COLD CASE - Das gebrannte Kind - Tina Frennstedt - E-Book
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COLD CASE - Das gebrannte Kind E-Book

Tina Frennstedt

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Beschreibung

Bereits vier Menschen sind in einer Serie von Bränden getötet worden. Alles weist darauf hin, dass der Täter immer derselbe ist. Er entfernt zunächst die Brandmelder, kennzeichnet dann die Häuser mit Ziffern - und legt Feuer. Als eine Frau einen Anschlag überlebt und berichtet, dass im Haus Musik zu hören war, während das Feuer wütete, ist Kommissarin Tess Hjalmarsson alarmiert. Dieses Detail kennt sie von einem ihrer ersten Mordfälle, der sie bis heute verfolgt, denn dieser Fall wurde damals nicht aufgeklärt. Tess und ihr COLD-CASE-Team nehmen die Ermittlungen auf und suchen unter Hochdruck nach dem Brandstifter. Denn das tödliche Spiel mit dem Feuer geht weiter ...

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Seitenzahl: 454

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumZitatEs beißt inDienstag, 20. Oktober 2020»Und was geschiehtMittwoch, 21. OktoberTess sah SandraTess legte HolzDas Licht derLeichter Nebel lagDas Treffen mit»Du widerliche SchweinefotzeChilli schlief nochDavid Gabès schlossTess schaute aufDonnerstag, 22. OktoberTess fuhr rechtsHinter dem schmutziggrauenIn der KücheFreitag, 23. OktoberAuf dem FlurAls Tess wiederAuf dem WegMontag, 26. OktoberGleich am MontagmorgenNach einer kurzenBetty van FriisGoldenes Herbstlicht färbteDienstag, 27. OktoberSie spürte, dassUm kurz vor2005 – KrebsessenAls Lundberg auflegte,Mattias Falk zogTess verließ Malmö,Mittwoch, 28. OktoberEs war Vormittag,Nachdem sie die2005 – Das letzte EssenEs war späterDonnerstag, 29. OktoberIm zweiten StockTess hielt sichAls Tess inWerbebroschüren und BriefeFreitag, 30. OktoberDie fünf Ermittlerinnen»Wo willst duTess schaltete denSamstag, 31. OktoberTess saß allein»Kannst du malIn diesem JahrMarie legte einTess wollte dieSonntag, 1. November – AllerheiligenNach nur vier2005 – Der letzte AbendBevor sie denNachdem sie imTess ließ esMarianne Hjalmarsson wohnte»Ach, du Scheiße«,Montag, 2. NovemberTess wurde vomGrauschwarze Herbstwolken jagtenDANKE AN

Über dieses Buch

Bereits vier Menschen sind in den Feuern getötet worden. Der Täter hatte zuvor die Brandmelder entfernt, eine Ziffer an das Haus gemalt und dann das Feuer gelegt. Als eine Frau überlebt und berichtet, dass sie Musik vernommen hat, während das Feuer ausbrach, ist Kommissarin Tess Hjalmarsson alarmiert. Dieses Detail kennt sie von einem ihrer ersten Mordfälle. Damals wurde der Täter jedoch nicht gefasst. Tess und das COLD-CASE-Team ermitteln nun unter Hochdruck. Denn die Kommissarin steht ebenfalls auf der Liste des Mörders …

Über die Autorin

Tina Frennstedt arbeitet als Kriminalreporterin beim schwedischen Fernsehen und ist – wie die Protagonistin ihrer COLD-CASE-Krimireihe – Expertin für Mordfälle, die jahrzehntelang nicht aufgeklärt wurden. Ihre Reportagen sind preisgekrönt und bilden den realitätsnahen Hintergrund für ihre Krimis, deren Schauplatz das südschwedische Österlen ist. Der erste Band, COLD CASE – DAS VERSCHWUNDENE MÄDCHEN, war ein großer Erfolg und wurde in Schweden als bestes Krimidebüt 2019 ausgezeichnet.

Die folgenden COLD-CASE-Bände setzen diese Erfolgsgeschichte fort. Tina Frennstedt lebt in Stockholm.

TINA FRENNSTEDT

COLDCASE

DAS GEBRANNTE KIND

KRIMINALROMAN

Übersetzung aus dem Schwedischen vonHanna Granz

LÜBBE

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der schwedischen Originalausgabe:

»COLD CASE – Skärseld«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2021 by Tina Frennstedt

First published by Bokförlaget Forum, Stockholm, Sweden

Published in German language by arrangement withBonnier Rights, Stockholm, Sweden

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Anja Lademacher, Bonn

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau

Einband-/Umschlagmotive: © shutterstock: gyn9037 | Stefan Holm; © gettyimages: intervit

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-0996-5

luebbe.de

lesejury.de

»This ist the second death, the lake of fire«

(Offenbarung 20:13-14, Neues Testament)

Es beißt in der Nase und kratzt im Hals. Linn dreht sich auf den Bauch, um nicht geblendet zu werden.

Tauch wieder ab, hinunter ins Warme, Weiche, flüstert die drängende, tiefe Stimme. Sie gehorcht, strampelt die Decke zu ihren Füßen weg und döst wieder ein.

Traurige, ein wenig schrille und durchdringende Streichmusik erfüllt plötzlich das Schlafzimmer.

Linn dreht mühsam den Kopf, öffnet die Augen und versucht sich aufzurichten, fällt aber sofort wieder schwer zurück. Immer wieder gleitet sie in die Bewusstlosigkeit ab.

Da sind die Streicher wieder, sie spielen schnell und hektisch. Und noch lauter. Zu laut und zu real, als dass es ein Traum sein könnte. Dieselbe melancholische Passage hallt wieder und wieder durchs Zimmer und durch ihren Kopf.

Linn hustet, versucht erneut sich aufzurichten, um nachzusehen, woher die Musik kommt, doch ihr Körper gehorcht ihr nicht, es kommt ihr vor, als wiege sie plötzlich Hunderte Kilo. Ihre Beine sind wie gelähmt, sie hievt sich auf die Ellbogen hoch und stößt sich von der Matratze ab. Vom Fenster her ist ein Knistern zu hören, ein Prasseln.

Leg dich hin, mach die Augen zu, schlaf weiter, ermahnt sie die Stimme.

Linn widersetzt sich, ihre Augen brennen und ihre Nase. Sie dreht den Kopf und entdeckt hohe gelbweiße und aggressive Flammen, die vom Sessel am Fenster zur Decke lodern.

Sie erstarrt.

Die Flammen brüllen, sie tanzen die Wand entlang, wo sich das Fenster befindet.

Du musst die Feuerwehr rufen!, sagt eine neue Stimme in ihr. Linn tastet auf dem Nachttisch nach ihrem Handy, findet es aber nicht.

Ein Zischen und ein greller Lichtschein, als das blaue Rollo am Fenster Feuer fängt. Noch immer dringt laute Streichmusik durch den kompakten Rauch und prallt von den Wänden ab, als wollte die Musik sie aus dem Dämmerzustand wecken.

Runter. Auf den Boden, wo dich der Rauch nicht erreicht.

Sie klammert sich an der Bettkante fest und schiebt sich seitwärts auf dem Bauch hinüber, bis ihr eines Bein vom Bett hinunterfällt und den restlichen Körper mit sich zieht. Mit einem dumpfen Schlag landet sie auf dem Boden.

Linn versucht über den Boden zur Tür auf der anderen Seite des Zimmers zu robben. Durch den Rauchschleier hindurch sieht es so aus, als wäre sie geschlossen.

Ein flüchtiger Gedanke durchzuckt sie: Warum haben mich die Rauchmelder nicht geweckt?

Raus hier. Hau ab. Du brauchst Luft.

Doch jede Bewegung fühlt sich an wie eine Trainingseinheit im Fitnessstudio. Sie begreift nicht, warum ihr Körper ihr nicht gehorcht. Ihre Kehle schnürt sich zu, und sie hebt die Arme schützend vors Gesicht, hustet erneut. Langsam und mit gewaltiger Kraftanstrengung gelingt es ihr, sich auf die Knie zu erheben. Über die Bettkante schaut sie mit brennenden, tränenden Augen Richtung Fenster, wo das Feuer inzwischen auch die Gardinen erfasst hat.

Die Luft ist schwer, eine dunkelgraue Rauchmasse wabert nach oben und leckt gierig an der Zimmerdecke. Der Sessel neben ihr wird von einer Feuerwolke verschluckt.

Zu spät. Du kommst hier nicht mehr raus.

Der heiße Rauch frisst sich in ihre Lunge. Sie wölbt die Hände um Mund und Nase, um ihn fernzuhalten. Es kratzt, schmerzt und sticht, als sie nach Luft schnappt, und ihr Kopf fühlt sich an, als müsste er zerspringen.

Jetzt ist der Rauch eher schwarz als grau und noch dicker. Sie duckt sich wieder, um hinter dem Bett Schutz zu suchen. Legt den Kopf auf die Hände, spürt die Verlockung, einfach aufzugeben.

Mach doch, lass es einfach zu, raunt die Stimme in ihrem Kopf.

Es brennt bis in ihren Bauch hinunter. Als hätte sie eine ganze Flasche Whisky in einem Zug geleert. Tränen strömen ihr aus den Augen und benetzen ihre Lippen. Die Hitze strahlt unter dem Bett hindurch, die Dielen sind heiß wie glühende Kohlen und es fühlt sich an, als würden ihre Knie verbrennen.

Die Streicher beginnen von vorn, begleitet von knisternden, flammenden Funken, hetzen vorwärts durch die Hölle. Erneut versucht Linn einen Anlauf zu nehmen und ihren schweren, kraftlosen Körper Richtung Tür zu ziehen. Nur noch ein paar Meter, du schaffst das. Du musst. So darf es nicht enden.

Eine dumpfe Explosion ist zu hören, als die Flammen den Bettüberwurf erfassen. Jetzt kommt die Hitze von hinten, jagt sie und droht sie zu verschlingen. Sie dreht sich um.

Mein Haar, bitte nicht mein Haar.

Mit einem heftigen Knall birst die Fensterscheibe, und die Scherben fliegen nach draußen.

Das Feuer nimmt Fahrt auf, hinter ihr verschwindet das Bett in einem Flammenmeer. Ihre Haut spannt, an ihrem rechten Fuß wird es heiß. Sie sieht, wie er Feuer fängt, und strampelt, um ihn zu löschen, um doch noch davonzukommen.

Aus dem Augenwinkel sieht sie, dass der Teppich, der zwischen ihr und der Tür liegt, ebenfalls in Flammen steht. Sie muss an ihm vorbei, bis zur Tür ist es nur noch ein knapper Meter. Linn presst die Ellbogen auf den Boden, kriecht weiter und spürt seltsamerweise keinen Schmerz, als ihr Arm auf dem brennenden Teppich landet. Die Flammen breiten sich über ihr Bein aus, ihr Nachthemd fängt Feuer.

Es ist kein Sauerstoff mehr im Zimmer, der Hals wird ihr eng.

Komm in meine Arme, lass dich nur fallen, ins Warme, Weiche hinein.

Sie ist drauf und dran zu gehorchen und aufzugeben, als sich die Tür vor ihr öffnet und ein dunkler Schatten in der Öffnung erscheint.

Das ist die Rettung.

Mit letzter Kraft hebt sie einen Finger, um die Türschwelle zu erreichen. Nur noch ein paar Millimeter. An die Luft. Ins Leben.

Die Streicher verstummen, und die Tür wird von außen geschlossen.

Dienstag, 20. Oktober 2020

»Und was geschieht mit all den Fällen, um die Sie sich nicht kümmern können? Denn es ist ja schlicht unmöglich, in einem einzigen Leben alle aufzuklären?«

Bei der Frage hatte Polizeikommissarin Tess Hjalmarsson sofort die Gesichter der Angehörigen vor Augen: Fredrika, Tim, Göran und Desirée. Jennys Mutter, Solveig. Und sofort meldete sich das schlechte Gewissen zu Wort. Doch sie riss sich zusammen und erinnerte sich daran, was die Jahre als Mordermittlerin sie gelehrt hatten, wie sie denken musste, um mit dieser Arbeit, die sie über alles liebte, zurechtzukommen.

Es war zu erwarten gewesen, dass Vivi Brygge ihr diese Frage stellen würde. Sie hatten es diesmal zwar nicht geschafft, das Programm vor der Sendung durchzugehen, aber die Moderatorin war immer gut informiert, ihre Interviews waren knallhart, und sie hatte keine Scheu, schwierige Fragen anzupacken. Tess mochte sie.

Sie ließ den Blick über das Studiopublikum schweifen. Coronabedingt war nur eine Handvoll Menschen zugelassen, doch die blickten sie erwartungsvoll an.

»Ich gebe die Hoffnung nie auf, diese Fälle zu lösen, aber natürlich …«

Sie suchte nach den richtigen Worten.

»… werden auch Sie älter?«, flocht Vivi Brygge ein.

Tess lächelte.

»Ja. Kaum zu glauben, aber so ist es wohl.«

Vivi Brygge lachte.

»Nein«, fuhr Tess fort, »einige Fälle werden einfach ungelöst bleiben, das ist die bittere Wahrheit. Auch wir müssen Prioritäten setzen. Niemand sollte nach so einem Verlust mit dieser Ungewissheit leben müssen, das ist immer eine doppelte Strafe. Und das Mindeste, was wir Ermittler tun können, ist, jeden Stein umzudrehen.«

Vereinzelter, aber herzlicher Applaus füllte das Studio. Normalerweise wurde die Brygge-Show im Slagthuset nebenan aufgezeichnet, heute hatten sie sich jedoch in den beengten Räumen des Fernsehsenders SVT in Malmö zusammengefunden. Acht Personen waren eingeladen worden, um das Live-Ambiente zu gewährleisten, unterstützt wurden sie durch Applaus vom Band.

Vivi Brygge drehte sich wieder zur Leinwand um. Da es ein Greenscreen war, wusste Tess nicht, was darauf zu sehen war.

»Jenny Ramsvik«, sagte Vivi Brygge, »ihre Leiche wurde nie gefunden, doch im Laufe der Jahre ist viel über ihren Fall berichtet worden.«

Tess sah die Moderatorin fassungslos an, nahm sich aber rasch wieder zusammen und schaute ebenfalls zur Leinwand.

»Laut einem Artikel, den ich kürzlich gelesen habe, glauben Sie, dass damals der Falsche für die Tat verurteilt worden ist, und wollen den Fall noch einmal neu aufrollen.«

Tess fluchte innerlich, sie hatte absolut keine Lust, hier zur Primetime den Fall Jenny zu erläutern. Sie versuchte entwaffnend zu lächeln und sah dabei Vivi Brygge an.

»Der Fall Jenny hat von jeher viele bewegt. Doch es gab tatsächlich bereits ein Urteil. Daran können wir nichts ändern.«

Es war die diplomatischste Antwort, die ihr auf die Schnelle einfiel.

»Aber es könnte tatsächlich so sein, wie viele glauben, dass jemand anderes Jenny ermordet hat und damals der Falsche ins Gefängnis gegangen ist?«

Tess rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, versuchte eine ausweichende Antwort zu finden.

»Wenn man einen Fall neu aufrollt, der bereits als abgeschlossen gilt, muss man ein Wiederaufnahmeverfahren beantragen, und das ist ziemlich kompliziert.«

Tess schlug die Beine übereinander, wobei sie sehr wohl wusste, was ihre Körpersprache signalisierte.

»Ein heikles Thema, wie ich merke«, sagte Vivi Brygge.

»Ja, es gibt immer jede Menge Leute, auf die wir bei unserer Arbeit Rücksicht nehmen müssen. Es ist schwierig, einzelne Fälle zu kommentieren und genau zu sagen, wie wir dabei vorgehen. Wir dürfen den Angehörigen ja auch keine falschen Hoffnungen machen.«

Vivi Brygge nickte und wechselte Gott sei Dank das Thema.

»Was ihr kleines, erfolgreiches Team angeht …«

»Ja, unser sehr kleines Team«, beeilte sich Tess einzuwerfen.

Es konnte nie schaden, auf ihre mangelnden Ressourcen hinzuweisen, sie war sich sicher, dass sowohl der Polizeidirektor als auch alle anderen regionalen Führungskräfte der Polizei in diesem Augenblick vor den Fernsehgeräten saßen.

»Dennoch ist es Ihnen gelungen, einige der schwierigsten Fälle des Landes aufzuklären. Das ist doch einen Applaus wert, oder was meint das Publikum?«

»Danke«, sagte Tess, nachdem der Applaus verklungen war. »Und derzeit sind wir schon wieder einer weniger. Es ist traurig, dass kein wirkliches Bewusstsein dafür vorhanden ist, wie wichtig auch die Aufklärung alter Fälle ist. So viele Menschen leiden darunter, wenn das unterbleibt. Denn es kommen ja nicht nur die Schuldigen davon, es sitzen auch viele Unschuldige im Gefängnis. Das vergisst man dabei manchmal ganz.«

Jetzt war es Johan Andertorp, an den Tess konkret dachte, der Mann, der für den Mord an Jenny verurteilt worden war.

»Puh, was für eine schreckliche Vorstellung«, sagte Vivi Brygge und blickte theatralisch in die Kamera. »Mörder, die mitten unter uns sind.« Wieder an Tess gewandt, fuhr sie fort: »Und dennoch sollte Ihr Cold-Case-Team bereits mehrfach aufgelöst werden, stimmt das?«

Tess musste innerlich grinsen. Das war genau das, worauf sie gehofft hatte: ein besseres Druckmittel gegenüber der Polizeiführung als zehn Gewerkschaftssitzungen zusammengenommen, und noch dazu zur besten Sendezeit.

»Wie sehen Sie das?«, fragte Vivi Brygge.

»Also, was mich persönlich angeht, so mache ich meine Arbeit gar nicht für den Polizeidirektor oder irgendeinen anderen Chef. Es mag zwar seltsam klingen, aber meine Auftraggeber sind tot, und dennoch leben sie weiter, und zwar durch mich.«

Vivi Brygge machte eine ausladende Geste und schaute ins Publikum. Neuer Applaus brandete auf.

Tess richtete den Blick wieder auf die Leinwand, sie wusste, dass für die Zuschauer dort die Gesichter von Annika, Max und Sara zu sehen waren, die Opfer, deren wahre Mörder sie Jahre nach der Tat zu fassen bekommen hatten. Sie deutete mit dem Finger dorthin.

»Das sind die Menschen, für die ich arbeite, sowie für die vielen Hundert weniger bekannten Opfer, die wir in der Region Süd zu beklagen haben.«

Vivi Brygge nickte.

»Sie meinen, es ist Ihnen völlig egal, was Ihre Vorgesetzten sagen?«

Tess lachte.

»Sie wollen wohl, dass ich arbeitslos werde! Aber im Grunde stimmt es. Und sollte man mich je zwingen, meine Einstellung zu ändern, oder mir einen anderen Arbeitsbereich zuweisen, würde ich noch am selben Tag hinschmeißen.«

Vivi Brygge strahlte, offenbar hochzufrieden mit dieser abschließenden rebellischen Antwort.

»Und damit verabschieden wir uns von unserem heutigen Gast«, sagte sie und beendete die Sendung.

Das Interview war vorbei, und die Titelmelodie erklang. Tess verließ das Podium und atmete tief durch. Livesendungen waren wirklich anstrengend.

Einen Moment lang überlegte sie, ob sie zu weit gegangen war. Es war leicht, so übermütig zu sein, wenn man auf der Fernsehcouch saß. Wenn man aber am darauffolgenden Tag den Chefs und Kollegen auf dem Flur begegnete, war das weniger angenehm. Doch sie hatte nichts gesagt, wozu sie nicht stehen konnte. Wenn sie nicht mehr an den unaufgeklärten Fällen arbeiten könnte, käme das einem Rausschmiss gleich.

Vivi Brygge trat zu ihr. Tess überlegte, ob sie etwas zum Jenny-Ramsvik-Fall sagen sollte. Sie hatten ja im Vorfeld tatsächlich nicht abgestimmt, worum genau es in der Sendung gehen sollte. Tess war einfach davon ausgegangen, dass das Thema nicht zur Sprache kommen würde. Dabei war natürlich klar, dass die verantwortliche Redaktion auch die Berichterstattung anderer zur Kenntnis nahm, und in der vergangenen Woche hatte Lasse Palmqvist von Kvällsposten nun mal auf Quellen verwiesen, denen zufolge der Jenny-Fall wiederaufgenommen werden sollte – welche Quellen das auch immer sein mochten.

»Danke für Ihren großartigen Einsatz«, sagte Vivi Brygge.

Der Sender hatte Tess angeboten, während der Herbstsaison als Dauergast bei ihnen aufzutreten. In »Zehn Fälle mit Tess« sollte sie über diejenigen Fälle berichten, die sie am meisten bewegt hatten.

Tess hatte gezögert, vor allem, weil es viel von ihrer eigentlichen Arbeitszeit als Ermittlerin in Anspruch nehmen würde. Gleichzeitig war ihr natürlich auch bewusst, dass es für ihre eigene Zukunft und die ihres Cold-Case-Teams eine großartige Chance war, wenn sie in der beliebten Brygge-Show auftrat.

Sie nahm ihr Mikro ab und wurde zum Ausgang begleitet. Im Redaktionsraum traf sie auf Sebastian, der die Facebook-Seite der Sendung betreute.

»Viele Kommentare und Fragen heute – schade, dass wir nicht mehr mit reinnehmen konnten«, sagte er und hob den Daumen.

Tess blieb stehen.

»Hoffentlich vor allem positive?«

»Auf jeden Fall«, sagte er. »›Super-Cop hat wieder geliefert‹, ›Wenn doch alle Polizisten wären wie Tess Hjalmarsson‹, um nur ein paar zu nennen. Nur ein Typ bleibt bei seinen nervigen, aggressiven Kommentaren.«

Sebastian überflog die Beiträge.

»Hier.«

Tess beugte sich herunter, um den Kommentar von Sonny0925 auf dem Bildschirm zu lesen.

»Warum sitzt du im Fernsehen und laberst Scheiße, statt dich um deine Fälle zu kümmern?«

Tess seufzte. Sobald man in den Medien präsent war oder sonst irgendwie auffiel, musste man damit rechnen, dass es Leute gab, die einen ständig infrage stellten oder einen schlicht nicht mochten.

»Der hat letztes Mal auch schon so was geschrieben«, sagte Sebastian.

»Was genau?«

Sebastian scrollte und wirkte etwas verlegen.

»Du würdest es genießen, von anderer Leute Tragödien zu erzählen und so was. Im Netz sind so viele Irre und Trolle unterwegs.«

Tess nickte.

»Wenn die wüssten, wie wenig angenehm die Auseinandersetzung mit diesem ganzen Elend ist, würden sie vielleicht anders denken.«

Tess ging die Treppe hinunter und verließ das Fernsehgebäude. Weit hinter ihr leuchtete das größte Hochhaus Skandinaviens, der Turning Torso, in der Dunkelheit.

Sie startete ihren Dienstwagen, einen schwarzen Volvo, und fuhr los. Auf der Klappbrücke warf sie einen Blick in den Rückspiegel, Richtung Västra Hamnen. Sie musste dringend mal wieder in ihre Wohnung, die Pflanzen auf der Terrasse gießen und nachsehen, ob alles in Ordnung war. Das hatte sie jetzt bestimmt schon eine Woche nicht mehr getan. Andererseits konnte es auch noch ein paar Tage warten. Es war einfach viel verlockender, nach Österlen rauszufahren.

Mittwoch, 21. Oktober

Tess sah Sandra zu, die im schwarzen Jackett durchs Haus lief und ein paar letzte Dinge für die anstehenden Arbeitstage in Helsingborg einpackte. Sie staunte selbst immer wieder, wie selbstverständlich ihre Beziehung sich bereits ein knappes Jahr nach ihrem ersten Date anfühlte. Denn dass sie einander gefunden hatten, war für sie keineswegs so vorhersehbar gewesen, wie Marie Erling immer behauptete.

Zwischen den Kiefern sah man das dunkelgraue Meer. Nach mehreren Tagen kräftigen Ostwinds hatte sich das Wetter ein wenig beruhigt, doch so nah, wie das Haus am Wasser lag – nur wenige Meter vom Strand entfernt –, war es niemals ganz still. Ein stetes Rauschen umgab sie in ihrer kleinen Bucht in Gislövshammar.

Tess sah zum regenschweren Himmel hinauf und zuckte zusammen, als Sandra sie von hinten umarmte.

»Woran denkst du?«

Tess rückte näher, bis sie sich ganz von Sandra umschlossen fühlte.

»An nichts.«

»Man denkt immer an irgendetwas. Aber …«

»… man muss nicht immer drüber reden.«

»Genau.«

Tess mochte ihr nichts von ihren Befürchtungen sagen, dass vielleicht doch ein Fluch auf ihrer Beziehung lag und sich plötzlich alles wieder in Luft auflösen könnte. Denn sie lachte öfter, liebte mehr und ging mit leichteren Schritten durchs Leben als in den vergangenen Jahren. Manchmal fühlte es sich fast zu schön an, um wahr sein, oder gar um immer so weitergehen zu können. Und ihre Beziehung hatte in den letzten Wochen tatsächlich einiges aushalten müssen: die bedrohlichen Attacken von Sandras Exmann, die weite Entfernung zu Sandras Kindern in Stockholm sowie die Schwierigkeiten und zeitlichen Verpflichtungen, die eine Führungsposition mit sich brachte, wie Sandra sie innehatte.

»Ich muss in einer halben Stunde los«, flüsterte sie auch jetzt. Tess spürte ihren warmen Atem in ihrem Nacken. Sie senkte den Kopf und hoffte, sie möge sie an genau dieser Stelle weiter berühren.

»Ich wünschte, du könntest bleiben.«

Derzeit führten sie mehr oder weniger parallele Leben, waren ständig unterwegs zwischen Österlen, Malmö und Helsingborg. Doch obwohl Tess gerne mehr Zeit mit Sandra verbracht hätte, gefiel es ihr auch allein in dem schwarzen Holzhaus am Meer. Viele Jahre hatte sie davon geträumt, selbst eines zu kaufen, doch ihr Erspartes hatte dazu nie gereicht. Und jetzt saß sie in einem Haus, das zum Teil von dem Geld bezahlt worden war, das Sandra nach der Scheidung von dem wohlhabenden Schreibmittelhersteller Cliff Edding erhalten hatte. Tess hatte befürchtet, dass sie mit dem Umstand, dass Sandra mit einem Mann verheiratet gewesen war, nicht gut klarkommen würde. Doch dann hatte sie alle Zweifel in den Wind geschlagen. In ihrem Alter war es geradezu unvermeidlich, dass ein neuer Partner bereits eine Vergangenheit hatte.

»Übrigens fand ich dich gestern richtig gut«, sagte Sandra. »Ich bin stolz auf meinen Super-Cop.«

Tess verzog das Gesicht.

»Man hat es nicht leicht als Prophet im eigenen Land, das weißt du besser als sonst irgendjemand. Leider war ich überhaupt nicht darauf vorbereitet, dass sie Jenny Ramsvik thematisieren würde.«

»Du kannst nicht alles unter Kontrolle haben, das kann nicht einmal Tess Hjalmarsson. Ich habe deinen Blick gesehen, als sie dich nach den Fällen gefragt hat, zu denen du niemals kommen wirst. Diesen Gewissensblick.« Sandra streichelte ihre Schulter. »Nicht alles in der Welt ruht auf diesen Schultern. Es gibt andere da draußen, die tragen helfen. Vergiss das nicht.«

Tess wusste genau, was sie meinte. In den letzten Jahren hatte das Cold-Case-Team ihre gesamte Energie gefordert. Doch das gehörte dazu, wenn man mit unaufgeklärten Fällen arbeitete. Zumindest, wenn man so wie sie hohe Ansprüche an das Ergebnis stellte und alles dafür tat, den Angehörigen eine Antwort zu liefern. Man entwickelte eine geradezu manische Besessenheit, verfiel mit Haut und Haar der Jagd nach dem anonymen Gesicht, dem man endlich lebendige Züge verleihen wollte.

Und dann der Kick an dem Tag, an dem einem genau das gelang, an dem das Gesicht klar hervortrat … In diesem Moment verschwand endlich die Macht, die der Täter durch seine Unsichtbarkeit gehabt hatte. Er, denn meist handelte es sich um Männer, wurde ein Mensch aus Fleisch und Blut.

In der Zwischenzeit war Sandra zum Küchentisch gegangen und las mit gerunzelter Stirn eine SMS.

Tess trat zu ihr.

»Was ist los?«

»Schon gut, nichts Besonderes.«

»Ach, hör auf. Das war schon wieder er, oder?«

Sandra hielt ihr das Handy hin, damit sie die Nachricht von Cliff Edding lesen konnte.

»Jetzt reichts. Du bist eine kalte, verantwortungslose und verlogene Schlange. Aber das wirst du büßen, das verspreche ich dir.«

Tess sah sie an.

»Kam die jetzt gerade? Das ist nicht in Ordnung, das ist eine regelrechte Drohung.«

Sandra schüttelte den Kopf.

»Ich begreife nicht, woher diese ganze Wut kommt. Dieser Hass in jeder Nachricht, die er mir schreibt. Hat das die ganze Zeit schon unter der Oberfläche gelauert? Er wird bestimmt alles tun, um die Kinder gegen mich aufzubringen.«

Tess hielt noch immer das Handy und sah, wie eine weitere Nachricht eintraf.

»Du versuchst dich die ganze Zeit rauszuwinden, wir müssen reden. Sofort. Wenn du nicht herkommst, komme ich zu dir.«

Sie runzelte die Stirn.

»Was heißt das? Hat er vor, hier aufzukreuzen und dir eine Szene zu machen? Du musst das irgendwie beenden.«

Sandra nahm ihr das Handy weg.

»Das sind leere Drohungen.«

»Wie kannst du dir so sicher sein? Ich will ihn nicht hier haben.«

Sandra hob die Augenbrauen.

»Glaubst du, ich möchte das?«

Auch wenn Tess es nur ungern zugab, verstand sie sehr wohl, welche Phase Cliff Edding gerade durchmachte. Er hatte die Trennung nicht gewollt. Und jetzt schien ihm klarzuwerden, wie endgültig alles war. Seine Panik wuchs.

Sie erinnerte sich, wie sie selbst reagiert hatte, als Angela sie verlassen hatte. Der plötzliche Schock, nachdem sie sich viel zu lange vorgemacht hatte, es würde schon alles wieder gut werden. Die Scham, die eigentlich unberechtigt war. Sandras Exmann schien sich noch in der Phase zwischen Schock und Leugnung zu befinden und nach Erklärungen zu suchen, was geschehen war. Doch er wollte die schmerzhafte Antwort nicht akzeptieren, dass die Liebe einfach erloschen war.

Alles hatte sich verschärft, nachdem Sandra vor ein paar Wochen angedeutet hatte, die Kinder könnten probeweise zu ihr nach Schonen ziehen. Sie vermisste sie unendlich, und Lo und Felix hatten von sich aus danach gefragt. Und da war Cliff Edding endgültig explodiert. Nun drohte er damit, sich um das alleinige Sorgerecht zu bemühen, was ebenso unrealistisch wie unangenehm war.

Laut Sandra hatte er Verdacht geschöpft, dass es da jemand Neues in ihrem Leben gab, wusste aber nicht, wer es war. Tess hoffte, dass Sandra ihm nur deshalb noch nichts von ihnen gesagt hatte, weil sie sich vor seiner Wut fürchtete, und nicht, weil sie nicht zu ihrer Beziehung stand – was sie aber nicht wirklich glaubte.

Während Sandra weiter packte, dachte Tess, dass dieses Versteckspiel vor dem Exmann und den Kindern sich allmählich so anfühlte, als würde sie wieder in den Schrank zurückgestopft. Und das war ein sehr unangenehmes Gefühl. Sie hatte Sandra noch nicht gefragt, wann sie das nächste Mal nach Stockholm fahren würde, denn sie wollte, dass sie bei ihr blieb. Auch wenn es natürlich besser war, es vorher zu wissen, damit sie nicht davon überrascht wurde.

»Irgendwas Neues wegen Stockholm?«

Sandra kam noch mal ins Wohnzimmer zurück.

»Nein, ich habe es noch nicht geschafft darüber nachzudenken. Aber bald sind Herbstferien.«

»Und da hast du überlegt, es ihm zu sagen, wenn du dort bist?«

Sandra setzte sich auf die Sofakante.

»Ja, das werde ich wohl müssen.«

»Aber du möchtest nicht?«

»Nein, natürlich nicht, du siehst ja, wie er sich aufführt. Ich muss versuchen, einen guten Moment zu erwischen.«

Tess zeigte auf ihr Handy.

»Schon mal überlegt, dass dieser Zeitpunkt vielleicht niemals kommt?«

Sandra antwortete nicht, sie schien etwas in ihrer Handtasche zu suchen. Tess hatte schon mal gefragt, ob ihr Exmann auch in der Ehe aggressiv und kontrollierend aufgetreten war. Vielleicht sogar gewalttätig? Aber Sandra hatte das verneint. Tess fiel es schwer zu glauben, dass dieser glühende Hass von einem Tag auf den anderen entstanden war.

Sie beschloss, das Thema zu wechseln. Sie würden sich ein paar Tage nicht sehen, weil Sandra rund um die Uhr im Einsatz sein und in ihrer Dienstwohnung in Helsingborg schlafen würde. Nach einem Tipp aus sicherer Quelle war ein südamerikanischer Frachter mit einer gigantischen Menge Kokain an Bord Richtung Öresund unterwegs, und nun bereiteten sich die Kollegen darauf vor, an Bord dieses Schiffes zu gehen, sobald es Helsingborg passierte. Sollte es ihnen gelingen, das Fahrzeug zu stoppen, wäre das die größte Kokainbeschlagnahme in der Geschichte Skandinaviens.

»Meint ihr, er läuft morgen im Hafen ein? Also, der Frachter?«

Sandra blickte auf.

»Wahrscheinlich wird es sich wieder mal verzögern. Wir können nur abwarten, aber alles andere wäre katastrophal, nach all der Arbeit, die wir da reingesteckt haben. Das Team ist schon seit Tagen startklar und kostet jede Menge Geld.«

Sandra ging in den Flur, um etwas zu holen.

Was die Führungsebene anging, schien man sich bei der Polizei vorübergehend von Homeoffice und Videokonferenzen verabschiedet zu haben. Sandra war vor knapp zwei Jahren als stellvertretende Polizeichefin nach Malmö gekommen und hatte damit gedroht, das Cold-Case-Team abzuwickeln und Tess nach Helsingborg zu versetzen. Es war eine Ironie des Schicksals, dass Sandra jetzt selbst dorthin geschickt worden war, da Per Jöns nach seiner Genesung die Leitung der Abteilung Gewaltverbrechen wieder übernommen hatte. Aber zumindest mussten sie so nicht zusammenarbeiten, was möglicherweise zu Tuscheleien unter den Kollegen geführt hätte, auch wenn die meisten Kolleginnen und Kollegen längst über ihre Beziehung Bescheid wussten. »Das am schlechtesten gehütete schwedische Staatsgeheimnis«, wie ihre Kollegin Marie Erling gesagt hatte, nachdem Tess sich ihr anvertraut hatte.

Tess warf einen Blick auf den Couchtisch, auf dem sich Unterlagen zum Jenny-Fall stapelten. Ob sie es heute wohl schaffen würde, die Vernehmungen noch mal durchzugehen? Es war gestern nach der Sendung noch ein langer Arbeitstag gewesen, und sie hatte sich den ganzen Tag so müde gefühlt. Die Quellen von Lasse Palmqvist und Vivi Brygge hatten recht, Marie Erling und sie würden im Laufe dieses Tages zu Jennys Mutter Solveig in Baskemölla fahren. Tess wollte keine allzu hohen Erwartungen bei ihr wecken, aber Solveig wollte sich gerne mit ihnen treffen und auf dem Laufenden gehalten werden.

Tess’ Handy piepte. Eine Push-Nachricht von Kvällsposten.

Neuer mutmaßlicher Brandmord in Österlen. Vierzigjährige in Gärsnäs bei Brand ums Leben gekommen. Polizei untersucht mögliche Verbindungen zu ähnlichen Fällen in der Vergangenheit.

»Noch einer«, sagte Tess zu Sandra. »Drei Brände und vier Tote hier in Österlen, in weniger als einem Monat. Das kann doch kein Zufall sein, oder?«

Sie las laut vor, dass ihre Kollegin Kerstin Jacobsson davor gewarnt hatte, die Lage in Österlen könne sich zuspitzen. Sämtliche Brände hatten einen außerordentlich heftigen Verlauf genommen, die Häuser hatten im Nu lichterloh gebrannt, und eben dies deutete darauf hin, dass es sich um Brandstiftung gehandelt hatte. Die Sicherstellung von Brandbeschleuniger hatte das bestätigt.

Sandra rollte ihren Koffer in den Flur.

»Ich habe gestern im Supermarkt die Leute darüber reden hören«, sagte sie. »Ystad wird euch bestimmt bald um Unterstützung bitten.«

Tess hoffte, dass sie unrecht hatte.

Sie folgte Sandra bis zur Treppe, wo sie ihr einen Kuss gab und sie nur widerwillig losließ. Die feuchte Herbstkühle kroch ins Haus, und es knisterte im Kamin, als sie die Tür hinter ihr schloss. Zwar war es bereits Ende Oktober, doch noch in der vergangenen Woche hatten sie den Indian-Summer genossen. Tess hatte morgens mehrmals hintereinander in der eiskalten Ostsee gebadet. Aber es fühlte sich an, als wären diese Tage schon unendlich lange vorbei.

Tess legte Holz nach, ihre Wangen wurden heiß, als das trockene Scheit aufflammte. Der Morgenregen prasselte gegen die Fensterscheiben, und sie ging wieder in den Flur und pfiff ein paarmal vergeblich nach Chilli. Schließlich musste sie den wetterfühligen Hund vom Sofa scheuchen.

»Komm schon, du Weichei.«

Manchmal war sie selbst verblüfft gewesen, dass es ihr trotz der Arbeit an den beiden letzten großen Fällen tatsächlich gelungen war, Chilli nach der Trennung von ihrer Freundin Eleni zu behalten. Dass sie es darüber hinaus auch noch geschafft hatte, in die Kinderwunschklinik in Kopenhagen zu fahren und auf eigene Faust zu versuchen, schwanger zu werden, grenzte fast an ein Wunder. Obwohl seitdem nicht mehr als ein gutes Jahr vergangen war, kam es ihr vor wie ein ganz anderes Leben. Inzwischen hatte sie beschlossen, ihr Schicksal anzunehmen und ihren Kinderwunsch ad acta zu legen. Die Jahre vergingen viel zu schnell, aber sie hatte es immerhin versucht.

Tess zog sich ihre blaue Regenjacke über und öffnete die Haustür. Vor dem Gartentor fuhr langsam ein silberfarbener Audi vorbei, und sie überlegte, ob es wohl derselbe war, den sie in der vergangenen Woche mehrfach gesehen hatte. Gislövshammar war klein, da war es leicht, einen Überblick darüber zu behalten, wer kam und ging. Ihr Haus war zudem das vorletzte in der Straße, und der eigenbrötlerische Ricky Nileman, der ganz an deren Ende wohnte, besaß keinen Audi und bekam nur selten Besuch.

Tess bog um die Ecke, dicht gefolgt von Chilli. Die Häuser des kleinen Fischerdorfes, des kleinsten in Österlen, lagen wie ein weißes Band entlang der Küstenstraße zwischen Brantevik und Skillinge. Sandra hatte sofort zugeschlagen, als sie das neugebaute Haus entdeckt hatte. Glücklicherweise noch, bevor die Pandemie die Immobilienpreise zusätzlich in die Höhe getrieben hatte. Die Lage war günstig, ihre Dienststelle in Malmö, wie das meiste, wenn man auf dem Land wohnte, eine gute Autostunde entfernt.

Eine Bö erfasste Tess, als sie den Strand betrat. Die Natur entlang der Ostsee war rau und brutal. Eigentlich erstaunlich, dass sie von einer Ecke (Västra Hamnen in Malmö), in der es ständig rekordverdächtig stürmte, in eine ebensolche auf dem Land verschlagen worden war. Auf dem Sand lagen mehrere Boote, hinter denen Chilli jetzt verschwand. Tess sah, wie er anschließend zu der Landzunge hinunterjagte, wo er immer vom Brackwasser an den Kalkfelsen trank.

Sie ging weiter zu dem kleinen Gehölz am Steinstrand. Dort stand ein hohes Metallgerüst, die Überreste eines alten optischen Telegrafen. Von dort aus schaute sie auf die Ostsee hinaus und sog die nach Algen riechende, feuchte Meeresluft tief ein. Es rauschte und knallte, die Wellen brachen sich weiß und schäumend an der Wasseroberfläche, unter der sich kreisrunde Kalksteine verbargen, Überbleibsel eines Mühlsteinbruchs, der früher einmal auf der Landzunge gelegen hatte.

Ihre Zeit hier war befristet, das wusste sie. Schon bald, wenn der Wind noch heftiger von Osten wehte, und die Dunkelheit über Österlen hereinbrach, würde es zu mühsam werden, hierherzupendeln, und Sandra und sie würden wahrscheinlich wieder mehr Zeit in Malmö verbringen. Während der Coronapandemie hatten viele Ermittler halbtags von zu Hause gearbeitet. Angesichts des ständigen Personalmangels ging die Polizeiführung auf Nummer sicher, wollte lieber keinen Ausbruch der Krankheit auf der Arbeit riskieren, der zu zusätzlichen Ausfällen geführt hätte.

Tess pfiff nach Chilli, konnte ihn jedoch nirgends entdecken. Vielleicht hatte er sich zwischen den leerstehenden Häusern versteckt.

Als er nach fünf Minuten immer noch nicht kam, wandte sie sich der Aalkate zu. Vielleicht war er ja dorthin gelaufen? Gislaboden, wie sie genannt wurde, war eine sehr einfache Hütte, von jahrelangen Stürmen und Salzwassersprühregen gebeutelt. Davor standen hohe Fischernetzpfähle, und dahinter, etwas weiter die Wiese hinauf, graste eine Handvoll weißer Kühe.

Tess schlug diese Richtung ein, doch bereits nach wenigen Metern hörte sie das wohlbekannte Trappeln von Hundepfoten auf dem Strand.

»Ja, wo kommst du denn her?«

Chilli blickte sie schuldbewusst an, dann wandte er sich wieder ab. Tess bückte sich und leinte ihn an, dabei nahm sie ein Knacken bei den hohen Buchen neben der Bruchsteinmauer wahr, hinter der er hervorgesprungen war.

Tess drehte sich um, in dem starken Gefühl, beobachtet zu werden. Normalerweise begegnete sie auf ihren Spazier- und Joggingtouren selten jemandem. Erst am kommenden Wochenende, zu Allerheiligen, würde sich das Dorf wieder mit Menschen füllen. Tess ging zu der Bruchsteinmauer hinüber und schaute in das Wäldchen, konnte aber nichts als einen Berg Steine und einen Laubhaufen entdecken.

Von der Straße oben war das Motorengeräusch mehrerer Autos zu hören. Wieder musste Tess an den silberfarbenen Audi denken. Sie drehte sich um und ging nach Hause zurück. Die aggressiven Nachrichten von Sandras Exmann Cliff Edding rumorten immer noch in ihrem Hinterkopf. Irgendwie war es ihm gelungen, dass sie sich schuldig fühlte, obwohl sie doch nichts falsch gemacht hatte. Es war ein neues Gefühl, Tess hatte niemals jemandem die Frau oder Freundin »ausgespannt«, weder früher noch jetzt, dennoch vermittelte er ihr diesen Eindruck. Sandra war bereits dabei gewesen, sich von ihm zu trennen, als sie sich kennengelernt hatten, und damit hatte sie jedes Recht, ihr Leben anders weiterzuleben. Doch das schien Cliff Edding nicht so zu sehen, vielmehr glaubte er, seine Exfrau nach wie vor zu besitzen.

Würde er wirklich so tief sinken, in ihrer einsamen Bucht aufzutauchen und sie zu Hause aufzusuchen? Falls ja, würde er dort kaum auf Sandra treffen, denn die war inzwischen in Helsingborg.

Es wäre Tess, die ihm die Tür öffnen würde. Und wie würde er da wohl reagieren? Zumal das Haus zu einem großen Teil von dem Geld gekauft worden war, das er geerbt hatte?

Das Licht der Straßenlaterne spiegelte sich in den Pfützen auf der schwarzen, menschenleeren Straße vor dem Haus. Betty ließ das Nachtlicht in Reines Zimmer brennen, endlich war er eingeschlafen. Die Angst vor der Dunkelheit hatte ihn diese Woche an vielen Abenden gequält. Seit seiner Geburt war das so, und jetzt, da es ihm leichter fiel, sich auszudrücken, fragte er sie auch tagsüber nach den Gefahren, die möglicherweise in der Dunkelheit lauerten.

Sie schob ihm ein Kuscheltier unter den Arm, stand auf und ließ die verspannten Schultern kreisen, schauderte und zog sich die Ärmel der Strickjacke über ihre Hände. Die Spätsommersonne, die es ihr in den letzten Monaten beinahe unmöglich gemacht hatte, unter den Dachschrägen des Obergeschosses zu schlafen, war inzwischen einem klaren, kalten Oktoberwetter gewichen.

Betty schlich sich vorsichtig aus dem Zimmer ihres Sohnes in ihr eigenes auf der anderen Seite des Flurs. Drei hohe dunkle Fichten schwankten draußen leicht im Wind.

Sie machte kein Licht und stellte sich ans Fenster. Ihr Blick fiel auf das Haus auf dem Nachbargrundstück. Ein gewöhnliches, zweigeschossiges braunes Holzhaus. Erst gestern hatte sie dort am späten Abend einen flatternden Lichtschein gesehen, als sie gerade zu Bett gehen wollte. Jetzt lag das Nachbarhaus in kompakte Dunkelheit gehüllt da.

Die Besitzer, ein freundliches älteres Ehepaar, Louise und Gerhard Sandén, waren während des ganzen Sommers nur wenige Male dort gewesen, und sie hatte sie seit Wochen nicht mehr gesehen.

Sie pflegte keinen engeren Kontakt zu ihnen, aber Betty meinte, sich erinnern zu können, dass sie eine Wohnung in Malmö besaßen. Vermutlich waren sie dort. Das Haus auf dem Lande bei Simrishamn war Gerhards Elternhaus und seit vielen Jahren ihr Sommerdomizil.

Manchmal hatte Betty sich über die Bruchsteinmauer hinweg mit ihnen unterhalten. Sie hatte befürchtet, dass Reine rüberlaufen und Unfug in ihrem Garten anstellen könnte. Die Sandéns waren richtige Pedanten. Ende des Sommers hatten sie alles Gartenwerkzeug weggepackt und im Schuppen auf der Rückseite des Hauses verstaut, eine Plane über die Gartenmöbel gezogen und alles ordentlich festgemacht. Deshalb hatte sie sich ja auch so gewundert, als neulich die grüne Plastikplane hinterm Haus lose im Wind geflattert hatte.

Von draußen war ein Knall zu hören. Betty beugte sich vor und spähte in die Dunkelheit. Wenn man so weit draußen auf dem Lande wohnte, war es nachts stockduster, und man durfte keine Angst vor der Dunkelheit haben. Doch vor ein paar Jahren hatte es in der Gegend Probleme mit Einbrechern gegeben. Die Diebe waren auch in Häuser eingebrochen, deren Besitzer zu Hause waren, und Betty hatte wirklich keine Lust, einem von ihnen in ihrem Schlafzimmer zu begegnen.

Ein weiterer Knall durchdrang die Dunkelheit. Es klang wie eine Tür, die im Wind auf und zuschlug. Vielleicht ja die ihrer eigenen Garage. Das Schloss funktionierte nicht mehr richtig, und heute Abend blies es ordentlich über die Felder.

Betty putzte sich die Zähne und kroch unter die Decke. Der Wind hatte anscheinend zugenommen, denn jetzt folgte das Knallen dichter aufeinander. Wenn das die ganze Nacht so weiterging, würde sie nicht schlafen können. Sie musste runtergehen und nachsehen, ob es tatsächlich ihre Garagentür war.

Auf dem Stuhl neben dem Bett lag ihre Jeans, und sie stand auf und schlüpfte hinein. Dann ging sie schlaftrunken die Treppe hinunter. Im Flur zog sie sich noch eine Fleecejacke über, fuhr in die Gummistiefel und trat nach draußen.

Ein kalter Wind schlug ihr entgegen. Der Vollmond fiel auf das Grundstück und beleuchtete die Steinplatten, die zur Garage führten. Die Zweige an den Bäumen bewegten sich im Wind, warfen lange Schatten auf die gelb gestrichene Garagenwand.

Mit raschen Schritten lief Betty hinüber, doch die Tür war geschlossen. Dann hörte sie wieder dieses Knallen. Und von hier draußen war gut zu erkennen, dass es vom Haus der Sandéns kam.

Sie zögerte, doch als sie erneut das Knallen hörte, nahm sie all ihren Mut zusammen und ging zum Nachbarhaus, bog um die Hausecke und stellte fest, dass die blaue Haustür sperrangelweit offenstand. Sie näherte sich der Treppe, um hinaufzugehen und sie zu schließen.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

Betty schrie vor Schreck auf, als sie hinter sich eine Stimme hörte und etwas sie anleuchtete.

»Entschuldigung«, sagte sie und drehte sich um.

Vor ihr stand ein hochgewachsener Mann mit Stirnlampe auf dem Kopf.

»Ich habe nur die Tür schlagen hören und wollte nachsehen, ob etwas passiert ist.«

Das Licht blendete sie, machte es ihr unmöglich, sein Gesicht zu erkennen. Sie hob die Arme, um ihre Augen abzuschirmen.

»Könnten Sie vielleicht …«

Irgendetwas hinderte sie daran, den Satz zu beenden. Es fühlte sich an, als wäre es nicht angebracht, ihn zu bitten, die Stirnlampe abzunehmen. Der Mann deutete auf das Haus.

»Das ist das Haus meiner Eltern, ich bin hier, um danach zu sehen.«

Sie atmete auf, überlegte kurz, die Hand auszustrecken, entschied sich aber dagegen. Stattdessen blickte sie weiter zu Boden.

»Ach so. Ich wohne nebenan und habe sie schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Es ist ihnen doch nichts zugestoßen?«

»Nein, aber sie werden langsam alt und schaffen es nicht mehr so oft, hier rauszufahren. Gut zu wissen, dass es Nachbarn gibt, die sich kümmern.«

Er hob eine Hand wie zum Gruß und ging die Stufen hinauf. Das Licht der Stirnlampe fiel in den Flur vor ihm.

Betty spürte, wie ihre Wangen heiß wurden, sie schämte sich, auf dem Nachbargrundstück herumgeschnüffelt zu haben. Dann drehte sie sich um und ging zu ihrem Haus zurück. Wenigstens wusste sie jetzt, was es mit dem Lichtschein auf sich hatte und welche Tür da im Wind geschlagen hatte. Nur eins ließ ihr keine Ruhe.

Das Ehepaar Sandén hatte ihr gegenüber nie einen Sohn erwähnt.

Leichter Nebel lag über den Apfelbaumpflanzungen, über dem Meer und den Wiesen. Das Naturschutzgebiet Stenshuvud leuchtete in allen Herbstfarben, und die Ostseewellen schlugen immer noch hoch, als Tess nach Baskemölla hineinfuhr, um Solveig Ramsvik zu besuchen.

In diesem Sommer waren die Leute nach Österlen gepilgert, statt nach Griechenland oder Mallorca zu fliegen. Nach dem bleiernen Virus-Frühjahr war das für viele Dorfbewohner die Rettung gewesen. Doch Verkehrschaos und Müllberge hatten auch zu Auseinandersetzungen zwischen den Einheimischen und den Urlaubern geführt.

Inzwischen waren alle Spuren des Sommertourismus beseitigt und die Wassertemperatur wieder auf um die zehn Grad abgesunken. Bio-Hofläden und Holzofenpizzerien hatten ihre Türen für dieses Jahr geschlossen, und die Bewohner genossen die Herbstruhe. Jetzt hatten sie ihren Teil Schonens wieder ganz für sich.

Solveig Ramsvik wohnte an einer schmalen asphaltierten Straße im oberen Teil des Dorfes. Marie Erling hatte direkt vor dem Zaun geparkt, der hintere Teil des Wagens ragte auf die Fahrbahn. Sie trug ihre schwarze Lederjacke mit dem Motörhead-Aufnäher und lehnte am Auto. Als Tess hielt, warf sie die Jacke auf die Rückbank und zog sich stattdessen eine Regenjacke über. In der Dienststelle konnte Marie herumlaufen, wie sie wollte, aber Tess hatte sie gebeten, die Lederjacke auszuziehen, wenn sie hinausfuhren, um Angehörige aufzusuchen. Erstaunlicherweise schien sie sich an diese Regel zu halten.

Solveigs Haus war ein eingeschossiger Kalksandsteinziegelbau mit roten Giebeln, typisch für die Gegend. Der Garten war hübsch angelegt und machte einen gepflegten Eindruck.

»Darf man hier parken?«, fragte Tess beim Aussteigen und zeigte auf Maries Wagen.

Marie zuckte die Achseln.

»Siehst du irgendwo eine Politesse? Und wieso hast du eigentlich den da mit?« Sie nickte zu Chilli hinüber.

»Er war in letzter Zeit so oft alleine, dass ich ihn nicht schon wieder zu Hause lassen wollte.«

Marie hatte, seit sie als Kind von einem Kampfhund gebissen worden war, ein kompliziertes Verhältnis zu Hunden. Und obwohl Chilli niemals jemanden beißen würde, hatte sie noch nie versucht, ihn zu streicheln.

»Und deine Neue, Chillis Stieffrauchen, die fühlt sich wohl gar nicht für den Köter zuständig?«

Marie nutzte jede Gelegenheit, auf ihre ehemalige Chefin, Sandra Edding, anzuspielen und war sehr stolz darauf, die Erste gewesen zu sein, die von ihrer Beziehung gewusst hatte.

Tess antwortete nicht, sondern zeigte auf das Haus.

»Wollen wir reingehen?«

Neben der Haustür stand ein Rollator, den Chilli leise anknurrte. Tess klingelte und überlegte, ob Solveig wohl Besuch hatte. Es dauerte eine Weile, bis sie öffnete, und während die Klinke von innen langsam heruntergedrückt wurde, warf Tess einen weiteren Blick auf den Rollator.

Für einen Moment erkannte sie die abgemagerte Frau in der blauen Fleecejacke und mit den tiefliegenden Augen gar nicht wieder.

»Solveig?«, fragte sie unsicher.

»Kommen Sie rein«, sagte Solveig mit müder Stimme. Sie stemmte eine Hand in die Hüfte, dreht sich um und ging ihnen langsam und mit schweren Schritten voraus.

»Wir können uns in die Küche setzen«, fügte sie mit heiserer Stimme über die Schulter hinweg hinzu.

Bereits im Flur schlug ihnen ein intensiver Zigarettengeruch entgegen. Marie schloss die Haustür und fragte Tess mimisch: »Ist sie das?«

Tess runzelte die Stirn und nickte.

Es war ein Jahr her, seit sie Jennys Mutter zum letzten Mal gesehen hatten. In dieser Zeit schien der Verfall rasant vonstattengegangen zu sein. Sie war abgemagert und sah kränklich aus. Schon damals hatte Solveig geraucht, aber wenn Tess sich richtig erinnerte, hatte sie dabei mit der Zigarette unter der Dunstabzugshaube gestanden. Jetzt konnte man drinnen kaum atmen. Dankbar stellte sie fest, dass in der Küche zumindest ein Fenster gekippt war.

Tess befahl Chilli, sich unter den Tisch zu legen. Solveig ließ sich mühsam auf einen der Stühle sinken. Vor ihr stand ein halb geleertes Rotweinglas.

Tess zeigte auf die sauber glänzende Arbeitsfläche.

»Haben Sie Hilfe im Haushalt?«

»Ja, auf jeden Fall. Ich verstehe mich gut mit den Nachbarn, die helfen mir vor allem im Garten, und der Sozialdienst kommt alle zwei Wochen zum Putzen. Ich selber schaffe leider nicht mehr so viel.«

Tess begegnete ihrem freundlichen Blick, erinnerte sich wieder an diese warmen Augen und den Schmerz darin.

Vom Küchenfenster aus sah man das Meer und den Hafen von Baskemölla.

»Toller Blick«, sagte Marie und nickte zum Fenster.

Solveig lächelte und trank ihren Wein aus.

»Ich sehe das gar nicht mehr. Man nimmt es irgendwann als selbstverständlich hin. Aber als ich heute früh das Fenster geöffnet habe, hörte ich das Meer rauschen, und darüber freue ich mich immer wieder. Diese Kraft macht, dass man sich lebendig fühlt.«

Sie nahm eine Kippe vom Aschenbecher und räusperte sich.

»Viele, die nicht permanent hier leben, denken, das Leben in Österlen wäre wie in einer englischen Fernsehserie. Malerisch, mit einer wunderschönen Landschaft, kleinen weißen Kirchen und Fischerdörfern. Natürlich ist es hier schön, aber was habe ich nicht auch schon für Elend in den Dörfern gesehen. Leute, denen das harte Winterhalbjahr zusetzt. Die Arbeitslosigkeit, das tote, leergefischte Meer, Häuser, die von Sommerurlaubern aufgekauft werden und den Rest des Jahres leer stehen. Über die Armut der Bauern, Drogenmissbrauch und Elend wird nicht viel geredet. Ist darüber hinaus die eigene Tochter ermordet worden, tja, dann …«

Sie unterbrach sich und drückte ihre Zigarette aus.

Tess nickte. Seit sie selbst an die Küste gezogen war, verstand sie besser, wovon die Einheimischen redeten. Man brauchte kein Seelchen zu sein, um die wintergebeutelte Weite als Herausforderung zu empfinden.

»Haben Sie mal überlegt, hier wegzuziehen?«

Solveig lächelte schwach.

»Ich glaube, das würde schwierig. Ist vielleicht auch ein bisschen spät dafür.«

Mit zitternden Fingern zündete Solveig sich die nächste Zigarette an und deutete auf das Weinglas.

»Ich nehme an, ich kann Ihnen keins anbieten?«

Tess hob abwehrend die Hand. Doch noch ehe sie antworten konnte, sagte Marie:

»Ich versuche immer, erst nach dem Mittagessen anzufangen. Aber zu so einer würde ich nicht nein sagen.« Sie deutete auf die Zigarettenschachtel.

Tess sah überrascht zu, wie Marie sich mit geübten Fingern eine Zigarette ansteckte. Sie hatte sie bisher noch nie rauchen sehen, und wenn sie jetzt zu zweit qualmten, würde das die Luftqualität drinnen kaum verbessern.

Solveig nippt erneut vom Wein, sie hatte sich ein weiteres Glas eingeschenkt.

»Ich behaupte nicht, dass ich normalerweise nicht trinke. Ich tue es mehr oder weniger jeden Tag, und in letzter Zeit eher häufiger. Aber das …« Sie zeigte auf ein Foto von Jenny auf dem Fensterbrett, »… das macht es einfach besonders schwer. Und in der Hinsicht kann Alkohol enorm hilfreich sein, da können Sie sagen, was Sie wollen.«

Ein kurzes Lachen, gefolgt von einem Hustenanfall. Dann wurde es still in der Küche. Das Einzige, was noch zu hören war, war das entfernte Geräusch einer Motorsäge, das durch den Fensterspalt zu ihnen hereindrang.

»Verstehe«, sagte Tess und warf einen Blick auf das Foto der dunkelhaarigen Jenny.

Wie oft war sie nicht schon mit einer ähnlichen Nachricht zu Angehörigen gefahren? Und immer tat sie sich schwer mit dem Balanceakt, ihnen einerseits mitteilen zu können, dass sie den Fall wiederaufgenommen hatten, und andererseits keine allzu hohen Erwartungen zu wecken.

Tess begriff jetzt, dass Solveig nicht davon ausging, noch lange zu leben, sodass ihr besonders daran gelegen war, dass sie mit ihrer Arbeit begannen.

»Dann ist es vielleicht bald so weit?«, fragte Solveig auch tatsächlich und blickte abwesend aus dem Fenster.

»Ich kann leider immer noch nichts versprechen«, erklärte Tess. »Die technische Weiterentwicklung ist unser bester Verbündeter, da passiert immer wieder einiges. Aber wir müssen erst ein Wiederaufnahmeverfahren auf den Weg bringen, bevor wir wirklich loslegen können.«

»Ich habe Sie gestern im Fernsehen gesehen«, fuhr Solveig fort, sie schien ganz in ihrer eigenen Welt versunken. »Es ist immer wieder seltsam, die eigene Tochter im Großformat zu sehen, wissen Sie das? Das Mädchen, das Sie da zeigen, ist ein Mensch, der aus meinem eignen Körper hervorgegangen ist, sie ist ein Teil von mir. Für Tausende anderer Menschen ist sie nur ein Gesicht auf einem Bildschirm.«

Tess verfluchte sich noch einmal dafür, dass sie so schlecht auf die Sendung vorbereitet gewesen war und nicht hatte verhindern können, dass Jennys Gesicht gezeigt wurde.

»Glauben Sie, Sie werden diesmal die Wahrheit herausfinden?« Solveig blickte sie erwartungsvoll an. »Was habe ich dem Polizisten damals in den Ohren gelegen, sie hätten den Falschen festgenommen. Da war so vieles, was einfach nicht passte. Und als er dann in Rente ging, dieser …«

Sie suchte nach dem Namen des damaligen Ermittlers.

»Berg?«

»Ja, ein aggressiver Typ. So überzeugt, dass er recht hatte. Er hat sich geweigert, mir zuzuhören. Arrogant, fand ich. Ein bisschen Vertrauen sollte man uns Angehörigen doch entgegenbringen. Ich habe es damals schon gesagt, es war nicht Johan Andertorp. Ich kenne seine Tante. Auch wenn bei ihm zu Hause und auch hier oben nicht alles zum Besten stand …«, sie klopfte sich an die Stirn, »… so war er doch kaum ein Mörder.«

Solveig schwieg und wandte sich an Tess.

»Vor allem hätte er Jennys Leiche niemals so behandelt, sie versteckt oder verbuddelt oder was auch immer. So etwas tut man nicht, wenn man jemanden mag. Und er mochte Jenny. Ich kann mir vorstellen, dass es ein Unfall war, dass er panisch wurde und versucht hat … ja, sie verschwinden zu lassen. Aber dann hätte er es anschließend zugegeben. So gut kenne ich ihn immerhin.«

Ihre Hand zitterte, als sie nach dem Weinglas griff.

Tess nickte und sah auf die Tischplatte hinunter. Andertorp hatte zwar bestimmt seine Dämonen, aber als kaltblütigen Mörder hatte auch sie ihn nie gesehen.

Solveig ging es, wie so vielen Angehörigen, darum, zu erfahren, was genau ihre Tochter in den letzten Minuten ihres Lebens durchgemacht hatte. So schmerzhaft das Wissen auch sein mochte, war es doch besser als die Ungewissheit. Im Unterschied zu vielen anderen, die es irgendwann aufgaben, wollte Solveigs Mutter zudem sicherstellen, dass der Richtige für den Mord verurteilt wurde.

Sie hatte ihre Tochter Jenny zwanzig Jahre bei sich haben dürfen, bevor jemand sich das Recht genommen hatte, ihr Leben zu beenden und ihre Leiche verschwinden zu lassen. Was war eigentlich schlimmer: die unerfüllte Sehnsucht nach einem eigenen Kind, oder eines zu bekommen und es dann wieder zu verlieren? Vielleicht war es doch besser, kein Kind zu haben und so nicht in Gefahr zu geraten, es wieder zu verlieren. Es war im Grunde einfache Mathematik: Je mehr man besaß, desto mehr hatte man zu verlieren. Zumindest redete sie sich das manchmal ein.

Solveig verschränkte die Arme vor der Brust und schaute zu dem Foto auf dem Fensterbrett hinüber.

»Diesen November wäre meine Jenny fünfunddreißig geworden. Das Haus könnte voller Enkel sein, die mich besuchen. Stattdessen ist es …« Ihre Lippe zitterte, und ihr versagte die Stimme. Auch die Motorsäge draußen war verstummt. »… vollkommen still.«

Tess schaute ebenfalls zu dem Foto.

Jenny, eine ganz normale, strebsame junge Frau, schaute fröhlich in die Kamera. Das Bild war wahrscheinlich kurz vor ihrem Tod aufgenommen worden.

»Wissen Sie, wie die Trauer aussieht? Also, wie ich sie sehe?«, fragte Solveig und drückte eine noch glühende Kippe aus.

»Nein«, sagte Tess. »Verraten Sie es uns.«

»Also, ich sehe das wie ein Karomuster.« Sie zeichnete ein paar Vierecke vor sich auf den Tisch. »Hier, auf den Linien, bewege ich mich. An manchen Tagen stürze ich in die Leere dazwischen, und ich weiß nie, wie tief ich falle. Manche Abgründe sind nach so vielen Jahren tatsächlich sogar eher flach.«

Tess betrachtete das Karomuster. Es schien ihr eine gelungene Beschreibung des unerwünschten Begleiters, mit dem zu leben man lernen musste.

Solveig nahm eine halb aufgerauchte Kippe vom Aschenbecher und zündete sie erneut an. Tess merkte, wie ihr allmählich übel wurde. Lange würde sie es nicht mehr hier drinnen aushalten, und auch für Solveig konnte es nicht gesund sein, in einer so verräucherten Bude zu hocken. Wahrscheinlich war sie es inzwischen jedoch so gewohnt, dass sie gar nicht mehr darüber nachdachte.

Chilli war aufgesprungen und in den Flur gerannt, wo er heftig bellte. Tess ging hinaus, um ihn zurückzuholen. Solveig war niemand, der sich selbst leidtat oder unnötig um Hilfe bat. Die Frau, die hier wohnte, war trotz oder vielleicht auch gerade wegen dem, was sie durchgemacht hatte, aus hartem Holz geschnitzt. Doch auch die Härtesten konnten am Ende brechen, zumal wenn sie, wie Tess es von Solveig annahm, selbst dazu beitrugen, diesen Prozess zu beschleunigen.

Als sie in die Küche zurückkehrte, lachte Solveig gerade röchelnd. Sie und Marie beugten sich über ein Kreuzworträtsel, als hätten sie einen eigenen kleinen Pakt geschlossen. Tess war ihrer Kollegin dankbar, dass sie es anscheinend geschafft hatte, einen kleinen Lebensfunken bei Solveig zu entfachen. Sie erklärte, dass sie losmüssten, und als sie im Flur standen, beugte Solveig sich vor und schnappte zwischen zwei heftigen Hustenanfällen nach Luft.

Tess drehte sich um.

»Brauchen Sie Hilfe?«

Solveig schüttelte den Kopf.

»Ich fahre am Dienstag zum Arzt nach Lund.«

»Hoffentlich nichts Ernstes?«

Die Frage kam ihr selbst überflüssig vor, doch ihr fiel nichts Besseres ein.

Solveig stützte sich am Türrahmen ab.

»Wo liegt da die Grenze?«

Sie ließen sie auf der Treppe zurück, und als sie bei den Autos waren, fragte Tess Marie:

»Du hast doch nicht etwa angefangen zu rauchen?«

Marie öffnete die Tür ihres falsch geparkten Autos.

»Man passt sich den herrschenden Sitten an.«

Tess stieg in ihren Volvo. An manchen Tagen liebte sie Marie Erling mehr als an anderen.

Das Treffen mit Solveig beschäftigte Tess immer noch, als sie Baskemölla hinter sich gelassen hatte und wieder Richtung Malmö fuhr. Tief im Innern musste sie zugeben, dass sie bezweifelte, Solveigs innigsten Wunsch erfüllen und den wahren Mörder noch zu ihren Lebzeiten finden zu können. Solange es nichts Neues gab, lag ein Wiederaufnahmeverfahren in weiter Ferne. Deshalb hatte Tess auch nichts von dem Gürtel erzählt, dem Trumpf, den sie im Ärmel hatte und der demnächst untersucht werden würde. Sie hatte einfach keine allzu hohen Erwartungen wecken wollen.