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Spannung pur von Schwedens neuer Top-Thrillerautorin
Er lauert Frauen in den frühen Morgenstunden auf. Er überfällt sie in ihren Wohnungen. Er tötet sie - und verschwindet. Als an einem Tatort Spuren auftauchen, die auf einen alten Vermisstenfall hinweisen, übernimmt Tess Hjalmarsson, Expertin für COLD CASES, die Ermittlungen. Hängt das spurlose Verschwinden der damals 19-jährigen Annika, deren Fall nie gelöst wurde, tatsächlich mit den aktuellen Serienmorden zusammen? Tess ermittelt unter Hochdruck. Ein Rennen gegen die Zeit beginnt. Denn eines ist sicher: Der Serienmörder wird wieder zuschlagen ...
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Seitenzahl: 478
Veröffentlichungsjahr: 2020
Spannung pur von Schwedens neuer Top-Thrillerautorin
Er lauert Frauen in den frühen Morgenstunden auf. Er überfällt sie in ihren Wohnungen. Er tötet sie – und verschwindet. Als an einem Tatort Spuren auftauchen, die auf einen alten Vermisstenfall hinweisen, übernimmt Tess Hjalmarsson, Expertin für COLD CASES, die Ermittlungen. Hängt das spurlose Verschwinden der damals 19-jährigen Annika, deren Fall nie gelöst wurde, tatsächlich mit den aktuellen Serienmorden zusammen? Tess ermittelt unter Hochdruck. Ein Rennen gegen die Zeit beginnt. Denn eines ist sicher: Der Serienmörder wird wieder zuschlagen …
Tina Frennstedt ist eine der renommiertesten Kriminalreporter Schwedens. Sie hat bei den Tageszeitungen »Dagens Nyheter« und »Expressen« gearbeitet und dreht heute Reportagen über schwedischen Kriminalfälle. Sie ist als Exepertin für sogenannten »Cold Cases« bekannt. In ihrem hochspannenden Krimidebüt »Das verschwundene Mädchen« schildert sie die Arbeit des Ermittlerteams ungewöhnlich glaubwürdig. Tina Frennstedt lebt in Stockholm.
TINA FRENNSTEDT
COLDCASE
DAS VERSCHWUNDENE MÄDCHEN
KRIMINAL ROMAN
Übersetzung aus dem Schwedischen vonHanna Granz
Vollständige E-Book-Ausgabe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen.
Titel der schwedischen Originalausgabe:
»Cold Case. Försvunnen«
Für die Originalausgabe:
Copyright © Tina Frennstedt, 2019
First published by Bokförlaget Forum, Stockholm, Sweden
Published in the German language
by arrangement with Bonnier Rights, Stockholm, Sweden
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Anja Lademacher
Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau
Umschlagmotive: © shutterstock: andreashofmann7777 |
Patryk_Sm | HelloRF Zcool
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-8163-4
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Für Alison
Orkantief Rut fegte über die Küste Schonens. Es brauste in den Kiefern vor dem Haus und knallte, wenn Äste herunterkrachten.
Linnea Håkansson knipste die Lampe im Schlafzimmer an und trat ans Fenster. Draußen flatterte die Leine gegen den Fahnenmast. Im Sommer, ihrem ersten hier im Haus, war ein Blitz in eine Kiefer eingeschlagen, sodass sie in der Mitte auseinandergebrochen und auf das Nachbarhaus gestürzt war. Seitdem hatte Linnea ein angespanntes Verhältnis zu den hohen Nadelbäumen. Sie zog das Rollo herunter, verließ das Schlafzimmer und ging die wenigen Stufen zur Küche hinauf, wo sie den Wasserkocher füllte.
Linnea stellte sich vor, wie es jetzt wohl unten am Meer aussah, wie die Wellen dort hereinbrachen und den Sand mit sich rissen.
Als der Tee fertig war, kauerte sie sich auf dem grauen Sofa im Wohnzimmer zusammen, schaltete den Fernseher ein und wickelte sich in eine Wolldecke. Ein heftiger Windstoß ließ das Haus erzittern.
In den Nachrichten wurden Bilder eines Baukrans mitten in Malmö gezeigt, der unkontrolliert im Wind schwankte. Alle Häuser in der Umgebung waren evakuiert worden.
Ein Kratzen war zu hören, und sie wandte den Blick vom Fernseher ab, schaute zum Fenster. Etwas schabte an der Scheibe. Das Rollo bewegte sich im Luftzug, und die Lampe flackerte. Linnea stand auf, ging durch die Küche und in den Flur. Ließ den Blick über die Haustür gleiten.
Bald würde Mats anrufen, das wusste sie. Er war heute auf Dienstreise. Sie selbst war beruflich in Umeå gewesen und deshalb erst so spät nach Hause gekommen. Die Kinder schliefen bei den Großeltern.
Als sie hierhin umgezogen waren, hatte sie sich nicht vorstellen können, wie es ist, im Erdgeschoss zu wohnen. Von der Straße aus konnte man durch die großen Fenster hereinsehen, vor allem im Winter. Man kam sich vor wie in einem Aquarium umgeben von Kiefern.
Aus dem Augenwinkel sah sie die silberne Küchenuhr über der Tür. Es war fast neun. Sie ging ins Bad, um sich bettfertig zu machen. Mit einem Haarreif schob sie sich die dunklen Haare aus der Stirn, um sich das Gesicht einzucremen.
Plötzlich knallte es laut. Sie hielt sich am Waschbeckenrand fest.
Die Kiefer. Jetzt war es passiert, jetzt war sie auf ihr Haus gestürzt. Linnea drehte den Wasserhahn zu und ging in die Küche. Wieder flackerte die Lampe, und sie warf einen Blick zur Decke. War die Kiefer etwa doch ins Haus gestürzt? Nein, alles sah aus wie immer. Nur das Rauschen des Waldes war zu hören.
Sie trat in den Flur, etwas klapperte im Windfang. Sie legte das Ohr an die Tür, öffnete sie und tastete nach dem Lichtschalter. Sofort schlug ihr die Kälte entgegen. Das kleine Fenster stand sperrangelweit offen. Erleichtert atmete sie auf. Die schwankende Straßenlaterne draußen warf ihr unruhiges Licht herein. Linnea schloss das Fenster und hakte es fest. Die Außenbeleuchtung ließ sie an. Dann tippte sie den Code für die Alarmanlage ein.
Als sie zum Schlafzimmer ging, kratzte wieder etwas am Wohnzimmerfenster. Ob sie sich je daran gewöhnen würde, so zu leben? Entschlossen öffnete sie das Rollo, drückte ihre Stirn an die kalte Scheibe und schaute hinaus. In der Nähe des kleinen Nebengebäudes im Innenhof bewegte sich etwas. Sie sah genauer hin, aber da war der Schatten auch schon verschwunden. Ein Reh, versuchte sie sich einzureden, es war bestimmt nur ein Reh. Und jetzt würde sie nicht weiter über diesen verdammten Sturm nachdenken. Als sie im Schlafzimmer war, schloss sie die Tür hinter sich, um alle Geräusche auszusperren. Dann schlug sie den Bettüberwurf zur Seite.
Ihr Handy klingelte. Sie legte sich quer über das Bett, um es zu erreichen.
Mats merkte sofort, dass sie gestresst war.
»Es ist nur wegen des Sturms. Alles heult und klappert … Und als ich mich gerade hinlegen wollte, ging plötzlich das Fenster im Windfang auf.«
»Ich weiß«, sagte Mats. »In den Nachrichten warnen sie davor, das Haus zu verlassen. Ich kümmere mich morgen um das Fenster.«
Sie redeten noch eine Weile, und Linnea spürte, wie sie sich allmählich beruhigte. Nachdem sie aufgelegt hatten, nahm sie ihr Buch, um noch ein bisschen zu lesen. Plötzlich flackerte das Licht, dann wurde es dunkel.
Das hatte gerade noch gefehlt.
Sie seufzte laut, stand auf, schaltete die Taschenlampe ihres Handys ein und trat ans Fenster. Die Außenbeleuchtung der Nachbarn war ebenfalls erloschen. Sie nahm Streichhölzer aus der Nachttischschublade, zündete den silbernen Kerzenständer im Fenster an und kroch wieder unter die Decke. Die Kerzen flackerten.
Sie rief Mats an.
»Jetzt ist auch noch der Strom ausgefallen. Zum Glück habe ich mein Handy vorher aufgeladen.«
Sie wünschte sich, die Kinder wären zu Hause. Unlogisch, aber sie fühlte sich sicherer und entspannter, wenn sie da waren. Mats hatte sie beruhigt und gemeint, dass der Strom bestimmt bald wieder da sein werde.
Linnea beschloss, daran zu denken, wie schön es sein würde, wenn der Sturm gegen Morgen abflaute. Sie stand noch einmal auf, blies die Kerzen aus und kroch dann in ihr Bett zurück.
Als sie das schwache Knarren zum ersten Mal hörte, drehte sie sich nur auf die andere Seite. Sie fühlte sich wie erschlagen, hatte schlecht geschlafen.
Beim zweiten Mal war sie hellwach.
Sie versuchte, die Nachttischlampe anzuknipsen, aber anscheinend gab es immer noch keinen Strom. Das grelle Licht des Handydisplays blendete sie, es war halb sechs. Sie behielt das Handy in der Hand, legte es sich auf den Bauch. Draußen riss und zerrte der Sturm immer noch an den Kiefern.
Wieder knarrte es. Und noch einmal, jetzt lauter, im Wohnzimmer. Langsam setzte Linnea sich auf.
Sie musste an das Fenster denken, das vom Sturm aufgeweht worden war. Vielleicht war das wieder passiert, vielleicht war diesmal eine Katze durchs Fenster hineingeschlüpft? Aber eine Katze trug keine Schuhe.
Sie und Mats waren schon oft von solchen Knarren im Haus aufgewacht. Aber dann hatten sie herausgefunden, dass es am Parkett lag, es arbeitete, wenn es auf Holzboden verlegt war. Besonders wenn ein Fenster offen stand und gleichzeitig die Heizung an war, konnten die Temperaturschwankungen bewirken, dass es sich so anhörte, als bewege sich jemand auf dem Parkett.
Sie hatten darüber gelacht, aber heute war Linnea überhaupt nicht zum Lachen zumute. Sie war hellwach und fühlte sich gleichzeitig erschöpft. In ihrem Kopf rauschte es, und ihr Herz schlug so heftig, dass es wehtat. Sie rieb sich das Gesicht und schlug sich auf die Wangen, um wach zu werden.
Als die Schritte sich der Tür näherten, zögerte sie keinen Moment. Sie beugte sich herab und griff nach dem Baseballschläger, der unter dem Bett lag, kroch langsam ans Fußende, steckte sich das Smartphone mit der Taschenlampe in den Bund ihrer Unterhose und wartete. Wieder Schritte, jetzt noch deutlicher.
Die Wut vom Vorabend kehrte zurück. Wenn das ein Dieb war, was hatte er dann in ihrem Schlafzimmer zu suchen?
Lautlos richtete sie sich auf, trat vorsichtig hinter die Tür und hielt sich bereit. Es sah beinahe unwirklich aus, wie sich die Klinke langsam nach unten bewegte. Sie hob den Baseballschläger, ihre Hand war erstaunlich ruhig. Dann öffnete sich die Tür. In der Dunkelheit zeichnete sich das Profil eines maskierten Mannes ab. Als er einen Schritt auf das Bett zumachte, schrie Linnea laut auf und schlug ihm gleichzeitig, so fest sie konnte, auf den Kopf.
Der Schlag traf ihn seitlich. Er konnte nicht ausweichen und ging zu Boden. Im Fallen riss er das Wasserglas vom Nachttisch. Er hielt sich den Kopf, und etwas fiel ihm aus der Hand. Auf dem Boden blinkte ein Messer auf. Linnea beugte sich vor, nahm den Geruch von Zigarettenrauch wahr. Rasch machte sie einen Schritt nach vorn und schlug ihm mit dem Baseballschläger auf den Rücken.
Sie hörte, wie er etwas zu sagen versuchte, und schlug noch einmal zu. Dabei fiel ihr das Handy herunter, und das Licht des Displays erleuchtete Teile seines Gesichts im Profil. Sie sah, dass er gar keine Maske trug, sondern sich lediglich das Gesicht schwarz angemalt hatte. Und aus diesem tiefen Schwarz starrten zwei Augäpfel sie direkt an.
Der Mann bekam ihren Fuß zu fassen, doch sie riss sich los und es gelang ihr, durch Wohnzimmer und Küche in den Flur zu entkommen. Krampfhaft hielt sie den Baseballschläger umklammert. Hinter sich hörte sie ein schleppendes Geräusch. Mit einer raschen Bewegung öffnete sie die Haustür. Die Alarmanlage heulte los.
Linnea konzentrierte sich auf das Nachbarhaus. Dort brannte kein Licht. Barfuß sprang sie über den Zaun, rannte zur Haustür des älteren Ehepaars und begann verzweifelt an die Tür zu hämmern.
»Hilfe, helfen Sie mir!«, schrie sie.
Ihre Rufe verhallten im Sturm, es schien niemand zu Hause zu sein. Die Tür ihres eigenen Hauses schlug im Wind, der Alarm war ausgegangen. Sie wagte es nicht, stehen zu bleiben, sondern rannte durch den Garten davon. Als sie über den Zaun setzte, sah sie den Mann in der Türöffnung. Sie rannte die Straße hinunter, warf immer wieder kurze Blicke über die Schulter. Um sie herum war es überall dunkel. Der Wind kam von allen Seiten. Mit dem Baseballschläger in der Hand rannte sie den Fußweg entlang, der durch den Kiefernwald führte.
Unten am Meer gab es weitere Häuser, dorthin wollte sie. Ihr Nachthemd flatterte im Wind. Zweige zerkratzten ihr die nackten Beine und Füße, und sie stolperte über herabgefallene Äste.
Nach einer Weile blieb sie stehen, um Luft zu holen, ihre Fußsohlen brannten. Ein Hausdach glänzte im Mondlicht. Höchstens noch hundert Meter. Sie blickte sich nach allen Seiten um, wusste, dass er irgendwo dort war und sie verfolgte. Weiter, sie musste weiter.
»Hilfe, bitte helfen Sie mir!«, schrie sie erneut, als sie das Haus endlich erreichte.
Aber ihre Stimme trug nicht, war nur ein heiseres Keuchen. Sie drehte sich um und rannte weiter, Richtung Strand. Ein mächtiger Ast lag quer über dem Weg, und sie kroch auf allen vieren darunter hindurch. Mit schlammverklebten Händen stand sie auf, sah die Dächer der Strandhütten zwischen den Bäumen auftauchen.
Doch der offene Strand, der wie die Rettung erschien, war auch eine Sackgasse.
Sie erklomm den ersten Strandwall, spürte die Holzplanken unter den Füßen und verkroch sich hinter einer der Strandhütten. Jetzt war sie im Vorteil, sie wusste, wie leicht man sich hier verirren konnte. Sie machte ein paar vorsichtige Schritte auf dem gefrorenen Sand. Das Meer brüllte, das hohe Schilf, das hier wuchs, schnitt ihr in die Haut. Sie konnte nicht weiter. Wenn sie sich eine Weile versteckte, gab er vielleicht auf. Dann konnte sie an der Schilfkante entlang weitergehen und den nächsten Abzweig in den Wald nehmen, wo noch andere Häuser waren.
Also kauerte sie sich auf einer der kleinen Holzveranden zusammen, zog die Beine an den Körper und klemmte sich den Baseballschläger zwischen die aufgeschürften Knie. Presste die Fingerknöchel der einen Hand gegen den Mund und schlang den anderen Arm um ihre zitternden Beine. Die Wolken flogen über den Himmel, und der Mond spiegelte sich auf der Meeresoberfläche.
Schweiß lief ihr den Rücken hinunter, eiskalt und gleichzeitig warm.
Plötzlich breitete sich Müdigkeit in ihr aus. Es muss bald sieben Uhr sein, dachte sie und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass bald ein Jogger oder Hundebesitzer auftauchen möge.
Linnea legte den Kopf auf die Knie, biss sich in den Oberschenkel, als sie seinen keuchenden Atem hörte.
Sie blickte auf.
Zwei weiße Punkte starrten sie an.
Die Sicherheitsgurtlampen an der Decke schalteten sich aus, der Flieger nach Sturup hatte seine Flughöhe erreicht. Er war gerade einmal zur Hälfte besetzt.
Polizeikommissarin Therese Hjalmarsson, oder Tess, wie alle außer ihrer Mutter sie nannten, kippte die Lehne ihres Sitzes nach hinten. Die Nachricht vom Mord an Linnea Håkansson in Höllviken hatte sie um kurz vor acht am Morgen erreicht. Das Treffen des Stockholmer Cold-Case-Teams war daraufhin abgebrochen worden, und Tess hatte den ersten Flug zurück nach Malmö genommen.
Eine Frau, die mit ihrem Hund draußen gewesen war, hatte den leblosen Körper bei den Strandhütten entdeckt. Als die Details bekannt wurden, dauerte es nicht lange, bis bei der Polizei in Malmö die Alarmglocken schrillten. Der Überfall wies beängstigende Parallelen zur Vorgehensweise eines Mörders und Vergewaltigers auf, den die dänische Polizei über zehn Jahre lang vergeblich gesucht hatte. Hatte er, nach einer Cooling-Off-Periode von mehreren Jahren, wieder angefangen zu morden, diesmal auf der schwedischen Seite des Öresunds? Als wäre die Kriminalitätsrate in Malmö in den letzten zwölf Monaten nicht ohnehin schon rasant angestiegen.
Tess blickte auf die Tragfläche hinaus. Die Sonne blendete sie, und sie zog das Rollo herunter. Immerzu musste sie an Linnea Håkansson denken, die am frühen Morgen, nur mit einem Nachthemd bekleidet, zum Strand hinuntergejagt worden war.
Die Malmöer Polizei brauchte jetzt alle verfügbaren Einsatzkräfte. Das bedeutete jedoch auch, dass sie und ihr Cold-Case-Team ihre eigentliche Arbeit unterbrechen mussten. Dabei waren sie und die anderen in ihrem kleinen Team eigentlich fest entschlossen gewesen, endlich ein paar älteren Fällen auf den Grund zu gehen, die seit Jahren liegen geblieben waren. Auch die Führungsetage hatte ihre Zustimmung gegeben. Und jetzt kam ihnen ein mutmaßlicher Serientäter dazwischen.
Das Flugzeug ruckte in dem heftigen Wind. Tess öffnete den Sichtschutz wieder und schaute auf die bewegten Wolkenmassen. Das Orkantief Rut war von Südwesten gekommen und nahm über Schonen noch an Stärke zu. In den Nachrichten wurde es als einer der schwersten Stürme in den letzten fünfzig Jahren bezeichnet, schlimmer noch als Gudrun und Per.
Tess spürte die Druckveränderung in den Ohren und gähnte. Das Motorengeräusch verstummte, sie wurden langsamer, und ein paar Sekunden schienen sie in der Luft stillzustehen. Reflexmäßig griff Tess nach den Armlehnen. Sie litt eigentlich nicht unter Flugangst. Im Gegenteil, sie liebte den Blick, den man aus dieser Höhe hatte, und wenn es ging, nahm sie immer einen Fensterplatz. Aber heute war es wirklich heftig.
Ein weiteres Luftloch löste ein allgemeines Raunen aus, und die Frau hinter Tess lachte nervös. Ihr kleiner Sohn rief begeistert: »Achterbahn, Mama, wir fahren Achterbahn!«
Eine Stewardess kam vorbei.
»Kann ich Ihnen irgendetwas anbieten?«
»Wenn es geht, ein bisschen weniger Turbulenzen.«
Tess lächelte. Solange das Personal noch durch den Flieger lief, konnte es nicht allzu schlimm sein. Auf dem Namensschild der Frau stand »Anette«. Sie ging neben dem Sitz ein wenig in die Hocke und wendete sich Tess zu.
»Ach, wissen Sie, Turbulenzen sind gar nicht so gefährlich. Und das hier ist völlig harmlos! Letztes Jahr bin ich nach Costa Rica geflogen. Das waren Turbulenzen, und die habe ich auch überlebt!«
Sie zwinkerte Tess zu.
In einer Viertelstunde würden sie landen. Das Flugzeug wackelte noch ein paarmal. Inzwischen war es mucksmäuschenstill in der Kabine.
An der Spitze der Tragfläche blinkte ein Lämpchen auf, und von ferne sah Tess ein anderes Flugzeug, das in entgegengesetzter Richtung unterwegs war. Durch die Wolken erblickte sie einen See. Das Flugzeug ruckelte erneut, wie ein alter Fahrstuhl, der stecken geblieben war.
Tess drückte auf den Knopf, um die Lehne wieder aufrecht zu stellen, sie fühlte sich steif und wünschte, sie hätte es morgens noch geschafft, ins Fitnessstudio zu gehen.
Das Brummen der Motoren wurde schwächer, und die Stimme der Flugbegleiterin erfüllte den Raum. »Meine Damen und Herren, wir befinden uns im Anflug auf Sturup und Malmö Airport. Die Besatzung und der Kapitän …« Der Motor wurde lauter, und das Flugzeug setzte zu einem steilen Anflug über die gefrorenen Wiesen, Seen und Alleen Schonens an.
Erst müssen wir noch an der wütenden Rut vorbei, dachte Tess. Der Pilot drehte bei und flog die ebene Landschaft rund um Sturup an.
Heftige Windböen führten zu weiteren Turbulenzen, während sie durch die erste dünne Wolkenschicht sanken. Dann war der Boden zu sehen. Die starke Bremsung erweckte den Anschein, als würden sie stürzen. Das Fahrgestell wurde ausgefahren, und das Flugzeug machte einen Satz.
Tess konnte die Südspitze Schonens erkennen, bis hinunter nach Smygehuk. Der allerletzte Zipfel Schwedens verschwand in einer kompakten grauen Masse. Hinter sich hörte sie ein Baby schreien, wahrscheinlich reagierte es auf die Druckveränderung. Die Reisenden, vor allem Geschäftsleute, bereiteten sich darauf vor, das Flugzeug möglichst schnell zu verlassen. Ein weiteres Baby begann zu weinen.
Die Plastikflasche in der Tasche des Sitzes vor ihr war durch den Druck verformt worden. Tess gähnte noch einmal, um die Ohren freizubekommen. Im heftigen Wind ruckelte das Flugzeug erneut. Noch immer waren es mehrere Hundert Meter bis zum Boden.
Tess fuhr sich mit der Hand durch das blondierte Haar. Der Wind bewegte das Flugzeug hin und her, als befänden sie sich in einer Art Schaukel. Sie sah, wie sie sich dem Boden näherten, und zählte rückwärts.
Fünf. Vier. Drei. Zwei. Eins.
Das Fahrgestell setzte auf, das Flugzeug hoppelte dreimal, und eines der Handgepäckfächer sprang auf. Tess stemmte sich mit einer Hand gegen den Vordersitz. Der Gurt fing sie auf, und sie hoffte, der Pilot würde die Maschine vor dem Ende der Landebahn zum Stehen bekommen. Selbst die Geschäftsleute auf der anderen Seite des Ganges wirkten erleichtert, als das Flugzeug schließlich zum Stehen kam und die Sicherheitsgurtlampen erloschen.
Tess schaltete ihr Handy ein. Fünf neue Nachrichten. Eine von ihrer Kollegin Marie Erling: Warte draußen auf dem Parkplatz, und vier von Eleni. Sie fühlte sich ganz matt, als sie sie sah. Eleni hatte sich selbst den Namen Agapimo gegeben, griechisch für mein Liebling. Tess las die Nachrichten schnell durch.
Schwaches graues Nachmittagslicht fiel durch das Fenster, als Tess das Flugzeug verließ. Tess stieg als Erste aus. Sie schüttelte die zusammengeknautschte Flasche und lächelte die Flugbegleiterin Anette schief an.
»Genauso geht es meinen Ohren.«
»Ja«, sagte sie. »Es war eine ziemlich heftige Landung heute. Aber wir können froh sein, dass wir überhaupt landen konnten, bald wird der Flughafen wegen des Sturms geschlossen.«
Tess zog sich die schwarze Lederjacke über, ging die Gangway hinunter und auf der Landebahn um die Tragfläche herum. Kleine harte Regentropfen schlugen ihr ins Gesicht, und sie hielt sich eine Zeitung über den Kopf, um sich zu schützen, während sie die Treppe zum Terminal hinaufging.
»Ah, Hjalmarsson.« Polizeikommissarin Marie Erling riss den Blick von ihrem Handy los.
Tess zog die Autotür kräftig zu, der Wind leistete heftigen Widerstand.
Marie Erling fuhr vom Parkplatz herunter. Auf dem Boden des Autos lagen Karamellbonbonpapiere und eine Plastikbox mit den Resten eines Krabbensandwichs. Mit den Zähnen zerrte sie ein weiteres Bonbon aus dem Papier.
»Was hatte sie überhaupt in der Hütte am Strand zu suchen? Noch dazu bei einem Sturm, wie wir ihn seit fünfzig Jahren nicht mehr hatten!«
»Muss verfolgt worden sein. Furchtbarer Anblick laut der Frau, die sie gefunden hat, vergewaltigt und mit ihrem eigenen Baseballschläger erschlagen.«
»Und ihr Mann war …«
»… noch auf einer Konferenz in Sundsvall. Er hat bestätigt, dass es sich bei dem Baseballschläger um ihren eigenen handelt. Er hat gesagt, dass sie extreme Angst vor der Dunkelheit hatte und ihn immer unter dem Bett versteckte, wenn sie allein zu Hause war.«
Marie seufzte.
»Was für ein Albtraum!«
»Die Männer vom Sicherheitsdienst, die wegen des Alarms von der Firma rausgeschickt wurden, waren um kurz nach sechs da und fanden das Haus leer vor. Der Strom war ausgefallen. Und laut der ersten Streife vor Ort gab es Anzeichen von Gewalt und einer Auseinandersetzung im Schlafzimmer.«
»Und warum glaubt man, es sei der Däne gewesen, dieser Valby-Mann? Es ist doch Jahre her, seit der aktiv war.«
»Einer der dänischen Ermittler, der an dem Fall gearbeitet hat, hat angerufen, um uns zu warnen. Er hat sofort die Parallelen gesehen: eine Frau mittleren Alters, in ihrem eigenen Haus überfallen, Wohngegend mit Einfamilienhäusern, früher Morgen, kurz vor sechs. Er hat keine Spuren hinterlassen. Genau wie der Valby-Mann in Kopenhagen. Damals endeten zwei Vergewaltigungen ebenfalls mit einem Mord.«
Marie steckte sich ein weiteres Bonbon in den Mund.
»Mann, werden die jetzt alle am Rad drehen!«
Tess sah sie von der Seite an.
»Kriegst du keinen Zuckerflash?«
»Scheiß Sodbrennen – ich muss die ganze Zeit essen«, sagte Marie und bog auf die E65 Richtung Malmö ab. »Wenn wir Glück haben, läuft der Verkehr wieder, auf dem Hinweg war eine Fahrbahn gesperrt, weil ein Lkw seine Plane und Teile der Fracht verloren hatte.«
Marie fluchte über die schwache Beschleunigung des Dienstwagens, scrollte mit einer Hand durch die Playlist ihres Smartphones und schaltete das Radio ein.
Tess schüttelte den Kopf. Nach dem Zwischenstopp in Höllviken würde sie das Steuer übernehmen.
Aus den Lautsprechern dröhnte ein Song aus Maries Spotify-Playlist. Ein gellendes Gitarrensolo erfüllte das Auto und weckte Assoziationen an Nietengürtel und V-förmige Gitarren.
»Krokus von 1980. Die am meisten unterschätzte Band aller Zeiten«, sagte Marie und trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad.
Tess versuchte, das Gebrüll des Sängers auszublenden. Es war warm im Auto, und unter Maries T-Shirt-Ärmel guckte ein gehörntes Monster mit feurigen Augen hervor, und der Schriftzug »Motörhead: Death or Glory« war zu sehen.
Dagegen war Tess’ Tätowierung direkt unterhalb des Nackens völlig harmlos: ein keltisches Liebessymbol mit dem Buchstaben A. Rückblickend jedoch etwas unbedacht. Vor einigen Jahren hatte sie es sich zusammen mit Angela in Kopenhagen stechen lassen. Angela hatte dasselbe, nur mit einem T. Wenn sie es denn noch hatte.
Schweigend fuhren sie weiter, und Tess betrachtete die flache Landschaft um Malmö. Eine frisch gestutzte Krüppelweidenallee führte zu einem größeren Landgut. Das Gras lag umgeweht auf den Feldern, und Büsche und Bäume bogen sich im heftigen Wind. Sie musste an ihre Mutter denken, ihr neues Haus befand sich hier ganz in der Nähe, sie hatte sie aber seit der Scheidung noch nicht besucht.
Eine dunkelblaue Wolkensäule baute sich vor dem Auto auf, und ein Hagelschauer prasselte auf die Windschutzscheibe.
Ein paar Minuten später war alles vorbei, und sie rollten in Höllviken ein. An einem Rondell lief plötzlich ein Mann direkt vor ihnen auf die Straße.
Marie machte eine Vollbremsung, stieß die Autotür auf und sprang heraus.
»Sehen Sie hier irgendwo einen Fußgängerüberweg?«
Der Mann zuckte erschrocken zusammen.
»Oder sind ich und mein Auto etwa unsichtbar? He?«
Der Mann hob abwehrend die Hände.
»Nein, Entschuldigung.«
Tess öffnete die Beifahrertür.
»Lass gut sein«, sagte sie und schüttelte den Kopf.
Große Teile des Strandes in Höllviken waren abgesperrt. Kriminaltechniker untersuchten die Hütte und den Weg.
Wegen des nächtlichen Sturms sah das kleine Wäldchen aus wie ein Schlachtfeld, heruntergefallene Äste lagen überall herum. Die nach wie vor heftigen Böen erschwerten die Arbeit und die Spurensuche erheblich. Tess hielt sich am Verandageländer der türkisfarbenen Hütte mit dem weißen Giebel fest. Sie stellte sich vor, wie die Frau sich vor der rot gestrichenen Tür zusammengekauert und vor dem Mann Schutz gesucht hatte. Die Panik, die sie verspürt haben musste, die verzweifelte Hoffnung, ihn vielleicht abgeschüttelt zu haben. Auf den Holzplanken waren noch Blutflecken zu sehen.
Ihr Handy klingelte. Es war Polizeimeister Adam Wikman, der neu in der Abteilung Gewaltverbrechen war und auf eine Festanstellung hoffte.
»Wissen wir mehr über die Frau?«, fragte Tess.
»Linnea Håkansson, siebenunddreißig Jahre alt. Arbeitete als Marketingchefin im Clarion Hotel Malmö. Geordnete Verhältnisse, zwei Kinder, die bei den Großeltern übernachtet haben, seit vielen Jahren verheiratet. War gestern tagsüber dienstlich im Clarion in Umeå. Den letzten Kontakt über Handy hatte sie zu ihrem Mann Mats. Keine Einträge im Strafregister, keine möglichen Feinde. Sportlich, eins sechsundsiebzig groß. Kann ich sonst noch mit etwas dienlich sein, Chefin?«
Tess schwieg, dann begriff sie, dass er sie gemeint hatte.
»Nein, danke, das genügt erst mal.«
»Schrecklicher Anblick«, sagte Adam. »Ich war vor einer Stunde dort.«
»Tatsächlich?«
»Wir waren sowieso gerade unterwegs, und ich wollte den Tatort mit eigenen Augen sehen. Das ist wichtig, wenn man an einem neuen Fall arbeitet.«
Tess bedankte sich noch einmal bei dem beflissenen Kollegen und legte auf. Dann ließ sie den Blick erneut über die Hütte wandern.
Das alles war erst ein paar Stunden her.
Das Klinkenputzen in der Nachbarschaft hatte bisher noch zu keinen weiteren Erkenntnissen geführt. Jemand meinte, eine Frauenstimme gehört zu haben, aber bei dem Wetter sei es unmöglich zu sagen gewesen, woher der Schrei gekommen sei. Als er aus dem Fenster geschaut habe, sei alles wie immer gewesen.
Linnea musste zu Hause überrascht worden sein. Hatte er gewusst, dass sie alleine war? Was wäre passiert, wenn die Kinder da gewesen wären?
Sofort erschien Tims Gesicht vor ihrem geistigen Auge. Sie schob die Gedanken an ihn schnell beiseite. Nicht jetzt.
Sie drehte sich um und schaute auf das Meer hinaus. Alles sprach dafür, dass Linnea zum Strand geflohen war und der Mann sie verfolgt hatte. Was hätte sie selbst getan, wenn sie an einem einsamen stürmischen Morgen hierher gejagt worden wäre? Das Wasser lag wie eine dunkle, undurchdringliche Wand vor dem Strand und den Hütten. Sie dachte an die Katastrophenseminare, die sie besucht hatte. Wenn man als Polizistin unbewaffnet oder der Gegner zu stark war, sollte man zunächst versuchen zu fliehen. Als zweites ein Versteck suchen. Zum Angriff überzugehen, war immer der letzte Ausweg.
Linnea war anscheinend gezwungen gewesen, den letzten Schritt zuerst zu tun. Dann war sie geflohen und hatte zum Schluss wahrscheinlich noch versucht, sich zu verstecken.
Tess schloss die Augen. Sie sah das Foto von Linnea vor sich, sah die dunkelhaarige Frau durch den Wald rennen. Sie hatte keine Schuhe getragen, musste barfuß durch Kälte und Sturm gelaufen sein.
Vielleicht hatte sie, bei den Strandhütten angelangt, einen kurzen Moment Hoffnung geschöpft. Dann war der Mann aufgetaucht, und sie hatte nichts mehr tun können, um sich zu schützen.
Als man sie fand, lag der Baseballschläger noch neben der Hütte. Der Täter hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihn verschwinden zu lassen. Jetzt wurde er technisch untersucht, aber Tess glaubte nicht, dass es irgendwelche Spuren gab.
Vor der Hütte entdeckte Tess die Reste eines Feuers.
»Alt oder neu?«, fragte sie den Techniker und zeigte auf die Stelle.
»Mindestens ein paar Tage alt«, sagte er. »In einer der Hütten da hinten hat es Vandalismus gegeben, und die Planken, die dafür benutzt worden sind, wurden hinterher zum Feuermachen verwendet. Ein teures Vergnügen, hier in der Gegend kostet so eine Hütte über zehntausend.«
»Wie lange hat sie hier gelegen?«
»Die Leiche war ziemlich ausgekühlt, aber so über den Daumen höchstens eine halbe Stunde. Die Spaziergängerin mit dem Hund hat sie gegen halb acht gefunden.«
Sie schwiegen. Im Hintergrund drang das Bellen der Spürhunde durch das Branden des Meers.
»Die erste Blutfleckenanalyse dautet darauf hin, dass der Überfall hier auf der Veranda stattgefunden hat, sie hat versucht, sich zu verteidigen, wahrscheinlich aber hier schon einen Schlag abbekommen. Dann hat er sie auf den Strand geschleppt und vergewaltigt.«
Der Techniker deutete auf die Schleifspuren im Sand.
»Am Baseballschläger sind deutliche Blutspuren zu erkennen. Er hat ihr auf den Kopf geschlagen und sie anschließend wieder auf der Veranda abgelegt, wo sie gefunden wurde.«
»Todesursache?«
»Sie hat deutliche Würgemale am Hals.«
»Irgendwelche Fußabdrücke?«
»Auf diesem Untergrund schwer zu erkennen, zu viel loser Sand. Aber wir haben einen Gipsabdruck von einem halbwegs guten Abdruck eingeschickt. Mal sehen, was das ergibt.«
»Hatte sie ihr Handy dabei?«
»Nein, und im Haus gibt es kein Festnetz. Ihr Handy ist ausgeschaltet und verschwunden.«
»Wem gehört die Hütte?«
»Einer Familie Sandberg. Wohnt in einem der Häuser weiter oben, ist aber gerade für zwei Wochen nach Thailand gereist.«
Tess bedankte sich. Es hatte wieder angefangen zu regnen. Die Wellen schlugen hoch und donnerten auf den Strand. Der Sandstreifen war hier nur wenige Meter breit und von bunten Badehütten gesäumt. Tess wusste, wie begehrt sie waren. Falsterbo-Skanör ragte wie eine Spitze ins Meer, und Näset, wie man die Gegend hier nannte, war ein Sommerparadies der Reichen und Schönen. Die Probleme, mit denen man hier zu kämpfen hatte, verbarg man sorgfältig hinter den eigenen vier Wänden.
Tess drehte sich um und sah Marie vom Wald heraufkommen.
»Die Hunde haben die Strecke markiert, die sie gelaufen ist«, sagte ihre Kollegin außer Atem. »Da drinnen sieht es aus wie in einem Katastrophengebiet, alles ist voller Äste und umgestürzter Bäume.«
Sie verließen den Strand und gingen zum Auto.
Polizeimeister Adam Wikman rief erneut an.
»Wir haben einen ersten Bericht von der Rechtsmedizin hereinbekommen, sie glauben, dass er hinterher ihren Unterleib gewaschen hat.«
»Gewaschen? Wieso das denn?«, fragte Tess.
»Keine Ahnung. Aber laut der dänischen Kriminalpolizei gab es bei den früheren Opfern des Valby-Mannes auch Anzeichen dafür. Sehen wir uns in der Dienststelle, Chefin?«
Tess grinste Marie an und zeigte auf ihr Handy.
»Ja, die Chefin ist unterwegs.«
Marie hob die Augenbraue, als Tess auflegte.
»Adam Wikman? Gott, der soll sich mal einkriegen!«
»Die Valium-Küste«, sagte Ola Makkonen und grinste.
Tess Hjalmarsson und Polizeihauptkommissar Per Jöns sahen ihn fragend an.
»Das Sozialbüro in Vellinge nennt die Gegend so«, sagte Makkonen und hob die Stimme. Das Polizeigebäude in Malmö wurde gerade renoviert, und lautes Bohrmaschinengeräusch erfüllte den Flur vor dem Büro.
»Die Frauen in Höllviken knabbern Valiumtabletten, um mit der Langeweile klarzukommen.«
Jöns kratzte sich die rötlichen Bartstoppeln.
»In Linnea Håkanssons Haus haben wir so was allerdings nicht gefunden«, sagte er.
»Nein, sie war ja gerade erst dorthin gezogen, wahrscheinlich hat sie noch keine Zeit gehabt, sich ein Rezept ausstellen zu lassen«, sagte Makkonen.
Er sah aus, als käme er gerade aus dem Fitnessstudio. Das dicke blonde Haar war sorgfältig gescheitelt.
»Ich habe selbst ein paar Jahre dort gewohnt«, erzählte er weiter. »An den Freitagnachmittagen war im ICA-Markt Toppen immer die Hölle los, und das Personal war ständig damit beschäftigt, die Waren wieder an ihren Platz zu legen. Und wisst ihr, warum?«
Tess und Jöns sahen einander an.
»Tja, die ganzen Tussis schlenderten herum, legten Hummer, Krabben und teures Fleisch in ihre Wagen, um sich gegenseitig zu beeindrucken. Und dann ließen sie es auf dem Weg zur Kasse einfach irgendwo liegen. Es geht hier immer nur darum, die Fassade zu wahren.«
Tess Hjalmarsson rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her. Dass Jöns Polizeikommissar Ola Makkonen, von vielen Mackan genannt, ins Boot geholt hatte, war zu erwarten gewesen, er gehörte zu den erfahrensten Ermittlern in der Abteilung Gewaltverbrechen. Und Per Jöns brauchte als neuer Chef für diese Abteilung im Polizeigebiet Süd jetzt sowohl ihn als auch Tess an seiner Seite. Aber Tess traute Makkonen nicht. Er gefiel sich zu sehr, wenn er in den Medien gezeigt wurde oder wenn er mit seiner Frau, die Anwältin war, bei den spärlichen Roter-Teppich-Events in Malmö auftrat.
Tess hatte das Gefühl, Makkonen hätte ebenso gut Schauspieler, Fernsehmoderator oder irgendetwas anderes werden können, bei dem man ständig im Rampenlicht stand.
Vor allem aber hatten er und Tess völlig unterschiedliche Ansichten darüber, was die Aufgaben der Malmöer Polizei betraf. Wenn es nach Makkonen ginge, würden alle Kräfte darauf verwendet, die Schießereien und Morde zu untersuchen, die dem organisierten Verbrechen zugeschrieben wurden. Derzeit hatten sie fünfzehn Morde auf ihrer Liste, die meisten davon im Umfeld krimineller Banden, die bisher noch unaufgeklärt waren.
»Diese Schießereien sind verdammt noch mal ein gesellschaftliches Problem«, dröhnte er bei Dienstbesprechungen gerne. »Und wir sind dabei, die Kontrolle zu verlieren.«
Aber Makkonen musste auch nicht all den Leuten in die Augen blicken, die Tess als Chefin des Cold-Case-Teams kennenlernte. Menschen, deren Angehörige vor vielen Jahren ums Leben gebracht worden waren, ohne dass sie je eine Erklärung dafür bekamen. Er saß ihnen nicht von Angesicht zu Angesicht gegenüber, sah nicht, wie die Trauer an ihnen zehrte. Tess, die diese Bilder ständig vor Augen hatte, wusste jedenfalls ganz genau, was bei ihr immer Vorrang haben würde.
Viele Jahre lang hatte die Polizeiführung versucht, sie dazu zu bewegen, auf der Karriereleiter nach oben zu klettern, einen Chefposten anzunehmen. Man war schließlich geradezu auf der Jagd nach weiblichen Führungskräften. Aber Tess hatte abgelehnt. Sie hätte nichts gegen den Titel einer Polizeihauptkommissarin oder gegen eine Lohnerhöhung gehabt, aber sie wollte all dies nicht um jeden Preis.
Sie hatte keine Lust, sich mit noch mehr Administration und Personalfragen herumschlagen zu müssen. Sie war völlig zufrieden mit ihrem kleinen Team, in dem sie gemeinsam mit Marie Erling und Lundberg noch richtige Polizeiarbeit machen konnte. Vor allem, seit die Situation bei der Polizei in Malmö war, wie sie war. Ständig hatten sie es mit lose organisierten, kriminellen Gruppen zu tun, die sich in der Stadt gebildet hatten. Sie in den Griff zu bekommen war ein schier aussichtsloses Unterfangen. Niemand in diesem undurchschaubaren Geflecht hatte die Absicht, zu reden oder mit der Polizei zu kooperieren. Tess musste ununterbrochen dafür kämpfen, dass das Cold-Case-Team nicht auch in diesem Bereich eingesetzt wurde und so keine Zeit mehr für die Arbeit an den alten, unaufgeklärten Fällen blieb.
Als Leiter der Abteilung Gewaltverbrechen war Per Jöns verantwortlich für das Cold-Case-Team und Tess’ direkter Vorgesetzter, auch wenn das Cold-Case-Team ansonsten völlig selbstständig arbeitete.
»Dreizehn Vergewaltigungen in dreizehn Jahren in Kopenhagen und Umgebung«, fuhr Per Jöns fort und richtete sich auf. »Die ersten beiden beging er im Stadtteil Valby, daher sein Spitzname. Er hat mindestens zwei Morde auf dem Gewissen. Und er war in Intervallen aktiv, vor drei Jahren hörte er dann aber plötzlich auf.«
Makkonen verschränkte die Hände hinter dem Kopf und kippelte auf seinem Stuhl.
»Besonders gut erinnere ich mich daran, dass der Mann stundenlang konnte. Keiner hatte eine Erklärung dafür.«
Er lachte.
Die dänische Kriminalpolizei war vor ein paar Jahren nach dem Mord an einer Prostituierten etwas außerhalb von Landskrona mit Tess’ Gruppe in Kontakt getreten. Es hatte zu keinen neuen Erkenntnissen geführt, aber Tess konnte sich noch gut an die Vorgehensweise des Valby-Mannes erinnern, und sie hatte zahlreiche Zeugenaussagen von den betroffenen Frauen in Dänemark gelesen.
»Er hat nie die geringste Spur hinterlassen«, sagte sie. »Achtet sehr darauf, alles zu beseitigen, ist laut Zeugen von Kopf bis Fuß maskiert, verschließt mit Klebeband jede noch so kleine Lücke an den Ärmeln und den Hosenbeinen und überlässt nichts dem Zufall. Und jetzt heißt es, er wäscht seinen Opfern hinterher sogar den Unterleib.«
»Was für ein kranker Typ!«, rief Makkonen. »Glaubt er etwa, so könnte er Spuren vernichten?«
Jöns hievte sich aus dem Stuhl und watschelte zum Fenster. In den fünf Monaten, seit er auf dem Chefsessel der Abteilung Gewaltverbrechen saß, hatte er einige Kilo zugelegt.
»Wir müssen eine Pressekonferenz einberufen«, sagte er. »Aber ich möchte, dass alle eventuellen Ähnlichkeiten mit dem Valby-Mann bis auf Weiteres heruntergespielt werden. Details wie die Uhrzeit und das Waschen behalten wir bitte für uns.«
»Die Spekulationen sind längst im Gange«, sagte Makkonen und scrollte auf seinem Handy. »Sowohl Aftonbladet als auch Kvällsposten ziehen ordentlich vom Leder, mit ›Villenschreck in Malmö‹ und Parallelen zum Valby-Mann. Niemand wird sich mehr trauen, seine Frau allein zu Hause zu lassen. In der Presseabteilung steht das Telefon nicht mehr still.«
Er legte das Handy auf den Tisch.
»Die Details verbreiten sich doch von selbst unter den Nachbarn. Die Medien sind überall.«
»Ja, aber es soll wenigstens nicht von uns kommen«, sagte Jöns. »Und wir müssen vermeiden, dass in Malmö eine Paniksituation entsteht.«
»Die haben wir bereits. Selbst meine alte Mutter, die sich nie unnötig aufregt, hat mich vorhin angerufen und gefragt, ob sie Angst haben muss, wenn sie morgens allein zu Hause ist.«
Makkonen fuhr sich mit der Hand durchs Haar.
»Der Valby-Mann ist eiskalt. Er wartet, bis der Mann morgens zur Arbeit gegangen ist. Immer morgens, gegen sechs. Steht eindeutig auf Frauen mittleren Alters, gerne Mütter von Kleinkindern in wohlhabenderen Gegenden. Und er hat einen guten Geschmack, sie sind meistens richtig hübsch. Pass also lieber auf, Hjalmarsson.«
Tess warf ihm einen müden Blick zu.
»Da ich keine wohlhabende Mutter kleiner Kinder bin, werde ich schon klarkommen.«
»Das habe ich nicht gemeint.«
Makkonen zwinkerte ihr zu.
Tess stand auf.
»Sind wir fertig?«
»Ohne Scheiß, Hjalmarsson. Vor fünf Jahren ist er bei einer dänischen Ermittlerin eingebrochen.«
»Ich verspreche dir, abends die Tür abzuschließen. Wenn er auftaucht, bist du der Erste, der es erfährt, du magst so etwas ja. Ich meine …, es als Erster erfahren.«
Makkonen nickte zufrieden.
Das Handy vibrierte in Tess’ Hosentasche, und sie zog es heraus. Eine weitere SMS von »Agapimo«.
Abendessen 19 Uhr? Schaffst du das?
Per Jöns wischte sich mit einer Serviette über die Stirn.
»Wir müssen die Dänen auf Abstand halten«, sagte Makkonen. »Im Moment ist das unsere Ermittlung. Im Ernst, letztes Mal hätten wir uns vor dem Verhörraum fast geprügelt. Man glaubt, man ist sich einig, hätte eine gemeinsame Strategie gefunden, und dann machen sie hinter deinem Rücken doch ihr eigenes Ding. Verdammt, Schweden ist fünfmal so groß, und sie bilden sich immer noch ein, eine Großmacht zu sein. Ohne uns gäbe es sie gar nicht.«
Tess stand mit dem Rücken zur Wand.
»Wegen des Sturms wird heute Abend wahrscheinlich die Brücke gesperrt, das erledigt sich also wahrscheinlich von selbst«, sagte sie.
Jöns drehte sich zu ihnen um.
»Carsten Morris kommt morgen aus Kopenhagen hierher. Wenn bis dahin die Brücke wieder geöffnet ist.«
Makkonen schnitt eine Grimasse.
»Morris, dieser deprimierte Clown? Sitzt der nicht in der Psychiatrie?«
»Nein, er scheint wieder draußen zu sein. Wenn es jemanden gibt, der den Valby-Mann kennt, dann er.«
Jöns sah Tess fragend an.
»Doch, ich weiß, wer das ist«, sagte sie. »Eine Legende.«
Makkonen schüttelte den Kopf.
»Ist das wirklich eine so gute Idee? Dieses Profiling-Ding und das ganze psychologische Zeug. Wozu hat das denn bisher geführt? Wie lange hat er in Kopenhagen sein Unwesen getrieben? Dreizehn Jahre, ohne dass sie ihn gefasst haben.«
Jöns quetschte sich wieder in seinen Stuhl.
»Die Dänen mussten Morris anscheinend überreden. Er hat auch noch nichts zugesagt, er war krankgeschrieben und hat sich auf unbestimmte Dauer eine Auszeit genommen.«
Makkonen schlug sich mit der Hand aufs Knie.
»Dann wollen wir mal hoffen, dass seine Psyche diesmal belastbarer ist. Beim letzten Mal hat er versucht, sich im Wohnzimmer zu erhängen.«
Er seufzte und stand auf.
»Tja, das wars wohl mit dem Skiwochenende. Die Kinder werden enttäuscht sein«, sagte er und ging hinaus.
Jöns spielte mit einem Bleistift und sah zu Boden.
»Heute Abend ist wieder Krisentreffen mit der Gewerkschaft«, sagte er. »Ein Gehalt von achtundzwanzigtausend im Monat, wenn man mehrere Jahre erfolgreich im Beruf gearbeitet hat. Ansonsten vierundzwanzig. Mein Gott, wie konnten wir uns je auf solche Bedingungen einlassen?«
Er klopfte auf die Tischplatte.
»Und was das Budget angeht: Nicht mal ein Mathe-Ass könnte daraus etwas zaubern. Gestern habe ich über einem Exceldokument gesessen und copy and paste betrieben. Es ist ein Witz! Wie ich es auch drehe und wende, mir fehlen zehn Mann. Zehn Leute, die uns erst im Herbst zugesagt worden sind. Und drei neue Dienstwagen. Aber diejenigen, die das Budget zu verantworten haben, sind längst über alle Berge.«
Tess hörte Jöns seufzen, während sie ins Cold-Case-Büro hinüberging.
Sie setzte sich an den Schreibtisch. Bevor sie nach Stockholm geflogen war, hatte sie die Fälle neu eingeteilt, und zwar danach, wie wahrscheinlich es war, dass sie sich noch aufklären ließen. Sie nahm sich die drei Fälle vor, die sie in den letzten drei Monaten durchgegangen war, und stellte ihren Kaffeebecher mit den Sternen und der Aufschrift »Super Cop« ab. Den hatte sie bekommen, nachdem sie den Friedhofsmord in Arlöv aufgeklärt hatte. Marie Erling hatte einen ebensolchen Becher, auf ihrem stand »Sidekick«. Und auf Lundbergs war eine Brille, weil er sich so intensiv in das Voruntersuchungsmaterial vertieft hatte.
Sie, Marie und Lundberg hatten geschafft, was niemand für möglich gehalten hatte. Sie hatten den achtzehn Jahre zurückliegenden Ermittlungen um die Tote Sofie Axelsson neues Leben eingehaucht, hatten alles auf den Kopf gestellt und am Ende das kleine Goldkorn gefunden, einen verlorenen Fahrtenschreiber, der den Lkw-Fahrer, der von Anfang an verdächtigt worden war, überführt hatte. Dieser sensationelle Erfolg hatte Tess und ihrer Gruppe eine dreiseitige Reportage in der Gewerkschaftszeitung eingebracht, in der sie von einem bekannten Kriminologen außerordentlich gelobt worden waren, genauso wie von anderen Größen aus der Branche. Tess Hjalmarsson galt plötzlich als »Schonens Super-Cop«. Kvällsposten brachte ein großes Interview mit ihr in der Sonntagsbeilage, sie hatte in beiden Fernsehmagazinen des Expressen, Brottscentralen und Veckans brott,mitgewirkt und zig weitere Anfragen ablehnen müssen.
Aber Tess wusste, wie schnell sich das Blatt wenden konnte, niemand war besser als sein letzter Fall. Das Cold-Case-Team musste schnell wieder liefern, wenn sie bei der derzeitigen Lage in Malmö weiterhin an den alten Fällen arbeiten wollte. Sie galten als zu teuer und personalintensiv, und nur selten wurde tatsächlich ein Fall aufgeklärt. Das jahrelange Leiden der Angehörigen spielte im Kalkül der Polizeiführung keine Rolle.
Aber Tess ließen die Mörder, die noch immer frei herumliefen, keine Ruhe. Oft fühlte sie sich einsam, als wäre sie die Einzige, die sich auf die Seite der beinahe Vergessenen stellte, denen so Schreckliches widerfahren war und die für immer mit ihrem Trauma leben mussten.
Das CC-Team brauchte Ruhe, um methodisch arbeiten zu können, doch daran war einstweilen nicht zu denken. Tess’ Blick fiel auf die Dokumente, die vor ihr auf dem Tisch lagen. Irgendwo in diesen Stapeln verbargen sich die Lösungen.
Jarmo, der Türsteher, der vor zwanzig Jahren in Malmö erstochen worden war. Die Tatwaffe wurde nie gefunden, und nichts ließ darauf hoffen, dass sich alte Spuren wieder aufnehmen ließen.
Rechts daneben lag die Akte von Annika Johansson, verschwunden in Simrishamn. Zuoberst ein Foto der Neunzehnjährigen, einer fröhlichen, blond gelockten jungen Frau, die eines Nachts vor sechzehn Jahren auf dem Nachhauseweg von einem Tanzlokal in Simrishamn spurlos verschwunden und aller Wahrscheinlichkeit nach ermordet worden war. Ein blaues Metallarmband war auf einem Waldweg gefunden worden, dazu gab es ein paar wirre Zeugenaussagen. Und natürlich betroffene Angehörige, unschuldig Verdächtigte sowie eine unsäglich schlechte Ermittlungsarbeit. Irgendwo verbarg sich auch hier die Antwort, in all dem Papier, versteckt in irgendeinem Verhör, ein Detail, das man bisher nicht beachtet hatte, davon war sie fest überzeugt. Sie begegnete dem Blick des Mädchens auf dem Foto und spürte, wie sich das schlechte Gewissen meldete. Wo sollte sie nur anfangen zu suchen?
Neben den Akten zum Annika-Fall lag der Liedberg-Fall. Ein Foto des rot gestrichenen Landguts etwas außerhalb von Råå. Das Bauernpaar Kerstin und Gunnar Liedberg war aus anscheinend völlig unerklärlichen Gründen eines sonnigen Herbstmorgens vor elf Jahren ermordet worden. Nachdem sie sich in der vergangenen Woche intensiv mit dem Fall beschäftigt hatte, war Tess immer mehr davon überzeugt, dass die Liedbergs den Täter gekannt hatten. Nicht irgendwelche Verbrecher aus dem Baltikum hatten das Rentnerehepaar auf dem Gewissen, wie die früheren Ermittler nahegelegt hatten. In acht von zehn Fällen standen Opfer und Täter in irgendeiner Beziehung zueinander, und je mehr Tess sich in diesen Fall vertiefte, desto überzeugter war sie, dass es auch hier so war. Kerstin hatte nicht nur Kaffee gekocht und Kekse für die Gäste bereitgestellt. Sie hatte auch ihre feinen Schuhe angezogen.
Diese Schuhe waren der Schlüssel. Für wen hatte sie sich wohl so zurechtgemacht? Und Gunnars Spielsucht – was hatte sie mit dem Ganzen zu tun, hatte jemand bei ihm Schulden eintreiben wollen?
Irgendwo hier lag das entscheidende Detail verborgen, und Tess war fest entschlossen, es aufzuspüren. Noch ehe das Jahr um war, würde sie zu der Tochter, Fredrika, fahren und ihr erzählen, warum ihre Eltern auf dem Hof so brutal abgeschlachtet worden waren. Es änderte nichts an dem, was passiert war, aber eine Erklärung war wichtig für die Trauerarbeit und eröffnet den Hinterbliebenen die Möglichkeit, mit dem Geschehen abzuschließen. Genau dafür arbeitete sie: um den Angehörigen irgendwann diese Nachricht überbringen zu können, den Kreis endlich zu schließen.
Weniges frustrierte Tess so sehr wie lose Fäden, Dinge oder Vorfälle ohne Zusammenhang. Wahrscheinlich war genau das der Grund, weshalb sie sich für den Polizeiberuf entschieden hatte.Denn wo konnte man etwas endgültiger abschließen, als wenn man Beweise aufgereiht, einen Täter gefasst hatte und ein Urteil gesprochen worden war? Wenn die Akte mit dem Stempel »Fall gelöst« in den Keller gebracht werden konnte?
Der Mord an Tims Mutter, der sogenannte Lena-Fall, hatte diesen Stempel nie bekommen. Und dennoch lag er nicht auf ihrem Schreibtisch, denn er galt bei der Polizei als aufgeklärt. Man war sich sicher, dass der Lebensgefährte schuldig war, doch es mangelte an Beweisen.
Tess erhob sich. Würde es ihr je möglich sein, mit dieser Schuld zu leben? Die Fehler zu vergessen, die sie gemacht hatte? Sie hatte Tim in den vergangenen Jahren oft besucht, und soweit sie es beurteilen konnte, ging es ihm inzwischen besser. Aber wenn sie ihm in die Augen sah, kam es ihr vor, als verberge sich tief in ihm etwas, und sie hoffte, dass er es ihr irgendwann erzählen würde. Sowohl der Junge als auch seine verstorbene Mutter hatten es verdient, dass der Kreis geschlossen wurde.
Susanne kam langsam wieder zu sich. Vorsichtig öffnete sie ein Auge, sah aber nichts als Dunkelheit. Sie wusste, was passiert war. Sie lag im Flur auf den Steinfliesen und spürte die Spiralen der Fußbodenheizung unter sich. Bei all der Angst flößte ihr die Wärme eine Art Geborgenheit ein, etwas zum Festhalten. Ihre Beine waren nackt, der gelbe Bademantel hochgerutscht. Sie versuchte, die Arme zu bewegen, er hatte sie ihr über dem Kopf gefesselt, und ihre Muskeln verkrampften sich.
Behutsam drehte sie den Kopf, um die Augenbinde zu lockern. Hauptsache, er ist noch nicht oben, dachte sie. Egal was geschieht, aber bitte nicht das! Sie versuchte, ihre gefesselten Beine zu befreien, brachte aber nur kleine, zuckende Bewegungen zustande. Ihre Ohnmacht mischte sich mit Wut.
Das leichte Knarren des Wohnzimmerparketts beruhigte sie zumindest ein wenig: Er war noch unten. Aus reinem Selbsterhaltungstrieb blieb sie reglos liegen, tat als wäre sie noch bewusstlos. Stellte sich tot. Vielleicht interessierte sich das Monster nicht für Kadaver. Ihr Widerstand schien ihn nur noch mehr getriggert zu haben. Und noch ein weiteres Mal würde sie nicht überleben.
Sie hatte es kaum glauben können, als er sich erneut mit seinem ganzen Gewicht auf sie legte. Kaum eine halbe Stunde nach dem ersten Mal. Diesmal von hinten. Sie hatte die Klinge an ihrem Hals gespürt. Seinen keuchenden Atem in ihrem Nacken. Schließlich hatte sie sich selbst ausgeschaltet, ihr Körper musste allein zurechtkommen.
Trotz allem war es ein befreiendes Gefühl gewesen, mitten im Schmerz den Körper verlassen zu können, wegzugleiten.
Als alles vorbei war, hatte sie ein leises Stöhnen gehört und wie er seufzte. Dann war er aufgestanden, hatte sich die Hose hochgezogen. Es fühlte sich an, als hätte er ihr den Unterleib mit einem Handtuch abgewaschen, etwas lief ihr die Oberschenkel hinab. Ihre Beine schmerzten, als hätte sie versucht, Spagat zu machen. Er hatte nach Zigarettenrauch gestunken, noch immer hatte sie diesen Geruch in der Nase.
Ihr war schlecht. Magensäure stieg in ihrem Hals auf, die Socke in ihrem Mund drohte sie zu ersticken.
Das maskierte Monster ging in ihrem Haus von Zimmer zu Zimmer, zog Schubladen heraus und öffnete Türen. Wonach suchte es?
Links von ihr lag ihr Arbeitszimmer. Als sie den Kopf drehte, bemerkte sie ein schwaches Licht, als hätte sich ein Streifen Sonnenlicht über ihre Stirn gelegt.
Sie hörte, wie draußen auf der Straße ein Auto anhielt, und konzentrierte sich auf den Motor, der noch lief. Ein lautes, aggressives Hupen ließ sie zusammenzucken. Nein, bitte nicht hupen, kein Geräusch! Sie kniff die Augen zusammen und hoffte, es möge bald aufhören.
Erneut knarrte das Parkett, diesmal in der Küche.
Er näherte sich dem Flur, wo sie lag. Tu mit mir, was du willst, aber geh nicht nach oben, flehte sie innerlich. Vielleicht hatte er sie noch nicht entdeckt. Die Mädchen schienen noch zu schlafen. Doch mit jedem Geräusch, das er machte, wuchs ihre Angst, er könnte sie wecken und sie würden anfangen, sich zu unterhalten, würden die Treppe herunterkommen, um nachzusehen, was passiert war. Dann wäre es zu spät. Sie könnte sie nicht beschützen.
Sie bewegte sich vorsichtig, rieb den Hinterkopf an den Fliesen. Die Augenbinde lockerte sich ein wenig, es gelang ihr, an einer Ecke hindurchzuschauen. Sie konnte etwas sehen, die Öffnung war nur wenige Millimeter groß, aber dennoch. Durch den Spalt blickte sie in den großen Flurspiegel, in dem sie die Küche erkennen konnte. Der Mann war im Profil zu sehen, er hatte den Kühlschrank geöffnet.
Neben dem Kühlschrank stand die Mikrowelle, und sie blinzelte, um zu schauen, welche Uhrzeit sie anzeigte. Schließlich erkannte sie die spiegelverkehrten Ziffern: 07:20 Uhr. Ihr Mann war auf der Arbeit, wusste nicht, was an diesem Morgen bei ihnen zu Hause passiert war. Um kurz nach sechs, nur zehn Minuten nachdem er das Haus verlassen hatte, hatte es an der Tür geklingelt. Und als sie öffnete, fiel das Monster mit der Sturmhaube über sie her.
Jetzt drehte der Mann sich zu Susanne um, und sie schloss die Augen. Als sie wieder hinschaute, war der Sehschlitz noch ein wenig größer geworden, und sie sah etwas mehr von seinem Kopf. Er hatte die Sturmhaube abgenommen, stand da und trank aus einer Coladose. In seinem dichten schwarzen Haar zeichnete sich ein weißes Viereck ganz oben auf dem Schädel ab. Sie schluckte. Sein Gesicht war schwarz geschminkt.
Er schloss den Kühlschrank und starrte die Tür an, bückte sich und schien eines der Fotos genauer zu betrachten. Dann stellte er die Coladose auf den Küchentisch und sah sich um. Erst zu ihr herüber, dann wieder zum Kühlschrank. Er kam auf sie zu. Stand direkt vor ihr. Durch den Schlitz sah sie, dass er wie ein Froschmann gekleidet war. Handschuhe und Schuhe – alles schloss lückenlos mit der Kleidung ab. Sie machte die Augen zu und betete, er möge nicht gemerkt haben, dass die Binde sich gelockert hatte.
Als sie ihn die Treppe hinaufgehen hörte, schlug sie die Augen wieder auf. Langsam nahm er eine Stufe nach der anderen und sah dabei zu, wie ihre Panik wuchs. Sie strampelte und versuchte zu schreien. Wegen des dicken Stoffballs in ihrem Mund brachte sie jedoch nur klägliche Laute zustande. Der Mann warf den Kopf in den Nacken und lachte sie laut aus, dann war er mit ein paar raschen Schritten oben. Susanne nahm all ihre Kraft zusammen, um sich zu befreien, aber das Tape und das Seil saßen zu fest. Sie presste die gefesselten Arme gegen die Ohren, um nichts hören zu müssen. Kurz darauf ertönte von oben ein Schrei. Dann war es still, als wäre jemandem ein Kissen aufs Gesicht gedrückt worden.
Sekunden später gab es einen heftigen Aufprall und ein weiterer Schrei war zu hören. Eine Tür wurde aufgetreten, und jemand kam heruntergerannt. Sie konnte gerade noch erkennen, dass es Lea, die Freundin ihrer Tochter, war, die in einem hellblauen Nachthemd die letzten Stufen heruntersprang und im Flur landete. Das Mädchen starrte sie überrascht an, ihre Blicke trafen sich. Susanne schüttelte den Kopf. Lauf! Das Mädchen stürzte zur Tür, öffnete sie und rannte auf die Straße hinaus. Ihre Hilferufe gellten durch das ganze Viertel bis an die Frühstückstische der Nachbarn.
Tess streckte die Hand aus, um das immer lauter werdende Weckgeräusch ihres Handys abzuschalten. Das Balkongeländer vor dem Schlafzimmerfenster knarrte. Obwohl sie in zweiter Reihe und damit ein Stück vom Meer entfernt wohnte, ein wichtiges Detail für die Bewohner von Västra Hamnen, drang der Wind zwischen den Häusern bis zu ihrer Wohnung hinauf.
Eleni regte sich im Schlaf neben ihr. Einen Moment blieb Tess noch so liegen und starrte an die Decke. Sie hatten letzte Nacht wieder Sex gehabt.
Vorsichtig setzte sie sich auf. Bevor sie die Beine über die Bettkante schwang, warf sie noch einen Blick auf Elenis Rücken. Ihre hellbraune, nackte Haut.
Tess hatte zu sehr auf Äußerlichkeiten geachtet. Inzwischen wurde immer deutlicher, wie wenig sie sich zu sagen hatten. Noch nie hatte sie abends so viel gearbeitet oder trainiert wie jetzt, worüber Eleni sich oft beschwerte. Tess deckte sie zu und stand auf. Elenis Hund, ein Pudelmischling namens Chilli, kratzte an der Tür, er wollte herein. Sie öffnete ihm und ging in die Küche, schaltete die Nespresso-Maschine an und hörte im Hintergrund das eifrige Tapsen des Hundes.
Tess legte eine Kapsel ein.
Während sie sich die Zähne putzte, versuchte sie, ihre Gefühle zu sortieren. Sie wollte eigentlich keine Beziehung mehr mit Eleni und hatte auch keine Angst davor, allein zu sein. Warum machte sie dann nicht einfach Schluss? Warum war sie so schlecht in solchen Dingen? Es passte überhaupt nicht zu ihrem Selbstbild, sie war schließlich jemand, der Dinge zum Abschluss brachte.
Mit Angela war das etwas anderes, Tess hatte wahnsinnige Angst, das Wenige, was noch von ihrer Beziehung übrig war, zu verlieren, obwohl inzwischen anderthalb Jahre vergangen waren. Anfang September hatte Angela eines Tages ohne jede Vorwarnung ihre Beziehung für beendet erklärt.
Tess musste an ihre Therapeutin denken. Man müsse ein Schokoladenei in der offenen Hand halten, hatte sie gesagt. Denn wenn man die Hand schließt, schmilzt die Schokolade.
Angela war trotzdem gegangen, trotz Tess’ geöffneter Hand.
Noch ein Jahr war Tess anschließend zur Therapie gegangen. Hatte geübt, im Privatleben Grenzen zu ziehen, was sie laut der Therapeutin besser lernen musste. Ihr ganzes Leben war von Angelas Wünschen und Vorstellungen bestimmt gewesen.
»Sagen Sie mir, wenn ich Ihnen zu nahekomme«, hatte die Therapeutin gesagt und war langsam auf sie zugegangen.
Schließlich stand sie direkt neben ihrem Ohr.
»Finden Sie nicht, dass das ein bisschen zu nah ist?«
»Äh, doch«, hatte Tess erstaunt gesagt.
»Dann hätten Sie diese Grenze etwas früher ziehen müssen.«
Tess hielt beim Zähneputzen inne. Brauchte sie Eleni als Bestätigung? Als Trost nach dem Zusammenbruch? War es ein Versuch, sich zu beweisen, dass sie über Angela hinweg war? Wahrscheinlich eine Mischung aus alldem.
Aber Elenis Streben nach Symbiose, dass sie alles teilen und alles gemeinsam machen wollte, machte Tess allmählich wahnsinnig. Bei ihren lesbischen Freundinnen hatte sie gesehen, wie viele Beziehungen daran kaputtgingen, dass Paare versucht hatten, eine Art Zwillingsdasein zu führen. Wer will schon mit seiner Schwester schlafen?
Mit Angela war es das Gegenteil, sie war immer auf dem Weg woandershin gewesen, und das meistens allein. Immerhin hatten sie sieben Jahre und neun Monate lang eine Beziehung gehabt.
Tess spülte sich den Mund aus und schaute in den Spiegel. Sie war ein Star in ihrem Beruf, aber für ihr Privatleben würde sie keine Goldmedaillen einheimsen.
Chilli sah sie bettelnd an und wedelte mit dem Schwanz.
»Ja, ich nehme dich mit.«
Sie ging ins Schlafzimmer, um ihr Sportzeug zu holen. Eleni hob schläfrig den Kopf.
»Hallo Süße, komm her«, sagte sie und streckte die Arme nach ihr aus.
Elenis warmer Körper sah so einladend aus, dass Tess zum zweiten Mal an diesem Tag gegen ihre Prinzipien verstieß.