Störfall wie vom Erdboden verschluckt ist. Ihre gemeinsame Suche führt die beiden rund um den Erdball. Sie verstricken sich immer mehr in ein Projekt, das sie an die Grenzen ihrer Vorstellungskraft bringt; in dem die drei zentralen Technologiesprünge unseres Jahrhunderts aufeinanderprallen: Singularität der Technik, weltweit vernetzte Clouds, Quantencomputer. Eine unvorstellbare Machtfülle - Goldstaub für den, der sie beherrscht. Ruben Cohn, CEO eines Waffenkonzerns, hat längst begriffen, dass zukünftige Konflikte nicht mehr mit konventionellen Waffen geführt werden. Ein Spiel mit verdeckten Karten beginnt - gegen die Zeit und einen Gegner, der vor nichts zurückschreckt.

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CLOUD

führt in eine Zukunft, die längst begonnen hat.

Keine Fiktion, es passiert in diesem Augenblick

JETZT.

R. G. Luft

CLOUD

Roman

Vollständige eBook-Ausgabe 2016

© 2016 SPIELBERG VERLAG, Neumarkt/Regensburg

Korrektorat: www.schreibgewinn.de

Alle Rechte vorbehalten

Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Copyright ©: 2015 Rainer Luft

(eBook) ISBN: 978-3-95452-079-4

www.spielberg-verlag.de

roman-cloud.info

Inhaltsverzeichnis

1. Sarah

2. Die Spur

3. Mumbai

4. Mohan

5. Neils

6. Bharani

7. Der Anruf

8. Mieze

9. Kim

10. Enzo

11. Genf

12. Philadelphia

13. Ruben

14. Der Konzern

15. Chez Richard

16. Die Einladung

17. Die Katakomben

18. Das Experiment

19. Schrödingers Katze

20. Rubens Einladung

21. Violett

22. Frühstück in Genf

23. Der Prozessor

24. Avatar

25. Am Fluss

26. Tropenschauer

27. Ein neuer Tag

28. Das Licht

29. Samantha

30. Die Flucht

31. Cloudware

32. Aufbruch

33. Jetzt

... beginne ein Buch zu lesen, mit der ersten Seite tauchst du in fremde Träume ein - Traumwelten Anderer. In deiner Fantasie lässt du sie neu entstehen, mit deinen Bildern, Gesichtern, Sehnsüchten. Mit jeder Seite treten sie an die Oberfläche, werden sichtbar, beginnen zu leben. Du wirst ein Buch nie im Vorwort finden, das Buch findet dich ...

1. Sarah

Es war wohl der Klang der Orgel und der nicht enden wollende Regen, der mich hierher geführt hatte. Ein eher mittelmäßiger Organist, der sich auf die Messe einstimmte, der Geruch nach kaltem Weihrauch und das Raunen flüsternder Menschen, das sich in den weiten Hallen des Doms verlor. Ich war eingenickt, es musste vor Stunden gewesen sein, dass es mich an diesen Platz in der hintersten Reihe des Kirchenschiffs verschlagen hatte.

Der Priester begann gerade, in bildhaften Worten die Verdammnis zu beschreiben. Als gehörte es der guten Ordnung halber dazu, ein paar Worte der Absolution, mit der Bitte um eine großzügige Kollekte. Kein Zweifel, in seinem Weltbild war der Mensch die Krone der Schöpfung, über alles Leben erhaben. In meinem begann das Denkmal gerade zu bröckeln.

Das Klingeln der Messdiener holte mich in die Wirklichkeit zurück. Der Regen hatte nachgelassen, ich konnte mich wieder auf den Weg zu Igor machen. Schon der Name erinnerte mich an Eyegor, Frankensteins buckligen Gehilfen. Wir waren uns nie begegnet, aber er war der Einzige, der mir jetzt weiterhelfen konnte. Er musste etwas wissen, seine Unterschrift war auf fast allen Projektunterlagen.

Als Musterschüler einer renommierten Eliteschmiede hatte er sich über die klassische Schulphysik mit dem Doppelspaltexperiment herumgeschlagen, seine Schlussfolgerungen hatte er publiziert. Ein bisschen Quantenmechanik, ein Schuss Chaostheorie, schon hatte man die neue Weltformel, eine von vielen, die unbeachtet in den Schubladen der Wissenschaft verschwanden. An irgendeinem Punkt hatten seine Ausführungen das Dogma der Naturwissenschaften verlassen. Seine Beschreibungen wurden leidenschaftlicher, sie hatten erstaunliche Ähnlichkeit mit meinen Überlegungen. Nur ein radikaler Schnitt mit der traditionellen Physik öffnete die Tür zu dieser Fährte, für gestandene Physiker ein Tabu.

Seine Blogbeiträge zu Standards wie Higgs-Bosonen oder irgendwelchen Herrgottsteilchen wurden spärlicher. Er verstieg sich immer mehr in Varianten der Looptheorie und Gedanken über das Universum vor dem Urknall, ohne Anfang, ohne Ende. In seinen letzten Aufzeichnungen wiederholte er immer wieder eine These:

»Nähert man sich dem Punkt des vermeintlich kleinsten Elements, so ist die einzig logische Folgerung, um die Lücke zwischen Relativitätstheorie und Quantenmechanik zu schließen, dass es keine Materie gibt. Lediglich einen im Augenblick der Beobachtung eintretenden Aggregatzustand der Energie.«

Es ist niemanden in den Sinn gekommen, dass die gesamte Schöpfung, das Phänomen Zeit, alles was uns ausmacht und umgibt, lediglich eine Form von Energie sein könnte. Keine Materie, nur ein Hauch, der alles durchfließt und den Moment zwischen Vergangenheit und Zukunft erst im Augenblick unserer Beobachtung erschafft.

Das Doppelspaltexperiment war nur ein erster Hinweis. Igor hatte sich mit der Krücke der Urknalltheorie nie zufriedengegeben. Was hatte den Knall ausgelöst? Was kam davor? Eine Theorie, die ein geschlossenes und endliches Universum wie eine Schneekanone aus dem Nichts herausbläst, war für ihn nie akzeptabel. Seine Fragen führten ihn zu einem Punkt, an dem er Zeit nicht mehr als eindimensionale Scheibe verstand. Zukunft, Vergangenheit, der Augenblick selbst hatten für ihn eine völlig neue Dimension.

Mein Kopf rauchte, diese Grübelei war sinnlos wie ein Loch im Kopf, aber immer wieder ertappte ich mich dabei. Das Taxi stand längst vor Igors Haus, einem eher unscheinbaren Reihenhäuschen mit einem verwilderten Gärtchen, das sich angenehm von den Einheitsparzellen der Nachbarschaft abhob. Lediglich der überfüllte Briefkasten ließ auf einen gut dotierten Akademiker schließen.

Erst beim dritten Klingeln hörte ich leise Schritte. Mir schoss Frankenstein wieder durch den Kopf, aber das freundliche Lächeln der attraktiven Hausherrin hatte absolut nichts mit meinen Hirngespinsten zu tun. Sie hatte offenbar schon mit mir gerechnet, obwohl in meiner Mail kein konkreter Zeitpunkt vereinbart war.

»Sie suchen Igor?« Mein promptes »Ja« kam fast reflexartig. Ich hatte eigentlich eine charmante Begrüßung auf der Zunge, aber den Moment hatte ich wohl gerade verpasst. Wortlos folgte ich ihr durch den düsteren Flur in ein freundliches Zimmer. Eine breite Veranda sorgte für angenehmes Licht und der Blick auf den herrlich verwilderten Garten löste für einen Augenblick meine Anspannung.

»Entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, mein Name ist Sarah, Sarah Cale. Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«

Igor war zwar immer noch nicht aufgetaucht, aber immerhin hatte ich gerade seine bezaubernde Frau kennengelernt, zumindest hatte ich einen Fuß in der Tür.

»Leon - Leon Borg«, stellte ich mich kurz vor, »Ihr Mann hatte mich zu einem Gespräch eingeladen; ein Kaffee wäre jetzt prima.«

Mit einer freundlichen Geste bot sie mir einen Stuhl am runden Esstisch des kleinen Erkers, bevor sie durch die schmale Schiebetür zur Küche verschwand.

»Wissen Sie, was man unter einem Déjà-vu versteht?«, rief sie mir aus dem Nebenraum zu.

»Ich glaube schon - ein Gefühl, als hätte man genau diesen Moment schon einmal erlebt.«

Ich war mir nicht sicher, auf was sie hinaus wollte, was mich anging, erinnerte mich absolut nichts an diesen Moment.

»Sowas in der Art«, erwiderte sie, »Igor hatte immer versucht, mir seine Spinnereien damit zu erklären, zuletzt kam er mir mit Goethe. In ›Dichtung und Wahrheit‹ geht es um einen jungen Mann, der auf dem Rückweg durch eine Landschaft reitet und für einen kurzen Moment sich selbst auf einem Pferd entgegenreiten sieht, allerdings als älterer Mann und anders gekleidet. Jahre später reitet er durch dieselbe Gegend und erinnert sich plötzlich an den Traum. Er ist alt und trägt exakt die gleichen Klamotten wie in seiner Vision.«

Mit dem Selbstbewusstsein einer emanzipierten Frau, die sich nicht mit Artigkeiten oder Tischdekos aufhält, stellte sie das Tablett mit einer Schale Kekse und zwei Tassen Kaffee in die Mitte des Tischs.

Ich dachte nicht weiter über Déjà-vus nach und nahm mir eine der bunten Tassen und zwei von den Schokokeksen. Ich hatte immer noch keine Ahnung, wie ich ihr den eigentlichen Grund meines Kommens erklären sollte. Sarah setzte sich mir gegenüber und tauchte gedankenverloren einen der Kekse in ihren Kaffee.

»Tja, werter Herr Borg, sicher haben Sie erwartet, dass mein Mann Sie jetzt begrüßt, um sich dann mit Ihnen in das Nirwana seiner Wissenschaften zurückzuziehen, aber damit kann ich leider nicht dienen. Ich fürchte, wir haben ein gemeinsames Problem, es sei denn, Sie haben eine Ahnung, wo er sich gerade rumtreibt. Ich hatte noch nie Probleme mit seiner Spontanität, etwas weltfremd war er ja schon immer, aber diesmal hat er eindeutig überzogen.«

Ich spürte wieder dieses Bauchkribbeln, ich spürte es immer, wenn irgendwas total schief lief. Zuletzt hatte ich es, als mir der Bullterrier meines Nachbarn im Flur gegenüberstand, aber diesmal hatte ich eindeutig bessere Karten. Mit ihrer Frage nach einem Déjà-vu lag Sarah gar nicht so daneben, vielleicht konnte sie mir ja weiterhelfen.

Mit Akribie fischte sie die restlichen Krümel aus der Keksdose und nörgelte weiter:

»Igor hatte schon immer ein fürchterliches Timing. Als er mir vor einer Woche offerierte, dass er schnellstens nach Genf müsse, hat mich das nicht weiter beunruhigt. Es kommt öfter vor, dass er kurzfristig verreist. Oft genügt ein Telefonat mit einem seiner Schöngeister und mir bleibt gerade noch Zeit, seine Flüge zu organisieren.

Sicher ging’s wieder um dieses Projekt im Teilchenbeschleuniger. Er wollte zu einem Treffen mit seinen Kollegen vom CERN. Einem Kreis von Wissenschaftlern, die sich im Internet eine Art Bastelzimmer eingerichtet haben, in dem sie unter sich sind. Ich dachte eigentlich, Sie gehören dazu?

Na egal, auf jeden Fall war er wieder mal völlig durch den Wind. Irgendwas hatte ihn derart beschäftigt, dass er nicht mal mitbekam, dass er in Hausschuhen losgezogen war. Ich hatte seinen Flug nach Genf gebucht. Der Rückflug war eigentlich für gestern vorgesehen - keine Stornierung, wer nicht im Flieger saß, war Igor. Auch nichts Außergewöhnliches, aber dass er seit seinem Abflug kein einziges Mal angerufen hatte, das war außergewöhnlich!«

Ich hatte nicht die geringste Lust, mich in irgendwelche Beziehungskisten reinziehen zu lassen, andererseits wollte ich mich nicht einfach davonstehlen. Von der Klinik waren keine Antworten mehr zu erwarten, die Reha nervte sowieso; also was sprach dagegen, Sarah meine Hilfe anzubieten?

Sie versuchte inzwischen ihr langes dunkles Haar mit einer ausgeleierten Schleife zu bändigen, dabei sah sie mich fragend an. »Vielleicht hat sein Verschwinden ja auch etwas mit Ihrem Besuch zu tun, wer weiß? Wollen Sie mir nicht den Grund Ihres Treffens verraten?«

Ich zögerte, dafür gab’s keine einfache Erklärung, und mit der langen hatte ich so meine Erfahrung. Versuche, es einfach gestrickten Gemütern begreiflich zu machen, gingen fürchterlich in die Hose und verursachten lediglich Kopfschütteln und neue Probleme.

Eines dieser Probleme war Frau Dr. Lautheuser-Kasperger. Eine engstirnige Psychologin, die mir daraufhin eine grenzwertige Paranoia diagnostizierte. Aber ich war sicher, dass meine Erlebnisse nichts mit Psi-Phänomenen oder sonstigem nebulösen Firlefanz zu tun hatten, die Reha und der überschaubare Horizont ihrer Provinzklinik hatten daran nichts geändert. Ich musste versuchen, auf eigene Faust Antworten zu finden. Igor war dabei so etwas wie ein zentraler Schlüssel.

Sarah wartete immer noch auf meine Antwort. Mir war klar, dass ich sie zumindest teilweise in die Geschichte einweihen musste, aber wo anfangen? Ich entschloss mich für die ausführliche Version - von Anfang an.

»Um Ihnen den Grund meines Kommens oder meine Verbindung zu Igor zu erklären, muss ich etwas weiter ausholen. Ich weiß nicht, ob ich damit Ihre Zeit zu sehr in Anspruch nehme?«

Ihre Antwort kam prompt und unmissverständlich: »Kein Problem, holen Sie aus, soweit Sie wollen! Wenn ich eines habe, dann ist das Zeit.«

»Also gut! Noch vor anderthalb Jahren führte ich ein relativ unspektakuläres Leben, soweit ich das aus heutiger Sicht beurteilen kann. Ein einfacher Serviceingenieur beim LHC, dem Genfer Large-Hadron-Collider, geschieden, Einzelgänger - also der Standard bei jeder Volkszählung.

Vor ziemlich genau vierzehn Monaten bekam meine Lebenslinie einen entscheidenden Knick. Während einer Testreihe kam es zu einem Störfall. Unser Teilchenbeschleuniger wurde extrem beansprucht, immer mehr Protonenkollisionen wurden provoziert. Das eigentliche Ziel, die Herkunft der Teilchenmasse zu beweisen, wurde nie erreicht. Die sogenannten Higgs-Bosonen, die immer wieder mal im Sommerloch gefunden werden, konnten selbst von den gewaltigsten Rechenzentren nie eindeutig nachgewiesen werden. All die schönen Standardmodelle warten bis heute auf ihren Beweis.«

Ich unterbrach für einen Moment, in aller Regel war mein Gegenüber an dieser Stelle entweder schon genervt oder verharrte in einer Geste tiefsten Mitgefühls. Im schlimmsten Fall führte es zur Lautheuser-Kasperger.

Sarah reagierte dagegen völlig unbeeindruckt, offensichtlich war sie von Igor einiges gewohnt, ein kleines Lächeln in ihren Mundwinkeln verriet, dass sie so etwas wie kollektives Mitleid für Wissenschaftler empfand. Normalerweise war kein vernünftiger Mensch bereit, sich mit Dingen zu beschäftigen, von denen er von vornherein wusste, dass er sie am Ende nicht kapieren würde. Ich ersparte mir den Teil mit der Quantenkosmologie und kam gleich zur Betriebsstörung:

»Es war anscheinend ein defektes Kühlaggregat an einer der Messstationen. Der Druck stieg weit in den roten Bereich und löste im Moment der Messung eine Manschette. Das Ding hätte überall hinfliegen können, aber es landete an meinem Kopf, als hätte es mir sagen wollen: ›... schalt endlich ab!‹ Aber dazu kam ich nicht mehr, ich fiel sofort ins Koma.

Die nächsten Wochen verliefen relativ entspannt - in einer Art Tiefschlaf. Nach etwa drei Monaten kam ich in der Genfer Uniklinik wieder zu mir, mit dem Erinnerungsvermögen eines Neugeborenen.

Man nennt das wohl Apallisches Syndrom oder Wachkoma. Die Prognosen, nach einer solchen Diagnose wieder ein normales Leben führen zu können, gingen gegen null. Ich war also sowas wie ein medizinisches Wunder. Meine Amnesie hatte ich relativ schnell wieder im Griff und mein Erinnerungsvermögen kam mit der Zeit fast vollständig zurück. Viele Komapatienten oder Menschen, die reanimiert wurden, haben ähnliche Zustände beschrieben. Eine Art Schwebezustand, als könne man sich selbst beobachten, ein Aufgehen im Licht oder so. Bei mir fühlte sich das ganz real an, ich hatte das Gefühl, in einem großen Ganzen aufzugehen, einer Energie, die mit allem in Verbindung stand. Nichts mehr war endlich oder begrenzt, keine Materie. Ein Gefühl, das in seiner Einfachheit einzigartig, aber mit dem Verstand nicht zu begreifen war.

Soweit hatte ich keine Probleme damit. Was mich beunruhigte, war das Erinnerungsvermögen an eine Zeit, die es in meinem Gedächtnis eigentlich gar nicht geben sollte - ich hatte sie nie erlebt. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, es fühlt sich an wie Ihr Déjà-vu.«

Ich hatte es wohl geschafft, Sarah zu beunruhigen. Mit einer plötzlichen Bewegung stand sie auf und ging zu einer kleinen Kommode. Sie räumte einen Stapel Geschirr beiseite und kam mit einer Flasche Cognac zurück. Die Flasche hatte Form und Farbe jener Marken, die man besser nicht hinterfragt. Sie füllte zwei Gläser randvoll und reichte mir eines.

»Worauf trinken wir?«, fragte ich verdutzt.

»Auf eure Hirngespinste! Sie reden den gleichen Unsinn wie Igor, Sie würden sich prima verstehen. Wenn Sie mit ihm sprechen wollen, machen Sie sich mit mir auf die Suche! Was halten Sie davon? Übrigens, ich heiße Sarah, Sie können mich gerne duzen.«

»Freut mich, Sarah - Leon! Ich bin dabei, wo fangen wir an?«

»Eines musst du mir noch verraten, Leon - wie kamst du ausgerechnet auf Igor?«, fragte sie und brachte mich damit in die nächste Verlegenheit. Wie sollte man etwas erklären, was man selbst nicht verstand?

»Eingebung, Intuition - keine Ahnung!«, antwortete ich stockend. »Nach meinem Koma hatte ich plötzlich ein enormes Fachwissen über Quantenmechanik und Looptheorie. Ich konnte mir beim besten Willen nicht erklären, woher; als hätte ich mein ganzes Leben nichts anderes gemacht. Einstein hätte seinen Spaß an mir gehabt.

Igor gehörte damals zu einer Gruppe Physiker, die den Teilchenbeschleuniger für eine Versuchsreihe gemietet hatten. Ich fand seine Karte in meinem Jackett, irgendwer musste sie mir zugesteckt haben, vielleicht er selbst? Die LHC-Datenbank führte mich auf seine Spur, seine Thesen hätten von mir sein können. Über seinen Blog nahm ich Kontakt zu ihm auf. Letzte Woche schrieb er mir diese Mail:

›Wir müssen reden, Terminvorschlag dreizehnter Mai, Adresse im Anhang. Freue mich auf Sie!‹

Tja, das war’s, heute ist der Dreizehnte.«

Sarah füllte noch einmal unsere Gläser und fragte ungeduldig:

»Auf was warten wir, machen wir uns auf die Suche! Musst du dich noch irgendwo abmelden, Urlaub beantragen oder so?«

Ich hatte keine Pläne, Sarahs Frage war schnell beantwortet. Seitdem ich mich bei der Lautheuser-Kaspergerschen Klapsmühle aus dem Staub gemacht hatte, lebte ich relativ entspannt.

Das LHC hüllte sich seit dem Störfall in Schweigen und beantwortete keine meiner Anfragen, es berief sich auf laufende Ermittlungsverfahren. Ich wurde bei vollem Gehalt freigestellt, bekam eine großzügige Entschädigung - mit den besten Wünschen des Instituts.

Die selbstlose Geste hatte sicher nichts mit Schuldgefühlen zu tun, eher mit einer fast panischen Angst vor den Medien. Mit ihrem Experiment hatten sie eine Tür aufgestoßen, mit der sie nicht klarkamen, jetzt warfen sie die üblichen Nebelkerzen.

Aber Sarah hatte jetzt keinen Nerv für Verschwörungstheorien, sie plante schon fieberhaft unsere nächsten Schritte.

»Ist es okay für dich, wenn ich hier in München die Stellung halte? Igor könnte sich melden. Ich könnte von hier aus seine Kollegen abklappern und dich in Genf auf dem Laufenden halten.«

Davon abgesehen, dass es wahrscheinlich sinnlos gewesen wäre, ihr zu widersprechen, klang der Vorschlag vernünftig. Ohne meine Antwort abzuwarten, suchte sie etwas aus der wurmstichigen Kommode, in der sie auch den grauenvollen Cognac aufbewahrte.

Sie drehte sich nachdenklich zu mir um. Ihre Züge waren jetzt ernster, als wollte sie dem, was sie gleich sagen würde, noch mehr Nachdruck verleihen. Mit beiden Händen umklammerte sie ein kleines Notizbuch, das lediglich von den abgegriffenen Ledereinbänden zusammengehalten wurde.

»Das Buch bedeutet Igor sehr viel. Es stehen Namen und Adressen seiner Kollegen und ein paar Notizen darin. Ich sollte es eigentlich nicht aus der Hand geben.«

Sie hob den Blick, während sie mit mir sprach, und sah mich zögernd an.

»Ich habe Polizei und Krankenhäuser in der Umgebung schon angerufen, auch in Genf. Den Rückflug hat er weder eingecheckt noch storniert. Ich glaube, dass er wirklich in Schwierigkeiten steckt. Nimm das Buch, passe darauf auf - ich vertraue dir!«

Sie übergab mir die Notizen, als sei es ein Ritterschlag. Jetzt war ich es, der das Buch mit beiden Händen festhielt, als fände ich darin die Antworten auf all die Ungereimtheiten, die mein Leben in den letzten Monaten durchgerüttelt hatten.

Sarahs Miene hatte sich wieder aufgehellt, mit einem freundlichen Lächeln stand sie auf und gab mir damit unmissverständlich zu verstehen, dass unsere Unterhaltung dem Ende zuging.

Ich nahm mein Cognacglas, eigentlich wollte ich nur noch mal nippen, nach Sarahs unerwartetem Aufbruch ließ ich mich hinreißen, das Glas mit einem Schluck wegzukippen; jetzt stand ich mit dem leeren Glas in der Tür und rang nach Luft.

Sarah hatte es bemerkt und sagte mitleidig: »Ruf mich an, meine Handynummer steht im Notizbuch!«

Ich brachte gerade noch ein »Okay« heraus, bevor meine Stimme endgültig weg war. Sie nahm mein Glas und verabschiedete mich in den strömenden Regen; trotz allem hatte ich ein gutes Gefühl, meine Situation hatte sich gerade deutlich verbessert.

2. Die Spur

Erst jetzt fiel mir auf, wie spät es war. Mein Zug nach Genf ging schon kurz nach sechs. Ich hatte also noch knapp eine Stunde, um mit der nächsten S-Bahn zum Hauptbahnhof zu kommen.

Es war erst Ende November, überall wurden schon die ersten Weihnachtssterne montiert, die Stadt - ein buntes Lichtermeer aus Reklame und endlosen Lichterketten. Durch die riesige Bahnhofshalle schoben sich Menschenmassen wie durch ein pulsierendes Herz. Erst als der Zug die Großstadt hinter sich gelassen hatte, hörte der Spuk allmählich auf. Nur noch vereinzelt huschten leuchtende Christbäume und weihnachtlich dekorierte Häuser an mir vorbei. Ich schloss die Augen und versuchte meine Eindrücke zu sortieren. Das Verschwinden von Igor ging mir nicht aus dem Kopf. Was hatte seine Reise mit mir zu tun, was hatte ich überhaupt mit dieser ganzen Geschichte zu tun? Andererseits hielt sich der Aufwand in Grenzen, Igor hätte ja auch nach Sibirien reisen können, Genf war dagegen ein Heimspiel. Der Large-Hadron-Collider war nun mal ein Eldorado für Wissenschaftler aller Nationen.

Am nächsten Morgen lag Igors Notizbuch wie ein Antiquariat auf meinem Frühstückstisch. Das Streiflicht meiner kleinen Mansardenwohnung strich über das speckige Leder und machte es noch mystischer. Ich hatte bereits gestern Nacht im Zug einige Seiten durchblättert. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, Notizen und Skizzen zu jedem Gespräch aufzuzeichnen.

Jeweils eine Seite mit den persönlichen Daten seiner Kollegen und jede Menge leerer Blätter, offenbar für zukünftige Einträge. Ein Name fiel auf - Neils Trew, ihm hatte er das halbe Buch als Platzhalter reserviert, gut die Hälfte war beschrieben.

Die meisten Einträge kreisten um die Viele-Welten-Interpretation, den bekannten Widersprüchen zwischen Gravitation, Quantenmechanik und Relativitätstheorie. Seit Einsteins Versuch, Dunkle Materie als »kosmologisches Glied« zu kaschieren, arbeiteten Wissenschaftler fieberhaft daran, diese Lücke zu schließen.

Igor hatte sich dabei in Thesen von Kaluza Klein und Yang Mills verstiegen. Ich konnte seinen Aufzeichnungen bis zu einem gewissen Punkt folgen, dann wurden seine Argumente immer abstrakter. Seine Zeichnungen bewegten sich in Ebenen, die außerhalb meiner Vorstellungskraft lagen. Er löste sich von Einsteins Behauptung »E=mc2«, und er löste sich von seiner Definition der Raumzeit.

Um seine Berechnungen zu belegen, bediente er sich eigener Terminologien jenseits der Grenzen unseres vierdimensionalen Denkens. In seinem Universum hielt ein unendlich großer Ereignishorizont aus Dunkler Materie und Dunkler Energie alle denkbaren Konstellationen eines Augenblicks für uns bereit.

Neils Trew war in dieser Liga kein unbeschriebenes Blatt. Seine Fachbücher überstiegen regelmäßig den intellektuellen Horizont seiner Berufskollegen, seine Veröffentlichungen waren immer wieder Anlass zu kontroversen Grundsatzdiskussionen. Eine Nominierung zum Nobelpreis war längst überfällig, scheiterte aber gewöhnlich an der Ignoranz der Fachwelt und seiner Nähe zur Waffenindustrie.

Neils war Stammgast beim LHC und innerhalb des CERN, der europäischen Organisation für Kernforschung, ein nicht unumstrittener Meinungsbildner, es war sein Projekt, das zum Störfall und damit auch zu meinem Dilemma geführte hatte.

Seine Einträge waren mehr als eine Spur, das kleine Notizbuch las sich wie ein Roman. Ein Roman, in dem ich irgendeine Rolle spielte, in dem ich viele meiner Erinnerungen fand - Erinnerungen, die nicht zu mir gehörten.

Ich hatte genug gegrübelt und musste unter Menschen. Draußen begann ein neuer Tag und ich hatte seit Sarahs Keksen nichts mehr gegessen. Ich machte mich auf den Weg zu meinem Lieblingscafé. Bei der Gelegenheit könnte ich auch Sarah anrufen, vielleicht wusste sie mehr über Neils. Ich musste mit ihm reden und legte keinen Wert darauf, bei seinem Sekretariat abzublitzen.

Das Café hatte den unaufdringlichen Charme französischer Straßenbistros. Der Besitzer Richard hatte das Flair wohl unbewusst aus seiner südfranzösischen Heimat übernommen. Ich liebte diesen Ort trotz seiner Neonröhren, nüchternen Papiertischdecken und vergilbten Adriafotos.

Es war der kleine Tisch mit seinen drei Stühlen direkt am Fenster, der mich wie ein Magnet anzog. Oft schlich ich immer wieder am Café vorbei, um endlich meinen Stammplatz zu ergattern. Reservierungen brachten nichts, ich konnte mich nicht auf tägliche Rituale oder Uhrzeiten festlegen. Zumindest hatte ich erreicht, dass Richard den jeweiligen Tischbesetzer dezent auf einen weiteren Wunsch oder die Rechnung ansprach, sobald er mich draußen herumlungern sah. Heute war mein Fensterplatz frei, mit einem Augenzwinkern begleitete Richard mich zu meinem Plüschsessel. Das sanfte Licht der Herbstsonne tauchte die Straße in tausend Farben und ließ die flanierenden Spaziergänger wie bunte Komparsen an mir vorbeiziehen. Das Aroma von Richards einzigartigem Espresso machte den Morgen perfekt.

Ich versuchte Sarah zu erreichen, bereits beim zweiten Klingelton ging sie ans Telefon. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die mit der Hand über dem Hörer den fünften Klingelton abwarteten, um ihre Neugierde zu verbergen. Es tat gut, ihre Stimme zu hören.

»Na, gut nach Hause gekommen?« Ohne meine Antwort abzuwarten, fragte sie weiter: »Immer noch überzeugt, dass du mir helfen willst?«

»Wir sind ein Team, Sarah, Igors Notizbuch liest sich wie ein Fahrplan, die erste brauchbare Fährte in dem Chaos in meinem Kopf. Ich würde gerne mit einem Namen anfangen. Neils Trew, er dürfte hier in Genf sein. Igor hatte mit ihm an einem gemeinsamen Projekt herumexperimentiert. Sagt dir der Name etwas?«

Sarah grübelte einen Moment, dann schilderte sie Neils als einen eitlen, selbstgefälligen Eigenbrötler in den Sechzigern, der sich am liebsten selbst reden hörte.

»Er war einige Male zu Gast bei uns in München. Offenbar arbeiteten die beiden an einer Publikation, aus der sie eine gewaltige Geheimniskrämerei machten. Aufzeichnungen tauschten sie nur über USB-Sticks aus, die Dinger trugen sie permanent mit sich herum, die wurden noch nicht mal auf seinem PC gesichert. Dieses bescheuerte Projekt hatte Igor total verändert, wir sprachen kaum noch miteinander. Ich hatte das Gefühl, dass er nicht mal mir traute.«

Ich konnte die Wut in ihrer Stimme hören. Dieses Gefühl, wenn Partner beginnen sich abzugrenzen, die gewohnte Offenheit, das grenzenlose Vertrauen zu bröckeln beginnt und gemeinsame Wege, die sich winden aber niemals verzweigen, plötzlich doch auseinanderdriften. Ich hatte diesen Albtraum nach meiner eigenen Scheidung kennengelernt.

Gegen Ende unseres Telefonats meinte Sarah noch: »Wenn du dich auf Igor beziehst, wird es keine Probleme mit den Vorzimmerdamen geben. Also viel Glück! Melde dich, wenn’s was Neues gibt!«

Inzwischen spielte sich das Leben vor meinem Fenster in all seinen Facetten ab. Der Imbissstand gegenüber war ein beliebter Treffpunkt, ein Schmelztiegel aller Nationen und Weltanschauungen. Ein blasser Banker im mausgrauen Flanell plauderte mit einem Inder im bunten Dhoti, daneben eine rundliche Siebzehnjährige, die sich gerade eine Currywurst mit ihrem Köter teilte.

Die Kleine war der Super-GAU jeder Schwiegermutter. Mit ihren pechschwarz gefärbten Haaren, den dunkelroten Strähnchen und der Tätowierung über ihrem üppigen Dekolleté gab sie die unangepasste Punkerin. Ihre Unsicherheit war trotz des Outfits nicht zu übersehen.

Vielleicht hatte sie gerade deshalb eine Antenne für Beobachter. Sie drehte sich fast ruckartig in meine Richtung, für einen kurzen Moment sahen wir uns in die Augen. Trotz der Entfernung hatte ich das Gefühl einer Berührung, sie musste meinen Blick gespürt haben.

Ein vorbeifahrender Lieferwagen unterbrach den Augenblick, ich machte mir keine weiteren Gedanken mehr und suchte Neils Telefonnummer in meinem Büchlein. Igor hatte sie penibel, fast buchhalterisch an den Rand einer Seite gekritzelt. Ich war gespannt, was mich erwarten würde.

Die befürchtete Vorzimmerdame blieb mir erspart, stattdessen kam der Piepston seines Anrufbeantworters. Ich erklärte kurz den Grund meines Anrufs und bat um Rückruf. Als Igors Name fiel, knackste es plötzlich auf der anderen Seite. »Ja, hallohallo?«

Neils hatte angebissen! Ich fragte höflich: »Guten Tag, spreche ich mit Neils Trew?«

»Sie haben seine Nummer gewählt, gehen Sie mal davon aus!«

Neils war tatsächlich kein einfacher Zeitgenosse, Sarah hatte recht. Alle Höflichkeiten waren damit ausgetauscht, ich versuchte es mit einem Köder:

»Mein Name ist Leon Borg, ich bin Techniker am LHC. Sarah Cale gab mir Ihre Telefonnummer - es geht um Igor, besser gesagt um sein Verschwinden. Wir haben seine Aufzeichnungen und sind sicher, dass es einen Zusammenhang zwischen Ihrem Projekt und den Ungereimtheiten nach dem Störfall gibt. Wir müssen reden!«

Die kleine Drohung schien mir angebracht, aber sein unerwartet langes Schweigen machte mich unsicher. Vielleicht hatte ich überzogen und Neils Interesse an unserer Plauderei war schon beendet. Es hätte mich nicht überrascht, wenn er kommentarlos eingehängt hätte. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam seine sonore Stimme wieder:

»Ach, Sie sind das - der mit dem Koma, ich habe davon gehört, wo sind Sie gerade?«

Wir waren also wieder im Geschäft! Mehr noch, er war an meiner Geschichte interessiert, jetzt musste ich ihn nur noch an meinen Tisch bringen. Ich versuchte es auf die charmante Art:

»Ich bin hier in Genf, in einem reizenden Altstadtcafé, wenn Sie Zeit haben, können wir uns hier treffen? Ich richte mich nach Ihnen.«

Entweder war es seine Masche, Unsicherheit, was auch immer, es dauerte endlose Sekunden, bis er antwortete. Er schaffte es, im wahrsten Sinne des Wortes wortlos eine knisternde Spannung aufzubauen. Endlich murmelte er:

»Was wissen Sie über Igor?«

Ich zählte die Sekunden meiner Redepause - zehn! Dann begann ich, ihm meine Situation, das Phänomen meines unerklärbaren Expertenwissens und meiner Verbindung zu Sarah und Igor zu schildern. Bevor ich weiter ausholen konnte, unterbrach er überraschend freundlich:

»Ich würde gerne mit Ihnen sprechen, wie wichtig ist Ihnen die Sache?«

»Wenn Sie mir weiterhelfen können - sehr!«, erwiderte ich.

»Dann greife ich gerne Ihre Idee mit dem Café auf, es ist eines meiner Lieblingscafés, es heißt Café Madras, Sie finden es in Mumbai. Senden Sie mir einfach eine SMS, wenn Sie in der Stadt sind!«

Diesmal war die Pause nicht strategisch, mein Heimspiel entwickelte sich gerade zur Weltreise. Mir gingen die Kosten, der Aufwand, der ganze Stress durch den Kopf. Andererseits, was hielt mich in meiner Genfer Mansardenwohnung? Seit meiner Jugend träumte ich von fernen Ländern und Abenteuern - keines davon hatte ich je gesehen und erlebt. Meine Zusage konnte Neils nicht mehr hören, er hatte längst aufgelegt.

Der Imbissstand gegenüber bot auch keine Abwechslung mehr, also versuchte ich Sarah zu erreichen. Sie meldete sich wieder beim ersten Klingelton. »Hallo Partner, wie geht's, gibt’s was Neues?«

Ich hatte mich immer noch nicht auf ihre Spontanität eingestellt. Sie hatte meinen Namen schon auf dem Display gelesen und meine Begrüßung damit über den Haufen geworfen. Bevor ich mich neu sortieren konnte, begann ich zu stottern: »Ähm ..., hallo, ich bin's! Ich meine - wie geht's dir?«

»Das hab ich dich gerade gefragt, mir geht’s gut!«, kam die Antwort wie aus der Hüfte geschossen. Mir war schlagartig klar, dass Klischees bei Sarah nicht ankamen, sie hatte keinen Nerv für Small Talk.

»Mir geht's auch gut«, antwortete ich und richtete mich in meinem Plüschsessel auf. »Na ja, relativ gut. Es gibt Neuigkeiten, willst du zuerst die gute oder die schlechte hören?«

Der Versuch war lausig, aber ich wollte noch etwas länger mit ihr quasseln, ihre Stimme tat einfach gut. Außerdem hatte mir Richard gerade einen frischen Kaffee gebracht.

Sarah dachte nicht lange nach. »Die Gute!«

Okay, sollte ich jetzt einfach sagen: »Neils weiß was und will mit mir reden. Die schlechte Nachricht - in Indien.«?

Nein! Telegrammstil war noch nie mein Ding, ich setzte mich entspannt zurück, nahm einen Schluck Kaffee und sagte trotzig: »Neils weiß was und will mit mir reden ...«

Ich verschluckte mich am Kaffee - oder meiner Einfalt - stotterte weiter: »Ähm ..., ich hatte übrigens denselben Eindruck von Neils, er war, wie du ihn beschrieben hast, arrogant und einsilbig. Er bat mich zu einem Gespräch, und das ist die schlechte Nachricht - nach Indien. Offenbar gibt's da einen Zusammenhang. Was meinst du, was sollen wir tun?«

Diesmal brauchte sogar Sarah eine längere Denkpause. Ich konnte mir vorstellen, was in ihrem hübschen Köpfchen vorging, wollte ihr gerade vorschlagen, alleine zu fliegen, während sie weiter in München die Stellung hielt, aber sie kam mir zuvor:

»Okay, lass uns fliegen!«

Ich wusste, dass alle Versuche, sie davon abzuhalten, zwecklos waren, außerdem freute ich mich, sie wiederzusehen. Ich versuchte erst gar nicht mit ihr zu diskutieren, sondern schlug ein Telefonat für den nächsten Tag vor. Wie vermutet, bot sie an, bis dahin alle Flüge zu checken und sich mit dem notwendigen Papierkram zu beschäftigen. Sie hatte oft genug Igors Reisen organisiert.

3. Mumbai

Sarah hatte ganze Arbeit geleistet. Nicht mal der Rasierschaum fehlte auf ihrer Checkliste. Impfungen, Versicherungen, Visa - von der Kohletablette bis zum Schweizermesser war alles dabei. Man konnte ihre Begeisterung spüren, offenbar durfte sie Igor nicht oft auf seinen Reisen begleiten. Ihre spontane Entscheidung gefiel mir mit jedem Tag besser.

Ich war gespannt, wie sie heute aussehen würde. Während unserer Telefonate geriet sie immer wieder ins Schwärmen über das Land der Farben. Ich hätte ihr ohne Weiteres zugetraut, dass sie in einem traditionellen Sari kommen würde. Vielleicht auch in einem Lengha oder Shalwar, keine Ahnung was das war, aber nach ihrer Beschreibung war es an Farbenpracht nicht zu toppen.

Unser Treffpunkt am Terminal war fast so spannend wie Richards Fensterplatz. Zwar hatte das Flughafencafé den Charme einer Bahnhofshalle, aber dieses multikulturelle Lebensgefühl, das alle großen Airports wie eine Lebensader durchfließt, zog jeden in seinen Bann.

Hier war alles vertreten, westliche Powerfrauen, die standesgemäß einige Meter ihren männlichen Begleitern voraus liefen, die orientalische Variante, die standesgemäß einige Meter hinter ihren männlichen Wohltätern her trotteten, in diesem Schmelztiegel trafen sich sämtliche Extreme.

Mittendrin Sarah, die respektlos einige Geschäftsmänner vor sich her scheuchte, die ihr auf dem Förderband im Weg waren. Ihre Jeans gehörten zu der Kategorie, die ihre Risse und durchgescheuerten Stellen nicht aus der stonewashed Maschine hatten. Das ärmellose chromgelbe T-Shirt mit seinen mintgrünen Blüten stand nicht nur farblich in Kontrast zu den mausgrauen Managern, die charmant ihre Wohlstandsbäuche beiseiteschoben, um sie passieren zu lassen. Ihr sommerliches Outfit stand auch im Widerspruch zu den dicken Schneeflocken, die in den überdimensionierten Glasfronten glitzerten. Ihr Anblick zauberte jedem Beobachter ein Lächeln ins Gesicht.

Sie erinnerte mich an meine Kindheit, an meinen Golden Retriever, wenn er verspielt auf mich zuraste. Eine Mischung aus wilder Entschlossenheit, Chaos und ungebändigter Lebensfreude. Sie streckte mir schon von Weitem die Arme entgegen und rief durch den gut gefüllten Coffeeshop:

»Hi Partner, was machen die Neurosen?«

Ich umarmte sie und murmelte: »Hi Sarah, gut, ähm ...!«

Die Vorstellung, dass Igor etwas passiert sein könnte, schien sie zu verdrängen. Vielleicht war es auch einfach nicht ihre Art, andere mit ihren Problemen zu malträtieren. Ihre Beziehung zu Igor hatte ohnehin Züge einer Zweckgemeinschaft. Mir war das Gefühl nicht fremd, Alltag, Routine, es hatte viele Namen, kam meist schleichend und unbemerkt. Dabei sind es oft nur die kleinen Gesten und Signale, die am Ende des Tages eine große Liebe von einer Liebelei unterscheiden. Ich hatte so viele Chancen, meine Ehe zu retten, bis zum Scheidungstermin hatte ich sie auf morgen verschoben.

Der Flieger drehte bereits seine zweite Schleife. Man konnte die Landebahn erkennen und Flugzeuge, die zu ihren Gates rollten. Sarah klebte mit der Nase am Fenster und murmelte: »Kenn ich - genau wie in Google Earth!« Mit dem ersten Schritt auf indischem Terrain spürten wir schlagartig den Unterschied zur virtuellen Welt. Wie ein unsichtbares Saunatuch wehte uns der Monsun die feuchtwarme Luft entgegen.

Verglich man den Shivaji International Airport mit europäischen Flughäfen, war dieses Flair nicht mehr zu toppen. Wir waren mitten im Drehkreuz Südasiens. Das Einheitsgrau europäischer Airports war wie weggefegt. Alle Hautfarben, Kleidungsvarianten, Kopfbedeckungen, alles war bunt und bewegte sich in einer unglaublichen Schlagzahl.

Die Förderbänder quollen über von zugeschnürten Kartons, Unterhaltungselektronik und halben Hausständen. Unsere nagelneuen Hartschalenkoffer hatten fast etwas Exotisches, zumindest gab’s keine Verwechslungen.

Mit ihrer Vorliebe fürs Authentische hatte Sarah mit unserem Taxi ins Schwarze getroffen. Der Fahrer hatte das Innenleben seines Toyota komplett zum Wohnzimmer umfunktioniert. Der rosarote Plüschbezug des Armaturenbretts beherbergte unzählige Heilige neben vergilbten Bildern des engeren Familienkreises. Der Fahrer selbst versank in einem mächtigen Fell aus Kunststofffaser.

Unser Indisch beschränkte sich auf den Namen des Hotels Shangri La. Sarah hatte sich bei der Auswahl besondere Mühe gegeben und sogar das Buch von James Hilton gelesen. Es handelte von einem sagenumwobenen fiktiven Ort irgendwo im Himalaya, von Menschen, die in Abkehr von der Hast der Zivilisation unter völligem Verzicht auf die Annehmlichkeiten unserer hochtechnisierten Welt lebten und einem apokalyptischen Ereignis entgegensahen. Sarah fand das irgendwie passend. Das Hotel selbst war alles andere als spartanisch. Die Annehmlichkeiten, auf die man im mystischen Shangri La verzichten musste, gab's hier im Überfluss. Sarah war zufrieden mit ihrer Wahl, umgeben von lächelnden Menschen und Wellnessangeboten machte sie einen entspannten Eindruck. Trotzdem kreisten ihre Gedanken von einem Extrem zum anderen - was würden die nächsten Tage bringen, wie würde das alles enden? Sogar Sarah kam langsam an ihre Grenzen.

In perfektem Schulenglisch klärte sie den Empfang über unsere Reservierung und ihre Bedingungen auf. Der Taxifahrer stand immer noch angestrengt lächelnd inmitten des Foyers, übersät von Fellfusseln auf seiner schwarzen Montur. Alle Bemühungen des Portiers, ihm unsere drei Koffer abzunehmen, wurden von ihm vehement abgewehrt.

Erst als Sarah ihm die frisch eingetauschten Rupien in die Hand drückte, entspannte sich sein Lächeln. Er faltete seine Hände, verbeugte sich leicht und sagte: »Namaste«, was in Sanskrit wohl so viel heißt wie: »Ich verbeuge mich vor dir!« Die Geste gefiel mir.

Wir hatten beide noch den Jetlag in den Knochen und ließen uns gleich auf unsere Zimmer bringen. Sie lagen im gleichen Stockwerk, hoch über den angrenzenden Gebäuden. Ein großes Panoramafenster verschaffte mir einen atemberaubenden Einblick in die verwinkelten Gassen, Basare und Tempel. Gegen diesen Ausblick war Richards Fenster eine Mottenkiste.

Ich musste geschlafen haben wie ein Stein. Es waren nicht die üblichen Geräusche, die mich geweckt hatten, keine Autos oder Stimmen, es war das Licht, das mich mit seiner angenehmen Wärme berührte. Niemals zuvor hatte ich solche Farben gesehen. Die Sonne musste dieses Land lieben, seine Menschen gaben diese Liebe mit ihrer Leidenschaft für Farben zurück.

Es war erst acht Uhr morgens, bis zum Frühstück blieb noch genügend Zeit, mich bei Neils zu melden. Ich wollte mir die Laune nicht durch seine Eitelkeiten verderben lassen und schrieb ihm lediglich eine kurze SMS. »Sind gestern in Mumbai angekommen, Hotel Shangri La. Bitte um kurzen Rückruf unter dieser Handynummer, Grüße, Leon.«

Die Brieftaube auf dem Display war gerade durchgestartet, als das Hoteltelefon klingelte. So schnell konnte nicht mal Neils reagieren. Sicher hatte Sarah gerade die Infobroschüre des Hotels gefunden und meine Zimmernummer ausprobiert.

Ich meldete mich kurz mit: »Leon Bo...« Viel weiter kam ich nicht, Sarah plapperte einfach drauflos. »Hast du den Sonnenaufgang gesehen? Ich hatte das Gefühl, in einen Farbtopf zu fallen. Sowas Schönes gibt’s in München nicht mal bei Föhn, obwohl ...? Gehen wir frühstücken?«

Sie war wieder voll da und wie immer unberechenbar. Ich erinnerte mich an Neils Pausentaktik und ließ mir etwas Zeit mit der Antwort - zu viel Zeit für Sarah! »... also bis gleich, ich geh schon mal vor!«

Die Vogelperspektive meines Panoramafensters fesselte mich immer noch. Eine Flut von Menschen drängelte sich durch die engen Gassen, als folgten sie alle einem gemeinsamen Ziel. Ein gewaltiger Ameisenhaufen - nur bunter.

Ein merkwürdiges Glitzern lag in der Luft. Erst jetzt fiel mir auf, dass die Reflexe, die wie winzige Wasserspiegelungen hier und da aufblitzten, nicht von draußen kamen. Der Stress, die Hitze und Sarah hatten mir scheinbar mehr zugesetzt, als ich mir eingestehen wollte.

Ein ausgiebiges Frühstück war immer noch das Beste gegen Jetlag; eine der tausend Teesorten half gewiss auch gegen Glitzern. Ich freute mich auf den neuen Tag und fühlte mich wie Harald Berger im »Tiger von Eschnapur«.

Das Foyer duftete nach allen möglichen Aromen. Überall Schalen mit Orchideen und bunten Blüten. Aus der Parfümerie schwebten die schweren Düfte des Orients. Ein Hauch von Patschuli erinnerte mich an meine Hippiezeit, ein wunderbarer Geruch und wunderbare Erinnerungen. Ich folgte weiter meiner Nase, dem Duft frisch gemahlenen Kaffees und ofenfrischer Croissants, bis zum prunkvollen Frühstücksraum, einem Fest der Sinne - mittendrin Sarah.

»Guten Morgen Sarah, gut geschlafen?«, begrüßte ich sie und fragte mich im selben Atemzug, ob meine geistlosen Phrasen immer noch mit dem Glitzern zu tun haben konnten.

»Hi Leon, prächtig - riech mal!« Sie streckte mir ihren Handrücken entgegen und schaute mich neugierig an. Das war meine Chance, endlich konnte ich ihr ein Kompliment machen, vielleicht sogar einen intelligenten Satz rausbringen.

»Patschuli? Atemberaubend, exotisch, es passt zu dir!«

Sie war zufrieden mit der Antwort, um sicherzugehen, roch sie noch einmal an ihrer Handfessel, beugte sich kopfschüttelnd zu mir rüber und flüsterte: »Zweiachtzig das Fläschchen, kannst du dir das vorstellen?« Ich ließ sie im Glauben, ein einzigartiges Parfüm entdeckt zu haben. Dass Patschuli ein Öl ist, mit dem man sich hierzulande auch lästige Fliegen vom Leib hält, tat dem Zauber dieses Dufts keinen Abbruch.

Es war der perfekte Morgen. Wir waren in Mumbai, ein neues Abenteuer lag vor uns, vor mir ein frisches Croissant und die strahlenden Augen Sarahs. Ihr langes schwarzes Haar hatte längst das Patschuli aufgesogen und erinnerte an die Cannabisdüfte meiner wilden Jahre. Nach meinem Koma gehörte Aloe vera zur Therapie. Vielleicht war ja etwas dran an dem, was die Lauthäuser-Kasperger über Düfte, Schwingungen und ihre Wirkung auf Menschen sagte, bei mir funktionierte es todsicher.

Mit jeder Sekunde entdeckte ich mehr Facetten an Sarah - zu viele Schwingungen! Ich durfte nicht mal daran denken, Sarah war Igors Frau, es machte keinen Sinn, sich in etwas zu versteigen, was nur in einer Katastrophe enden konnte. Wir waren beide nicht der Typ für Flirts oder oberflächliche Affären.

Elvis brachte mich wieder zurück auf indischen Boden. Ich hatte sein »Heartbreak Hotel« als Klingelton auf meinem Handy, bis heute konnte ich mich nicht davon trennen. Sogar hier im Orient hatte der »King of Rock« seine Verehrer. Ein indischer Geschäftsmann konnte sein Grinsen nicht länger hinter seinem Bart verbergen, er hob den Daumen, als wollte er sagen: »Ab und zu kommt auch mal was Brauchbares von den Amis.«

Es fiel mir schwer, Elvis wegzudrücken, aber Neils Name blinkte auf dem Display.

»Guten Morgen Leon, freut mich, dass ihr die Strapazen auf euch genommen habt. Wie geht's denn so - was macht Sarah?« Neils klang überfreundlich, als wollte er mir ein Jahresabo für natürliche Frühstücksflocken verkaufen. Ich bedankte mich für seinen Rückruf und begrüßte ihn ebenfalls zuckersüß.

Er kannte unser Hotel und vor allem den Drink des Hauses - Lemongrass. Eine Mischung aus gemahlenen Minzeblättern, Limone und frischen Aromen, die man lediglich erahnen konnte. Das Ganze schmeckte sensationell. Mein Vorschlag, sich am Nachmittag auf ein Lemongrass in der Lounge des Shangri La zu treffen, traf sofort auf seine Zustimmung.

Sarah holte sich in der Zwischenzeit die dritte Crêpe. Scheinbar hatte sie sich in den Kopf gesetzt, gleich am ersten Tag alle Varianten auszuprobieren. Käse mit Schinken, Obst mit Joghurt, Erdnussbutter. Ich fragte mich, wie sie das bei ihrer Traumfigur hinbekam.

»Musst du probieren! Die bringen dir das hier sogar an den Tisch - war das Neils?«, fragte sie, ohne dabei den Ober aus den Augen zu verlieren.

»Ja, wir treffen uns heute Nachmittag hier im Hotel, eigentlich ein ganz netter Bursche, zumindest klang er am Telefon ganz vernünftig. Übrigens, die haben hier auch traumhaften Fisch!«

Sarahs Blick löste sich spontan vom Ober und musterte das Buffet.

Ich genoss jeden Augenblick unseres Aufenthalts, insbesondere der Spa-Bereich hatte es mir angetan. Das angenehme Plätschern des Pools, die komfortablen Liegen - ich schloss die Augen und dachte an Richards Café. Mir kam die Kleine mit dem Hund in den Sinn, ob sie jetzt gerade am Imbiss standen und sich die Mahlzeit teilten? Eine Berliner Currywurst vom Krasselt hätte ihre Töle sicher nicht verweigert.

»Leon?«

Wie eine Seifenblase zerplatzte meine Currywurst. Ich öffnete die Augen und erschrak. Mein Gegenüber war das Abbild von Anthony Hopkins - Hannibal Lecter wie er leibt und lebt, sogar der weiße Anzug passte.

»Woher wissen Sie meinen Namen?«, fragte ich starr vor Angst. Hannibal Lecter setzte dieses Grinsen auf, das er immer kurz vor grauenhaften Szenen trug, und zischte:

»Ganz einfach, Sie sehen aus wie ein Europäer, sind weiß wie ein Leinentuch, also gerade angereist, und auf Ihrem Bademantel steht Leon Borg. Sicher hätte mich Ihre wunderschöne Poolnachbarin schon vorgestellt, aber Sarah schlief so fest, gegen ihre Kopfhörer hatte ich keine Chance. Ich muss mich entschuldigen, ich bin eine Stunde zu früh, wir hatten telefoniert, mein Name ist Neils - Neils Trew.«

Ich hatte mein erstes Entsetzen abgelegt und richtete meine Sonnenliege auf.

»Übrigens, ich sehe nur so aus«, sagte Neils, immer noch mit einem süffisanten Grinsen. »Können wir uns nachher in der Bar treffen? Ich nehme schon mal einen Drink, Sie werden auch einen brauchen!«

Mein dämlicher Gesichtsausdruck sprach offenbar Bände, mir blieb nur die Flucht nach vorn.

»Hallo Neils, freut mich! Ich mach mich nur noch salonfähig, sagen wir in zehn Minuten? Was meinten Sie eigentlich mit: ›Ich sehe nur so aus‹«?

Er rückte seinen weißen Sonnenhut zurecht und brummte: »Meine Ähnlichkeit mit Hannibal Lecter, ›Das Schweigen der Lämmer‹, Sie wissen schon! Was glauben Sie, wie oft ich Autogramme gegeben muss, nur um dummen Fragen aus dem Weg zu gehen. Mittlerweile habe ich mich fast an die Rolle gewöhnt, Hannibal Lecter ist ein Teil von mir. Irgendwie muss ich was von 'nem Kannibalen haben.«

Während er das sagte, setzte er dieses körperlose Grinsen auf. Sicher konnte er die Gänsehaut auf meiner Haut sehen, er machte sich einen Spaß daraus, ich konnte nichts dagegen tun.

Sarah hatte von unserer Begegnung nichts mitbekommen. Die Meditationsklänge ihres Kopfhörers übertönten sogar den Deathmetalsound ihres Nachbarn - wenn schon entspannen, dann richtig!

Ein paar Wasserspritzer aus dem Pool reichten, um ihre Chigongphase zu beenden. Meine Beschreibung von Neils amüsierte sie, es war ihr genauso gegangen, als Igor ihn zum ersten Mal mit nach München brachte. Sie sprühte vor Optimismus und feixte:

»Ich hab ein gutes Gefühl, Leon. In ein paar Minuten wissen wir, was mit Igor los ist, Hannibal wird ihn schon nicht verspeist haben. Alles wird gut! Was meinst du?«

Was Neils anging, war ich skeptisch. Seine ganze Erscheinung war mir nicht geheuer, und das hatte nichts mit Hannibal Lecter zu tun. In den Versuchsreihen des LHC fand man seinen Namen regelmäßig im Auftrag eines amerikanischen Konzerns.

Das Unternehmen gehörte zu den weltweit größten Waffenlieferanten. Es hatte den zweifelhaften Ruf, besonders innovativ zu sein. Diese Typen bohrten keine kleinen Löcher, was aus dieser Schmiede kam, waren Massenvernichtungswaffen.

Nuklearwaffen waren schon lange nicht mehr en vogue, die bastelten an der Büchse der Pandora und waren fest entschlossen, sie zu öffnen. Wenn sie bei dieser Gelegenheit den halben Erdball pulverisieren würden, gehörte das zu ihrer Definition von Kollateralschäden - sofern es die richtige Hälfte traf.

Sarah wusste offenbar nichts davon. Igor hatte entweder selbst keine Ahnung oder es ihr verschwiegen. Im Moment hielt ich es für klüger, sie nicht damit zu belasten.

Ich hatte Neils nie im LHC getroffen, er hatte sicher keine Ahnung, dass ich nach meinem Koma Einsicht in seine Projektunterlagen hatte. Das war meine Bedingung, Einsicht in alle Dokumente, die mit dem Störfall zu tun hatten, im Gegenzug hatte ich auf eine Klage verzichtet. Die horrende Abfindung und die luxuriöse Reha hätten mich damals schon stutzig machen müssen.

An der rappelvollen Bar verteilte Neils ungeniert Autogramme, ein amerikanisches Pärchen ließ sich begeistert mit ihm ablichten. Er machte sich einen Spaß daraus und scherte sich nicht darum, dass man ihn entlarven könnte. Ich begrüßte ihn mit: »Hello Anthony«, was spontan sein professionellstes Gänsehautgrinsen auslöste.