COLD EAST - Alex Shaw - E-Book

COLD EAST E-Book

Alex Shaw

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Beschreibung

"Aidan Snow – ein eiskalter Agent in brandheißen Abenteuern." - Stephen Leather, Autor von THE FOREIGNER (verfilmt mit Pierce Brosnan und Jackie Chan) MI6 Agent Aidan Snow rettet in der Ukraine einen britischen Staatsangehörigen, der von russischen Aufständischen gefangen gehalten wird. In den Vereinigten Staaten wird ein Terroranschlag von einem Mann vereitelt, der gar nicht existiert. In Russland flüchtet ein tschetschenischer Terrorist aus dem sichersten Gefängnis des Landes. Und aus Afghanistan meldet ein Soldat der Roten Armee, der lange für tot gehalten wurde, eine erschreckende Botschaft: Al-Qaida soll im Besitz einer Atombombe des Typs RA-115A sein, welche unter dem Namen "Kofferatombombe" bekannt ist ... Als die Zusammenhänge zwischen diesen Ereignissen deutlicher werden, sind MI6 und CIA gezwungen, gemeinsam das weltweit erste Attentat des nuklearen Terrorismus zu verhindern. Aber wo ist die Waffe, und was ist das Ziel? Von London bis Langley, Virginia, von Afghanistan bis Tschetschenien und in den Kaukasus müssen die Nachrichtendienste in der ganzen Welt zusammenarbeiten, um die terroristische Bedrohung zu vereiteln. Die Uhr tickt. Und niemand weiß, wem er vertrauen kann. Aidan Snow steht vor seiner größten Herausforderung, und wenn er scheitert, werden Tausende mit ihrem Leben bezahlen. "Shaws Stil knistert von Seite zu Seite wie die Flamme an einer kurzen Lunte unmittelbar vor der Detonation. Fans von Clancy, McNab, Ryan und Leather werden Aidan Snow lieben." - Matt Hilton, Autor der "Joe Hunter"-Erfolgsthriller "Die perfekte Mixtur aus Spionageroman und Politikthriller." - Matt Lynn, Bestseller-Autor der "Death-Force"-Thriller

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Inhalte

Cold East

Copyright

Widmung

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Epilog

Der Autor

Leseprobe

Der LUZIFER Verlag

COLD EAST

Alex Shaw

übersetzt von

Andreas Schiffmann

Copyright © 2015 by Alex Shaw

All rights reserved. No part of this book may be used, reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording, or by any information storage or retrieval system, without the written permission of the publisher, except where permitted by law, or in the case of brief quotations embodied in critical articles and reviews.

Für meine Frau Galia sowie meine Söhne Alexander und Jonathan.

Impressum

Deutsche Erstausgabe
Originaltitel: COLD EAST
Copyright Gesamtausgabe © 2015LUZIFER-Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Cover: Michael Schubert
Übersetzung: Andreas Schiffmann

ISBN E-Book: 978-3-95835-117-2

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Prolog

Oblast Donezk, Ukraine

  »Ich kann sie nicht sehen.«  »Sie sind gleich hier, er hat es versprochen.« Blaskewitsch schaute auf die belagerte Stadt Donezk in der Ferne. Rauch stieg von den Wohnsilos in den Außenbezirken auf, die Folgen eines frühmorgendlichen Beschusses mit russischen Grad-Raketen. Das Waffenstillstandsabkommen zwischen der ukrainischen Regierung und den Rebellenverbänden der Volksrepubliken von Donezk (DNR) und Luhansk (LNR), die von den Russen unterstützt wurden, war schon vor mehreren Monaten in Kraft getreten, doch die Angriffe wurden fortgesetzt. Die Männer rings um Blaskewitsch setzten sich aus Infanteristen der offiziellen Armee des Landes und jungen, im Schnellverfahren ausgebildeten Mitgliedern eines Freiwilligenbataillons zusammen. Trotz der Kälte blieben die Ukrainer frohen Mutes, während sie abwechselnd den Kontrollpunkt bemannten, Essen zubereiteten und schliefen. Blaskewitsch brachte den Volontären nichts als Hochachtung entgegen, die bis vor Kurzem noch ein normales Leben als Universitätsstudenten, Handwerker, Busfahrer, Ärzte und Kaufleute geführt hatten. Hin und wieder stimmte die Gruppe spontan ukrainische Volkslieder oder etwas Altes aus der Sowjetunion auf Russisch an. Sie verstanden sich als Ukrainer, und am wichtigsten für sie war ein vereintes Land, nicht Sprachgleichheit. Der Kontrollpunkt befand sich nördlich der Kleinstadt Marjinka und versperrte die Straße nach Donezk. Die angrenzenden Felder, flaches Land aus fruchtbarer, schwarzer Erde, lagen im Krisengebiet brach. Ein kurzes Stück weiter gabelte sich der Weg vor der Baumgrenze.

  »Hier.« Nedilko reichte ihm eine Tasse.  »Wir sollten mehr unternehmen, um ihm zu helfen«, antwortete Blaskewitsch seinem Kollegen vom SBU, dem ukrainischen Sicherheitsdienst, ehe er an dem bitter schmeckenden Soldatenkaffee nippte.   »Er tut gern so, als wäre er Russe.«   »Das stimmt.«   Blaskewitsch sah Bewegungen vor ihnen. Er stellte die Tasse auf den Boden, hielt sich seinen Feldstecher vor die Augen und fokussierte die Straße. Aus dem Wald kam ein weißer Toyota Land Cruiser. Während er sich näherte, ließen sich die blaue Flagge und das Logo der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) auf dem Lack erkennen. Die ukrainischen Soldaten, die immerzu auf einen Überraschungsangriff gefasst waren, griffen zu ihren Waffen. Der Kontrollpunkt war schon mehrere Male von einer Kriegspartei an die andere übergegangen, also wollten sich die Männer nicht auf Risiken einlassen.   Nedilkos Handy läutete. »Hallo? In Ordnung.« Er zeigte auf den Geländewagen. »Er ist es, oder zumindest gehört er zu den Insassen.«   »Sind vier an der Zahl«, präzisierte Blaskewitsch.   Nedilko zog seine Glock aus dem Holster. »Wie lautet sein Sprichwort noch gleich? Rechne mit dem Besten und mach dich aufs Schlimmste gefasst?«   »So etwas in der Art.«   Als der Land Cruiser stehen blieb – sehr nahe vor der Straßensperre –, hallte Donnergrollen über die Felder. Die DNR nahm wieder Ziele unter Beschuss. Ein dünner Mann, der eine blaue OSZE-Weste über einer grauen Dreivierteljacke trug, stieg langsam auf der Beifahrerseite aus. Er hielt die Hände hoch, während sich zwei ukrainische Soldaten mit erhobenen Waffen näherten. Nun öffnete sich die Hintertür, und ein Mann asiatischer Herkunft zeigte sich, gefolgt von jemandem, den die beiden SBU-Agenten nicht verwechseln konnten: Aidan Snow.   »Wer wagt, gewinnt«, sagte Blaskewitsch mit einem Lächeln.   Snow führte die drei anderen zum Kontrollpunkt. Derjenige mit der Weste bot Blaskewitsch seine Hand an. »Gordon Ward, OSZE-Beobachter. Sie müssen für den ukrainischen Sicherheitsdienst arbeiten.«   »Das ist korrekt, für den SBU«, bestätigte Blaskewitsch beim Händeschütteln. »Wird unübersichtlich dort drüben, was?«   »Haarig trifft es wohl besser. Die DNR bricht konsequent den Waffenstillstand!«   »Das hörten wir«, bemerkte Nedilko.   »Also, hier sind sie, und es geht ihnen bestens.« Ward wandte sich Snow zu. »Sehen Sie zu, dass das keine Gewohnheit wird, ja?«   »Ich werde es versuchen.«   Ward ließ ein kurzes Lächeln aufblitzen, machte auf dem Absatz kehrt und stieg wieder in den Land Cruiser. Der Wagen fuhr quer über die Straße und beschleunigte dann in Richtung Donezk, wo die restlichen OSZE-Beobachter warteten.   »Witalij Blaskewitsch, Iwan Nedilko, darf ich vorstellen? Mohammed Iqbal«, sagte Snow.   »Meine Freunde nennen mich Mo«, ergänzte der Mann.

Snow hielt sich in der Ukraine auf, um die »Heimführung« von Iqbal zu erleichtern, eines britischen Staatsbürgers, der mehrere Monate in Donezk gefangen gehaltenen worden war. Er gehörte zu den vielen auswärtigen Medizinstudenten an der Universität der Stadt, doch die DNR hatte Anstoß an seiner Hautfarbe genommen und ihn deshalb entführt, obwohl sie sich normalerweise nicht um seinesgleichen scherte. Iqbals Zwangslage war durch ein befremdliches Posting auf der VKontakte-Seite der Volksrepublik öffentlich geworden; sie hatte diese slawische Facebook-Kopie verwendet, um die russischsprachige Welt über ihre jüngsten Ankündigungen und »Siege« gegen die ukrainischen Streitkräfte zu informieren. In dem sozialen Netzwerk war Iqbal von einem selbst ernannten Premierminister der DNR als »schwarzer Söldner« und »Spion« bezeichnet worden. Seine Kidnapper hatten den jungen Mann bedroht, verprügelt und hungern lassen. Erst nach langem Hin und Her hatte man seine Freilassung ausgehandelt und abgemacht, ihn in die Obhut der OSZE zu geben. So jedenfalls lautete die offizielle Geschichte, welche den Eindruck vermittelte, die DNR sei humanitär gesinnt, doch Snow kannte die Wahrheit; er hatte immer noch blaue Flecken und ein leeres Magazin, um sie zu beweisen.  »In Deckung!«, schrie jemand, während eine Granate durch die Luft über ihnen pfiff.   Snow packte Iqbal und warf ihn in den Graben am Wegrand, als eine zweite Granate vorbeiflog und mit ohrenbetäubendem Krachen etwas entfernt auf der Straße einschlug.   »Schlitzpisser!« Iqbals Birminghamer Akzent trat mit seinem Verdruss umso deutlicher hervor, bevor er einen Mundvoll kalten Schlamm ausspuckte.   »Geduckt bleiben!«, befahl Snow. Als er aufschaute, sah er, woher die Granaten kamen: Ein Wagen, den er für einen russischen Panzer hielt, wahrscheinlich einen BMP-2, war an der Gablung aufgetaucht. Da er zu weit entfernt blieb, um das Feuer auf ihn zu erwidern, suchten die Ukrainer so weit wie möglich Schutz. Snow sah den Toyota der OSZE, der noch nicht verschwunden war, an dem Kettenfahrzeug vorbeischlittern und an der Abzweigung die andere Richtung nehmen. Daraufhin hörte der Angriff so plötzlich auf, wie er begonnen hatte. Der Panzer wendete und folgte dem Land Cruiser nach Donezk.

Eins

Morristown, New Jersey, USA

Als sich James East Morristown Green näherte, wehte ihm der kräftige Oktoberwind eiskalten Regen ins Gesicht, der wie Nadelstiche schmerzte. Dafür, dass er ein toter Mann war, fühlte er sich ausgesprochen lebendig. Im Winter verlieh der Schnee, der im Park lag und an den Fassaden der Geschäfte haftete, der ansonsten tristen Architektur aus der Zeit kurz nach dem Unabhängigkeitskrieg etwas von Charles Dickens' Stadtbildern. Heute jedoch bekam man nichts weiter als den Regen. Samstagseinkäufer bummelten mit Schirmen auf Schnäppchenjagd umher wie Herdentiere. East stellte den Kragen seiner Jacke auf. Es war nicht die Kälte, die er unangenehm fand, sondern der Wind, der erbarmungslos in seine ungeschützte Haut schnitt. Er betrat die Grünanlage auf einem Weg, der über den Platz in der Mitte führte, wo sich mehrere jugendliche Latinos in zu großen Freizeithosen unter den Bäumen trocken hielten, rauchten und dabei Fotos voneinander machten. Ein älteres Paar, das sich einen Golfschirm teilte, stellte sich zu East, während er darauf wartete, dass die Ampel umsprang. Die beiden hielten einander die Hände, wie sie es bestimmt schon in den 1950ern getan hatten. East wurde ein wenig neidisch. Dass er die Hand einer jungen Frau gehalten hatte, war drei Jahre her. Sie hatte ihn geliebt, doch er war ohne ein Wort verschwunden. Obwohl sie nicht viel Zeit miteinander verbracht hatten, erinnerte er sich an jede Sekunde, jeden Lidschlag und daran, wie sich ihre Unterlippe beim Lächeln gespannt hatte. Als er kurz seine Augen schloss, konnte er ihr Parfüm riechen und ihren Kopf an seiner Brust spüren. East schauderte. Es war an der Zeit, sie zu vergessen. Erschrocken riss er die Augen wieder auf, als ein Auto hupte. Die Ampel hatte auf Grün gewechselt, zurück in die Wirklichkeit:seineWirklichkeit. Der Mann, den sie gekannt hatte, lebte nicht mehr – durfte nicht –, doch James East war alles andere als tot.  Er überquerte die Straße und ging in ein Kaufhaus, das Designerkram zu günstigen Preisen anbot. Drinnen nickte er dem Wachmann zu, der die Geste gravitätisch erwiderte. East zog seine Jacke aus, fuhr sich mit einer Hand durchs nasse Haar und sah sich um. Zu seiner Linken standen Handtaschen aufgereiht, und rechts die Kosmetiktheke, wo eine Frau mittleren Alters von einer eifrigen Angestellten, die noch keine 20 war, mit Make-up »verschönert« oder besser gesagt verkleistert wurde wie ein Zirkusclown. Nachdem East an weiteren Frauen vorbeigegangen war, die Taschen begutachteten, gelangte er in die Abteilung für Männerkleidung. Die Hemden lagen ordentlich nach Marke, Farbe und Größe geordnet in den Auslagen. Er wählte eine Nummer größer, als er brauchte; ihm war es lieber, nicht darauf hinzuweisen, dass er trainierte. Drei Hemden in unauffälligen Farben und dazu passende Krawatten nahm er mit hinüber in die Schneiderei, wo ein weißhaariger Mann mit osteuropäischem Akzent arbeitete. Sehr zu dessen Freude griff East zu einem dunkelgrauen Zweiteiler und begab sich in die Umkleide.

Am Haupteingang tat sich Finch, der Sicherheitsbeamte des Geschäfts, schwer damit, seine Augen aufzuhalten. Zu behaupten, der ehemalige US-Marine langweile sich in seinem Job, wäre untertrieben gewesen. Nach zehn Jahren treuer Gefolgschaft der guten alten Stars and Stripes hatte man ihn mit einer lächerlichen Invalidenrente als arbeitsunfähig entlassen. Ironischerweise war er dem ärztlichen Befund der Navy gemäß außerstande, über lange Zeitspannen hinweg Wache zu halten, und eignete sich darum nicht für den aktiven Dienst. Dennoch stand er jetzt als Wachmann in einem Kaufhaus und hielt sich acht Stunden täglich auf den Beinen. Was war daran noch logisch? Finch ging hinaus, um sich von der eisigen Windbö frisch machen zu lassen. Als er das tat, piepten die Detektoren. Vier Männer traten ein, während zwei Frauen mit schweren Tüten das Lokal verließen. Finch seufzte und bat sie, wieder hineinzugehen, man habe wohl vergessen, den Diebstahlschutz von den Waren zu entfernen. Sie stellten sich an die Schmucktheke, wo er ihre Käufe herausnahm und untersuchte.

Plötzlich ertönten ein Schrei und mehrere Rufe, gefolgt von einem durchdringenden, abgehackten Knallen. James Easts Blick begegnete jenem des Herrenausstatters. Beide warfen sich auf den Boden, denn sie kannten das Geräusch: Schüsse aus Automatikwaffen.  »Unten bleiben.« Easts Stimme klang fest und verbindlich. Der ältere Angestellte nickte zustimmend mit dem Kopf und kroch weiter in den Umkleidebereich. East schlich sich geduckt aus der Nische. Was sich vor ihm auf der Verkaufsfläche offenbarte, war bestürzend: Im mittleren Gang standen zwei Männer mit Uzi-Maschinenpistolen und feuerten wahllos auf jeden Kunden, der es wagte, sich zu bewegen. Der Wachbeamte – sein weißes Hemd war dunkelrot getränkt – lag lang gestreckt auf einer zusammengebrochenen Glasvitrine. Zwei Frauen waren neben ihm niedergestreckt worden. Als es still im Geschäft wurde, wechselte einer der Schützen sein Magazin, während der andere fortfuhr, seine Waffe in übertrieben weitem Bogen zu schwenken. East fiel das Verhalten als unbeherrscht, fahrig und amateurhaft auf. Unvermittelt nahm er eine verschwommene Bewegung wahr, als eine korpulente Frau hinter einem umgeworfenen Aufsteller hervorstürzte. Die Schützen nahmen sie mit Dauerfeuer aufs Korn. Die Mündungen spuckten Patronen auf die Kundin und in den umgebenden Raum. East legte sich flach hin, als mehrere in die hintere Wand einschlugen, Verstrebungen trafen und im stumpfen Winkel abprallten.   Die Frau riss ihre Augen weit auf – wurde im Laufen zur Seite geworfen, ihr Fleisch von glühend heißem Blei zerhackt. Sie fiel mit einem widerlich dumpfen Plumpsen auf den dünnen Teppichboden des Lokals. Ihr Blick fiel auf East, und ihr Mund bewegte sich. Sie streckte eine Hand aus.  »Pamageet minya« – »Helfen Sie mir« –, bat sie auf Russisch.  »Ne dvigat'sya!«, zischte er in derselben Sprache zurück: »Bewegen Sie sich nicht!« Es war jedoch zu spät – ihre Hand zitterte und erschlaffte, die Augen wurden glasig. East biss krampfhaft auf seine Zähne; er würde die Kerle aufhalten.  Von links, wo sich die Rolltreppe befand, hörte er Schritte, wo zwei weitere Bewaffnete auf dem Weg in die oberen Stockwerke waren. East verrenkte seinen Hals. Das erste Paar hatte ihm nun den Rücken zugedreht und hielt die Uzis in eine andere Richtung. Er näherte sich leise dem einen Schützen, der gerade verschwand. Als er den Fuß der Treppe erreichte, eilte er je zwei Stufen gleichzeitig nehmend hinauf, wobei er nicht mehr darauf bedacht war, möglichst leise zu sein, sondern nur darauf, den Typen einzuholen. Auf einmal drehte sich derjenige der beiden anderen um, der seine Maschinenpistole noch senkrecht in einer Hand hielt, sodass der kurze Lauf an die Betondecke zeigte. Seine Augen registrierten East, doch der rammte ihm bereits eine flache Hand unter die Nase, womit er den Knorpel stauchte und den Knochen brach. Wie von einem Vorschlaghammer getroffen, ließ der Mann die Uzi fallen und kippte seitwärts um. East schnappte sich die Waffe und drückte ab. Mit der Salve erzielte er drei Durchschüsse, wobei die Kugeln schließlich in die Balustrade der Treppe schlugen.   Oben wurde weitergefeuert. East machte sich auf dem Treppenband klein, um nach oben zu fahren. Als er über den Boden der nächsten Etage schauen konnte, sah er, dass der vierte Killer, dem der Tod seines Gefährten nicht aufgefallen war, begonnen hatte, im Raum herumzuballern. East hob die Uzi und gab mehrere Schüsse in den Hinterkopf seines Gegners ab. Der fiel sofort um. Ringsum gingen weinend und schluchzend Kundschaft und Personal in Deckung. East drückte den Notfallknopf zum Anhalten der Treppe und schaute über die Balustrade ins Erdgeschoss. Abgesehen von Geschluchze war es dort wieder still, während die beiden Schützen wieder nachluden. East musste etwas unternehmen. Es galt, die beiden sofort unschädlich zu machen. Er bewegte sich die Metallstufen hinab und holte einmal tief Luft, bevor er seine Deckung aufgab.   Der vorderste Bösewicht schaute auf und machte große Augen, als East feuerte. Er taumelte rückwärts, während die Kugeln seine Brust trafen, und stürzte schließlich in eine Theke. Der verbliebene Mann schoss zurück und stürmte auf East zu. Dieser schwenkte herum, fiel auf ein Knie, um weniger Angriffsfläche zu bieten, und erfasste sein Ziel.  »Allahu akbar!«, rief der Mann.  East schaute ihm in die Augen und übte festen Druck auf den Abzug aus. Der Getroffene sackte auf ihn, und Glas barst rings um die beiden Männer. Zwar war der Attentäter jetzt erledigt, doch East ging unter der Wucht seines Körpers mit zu Boden. Als sein Kopf mit einem lauten Knall auf den Teppichboden schlug, verlor er das Bewusstsein.

Britische Botschaft – Kiew, Ukraine

Aidan Snow trank schwarzen Kaffee, während er sich die Nachrichtensendung von Radio 4 übers Internet anhörte. Die wichtigste Meldung des Morgens befasste sich mit einer Explosion in der Moskauer U-Bahn zur Hauptverkehrszeit. Sie hatte sich an einem Bahnhof ereignet, den Snow gut kannte, weil er in der Nähe der internationalen Schule lag, auf die er 20 Jahre zuvor als »Botschafterbengel« gegangen war. Die Zahl der Todesopfer hielt man vorerst noch zurück, doch Snow wusste, sie würde hoch sein. Der Nachrichtensprecher gab an, der Anschlag wäre mit einer nicht industriell hergestellten Sprengfalle begangen worden, und eine tschetschenische Gruppe, die »Internationale Islamische Brigade« (IIB), habe sich dazu bekannt. Man hatte schnell einen Experten für Russlands Sicherheitsangelegenheiten vom Zentrum für Slavistik und Osteuropastudien des University College London herangezogen, der in stark gebrochenem Englisch seine Meinung zum Besten gab. Er erklärte, die russischen Behörden glaubten nicht, dass die echte IIB verantwortlich wäre, weil der Inlandsgeheimdienst FSB deren Strippenzieher festgenommen oder umgebracht hatte. Tatsächlich war dem Anführer der Vereinigung öffentlich der Prozess gemacht worden, weshalb er eine lebenslange Haftstrafe im sichersten Gefängnis Russlands abbüßte. Der Fachmann nannte weiterhin Gründe dafür, warum man die Bombe seiner Ansicht nach gezündet hatte und wer sonst dahinterstecken könnte – eine Splittergruppe oder Trittbrettfahrer mit den gleichen Methoden …  Snow klickte auf die Stopp-Schaltfläche, um den Stream zu beenden, und frühstückte weiter im Stillen, obwohl ihm der Appetit vergangen war. Er hielt Terrorismus für unsinnig: Unschuldige Zivilisten wurden nur aufgrund der Machenschaften ihrer Regierungen zu Zielscheiben, die sie vermutlich gar nicht gewählt hatten. Dennoch grassierte der Terror weltweit, und das widerte ihn an. Am Samstag hatte man von einem mutmaßlichen al-Qaida-Anschlag auf die Kunden eines Kaufhauses in New Jersey berichtet, und heute waren die Moskauer Pendler an der Reihe. Snow erschauerte, als er sich das Entsetzen vorstellte, das die Sprengung und die Panik unter den Städtern ausgelöst haben musste. Er vergegenwärtigte sich die U-Bahn-Station, so wie er sie im Gedächtnis behalten hatte, mit ihrem sauberen Boden und den werbefreien Wänden, die prachtvolle Architektur und die Pelz tragenden Massen. Als Teenager war er regelmäßig nach der Schule in die U-Bahn gestiegen, um Moskau zu erkunden, und zwar zum Leidwesen seines Chauffeurs von der britischen Botschaft. Er hatte dagesessen und den Moskauern zugehört, die Bahn oft bis zur Endstation genommen und so Bezirke gesehen, die ausdrücklich nicht auf den Plänen der Reiseagentur Intourist standen. Ende der 1980er, kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, war die Stadt ein aufregender Ort gewesen. Etwas Besonderes hatte in der Luft gelegen; ein Hauch von Aufbegehren, der den Machthabenden keine Aufmerksamkeit wert gewesen und letztendlich zum Verhängnis geworden war.   Die gegenwärtigen Volksvertreter hingegen waren nervös. Ein Angriff auf eine europäische Hauptstadt versetzte alle in höchste Alarmbereitschaft. Moskau hatte sich selbst auf den ersten Platz der Abschussliste gesetzt, weil es durch die widrige Annexion der Krim und den Einfall in die Ostukraine abermals versuchte, das Sowjetreich wiederaufleben zu lassen. Es konnte die Schuld nirgendwo anders abwälzen, doch die Leidtragenden waren die Bürger Russlands, nicht die eitlen Kriegstreiber im Kreml.   Die Tür des Zimmers, in dem Snow sich eingerichtet hatte, ging auf, und Alistair Vickers trat ein. Er ließ sich beschwerlich in einem Sessel nieder. »Du hast die Nachrichten gehört, nehme ich an.«   »Was geschieht als Nächstes?«   Vickers zuckte mit den Achseln. »Ich habe keinen blassen Schimmer, aber Jack hat gerade zu einer Videokonferenz aufgerufen.«   Wie auf dieses Stichwort hin vibrierte Snows abhörsicheres iPhone, um ihn auf eine erhaltene E-Mail von Jack Patchem hinzuweisen, seinem Vorgesetzten beim SIS. Sie bestand aus nur einem Wort: Moskau.   »Dann gehen wir mal besser in dein Büro.«   Vickers erhob sich widerwillig aus dem bequemen Sessel.

Mehrere Minuten später übernahm Patchem ohne Vorrede das Wort, als die Videoverbindung hergestellt war. »Schreckliche Neuigkeiten aus Russland, wenn wir eines nicht brauchen, dann, dass die Klapsmühlenbrigade dem Kreml auf den Sack geht.«  »Kennen wir die Verantwortlichen?«, fragte Snow, während ihm Vickers einen Teller Gebäck mit Vanillecremefüllung zuschob.   »Wir können uns nur auf die Informationen der Medien berufen, aber unser Mann vor Ort spricht mittlerweile von 30 Toten – irgendwelche Ausländer. Das Außenministerium kann noch nicht sagen, ob Briten dazugehören.«   »Gab es im Vorfeld Zeichen dafür, dass sich etwas anbahnte«, wollte Vickers wissen, »etwa Geplapper, das dem Nachrichten- und Sicherheitsdienst auffiel?«   »Nichts, und genau das bereitet uns Sorgen. Säbelrasseln fand erst hinterher statt, die übliche Phrasendrescherei zu Ehren des Selbstmordattentäters und um Allah zu danken – Allah dem Allmächtigen, der den Plastiksprengstoff erfunden hat!« Nach einer Pause entschuldigte sich Patchem. »Ich weiß, Gentlemen, ich weiß. Werfen Sie mir meinethalben Islamophobie vor, aber Ihnen ist klar, worauf ich hinauswill. Diese Verrückten wollen uns alle im Namen ihrer Religion in die Luft jagen.«   »Ihrer Religion, so wie sie sie auslegen.«   »Ja, Aidan, Sie haben selbstverständlich recht.« Patchem, der in London saß, trank einen Schluck Wasser. »Um genau zu sein, kam ein Begriff immer wieder auf: die Hand Allahs. Dazu fehlen uns noch Anhaltspunkte. Es könnte sich um einen neuen Zusammenschluss handeln, der mit al-Qaida oder dem IS in Verbindung steht, aber wer weiß? Vielleicht ist es auch der Name einer Operation oder lediglich eine Redewendung.«   »Falls sich eine neue Organisation so nennt, würde das bestätigen, was die Russen behaupten.«   »Dass die Internationale Islamische Brigade nichts damit zu tun hat? Aidan, Sie wissen so gut wie ich, dass der FSB und der Militärnachrichtendienst GRU niemals zugeben würden, dass ihnen Schlüsselmitglieder der Gruppe durch die Lappen gegangen sein könnten.«  »Mich wundert, dass der Kreml es nicht ukrainischen Faschisten anhängt, denBanderiwtsi«, sagte Vickers.  »Ich habe einmal ein Bier mit Banderas Enkel getrunken. Er war kein Faschist und lebte in Kanada«, erwiderte Snow.   Patchem pflichtete bei. Der Kreml verschrie die neue ukrainische Regierung als faschistisch und nannte die Protestler Banderiwtsi, die den früheren, von Moskau unterstützten Präsidenten entmachtet hatten. Der Name bezog sich auf Stepan Bandera, den Führer der Organisation Ukrainischer Nationalisten während des Zweiten Weltkriegs, der sich den Nazis statt der Sowjetunion angedient hatte. »Wir dürfen zu diesem Zeitpunkt nichts ausschließen.« Sie sahen auf dem Monitor, wie Patchem die Augen schloss und seinen Nasenrücken rieb. »Passen Sie auf …«   »Alles in Ordnung, Jack?«  »Was, Alistair? Ja, ich schlafe bloß nicht so gut, wie ich sollte.« Nachdem Patchem noch etwas Wasser getrunken hatte, räusperte er sich. »Nun, Aidan, willkommen zurück, und Glückwunsch, dass Sie Mr. Iqbaleingesammelthaben. Wie geht es ihm?«  »Er erholt sich. Sie hielten ihn die meiste Zeit angekettet in einer Garage fest, und wenn gerade nicht, musste er Gräben ausheben.«   »Gräben?« Patchem runzelte die Stirn.   »Anscheinend hat der Gouverneur der DNR einen Narren am Ersten Weltkrieg gefressen. Ihm gefällt die Vorstellung von Grabenkämpfen«, erläuterte Vickers, »was sehr merkwürdig ist, wenn man sich vor Augen hält, dass er sich mitten in einer Industriestadt verschanzt hat!«   »Die ganze Sache ist merkwürdig. Alistair, wann dürfen wir Iqbal wieder in Großbritannien begrüßen?«   »Mitte der Woche, schätze ich. Er spricht heute mit dem SBU. Die wollen ihn gründlich zu allem befragen, was er während seiner Gefangenschaft sah. Mit Aidan werden sie ebenfalls reden. Das soll alles als Beweismaterial gegen die DNR gesammelt werden. Natürlich bin auch ich dabei und zeichne das Verhör auf.«   »Gut. Aidan, schreiben Sie Ihren Bericht zu Ende und bringen Sie Mr. Iqbal dann nach Hause, sobald der SBU zufrieden ist. Bis dahin verhalten Sie sich unauffällig, aber sehen Sie zu, dass Ihr ›Notfallrucksack‹ und Reisepass griffbereit liegen.«   »Das tun sie immer.«

New York, USA

Der strömende Regen erschwerte die Sicht, was gut war, um unentdeckt zu bleiben. Er legte sich auf den nassen Beton unter dem Wagen, wo er mit der linken Seite am kalten Stahl des Containers lehnte. Seine dunkelblaue Regenkleidung bewahrte ihn größtenteils vor der Feuchtigkeit, nur dass beständig Tropfen in seinen Kragen rieselten und sich mit dem Schweiß auf seiner klammen Haut vermischten. In dem Holzlager ging Licht an, als die ersten Arbeiter zur Schicht eintrafen. Auf dem Gewerbegelände indes blieb alles ruhig. 7:00 Uhr wurde der Himmel heller, doch der Regen ließ nicht nach, sondern prasselte weiter auf den Stahlcontainer und die Motorhaube des Lasters ein. Was er sah, beschränkte sich auf den Bereich unmittelbar vor ihm zwischen Wagen und Behälter sowie den Boden rechter Hand unterm Fahrwerk. Sollte sich eine Person zu Fuß nähern, würde es ihm nicht auffallen, bis sie direkt vor ihm stand. Seine Position war alles andere als perfekt. Er schob die Gedanken beiseite und wartete weiter auf sein Opfer.  Dass die erste Holzlieferung eintraf, spürte er vielmehr, als er es sah. Die Lastwagen konnten jederzeit auftauchen, nachdem die Transportschiffe den Zoll am Hafen von Newhaven durchlaufen hatten und entladen worden waren. Aus diesem Grund blieb das Lager stets besetzt. Um kurz vor acht streckte er sich, um seine verspannten Muskeln zu lockern. Leise betete er sich immer wieder vor, was man ihm beigebracht hatte … das Ziel war derjenige, der die Befehle ausgeführt hatte, das Ziel war ein Brandstifter, Mörder und Folterer. Er schwitzte in seinem Overall. Das Ziel sollte für die Tötung seines Bruders büßen. Ein Fahrzeug näherte sich – ein Mercedes AMG, wie er an dem markanten Brummen des Motors erkannte, der sich gegen das Rauschen des Regens absetzte. Mit einem Mal hatte er einen klaren Kopf, war konzentriert und atmete gleichmäßig. Als er seinen Hals streckte, sah er die Fahrertür aufgehen. Identität bestätigt. Nun bewegte er sich schnell und elegant wie ein Panther, der aufsprang und aus seinem Versteck stürzte. Mit der Uzi in der rechten Hand holte er sein Opfer ein und schlug es mit steifem Arm. Der Mann fiel rücklings auf die Haube des Mercedes, und keine Sekunde später drückte der Angreifer ab. Grelle Lichtblitze erhellten den stürmischen Morgen. Der Kerl wand sich im flammenden Kugelhagel, der auf seinen ganzen Oberkörper niederging und ihn aufs Karosserieblech drückte. Der Schießwütige hielt inne und schaute seinem Opfer in die Augen. »Za moyego brata«, hörte er sich auf Russisch brüllen: »Für meinen Bruder …« Er wiederholte den Ausruf, während er die übrigen Patronen im Magazin auf den leblosen Leib feuerte … das letzte Mal, dass er eine Uzi benutzt hatte, bis … seine Schläfen begannen zu schmerzen, ein Licht loderte auf. Der Schmerz nahm zu, während es näherkam und heller strahlte … er wollte, dass es aufhörte, wollte sich bewegen, die Flucht ergreifen, doch seine Beine gehorchten ihm nicht. Als er versuchte, seine Hände zu heben, um sich die Augen zuzuhalten, gelang ihm auch das nicht. Unterdessen nahmen die Helligkeit und der Schmerz weiter zu. Er nahm die Umgebung jetzt nicht mehr in tiefstem Schwarz wahr, sondern Dunkelrot. James East drängte sich eine Stimme in einer Sprache auf, die er selbst nicht gut sprach. Das Rot wurde nach und nach heller, bevor sie sich an ihn richtete: »Können Sie mich hören?« Es war tadelloses Russisch. »Ihnen geschieht nichts, Sie schweben nicht mehr in Gefahr.«  Der Arzt bemerkte, wie die geschlossenen Lider seines Patienten flimmerten. Er sprach erneut. »Falls Sie mich hören, versuchen Sie doch bitte, Ihre Augen zu öffnen, ja?« Dem Arzt wurde ein Zettel in die Hand gedrückt. Er las ihn schnell. »Ich möchte, dass Sie mir die Namen Ihrer nächsten Angehörigen nennen. Wir müssen Ihre Familie kontaktieren, um ihr mitzuteilen, dass Sie hier bei uns in Sicherheit sind.«   Familie? Irgendwo in seinem Gehirn ging East ein Licht auf. Er öffnete den Mund, woraufhin mehrere Silben Russisch heraussprudelten.   »Verzeihung, das habe ich nicht verstanden. Würden Sie es bitte wiederholen?«  Mehr Russisch: »U menya byl brat« – »Ich hatte einen Bruder …« East sprach weiter, stockte dann aber. Der Schmerz nahm immer noch zu, das Licht wurde weiß. Plötzlich wurde East klar, dass er einen Fehler begangen hatte. Er fing an zu stöhnen und gab unartikulierte Geräusche von sich.  »Tut mir wirklich leid, ich verstehe das nicht. Können Sie es noch mal sagen?« Der Doktor rückte näher.   East schlug seine Augen auf und sprach auf Englisch weiter. Er hatte einen rauen Hals, weshalb seine Stimme heiser war, doch sein Bostoner Akzent ließ sich nicht leugnen. »Wo bin ich?«   Die beiden Männer, die am Bett standen, wirkten kurz verwundert, fassten sich dann jedoch wieder. Der Arzt redete zuerst, blieb aber beim Russischen: »Sie befinden sich in einem Krankenhaus. Es gab eine Schießerei, in die Sie verwickelt waren.«   East blinzelte und tat begriffsstutzig. »Ich … Entschuldigung, aber wa… was s… sagten Sie?«   Der Arzt hob erneut an, aber der andere Mann fasste ihm an die Schulter und schüttelte den Kopf. Er fragte auf Englisch: »Wie heißen Sie?«   »Mein … mein Name lautet James – James East.«   »Nun, Mr. East, ich bin Mr. Casey. Wie Ihnen Dr. Litwin schon zu erklären versuchte, waren Sie in einen Terroranschlag verstrickt.«   East wollte sich im Bett aufrichten, doch der heftige Schmerz hinter seinen Augen raubte ihm die Sicht.   Dr. Litwin legte eine Hand auf den Arm seines Patienten und behalf sich ebenfalls des Englischen. »Achten Sie darauf, sich nicht zu schnell zu bewegen, Ihr Körper ist sehr in Mitleidenschaft gezogen worden.«   East schloss die Augen, und als er sie öffnete, war sein Blickfeld wieder klar. Er schaute sich im Raum um, der wie für ein Krankenhaus üblich weiß war. Zwar entging ihm das Abzeichen auf dem Kittel des Arztes nicht, doch er richtete seine Frage an Casey: »Wo bin ich?«   »Sie sind in einem Hospital in Manhattan, Mr. East. Nach der Schießerei wurden Sie hierher gebracht. Erinnern Sie sich noch daran?«   Das tat er, wenn auch nur vage. »Wie lange liege ich schon hier?«   »Etwas über 48 Stunden. Sie haben eine Gehirnerschütterung.« Der Arzt drückte seinen Arm, um ihn zu beruhigen. »Sie dürfen froh sein, Mr. East, dass es nichts Ernsteres ist.«   »Er hat wohl einen dicken Schädel, nicht wahr, Doktor?«, fragte Casey heiter.   »Vermutlich, ja.«   »Mr. East, es gibt da ein paar Fragen, die ich gern von Ihnen beantwortet hätte.«   Der Arzt verzog sein Gesicht argwöhnisch. »Kann ich kurz mit Ihnen allein sprechen, Mr. Casey?«   Vor dem Zimmer verschränkte er seine Arme. Er wartete, bis sein Besucher ebenfalls herauskam. »Wenngleich ich Ihnen liebend gerne bei Ihren Ermittlungen helfe, ist der Patient unter medizinischen Gesichtspunkten meiner Meinung nach nicht fit genug, um verhört zu werden.«   Casey tat überrascht und zog seine Augenbrauen hoch. »Doc, niemand soll verhört werden. Ich muss ihm nur ein paar Fragen stellen.«   »Nicht heute, Mr. Casey. Er geht ja nirgendwohin. Sie dürfen Mr. East befragen, wenn ich ihm zutraue, dass er es verkraftet.«   Caseys Miene verfinsterte sich. »Die Befragung geschieht im Interesse der Staatssicherheit.«  »Sie sind zu mir gekommen, weil Sie glaubten, der Patient sei vielleicht Russe, und tatsächlich habe ich ein paar Worte meiner Muttersprache gehört. Allerdings verwendete er, als er zu Bewusstsein kam, Englisch wie Sie und ich.« Litwin war zwar Einwanderer, lebte aber schon lange in den USA. »Mir ist klar, dass es sich bei Mr. East nicht um einen gewöhnlichen Patienten handelt, doch er muss wie ein solcher behandelt werden. Denken Sie daran, dass ich derjenige bin, derin Teufels Küchekommt, falls er das Krankenhaus wegen irgendwelcher Komplikationen oder Stümperei vor Gericht zieht.«  »Danke für Ihre Offenheit, Doc.« Casey beschloss, nicht weiter darauf zu bestehen.

Während sich East im Zimmer orientierte, bemerkte er, dass kein Fernseher in der Ecke hing, sondern nur eine Halterung. Er versuchte wieder, sich hinzusetzen, bekam dabei aber das Gefühl, eine übergroße Hand würde seinen Schädel zusammenquetschen.  Die Tür ging auf, und Litwin kehrte zurück. Er lächelte beim Näherkommen. »Mr. Casey ist Regierungsbeamter und wollte Sie verhören. Ich sagte ihm, dass Sie noch nicht hinreichend genesen wären. Sie brauchen Ruhe.« Er setzte sich auf den Stuhl neben Easts Bett. »Wissen Sie noch, was geschehen ist?«   »Ich denke schon. Wie viele haben die umgebracht?«   »Es gab neun Tote, sieben weitere Personen erlitten Schussverletzungen. Es ist ein Wunder, dass nicht noch mehr unschuldige Kunden gestorben sind. Manche sagten, Sie wären ein Held. Wenn Sie mich fragen, stimmt das.«   »Danke … sollte ich wohl sagen.« Neun Tote! East fluchte innerlich, denn warum war er nicht schneller gewesen? Wieso hatte er nicht am Eingang sein können, um die Kerle aufzuhalten?   Litwin schien seine Gedanken zu lesen. »Ich nehme an, Sie fragen sich, weshalb es Ihnen nicht gelang, mehr Menschen zu retten oder die Terroristen früher zu erschießen, richtig?« Nachdem East genickt hatte, fuhr der Arzt fort: »Sie leiden unter dem Überlebendensyndrom, und das würde jedem so gehen. Ihnen ist unerklärlich, warum Sie verschont blieben, wohingegen andere starben, die es möglicherweise eher als Sie verdient gehabt hätten, am Leben zu bleiben. Das begreift niemand, jedenfalls nicht hier unten. Wir haben keinen Einfluss auf Gottes Plan. Sagen Sie, sind Sie ein frommer Mensch?«   »Nein.«   »Verstehe. Ich stamme aus Moskau, und Sie, Mr. East?«   »Aus Boston.«   »Gebürtig?« Litwin blickte erwartungsvoll drein. East antwortete nicht, also fragte er weiter: »Wo haben Sie Russisch gelernt?«   »Ich musste einen Kurs am College belegen. Die Alternative wäre Spanisch gewesen.«   »Sie verwendeten die Sprache mehrmals, während sie betäubt waren.« Eigentlich hatte er es getan, als er allmählich zu sich gekommen war, doch Litwin wollte nicht durchblicken lassen, dass sich der Narkosearzt mit der Dosis vertan hatte.   East wechselte das Thema: »Wann entlassen Sie mich, Doktor?«   »Sagen wir in ungefähr einer Woche. Ihr Kleinhirn war leicht geschwollen. Es liegt in der hinteren Schädelgrube und ist für Koordination sowie den Gleichgewichtssinn zuständig. Die gute Nachricht lautet: Unsere MRT-Aufnahmen lassen keinen offensichtlichen Schaden erkennen. Das konnten wir aber nicht sicher wissen, bis Sie Ihr Bewusstsein wiedererlangten. Nun, da es so weit ist, stehen weitere Untersuchungen für Sie an.«   Das missfiel East sichtlich. »Was wollte dieser Casey hier?«  »Mr. East, es gab eineSchießerei. Bei so etwas muss ermittelt werden. Ich halte es für das Beste, wenn Sie sich jetzt ausruhen. Mein Kollege von der Neurologie wird später vorbeikommen, um bei Ihnen nach dem Rechten zu sehen.« Damit stand Litwin auf und verließ das Zimmer. Sein Patient brauchte Ruhe, und wer auch immer die Männer in Anzügen waren, sie mussten warten.

Zwei

Kabul, Afghanistan

  »Brüder, unser islamisches Emirat ist stark. Der Westen kann uns nicht schlagen, denn wenn wir alle sterben, werden wir es mit Allahs Gnaden tun. Friede sein mit ihm! Diejenigen von uns, die zum Martyrium bestimmt sind, werden als Heilige Krieger dahinfahren, indem sie den Dschihad gegen die ungläubigen Kreuzfahrer anführen! In dieser geweihten Mission sollen wir auf dem Boden des Feindes als Opfer fallen. Wir selbst kennen dabei keine Furcht, denn es werden die Ungläubigen sein, die vor uns und dem Zorn Allahs erzittern!« Die Zuhörer bekundeten Beifall. »Meine Brüder, ihr werdet furchtlos weiterkämpfen und wissen, dass wir den Segen unseres Glaubens haben! Brüder, es ist an der Zeit, dass wir unseren Weg antreten!« Mohammed Tariq erhob sich und umarmte nacheinander alle Männer, die in Kabul zurückbleiben sollten. Sie würden die Stellung in ihrem Heimatland halten, während er mit seinen fünf Gottessoldaten zur Grenze aufbrach.  Die Gruppe heiliger Krieger verließ den dürftig beleuchteten Raum und ging zum Bus. Obwohl es kurz vor ein Uhr morgens war, herrschte reger Betrieb am Busbahnhof Südwest der afghanischen Hauptstadt. 24 Stunden täglich verließen Busse und Lastwagen Kabul, in denen Auswanderer den ersten Abschnitt ihrer Reise in – wie sie glaubten – ein besseres Leben in der Fremde antraten. Der Bus, den Tariqs Zelle nehmen würde, war unter Ansässigen als »Grenzbus« bekannt. Jede Nacht legte er die 400 Meilen zur Stadt Herat im Westen zurück, die an der Grenze zum Iran lag. In Herat sollten sich Tariqs Männer mit einer Kontaktperson aus dem Nachbarland treffen, die sie in ihrem Lkw verstecken würde, um sie am bewachten Übergang Islam Qala einzuschleusen. Sobald sie im Iran waren, wollten sie über Taybad nach Maschhad fahren, wo sich das Mausoleum des Imam Reza befand. Für Tariq spielte es keine Rolle, dass diese Stadt als eine der heiligsten der Schiiten galt, denn er hatte im Namen Allahs jeglicher Unterscheidung zwischen Sunniten und Schiiten abgeschworen. Spaltung war das, was die Muslime zurückhielt, und hatte es den Ungläubigen ermöglicht, sie auszunutzen.   Tariq stieg in den Bus, dicht gefolgt von seinen Getreuen. Angespannte Gesichter, überwiegend junger Afghanen, starrten sie an. Sie brannten darauf, das Land zu verlassen, sie sehnten sich danach, vom Feind akzeptiert zu werden und sich dem Westen feilzubieten. Anders als Tariq und seine Gruppe hatte jeder der Auswanderer vor ihm im Schnitt 10.000 Dollar an einen Schmuggler gegeben, der sie nach Europa bringen sollte. Einige sogar mehr. Viele würden unterwegs den Tod finden, Opfer der Witterung, von Grenzbeamten, Mangelernährung und Wegelagerern werden. Tariq widerstand dem Drang, zu spucken und Schläge auszuteilen. Diese Flüchtlinge entzogen sich des Dienstes für ihre Heimat, ihren Verpflichtungen gegenüber des Dschihad und – besonders verabscheuungswürdig – des Gehorsams gegenüber ihres muslimischen Glaubens. In seinen Augen waren sie gottesabtrünnig, hatten den Islam verraten und das Todesurteil verdient. Tariq musste an sich halten, um einen gelassenen Eindruck zu vermitteln. Er verbarg sich mit seinen Männern unter Schafen, doch sie waren Wölfe – Raubtiere im Besitz der mächtigsten aller Waffen, die der Löwe – Scheich Osama bin Laden, Friede sei mit ihm – »Die Hand Allahs« genannt hatte. Was die kleine Kiste enthielt, war von Moskau bestellt und in der Ukraine gebaut worden. Die Ungläubigen, die darauf aus gewesen waren, das muslimische Kalifat zu zerstören, hatten Allahs Hand beschlagnahmt. Tariq erfreute sich an der Ironie dahinter, während er sich mit seinen Begleitern auf die letzten freien Plätze zwängte. Man würde den Feind mit seiner eigenen Waffe schlagen, um ihn endgültig zu vernichten.   Tariq beugte sich nach vorne und stellte die Kiste zwischen seine Füße.   »Fahrt ihr auch nach Westen?«   Er schaute auf. Ein Knabe, der noch zu jung war, um sich einen Bart stehen zu lassen, aber alt genug, um sich den Ungläubigen anzubiedern, erwiderte seinen Blick.   »Meine Familie hat mich losgeschickt, damit ich mir Arbeit suche. Ich weiß, es ist nicht leicht, aber im Westen gibt es viele Möglichkeiten.«   »In der Tat, wir können eine Menge im Westen tun, mein Bruder.«   »Mein Vater zahlte dafür, dass ich nach London gelange. Einen besseren Ort gibt es nicht. Er hörte, Frankreich, Deutschland und Italien seien voller Rassisten, aber England ist gut, und die Regierung gerecht. Dort werde ich Arbeit finden.«  Das al-Qaida-Mitglied zwang sich zu einem Lächeln. »London ist ein sehr beliebtes Ziel, vielleicht begegnen wir einander dort eines Tages wieder.Insha'allah.«  »Insha'allah.«  Mit einem Knirschen, bedingt durch mangelnde Wartung sowie Dreck und Sand, die sich angesammelt hatten, ging die Einstiegstür zu. Kurze Zeit später sprang der Motor stotternd an, und der Bus rollte schwerfällig von der Haltestelle in die Nacht. Kurze Zeit später schloss Tariq seine Augen. Es gab wenig zu sehen und nichts zu tun. In dieser Nacht würden sie die dunkle Wüste auf der Fernstraße A01 durchqueren, zunächst in Kandahar haltmachen und schließlich in der Hitze des folgenden Tages Herat erreichen. Es war eine mühsame Strecke, auf der jedoch bestimmt nicht viele afghanische Soldaten mit einer al-Qaida-Zelle rechneten. Faule Schäfer kümmerten sich nicht um Schafe, und ihm war beigebracht worden, wie man blökte.

Britische Botschaft – Kiew, Ukraine

Snow klappte den Laptop zu. Nachdem er den Nachbericht zur Rettung von Mohammed Iqbal geschrieben hatte, schaute er auf seine Armbanduhr. Er brauchte eine Auszeit mit Abstand von allem, was mit der Regierung Ihrer Majestät zusammenhing. Nach zwei Wochen intensiver Geheimdienstarbeit in Donezk und Umgebung war er erschöpft. Er nahm das iPhone vom Schreibtisch und suchte in seiner Kontaktliste nach dem Namen, der ein Lächeln auf seine Lippen zauberte. Dann wählte er die dazugehörige Nummer.  Eine Stunde später setzte ein Taxi ihn vor dem Etablissement an der Ecke der Straßen Horenka und Swjatoschynskaja ab, das den klangvollen Namen ›Standard Hotel‹ trug. Es stand wie ein kleiner Würfel zwischen den höheren Appartementhäusern am Rand des Kiewer Zentrums, ein grau und cremeweiß gestrichenes, doppelstöckiges Gebäude, das an zwei riesige, gestapelte Schuhkartons denken ließ. Der Haupteingang befand sich genau mittig im Erdgeschoss unter einem weinroten Vordach, doch Snow nahm nicht ihn, sondern eine Tür an der rechten Ecke, über welcher ein ebenfalls weinrotes Schild mit der Aufschrift ›Café Bar Standard‹ hing. Nachdem er die schwere Holztür aufgedrückt hatte, suchte er in dem dunklen, verrauchten Lokal nach seinem alten Freund. Er entdeckte einen Mann mit zerfurchtem Gesicht, hellbraunem Haar und Drahtbrille, der mit einer Zigarette auf einer breiten Eckbank saß und weibliche Gäste an einem anderen Tisch bewunderte.   Snow und Michael Jones hatten zu einer Zeit, da Snow davon ausgegangen war, dass seine draufgängerischen Tage vorüber waren, als Lehrer englischsprachige Einwanderer unterrichtet.   »Na, wenn das nicht der Gordon Ramsey der Trinker ist!«   »Aidan, ho-kay?« Durch seinen ausgeprägten walisischen Akzent handelte er sich vonseiten der anderen Gäste seltsame Blicke ein.   Snow spielte mit, indem er gleichfalls aufgesetztes Waliserenglisch sprach: »Hallo Mr. Jones, wie geht es dir?«   »Ach, nicht schlecht«, antwortete Michael strahlend. »Sieh dir nur die Bräute hier drin an!«   Snow lachte laut. Jones würde sich nie ändern. »Freut mich, dass wir uns wiedersehen, Michael.«   »Mich auch. Wie lange bist du in der Stadt?«   »Nur ein paar Tage.« Jones wusste, dass sein Freund der SAS angehört hatte, einer Spezialeinheit der britischen Armee, doch dass er jetzt für den Geheimdienst arbeitete, davon wusste er nichts. Snow hielt sich an das Märchen vom Oberlehrer an einer kostspieligen Privatschule in Knightsbridge. »Die Anstalt bat mich um eine Präsentation vor ein paar ukrainischen Bonzen.«   »Um sie davon zu überzeugen, ihre Kids bei euch unterrichten zu lassen, was?«   »Korrekt. Heute Abend habe ich frei, doch bis Mittwoch, wenn ich zurückfliege, stehen Treffen und Geschäftsessen an.«   Jones riss seine Augen auf. »Puh, ich bin froh, nur hier und da ein paar Englischstunden zu geben. So hab ich keinen Stress und eine Menge Zeit zum Trinken, Rauchen und Beschauen des lokalen Fleischangebots.«   Der Waliser, der die 50 bereits überschritten hatte, veranlasste Snow zum Kopfschütteln. »Wie geht es Inna?«   »Ganz gut, aber sie hat ihren Job verloren.« Die Frau, mit der Jones seit 16 Jahren verheiratet war, hatte als Bankkauffrau gearbeitet – und die Finanzen ihres Gatten zusammengehalten.   »Bedaure, das zu hören.«   »Ach was, sie hat einen neuen Job bei einer kanadischen Anlagegesellschaft gefunden. Gut möglich, dass sie nächsten Monat nach Übersee fliegen muss, aber das macht mir nichts aus, denn dann komme ich mal zur Ruhe.« Jones sprach gedehnt und säuselnd wie immer nach ein paar Gläsern Bier. »Ist aber echt klasse, dass wir uns über den Weg laufen, hm?«   »Finde ich auch, Mr. Jones.« Daraufhin wurde Snow ernst. »Erzähl, wie ist es in den letzten Monaten bei euch gelaufen?«   »Gar nicht übel. Wir haben der Krim in diesem Sommer den Rücken gekehrt und eine Zeit lang mit dem Gedanken gespielt, nach Großbritannien zurückzukehren, doch dann sah ich die Immobilienpreise. Ich kann es mir ums Verrecken nicht leisten, ein Darlehen für ein Haus aufzunehmen, also in meinem Alter! Darum ließen wir es bleiben. Unsere Gegend blieb relativ unberührt von Gewalt und Ausschreitungen – Gott sei Dank. Aber Mann … das alles ist schockierend, findest du nicht auch? Was maßt sich der Kreml an, bestimmen zu wollen, dass die Ukraine nicht der EU beitritt? Das sind redliche Menschen hier, die bloß von einem korrupten Präsidenten regiert wurden, und die Russen sind auch schwer in Ordnung, aber … Mensch ist Mensch, leben und leben lassen.« Er winkte mit einer Hand ab und trank sein Bier aus.   Snow teilte diese Meinung, auch wenn sich Jones ein wenig unbeholfen ausgedrückt hatte, doch er wollte weder über Politik diskutieren noch seine gute Laune verlieren. Ausnahmsweise war ihm einzig daran gelegen, sich ein paar Drinks zu genehmigen, in Erinnerungen zu schwelgen und zu entspannen – und wie es aussah, hatte Jones mehrere Gläser Vorsprung. Snow machte sich bei der Bedienung bemerkbar, die daraufhin mit Getränkekarten zum Tisch kam.   »Ist das dein Freund, Michael?«   »Er heißt Aidan und unterrichtete früher mit mir.«   »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Snow auf Russisch. »Zwei Bier, bitte.«   »Darf's Oblon sein?«   »Sicher.« Sie lächelte freundlich und kehrte mit einem Hüftschwung zum Tresen zurück, den er ignorieren wollte, was ihm aber nicht gelang.   »Tafelservice mit Charme«, bemerkte Jones vergnügt.   »Sag, was führt dich hierher?«, fragte Snow.   »Der Laden gehört Wlad, einem meiner Schüler. Er ist ein guter Kerl und das Bier für Kiewer Verhältnisse spottbillig!« Jones drehte immerzu jede Münze zweimal um. Sein Hang zu findigen Geschäften hatte ihn mit seiner Liebe zum Alkohol zu einem Kenner der eher günstigen Gastschenken in der ukrainischen Hauptstadt gemacht.   »Kein Wunder, dass es billig ist, der Laden steht mitten im Nirgendwo.«   »Die U-Bahn ist um die Ecke, somit hat man es nirgendwohin weit.«   »Das ist wahr.« Als das Bier gebracht wurde, hob Snow sein Glas. »Auf dein Wohl.«   »Auf deins.«   »Wann wollte Inna, dass du nach Hause kommst?«   »Egal, sie hat nichts dagegen, dass ich mit dir trinke. Ihrer Meinung nach übst du einen beruhigenden Einfluss auf mich aus.«   Snow saugte Schaum von seinen Lippen. »Ich dachte eigentlich, sie würde mich besser kennen.«   Die Tür ging auf, und ein wuchtiger Mann duckte sich im Rahmen, um hereinzukommen.   »Ein ganz schöner Brummer«, bemerkte Jones. »Dabei hielt ich dich schon für groß.«   »Ich bin groß, er ist ein Riese. Kennst du ihn?«   »Nein.« Jones widmete sich wieder seinem Bier.   Der Riese, der einen Trainingsanzug und eine lange Lederjacke darüber trug, schritt zum Tresen und bestellte mit donnernder Stimme Wodka. Nachdem er das Glas hinuntergestürzt hatte, verlangte er ein Bier.   Snows Ausbildung kam zum Tragen, während er seinen Blick an der Theke entlang schweifen ließ. Die anderen Gäste – es mochten ungefähr zehn sein – mieden es, dem Neuankömmling in die Augen zu sehen, vor allem die Frauen an dem Tisch, die Michael beobachtet hatte. Zwei von ihnen rückten dezent ihre Stühle herum. Der Mann war gefährlich, bekanntermaßen, wie die Reaktionen aus seinem Umfeld belegten.   »Noch eins?«, fragte Jones.   »Was für eine Frage.« Snow zwinkerte.  »Pani!« Michael gebrauchte das ukrainische Wort für »Miss«, das sich auch als »Kellnerin« verstehen ließ. »Zwei Bier, bitte.«  Der Riese drehte sich um, lehnte sich gegen die Theke, wandte ihnen seinen dicken Kopf zu und starrte die beiden an.   Snow verspürte unwillkürliche Anspannung. »Dieser Wlad, wo steckt er eigentlich?«   »Wahrscheinlich am Empfang, das ist ein Familienbetrieb. Das Hotel gehört seinem Dad. Wlad hat nur die Kneipe übernommen, während seine zwei Schwestern hier und dort arbeiten. Das am Tresen ist Swetlana.«   »Du hast doch behauptet, ihn nicht zu kennen.«   Jones kicherte. »Nicht der grobe Klotz, sondern die Bedienung.«   »Hier.« Swetlana brachte das Bier. Sie schien nicht mehr gut gelaunt zu sein und zog sich schnell zum Ausschank zurück.   Jones nahm einen kräftigen Schluck, bevor er aufstand. »Sorry, ich muss aufs Klo, meine Blase ist nicht mehr so aufnahmefähig.«   Der Riese glotzte weiter, bis sich ein weiterer Mann im Lokal einfand. Er trug Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit dem weinroten Schriftzug ›Café Bar Standard‹. Als er den großen Kerl sah, hielt er kurz inne und ging erst dann zum Tresen. Snow beobachtete, wie der Neuankömmling anfing, Gläser zu polieren, während der Riese zu ihm sprach.   »Ho-kay, Wlad!«, rief Jones eine Minute später, als er von der Toilette kam.   Der Lokalbesitzer hielt das Putztuch hoch, schwieg aber, und der Riese fixierte nun Jones.   Dieser setzte sich wieder und stutzte wegen Snows Gesichtsausdruck. »Was ist?«   »Ich glaube, der Kleiderschrank bedeutet Ärger, Michael.«   »Wie, der? Ist doch nur irgendein Typ, der was trinken will. Du bist zu lange weg gewesen.« Jones nahm ein geschlossenes Päckchen ukrainischer Zigaretten aus seiner Jackentasche und machte sich an der Plastikfolie zu schaffen.   »Vielleicht.«   Plötzlich klirrte Glas am Tresen. Der Riese streckte einen Zeigefinger nach Wlad aus.   »Scheiße.« Snow stand seufzend auf. Er hatte bei seiner Arbeit genügend Ärger erlebt, um zu begreifen, was geschah. »Michael, bleib auf deinem Platz.«   »Was?« Jones schaute von seinen Kippen auf. »Oh, verstehe.«   Snow stellte sein leeres Glas auf die Theke. Swetlana säuberte den Boden mit Besen und Kehrschaufel, während Wlad reglos dastand wie ein Reh im Scheinwerferlicht. »Noch zwei Bier, bitte, und …« Snow betrachtete die Züge des Riesen. »… was Sie wollen.«   Falten zeichneten sich an der breiten Stirn des Riesen ab. »Wodka.«   Wlad schaute zwischen den beiden hin und her, während er das Bier zapfte, und schenkte dann einen Wodka ein.   »Zwei davon.« Der imposante Kerl packte ein Handgelenk des Inhabers und schaute Snow düster an. »Der andere ist für dich, es sei denn, du willst nicht mit Victor trinken.«   »Doch, wäre mir eine Ehre, Victor«, versicherte Snow.   Mit zitternder Hand stellte Wlad die Gläser auf die Theke, bevor er sich verzog. Als Victor seinen Wodka anhob, tat es ihm Snow gleich. Die beiden hielten einen Moment lang inne, ehe sie den Alkohol in ihren Rachen kippten. Victor achtete darauf, wie sein Gegenüber das starke Destillat vertrug, doch Snow ließ sich nichts anmerken.   »Wer ist dein Ausländerfreund?«   Snow zog die Schultern hoch. »Ein Englischlehrer.«   »Ich wollte schon immer Englisch lernen.« Victor zog eine sonderbare Grimasse. »Um den Ausländern zu sagen, dass Sie sich aus meiner Heimat verpissen sollen.«   »Ein berechtigter Grund«, entgegnete Snow.   »Ich hab die Schnauze voll von dem ganzen Westpack in Kiew! Diese Leute spielen sich auf, als würde die Stadt ihnen gehören, und schmeißen mit ihrer Kohle um sich, während unsere Männer im Osten ohne Klamotten oder Waffen im Kampf für die Ukraine draufgehen – und was tun die Ausländer, um unserem Land zu helfen? Sie rufen den russischen Präsidenten an und sagen ihm, dass er aufhören soll!« Victor fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht, bevor er sie auf den Tresen legte. »Noch einen!«   Snow wusste, dass der Mann recht hatte, aber was sollte er dazu sagen? Er nickte lediglich Wlad zu, der die Gläser rasch wieder füllte.   Daraufhin hob der Riese zu einem Trinkspruch an: »Auf die Ukraine.«   »Auf die Ukraine«, wiederholte Snow.   Victor warf seinen Kopf herum. »ich komme aus Kamjanka, einem Städtchen südlich von Donezk. Die DNP hat es verwüstet – und wieso konnte die ukrainische Armee es nicht verteidigen? Weil sie nicht das nötige Rüstzeug hatte! Verstehst du das?«   Snow blieb still. Victor konnte jeden Augenblick ausrasten.