TOTAL FALLOUT - Alex Shaw - E-Book

TOTAL FALLOUT E-Book

Alex Shaw

0,0

Beschreibung

Sein schlimmster Feind ist zurück. Sein schlimmster Albtraum beginnt. Und es könnte seine letzte Chance auf Rache werden … Der ehemalige SAS-Agent Jake Tate ist gerade in einer Geheimmission des MI6 unterwegs, als der Mann, der seine Eltern tötete, aus der Versenkung auftaucht. Um den tödlichsten Auftragsmörder der Welt zu fassen, begibt sich Tate auf eine Verfolgungsjagd, die ihn von Monaco und Qatar bis in die Vereinigten Staaten führt. Doch auch der Auftragsmörder ist auf der Jagd. Mitglieder seiner ehemaligen Einheit sind womöglich in den Besitz einer neuen Waffe gelangt, welche die gesamte Zivilisation vernichten könnte. Schnell verschwimmen die Grenzen zwischen Freund und Feind, zwischen Gut und Böse, und Tate muss alle Regeln brechen, um seine Familie zu rächen und die Welt zu retten … ★★★★★ »Suchen Sie nach etwas mit halsbrecherischem Tempo und einem gnadenlosen Helden? Dann sind Sie bei Alex Shaw richtig.« – James Swallow ★★★★★ »Jack Tate ist ein eindrucksvoller Charakter, ein echter britischer Held. Der kraftvolle Auftakt einer neuen Reihe.« – Alan McDermott ★★★★★ »Alex Shaw ist ein Meister des Actionthriller-Genres. Er hat mich von der ersten Seite an gepackt und nicht mehr losgelassen.« – Michael Ridpath

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 481

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Total Fallout

Ein Jake Tate Thriller

Alex Shaw

Originally published in the English language by HarperCollins Publishers Ltd. under the title TOTAL FALLOUT Copyright © Alex Shaw 2021

Translation © LUZIFER-VERLAG 2023, translated under licence from HarperCollins Publishers Ltd.

Alex Shaw asserts the moral right to be acknowledged as the author of this work.

Impressum

Deutsche Erstausgabe Originaltitel: TOTAL FALLOUT Copyright Gesamtausgabe © 2023 LUZIFER Verlag Cyprus Ltd. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Wolfgang Schroeder

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2023) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-781-5

Sie lesen gern spannende Bücher? Dann folgen Sie dem LUZIFER Verlag aufFacebook | Twitter | Pinterest

Sollte es trotz sorgfältiger Erstellung bei diesem E-Book ein technisches Problem auf Ihrem Lesegerät geben, so freuen wir uns, wenn Sie uns dies per Mail an [email protected] melden und das Problem kurz schildern. Wir kümmern uns selbstverständlich umgehend um Ihr Anliegen.

Der LUZIFER Verlag verzichtet auf hartes DRM. Wir arbeiten mit einer modernen Wasserzeichen-Markierung in unseren digitalen Produkten, welche Ihnen keine technischen Hürden aufbürdet und ein bestmögliches Leseerlebnis erlaubt. Das illegale Kopieren dieses E-Books ist nicht erlaubt. Zuwiderhandlungen werden mithilfe der digitalen Signatur strafrechtlich verfolgt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

Inhaltsverzeichnis

Total Fallout
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Epilog
Danksagung
Über den Autor

Prolog

Ein Jahr zuvor Riyadh, Königreich Saudi-Arabien

Außerhalb der hohen Marmormauern war die Wüste flach und ohne besondere Merkmale.

Eine sorgfältig gepflegte Zufahrtsstraße, die in der Hitze flimmerte, verschwand in der Ferne. Innerhalb der Mauern leuchtete saftig grünes Gras in der Wüstensonne, Alleebäume und Blumen säumten die gewundenen Wege. Im Herzen der Anlage lag das Haupthaus, eine dreistöckige moderne Interpretation eines arabischen Palastes. Chen Yan gefiel das Gebäude nicht.

Würdevoll saß sie auf der Terrasse, trug einen langen, goldenen Rock und nippte an einem schwarzen Tee. Neben ihr saß Kirill Vetrov, er hatte einen hellen Geschäftsanzug an und schien von der brütenden Hitze völlig unbeeindruckt zu sein. Ihnen gegenüber saß an einem Tisch, der mit frischem Obst dekoriert war, der Mann, den sie treffen wollten, zusammen mit seinem Neffen.

»Maksim und ich kennen uns schon seit vielen Jahren«, sagte ihr Gastgeber mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, »und wir haben unsere Geschäfte immer von Angesicht zu Angesicht abgewickelt.«

Auch Chen lächelte. Männer waren überall auf der Welt gleich. Sie erwarteten, gelobt, verehrt, gebraucht und verführt zu werden. »Maksim bittet aufrichtig um Verzeihung. Wäre er nicht erkrankt, dann wäre er jetzt hier, denn er schätzt die Freundschaft zu Ihnen sehr. Das ist auch der Grund, warum ich als seine Geschäftspartnerin hier im Namen von Blackline sitze, um unseren Vorschlag mit Ihnen zu besprechen. Was ich Ihnen nun mitteilen werde, wurde und wird keinem anderen Kunden angeboten.«

Der Scheich nickte kurz als Zeichen dafür, dass sie fortfahren könne.

»Die Situation mit Ihrem Nachbarn liegt Ihnen offensichtlich sehr am Herzen. Nicht nur, dass sich ein Familienmitglied von Ihnen abgewandt hat, es umarmt auch noch einen gemeinsamen Feind …« Der Scheich kniff leicht die Augen zusammen. Yan fuhr fort. »Ihr Nachbar hat sich über seinen Stand erhoben. Seine Beziehungen zu den Persern sind eine Bedrohung für die Sicherheit und die Moral der gesamten arabischen Bruderschaft.«

»Für eine Ausländerin sind Sie hervorragend informiert, Madame«, sagte der Scheich und griff nach einem Stück Birne, um, wie Yan vermutete, seine Verärgerung zu verbergen.

Ab jetzt wurde es kritisch, und genau aus diesem Grund saß Vetrov neben ihr, sowohl als ihr persönlicher Leibwächter als auch als der Hauptakteur dessen, was sie gleich enthüllen würde. »Ich habe gehört, dass gewisse Maßnahmen ergriffen wurden, um den eigenwilligen Herrscher Ihres Nachbarstaates in Schach zu halten, doch ich möchte Ihnen gern an einem Beispiel demonstrieren, welche Hilfe wir Ihnen anbieten können, um Ihren Gegner tatsächlich in die Schranken zu weisen.«

Sein Lächeln kehrte zurück und der Scheich breitete seine Handflächen aus. »Auf jeden Fall.«

Vetrov öffnete seinen Aktenkoffer, holte ein iPad Pro heraus und reichte es Yan. Sie rief ein Video auf.

»Drücken Sie einfach auf das Play-Symbol.« Der Scheich schnippte mit den Fingern und Salman Al Nayef, der etwas hinter seinem Onkel gesessen hatte, trat neben ihn und nahm das Gerät entgegen. Al Nayef hielt es dem älteren Fürsten unter die Nase, der eine randlose Lesebrille aus einer Tasche seines Gewandes zog und mit dem Finger auf das Display des Tablets tippte.

Das Gesicht des älteren Mannes nahm einen verblüfften Ausdruck an, als er das Filmmaterial betrachtete. »Dieses Video kenne ich bereits. Ich habe gehört, dass es Jahre nach dem Bombenanschlag auf einem Handy gefunden wurde und sich vor einer Woche weltweit über alle Medien verbreitet hat. Es ist traurig, dass eine einst so großartige Stadt zur Zielscheibe wurde, aber ich bin dankbar, dass der erhabene Märtyrer dem unmoralischen Leben so vieler Ungläubiger ein Ende gesetzt hat.«

Yan nickte. »Er war in der Tat ein erhabener Märtyrer, und jetzt weilt er in Frieden im Paradies.«

Der Scheich griff nach einer weiteren Frucht.

»Wären Sie so freundlich, nach links zu wischen und dann auf Start zu drücken? Und bitte konzentrieren Sie sich auf die andere Person in der Aufnahme, die, die nicht in die Luft fliegt.«

Al Nayef rief das zweite Video auf und drückte auf Play. Der ältere Saudi blinzelte trotz seiner Brille und beugte sich vor.

»Sind Sie das, den ich hier sehe, Mr. Vetrov?«

»Ja, Eure Hoheit«, antwortete Vetrov mit emotionsloser Stimme. »Sie sind einer der wenigen Menschen auf der Welt, die das Originalmaterial zu sehen bekommen.«

»Das Original?«

»Eure Hoheit«, übernahm Yan nun wieder, »dieses neue Material, das um die Welt ging und das die britischen Behörden jetzt benutzen, um den zweiten Bombenleger zu jagen, ist eine Fälschung. Es wurde manipuliert.«

Der Scheich sah zu Al Nayef hoch. »Spiel es noch einmal ab.«

Ein dünnes Lächeln erschien auf Yans Lippen, als sie sich das Video erneut ansahen.

Der alte Mann blickte auf. »Die beiden Videos sind absolut identisch, bis auf das Gesicht des Mannes.«

»Das ist richtig. Wir haben mit unserer einzigartigen Technologie alle Spuren von Mr. Vetrov beseitigt und sein Gesicht durch das eines abtrünnigen Agenten ersetzt, der, sobald er identifiziert ist, im Mittelpunkt der britischen Ermittlungen zu dem Bombenanschlag stehen wird.«

»Onkel«, sagte Al Nayef, »darf ich eine Frage stellen?«

»Du darfst.«

»Mrs. Yan, wie kommt es, dass Ihre Technologie so fortschrittlich ist, dass sie noch nicht entlarvt wurde?«

Yan fühlte sich durch seine Frage ermutigt, denn sie vermutete, dass der ältere Adlige die Komplexität und Raffinesse dieser Technologie nicht vollständig verstand. »Das ist die entscheidende Frage, Eure Hoheit, und sie lässt sich mit einer ganz simplen Aussage beantworten. Wir sind die einzigen Menschen auf der Welt, denen das gelungen ist.«

Al Nayef fuhr fort: »Das ist ein Verfahren und eine Technologie, die Sie entwickelt haben?«

»Ja, das ist richtig. Wir schätzen, dass es mindestens fünf Jahre dauern wird, bis irgendjemand anderes etwas entwickelt, das auch nur annähernd damit konkurrieren kann, und bis dahin werden wir bereits zwei Generationen weiter sein.«

»Ein mächtiges Werkzeug.«

»Neffe, das ist kein Werkzeug«, sagte der ältere Saudi, nachdem er plötzlich verstanden hatte, »das ist eine Waffe.«

Chen nickte und antwortete: »So ist es, Eure Königliche Hoheit.«

Kapitel 1

Port Hercule, Monaco

Jack Tates Haare waren lang, sein Bart auch, und beides juckte.

Eine große Sonnenbrille und ein dunkles Basecap verdeckten sein Gesicht. Bart, Sonnenbrille und die Mütze vermittelten den Eindruck von jemandem, der versucht, nicht erkannt zu werden, was im Widerspruch zu seinem grellen Hawaiihemd, der roten Hose und den grünen Adidas-Turnschuhen stand. Tate versuchte nicht, hip zu sein, sondern wie jemand anderes auszusehen – wie Egor Blok –, ein russischer Attentäter, der an einem geheimen Ort in Osteuropa festgehalten wurde. Blok hatte einen lausigen Modegeschmack, wofür er in der Szene ebenso bekannt war wie für seine in letzter Zeit rapide angestiegenen Spielschulden. Tate wusste nur, dass er sich dämlich vorkam, aber hier in Monaco passten selbst die am schrillsten gekleideten Typen in die prunkvolle, glamouröse Inszenierung des Fürstentums. Tate kratzte sich am Hals. Die Mittelmeersonne brachte ihn zum Schwitzen.

In Monaco waren nur die Reichen wichtig, und für die Reichen zählten nur die Superreichen wirklich. Tate hatte es auf einen dieser Superreichen abgesehen. Für diese Leute war er unsichtbar und deshalb konnte er sich auch direkt vor ihren Augen auf einem Boot verstecken. Tate mochte das Wasser und er mochte Boote, auch wenn er nicht viel davon verstand. Das Boot, auf dem er sich versteckte, war eine Tullio Abbate Soleil 35'. Was bedeutete, dass es auf der Tullio Abbate Schiffswerft gebaut worden war und eine Länge von 35 Fuß hatte, aber das wusste er auch nur, weil er die Verkaufsanzeige gelesen hatte. Als Blok verkleidet, aber mit einem anderen russischen Pass, hatte er das Boot eine Woche zuvor in Italien gekauft. Mit seiner maskulinen Linienführung und einer Höchstgeschwindigkeit von fünfunddreißig Knoten würde es in den meisten Jachthäfen der Welt auffallen. In Monaco war es nur ein Spielzeug.

Tate nippte an seinem Wasser, Champagner konnte er sich bei einem Einsatz nicht erlauben, während er die Parade der reichen Einwohner und der faszinierten Touristen beobachtete, die auf der Promenade auf und ab gingen. Zu seiner Rechten erstreckte sich Port Hercule weit in die Bucht hinein. Motorboote, viele größer als sein eigenes, und kleinere Jachten machten Platz für Superjachten, die am Ende der schwimmenden Stege sanft im glitzernden Wasser des Mittelmeers schaukelten. Weiter draußen lagen Schiffe vor Anker, die zu groß waren, um in den Hafen einzulaufen. Das waren die Megajachten der wirklich Reichen. Zwischen den Schiffen transportierten glänzende Holzboote Gäste zu den Anlegestellen und wieder zurück.

Manche, so vermutete Tate, hielten das Fürstentum für den Gipfel der Kultiviertheit, aber das war nicht sein Ding. Er wäre jetzt viel lieber irgendwo im Gebirge. Stattdessen war er Teamleiter einer vierköpfigen E-Squadron-Einheit. Ein Mitglied seines Teams befand sich mit Tauchausrüstung auf einer kleinen Barkasse draußen in der Bucht, ein weiteres wartete in einem Kleinbus jenseits der französischen Grenze und das letzte Teammitglied bewachte das Safe House in Nizza.

Tates Mission war streng geheim, denn die Existenz der E-Squadron war ein offizielles Staatsgeheimnis. Unter der Führung des Secret Intelligence Service wurde sie für Ad-Hoc-Einsätze aus Mitgliedern des Special Air Service, des Special Boat Service und der Special Reconnaissance Regiments der britischen Armee gebildet. Nur Tate war ein Sonderfall. Aufgrund einer Initiative des SIS war er vom SAS versetzt und zum einzigen ständigen Mitglied der E-Squadron ernannt worden. Zwei Jahre später war er noch immer am Leben und trat Türen ein, was ihn entspannte.

Tate nippte an seinem Wasser und behielt sein Ziel im Auge, oder zumindest das Boot seines Zielobjekts. Doch seine Augen waren nicht die einzigen, die den Jachthafen im Blick behielten. Mit einer Polizeistärke von etwa einem Polizisten auf hundert Einwohner und einem Videoüberwachungssystem, das zu den umfassendsten der Welt gehörte, war Monaco trotzdem ein befreundetes Land. Allerdings stammte das Zielobjekt auch aus einer befreundeten Nation, und der Angriff würde beide Staaten verärgern. Wie würde der Onkel der Zielperson wohl reagieren, wenn er herausfände, dass sein Neffe und Adjutant von einem exzentrischen russischen Killer ermordet worden war? Und das zusätzlich zum Verlust der sechzehn Millionen Euro in Diamanten, die er transportiert hatte.

Aufgrund des geheimen Charakters der Operation entschied sich Tate, keine Standard-Kommunikationsgeräte zu verwenden, die bei einer Entdeckung möglicherweise die Beteiligung eines bestimmten Staates verraten könnten. Stattdessen wurde jeder Mann mit einem Bluetooth-Ohrhörer und einem einfachen Prepaid-Handy ausgestattet, auf dem WhatsApp wegen seiner Ende-zu-Ende-Verschlüsselung installiert war, sowie ein VPN für zusätzliche Sicherheit.

Auf dem Weg zu seinem Steuerrad drückte Tate einen Knopf an seinem Ohrhörer und stellte eine Verbindung zu Chris Salter, dem SBS-Kommandanten in der Barkasse, her. Er sprach mit russischem Akzent, seine Worte waren vage genug, um seine Absicht und seine wahre Nationalität zu verschleiern, falls er belauscht wurde. »Hast du unseren Freund schon gesehen?«

»Ich habe ihn im Blick. Er ist an Deck, ganz nach Plan. Sie bereiten sich darauf vor, an Land zu gehen. Ich zähle fünf. Die Zielperson, zwei Bodyguards und zwei Besatzungsmitglieder. Die Zielperson trägt eine cremefarbene Hose und ein marineblaues Hemd. Sie lassen das Beiboot herunter.«

»Verstanden«, bestätigte Tate. Er drehte den Zündschlüssel um und startete die beiden Volvo Penta D4/300 Motoren der Soleil 35. Tate löste die Bug- und Heckleine und drückte den Gashebel nach vorn. In einer kleinen Wolke aus Dieselabgasen entfernte er sich von der Anlegestelle und begann, in die Bucht hinauszufahren.

»Das Beiboot ist im Wasser«, sagte Salter über die offene Leitung. »Bereithalten, bereithalten. Sie sind im Beiboot. Sie bewegen sich …«

Tate nahm seine Oakley-Sonnenbrille ab und hielt sich ein Fernglas vor die Augen. Er konzentrierte sich auf das Beiboot der Megajacht. Ein Besatzungsmitglied stand am Steuer, während das andere dafür sorgte, dass die Passagiere sitzen blieben. Erleichtert stellte Tate fest, dass keiner von ihnen eine Rettungsweste trug. Tate stellte sein Fernglas schärfer und sah gerade noch, wie sich Salter rückwärts von seiner Barkasse ins Meer fallen ließ. Er war bereit.

Während er den Hafen verließ, drückte Tate den Gashebel stärker durch und der Bug der Soleil 35' richtete sich auf. Er bückte sich und zog einen schwarzen Seesack unter dem Tisch im Sitzbereich hervor. Der Sack war offen, Tate nahm vorsichtig ein kurzläufiges H&K G36c-Sturmgewehr heraus und hielt es unterhalb der Reling bereit. Während er aus dem Hafen in die Bucht fuhr, rollte sein Boot kurz in den Wellen, und Tate trat unwillkürlich einen Schritt zur Seite. Vor sich entdeckte er das Beiboot, das sanft neben dem riesigen Heck der Megajacht schaukelte.

Tate hatte den Einsatz geprobt und den Plan verfeinert, und jedes Mitglied der E-Squadron wusste genau, was es zu tun hatte. Als sich das Beiboot von der Megajacht der Saudis entfernte, näherte sich Tate dem Boot auf einem parallelen Kurs – er war immer noch keine Bedrohung, nur ein Spielzeug, das einen Ausflug machte. Der Abstand zwischen den beiden Fahrzeugen verringerte sich und Tate konnte nun die Gesichtsausdrücke der einzelnen Männer an Bord erkennen. Die beiden Besatzungsmitglieder in ihren weißen Polohemden wirkten professionell entspannt, die zwei Leibwächter in ihren eng anliegenden Anzügen dagegen sahen so aus, als wäre ihnen heiß und als ob sie sich unwohl fühlen würden, und das Zielobjekt hatte jetzt den Kopf gedreht und sah ihn direkt an.

Tate wartete bis zum letztmöglichen Moment, bevor er die Soleil 35' direkt in den Kurs des entgegenkommenden Beibootes steuerte und dann abrupt den Rückwärtsgang einlegte. Das war das nautische Äquivalent einer Vollbremsung, und Tates Boot lag nun quer zum Beiboot. Er stellte den Gashebel wieder auf Leerlauf.

Das Beiboot begann sich zu drehen und wich aus, doch Tate schwenkte sein H&K nach oben und feuerte mit 5,56 mm Geschossen auf den Bug. Das Besatzungsmitglied am Steuer duckte sich, aber einer der beiden Leibwächter sprang jetzt auf und hielt seine Pistole in der Hand. Tate fluchte, als die letzten beiden Kugeln aus seinem Magazin den Bodyguard trafen und ihn zurück in den Sitz katapultierten. Tate wechselte das Magazin und nahm sein Ziel, den Saudi, ins Visier. Der verbliebene Leibwächter versuchte, das Mitglied der königlichen Familie abzuschirmen, doch der Saudi stieß ihn zur Seite und sprang auf, als sei er empört und verlange eine Erklärung. Die linke Hand des Saudis hielt den Griff eines Attachékoffers, der an sein Handgelenk gekettet war, aber seine rechte Hand hatte er zur Faust geballt, die er jetzt schüttelte. Tate feuerte eine Salve Schüsse auf den Saudi ab. Die Zielperson schrie auf, stolperte nach links, kippte über die Backbordseite des Beibootes und stürzte ins Mittelmeer.

»Suka! Chort!«, brüllte Tate wütend auf Russisch, während er dabei zusah, wie der Mann und der Aktenkoffer unter der Wasseroberfläche verschwanden. Mit der linken Hand drückte er den Gashebel voll durch. Die Soleil 35' bäumte sich auf und entfernte sich vom Beiboot. Tate drehte sich um und schoss mit dem Gewehr in der rechten Hand über dem Heck des Beibootes in die Luft, damit die Insassen ihre Köpfe unten hielten.

Jetzt musste er sich auf seinen eigenen Rückzug konzentrieren. Er fuhr an Salters verlassener Barkasse vorbei und nahm Kurs in Richtung Südwesten, wobei das Boot bei dieser Geschwindigkeit rhythmisch schaukelte, wenn die Wellen dagegen schlugen. Er musste so viel Abstand wie möglich zwischen sich und die Zielperson bringen. Der gesamte Angriff war wie erwartet zügig verlaufen, und Tate war bei seiner Planung davon ausgegangen, dass die örtlichen Behörden nicht schnell genug reagieren würden.

Doch er hatte sich geirrt.

Hinter ihm ertönte eine Sirene, und als Tate den Kopf wandte, entdeckte er ein Patrouillenboot der Monaco Marine and Airport Police Division, das um das Heck der saudischen Megajacht herumfuhr und ihn verfolgte. Tate fluchte erneut, diesmal auf Englisch. Er hatte keine Ahnung, woher das Boot gekommen war, aber er wusste, dass er es dazu bringen musste, sich auf ihn zu konzentrieren. Tate tippte gegen seinen Ohrhörer, in der vergeblichen Hoffnung, mit Salter sprechen zu können, doch als er keine Antwort bekam, bestätigte sich, was er bereits geahnt hatte: Der SBS-Mann war immer noch unter der Wasseroberfläche. Er musste Salter die nötige Zeit verschaffen, die er brauchte, um zu seinem Boot zurückkehren und seine Ladung in Sicherheit bringen zu können. Die Ladung war der wichtigste Teil der Mission, selbst Tate war entbehrlich.

Tate konnte dem Patrouillenboot entkommen, aber ähnlich wie bei einer Verfolgungsjagd war das, was möglicherweise weiter unten auf der Straße auf ihn lauerte, das Beunruhigende. Er wog seine Möglichkeiten ab. Wenn es sein musste, würde er mit den Handgranaten in seiner Tasche die Soleil versenken und dann an Land schwimmen – aber er wollte nicht riskieren, wie eine ertrinkende Ratte gejagt zu werden. Tate ließ das Patrouillenboot näher kommen, dann drosselte er die Motoren und kam fast zum Stillstand, bevor er in seine Tasche griff und mit dem rechten Arm gestikulierte, um seine Frustration über die Motoren zu zeigen. Doch die Motoren liefen die ganze Zeit weiter und sein H&K lag schussbereit auf dem Sitz neben ihm.

Das größere Schiff näherte sich mit einer hohen Bugwelle. Er konnte einen Mann am Steuer erkennen und zwei weitere, die ihre automatischen Waffen schussbereit vor der Brust hielten. Die Armee von Monaco war zwar nach der von Antigua und Barbuda und der von Island die drittkleinste der Welt, aber das bedeutete nicht, dass die Männer und Frauen der Polizei, die alle zusammen trainierten, nicht auch gut ausgebildet waren. Trotzdem vermutete Tate, dass dies die größte Aufregung seit Jahren war, und er traute ihren Fingern am Abzug nicht. Ein Lautsprecher schrie ihm Befehle in abgehacktem Französisch entgegen: »Sofort den Motor abstellen! Hände über den Kopf!«

Tate lief die Zeit davon. Er führte beide Hände über dem Kopf zusammen, dann reichte er das, was er in der linken Hand hielt, in die rechte und zog den Stift heraus. Er zählte, eins … zwei … und schleuderte die Handgranate dem Bug des sich nähernden Patrouillenbootes entgegen.

Wie er es berechnet hatte, reagierte die Besatzung zu langsam, die Granate explodierte drei Meter vor dem Boot und überschüttete den Bug mit Splittern. Unmittelbar nach der Explosion riss er sein Gewehr hoch und feuerte mehrere Salven auf das Schiff.

Tate wandte sich um, griff nach dem Steuer und gab Vollgas. Der Bug der Soleil 35' hob sich aus dem Wasser, während sie vorwärtsraste. Gleichzeitig drehte das Patrouillenboot nach Backbord ab.

Die beiden Schiffe schossen voneinander weg, als würde Poseidon selbst sie trennen. Es gab einen Moment der Stille, einen Moment, in dem die Polizisten nicht reagierten, dann ertönte ein Trommelfeuer. Tate duckte sich, weil er wusste, dass ihn bereits ein Glückstreffer erledigen konnte, aber auch, dass die Schüsse eher abgegeben wurden, um das Gesicht zu wahren, und weniger in der Hoffnung, das schnell flüchtende Ziel aufzuhalten. Tate richtete den Blick nach vorn, während er in gerader Linie parallel zur Küste entlangraste. Bei maximaler Geschwindigkeit hatte er das Patrouillenboot innerhalb einer Minute abgehängt, eine Minute später hatte er das Territorium von Monaco verlassen und befand sich vor der französischen Küste.

Er passierte Cap d'Ail und steuerte direkt auf den Jachthafen von Beaulieu-sur-Mer zu. Im Westen wechselten sich an der Küste zerklüftete Klippen und Sandstrände ab. Mit Ausnahme eines hochgezüchteten Motorrads, das sich auf der hügeligen, kurvenreichen Küstenstraße durch den Verkehr schlängeln könnte, würde die Soleil 35' auf dem Weg zu ihrem Ziel jedes Landfahrzeug, einschließlich die der Polizei, überholen. Tate hoffte nur, dass dort nicht schon ein Empfangskomitee auf ihn wartete.

Über dem Dröhnen der Motoren und dem rhythmischen Schlagen der Wellen gegen den Rumpf hinweg, hörte Tate jetzt ein anderes pulsierendes Geräusch, eines, das er lieber nicht hören wollte. Er hatte Gesellschaft, ungebetene Gesellschaft.

Tate blickte hinter sich und studierte den Himmel. Ein Farbklecks, der aus der Richtung von Monaco kam. Ein Hubschrauber war ihm dicht auf den Fersen. Tate konnte noch nicht erkennen, um was für einen Typ es sich handelte, aber es war ihm nicht fremd, sich entweder aus einem abzuseilen oder von einem gejagt zu werden. Er erinnerte sich daran, wie er vor einem Jahr in den USA von einem Spetsnaz-Team in einem modifizierten GlobalRanger vom Himmel geholt worden war. Tate schob ein neues Magazin in das H&K, aber es würde nicht einfach werden, sich von einem schwankenden Boot aus gegen einen herabschießenden Hubschrauber zu verteidigen. Das Feuer so weit wie möglich streuen und beten war das Gebot der Stunde, denn er wollte und konnte nicht noch mehr Zeit damit verschwenden, dass er das Tempo drosselte, um besser treffen zu können. Er hoffte nur, dass der Pilot, falls es zum Kampf kommen sollte, mehr Angst davor haben würde, sein Leben zu verlieren, als davor, sein Ziel zu verlieren.

Tate hielt das kurze Sturmgewehr an sein rechtes Bein gepresst, um es so gut wie möglich zu verbergen, und raste weiter. Der Hubschrauber bewegte sich ebenfalls schnell, er wurde größer, und dann entspannte sich Tate. Es war ein ziviler Eurocopter EC130, der auf Höhe der Klippen an seinem Boot vorbeiflog. Sein Smartphone klingelte.

»Ich habe das Paket«, verkündete Salter über das Rauschen der Wellen hinweg.

»Wir haben Gesellschaft. Ein monegassisches Patrouillenboot.«

»Schon gesehen. Ich mache weiter wie geplant.«

Tate beendete das Gespräch.

Als er begann, sich Beaulieu-sur-Mer zu nähern, drosselte er die Geschwindigkeit der Soleil 35'. Je schneller er fuhr, desto schneller könnte er zwar an Land gehen, aber eine langsamere Annäherung würde weniger Aufmerksamkeit bei den Franzosen erregen. Tate suchte die Küste mit dem Fernglas ab. Außer den üblichen Ausflugsbooten konnte er keine offiziell aussehenden Schiffe oder Beobachter am Ufer entdecken. Erst jetzt verstaute er das H&K wieder in den Seesack und verschloss ihn. Er schaltete sein Handy ein und rief den Fahrer des Teams an. »Wie sieht‘s aus?«

»Alles klar, Chef«, knurrte der SAS-Mann mit heftigem Glasgower Dialekt zurück.

»Polizei?«

»Keine.«

»Erwartete Ankunft in sieben Minuten.«

»Verstanden.«

Tate drosselte die beiden Volvo-Motoren weiter, als er dem Kanal in Richtung Jachthafen folgte. Im Gegensatz zu seinem Pendant in Monaco, das durch die Biegung der Bucht vor dem Meer geschützt war, lag vor dem Hafen und Yachtclub von Beaulieu-sur-Mer ein künstlicher Hafendamm. Tate blickte durch die getönten Gläser seiner Sonnenbrille in alle Richtungen, während er in den eigentlichen Jachthafen einfuhr. Dort wendete er sofort nach Steuerbord und fuhr an der auf einem Ponton installierten Total-Tankstelle vorbei zur ersten Liegeplatzreihe. Hier lagen die größten Schiffe, richtig schnelle Motorboote und Segeljachten.

Vier Liegeplätze weiter klaffte eine Lücke zwischen zwei imposanten Schiffen.

Tate schaute auf den Namen des größeren. Princess 72 stand an der Seite. Das andere Schiff war mit einer großen Plane verhüllt und sah aus, als hätte es sich schon eine ganze Weile nicht mehr bewegt. Beide überragten sein Boot und würden ihm gute Deckung bieten. Er fuhr die Soleil 35' langsam rückwärts an den Liegeplatz heran und stellte die Motoren ab. Tate machte sein Boot fest und ließ den Blick über den Jachthafen schweifen. An diesem Ende der Marina war es ruhig, und niemand schien ihn zu beobachten, aber das würde wahrscheinlich nicht lange so bleiben. Schnell suchte Tate das Innere seines Bootes nach ausgeworfenen Patronenhülsen ab. Er fand nur eine Handvoll, der Rest war offensichtlich ins Meer geschleudert worden, und ließ die Patronenhülsen in seinen Seesack fallen. Dann holte er eine Packung Desinfektionstücher heraus und begann alle Oberflächen abzuwischen. Nachdem er die benutzten Tücher in seinem Seesack verstaut hatte, hievte sich Tate den Sack über die Schulter und verließ die Soleil 35' zum letzten Mal, wobei er den Zündschlüssel als offene Einladung für alle Diebe stecken ließ. Falls das Boot gestohlen wurde, würde das die Sache noch komplizierter machen, und wenn nicht, würde die Polizei herausfinden, dass es von dem berüchtigten russischen Auftragskiller Egor Blok gekauft und benutzt worden war oder zumindest von jemandem, der ihm sehr ähnlich sah.

Ohne zu zögern, folgte er gemächlich dem umlaufenden Steg in Richtung Haupteingang. Vor ihm beleuchtete die Sonne die weißen Villen der Stadt, und dahinter erhoben sich bergige Hügel wie der gezackte Rücken einer uralten Bestie.

Tate erreichte den Hauptparkplatz in dem Moment, als ein blaugraumetallic lackierter Renault Trafic SpaceClass von der Küstenstraße her einbog. Ohne einen Blick in den Innenraum zu werfen, öffnete Tate die Schiebetür auf und stieg ein.

»Ist doch alles wie tot hier, oder?« Die Stimme von James Paddy Fox klang rau und kehlig, voller Glasgower Akzent und durchsetzt mit Sarkasmus. »Nichts und niemand zu sehen.«

Tate verdrehte die Augen, er hatte sich inzwischen an den mürrischen Humor des Glasgowers gewöhnt. »Irgendwelche Probleme?«

»Keine.«

Sie verließen den Jachthafen und bogen in das Einbahnstraßensystem ein, das sie aus der Stadt hinaus zum zweiten Treffpunkt führen würde. Beide Männer hatten sich die örtlichen Gegebenheiten eingeprägt und kannten die Straßen so gut wie jeder einheimische Taxifahrer.

Tate meldete sich wieder bei Salter. »Geschätzte Ankunftszeit?«

»Fünf Minuten«, meldete Salter über das Tosen der Wellen hinweg.

Im Innenraum des Renaults herrschte für die nächsten Minuten Stille. Der erfahrene SAS-Agent überprüfte immer wieder die Straße vor sich und behielt seine Spiegel im Blick, während Tate mit schussbereitem H&K an der Tür saß. Da sie in den engen Straßen hinter einem langsam fahrenden Bus feststeckten, kamen sie weniger schnell voran als geplant, und als Fox den Renault neben dem Rollerparkplatz mit Blick auf den Plage la Calanque anhielt, waren bereits acht Minuten vergangen. Tate hatte keine Lust, den Van zu verlassen und sich damit der Gefahr auszusetzen, erkannt zu werden, also blieb er im Wagen sitzen und starrte auf den Weg, der zum Strand hinunterführte. Eine weitere Minute verging und trotz der Klimaanlage spürte Tate Schweißperlen an den Schläfen. Gedankenverloren wischte er sich mit der linken Hand übers Gesicht. Autofahrer fuhren an ihnen vorbei, aber da das Fahrzeug, das sie sich ausgesucht hatten, sehr oft als Taxi genutzt wurde, nahm niemand Notiz von ihnen, obwohl sie im Halteverbot standen.

Und dann tat es doch jemand.

»Bullen«, sagte Fox.

»Ich sehe sie.«

»Die schauen verdammt noch mal wie Laurel und Hardy aus!«

Von links schlenderten zwei Polizisten auf sie zu. Der eine war klein und rundlich, während sein Partner eher schlaksig wirkte. Genau in diesem Moment bemerkte Tate eine Bewegung aus der entgegengesetzten Richtung, vom Strandweg her. Die breitschultrige Gestalt von Chris Salter tauchte auf. Er trug einen abgeschnittenen Taucheranzug, hielt eine schwarze Reisetasche in der Hand und führte einen hageren Mann in Richtung Straße. Tate beobachtete ungeduldig, wie sich die beiden Männer näherten. Die Straße war zu schmal, um mit dem Renault zu wenden, und sie konnten nicht rückwärts in den Gegenverkehr einfahren, nicht mit zwei Polizisten, die sie im Blick hatten. Die einzige Möglichkeit, die Tate sah, war, die Aufmerksamkeit der Polizisten vom Van auf sich zu lenken. Zum zweiten Mal an diesem Nachmittag wurde ihm bewusst, dass die Mission wichtiger war als er selbst.

»Planänderung«, sagte er. »Ich mache einen Spaziergang.«

Fox drehte sich mit einem fragenden Blick in seinem zerfurchten Gesicht um.

»Bist du sicher?«

»Es gibt keine andere Möglichkeit. Du fährst zum Safe House und wir treffen uns dort.«

Ohne sein H&K oder seine Tasche mitzunehmen, öffnete Tate die Schiebetür des Renault und stieg aus. Er würde sofort erkennen, ob jemand seine Beschreibung in Umlauf gebracht hatte. Aber selbst wenn die Polizisten ihn mit dem Anschlag in Monaco in Verbindung bringen würden, war das akzeptabel, wenn dadurch Salter und der Mann, den er begleitete, unbehelligt in den Wagen steigen konnten. Tate schloss die Tür hinter sich, und torkelte wie ein Betrunkener auf die Polizisten zu. Nach wenigen Schritten rutschte er vom Bordstein ab und stolperte auf die Straße. Ein entgegenkommender Wagen hupte. Tate schrie den Fahrer wütend auf Russisch an und zeigte ihm den Mittelfinger. Er trat zurück auf den Bürgersteig und tat dann so, als würde er die beiden Polizisten gerade erst registrieren.

»Guten Tag, meine Herren! Können Sie mir helfen? Ich bin auf der Suche nach einem aufregenden Ort zum Trinken!«, sagte Tate auf Englisch mit starkem russischem Akzent.

Die beiden Franzosen machten finstere Gesichter, voller Abscheu darüber, es mit einem streitlustigen, betrunkenen Ausländer zu tun zu haben, und nicht etwa aus Angst oder Besorgnis davor, einem gewalttätigen Verdächtigen gegenüberzustehen. So weit, so gut.

Der Polizist, der Tate am nächsten stand, der schlaksige, sprach ihn auf Französisch an.

Tate zuckte nur mit den Achseln.

Der zweite Polizist übernahm das Reden und wechselte ins Englische. »Zeigen Sie mir Ihren Ausweis.«

»Ausweis?« Tate runzelte die Stirn.

»Reisepass. Papiere. Dokumente.«

»Ah, ich verstehe.« Tate griff langsam mit der rechten Hand in die Gesäßtasche seiner Hose. Dabei drehte er den Kopf gerade so weit herum, dass er sehen konnte, wie sich die Tür auf der anderen Seite des Renaults öffnete und die beiden Männer einstiegen. Während der Van an ihnen vorbeifuhr, zog Tate lässig seine Brieftasche heraus. »Ich habe diese Papiere.«

Der zweite Polizist griff nach der Brieftasche und überprüfte den Inhalt. »Sie haben gleichzeitig gegen mehrere Gesetze verstoßen: Trunkenheit in der Öffentlichkeit, bei Rot über die Straße gehen und obszöne Gesten verwenden.«

»Habe ich das?« Tate zuckte unschuldig mit den Schultern. Vielleicht hatte er das, vielleicht sollte er aber auch nur ausgenommen werden. Auf jeden Fall verschaffte es dem Rest des Teams Zeit, die Flucht zu ergreifen.

»Ja, das haben Sie! Und jedes dieser Vergehen muss bestraft werden.«

Der Polizist hielt nun Tates Bargeld in der einen Hand und die lederne Brieftasche in der anderen.

Ein breites Lächeln erschien unter Tates Bart, und er nickte. »Das lässt sich doch sicher irgendwie finanziell regeln, oder? Könnte ich nicht, wie sagt man, die Strafe vor Ort bezahlen?«

Laurel sprach auf Französisch mit Hardy, der nickte und sich dann an Tate wandte. »Mein Kollege hat mich über die Strafe informiert, die für die genannten Vergehen verhängt wird. Sie haben hier genug Bargeld, um die Strafe zu bezahlen.«

»Das sind gute Neuigkeiten.«

»So ist es.« Hardy gab ihm die leere Brieftasche zurück.

Das Knistern einer Funkübertragung war zu hören. Laurel runzelte die Stirn. Er nahm sein Funkgerät in die linke Hand und sprach in das Gerät, sein Französisch war dabei erst langsam und wurde dann immer schneller. Die Augen des dickeren Polizisten weiteten sich. Ein Auto fuhr an ihnen vorbei, eine Möwe krächzte über ihnen, aber sonst war das einzige Geräusch die gedämpfte Stimme aus dem Funkgerät, die aus der Polizeizentrale kam. Tate schwankte leicht auf der Stelle. Als Laurel weiter zuhörte, verengten sich seine Augen zu Schlitzen und er trat einen Schritt vor, um den Abstand zwischen ihnen zu verringern. Seine rechte Hand wanderte zum Schlagstock. Er sagte etwas zu seinem Kollegen.

Während die linke Hand immer noch voller Geldscheine war, griff Hardy mit der rechten Hand ebenfalls nach seinem Schlagstock. Die Zeit zum Reden war vorbei. Die beiden Schlagstöcke verrieten, dass hier kein fairer Kampf beabsichtigt war, und tatsächlich würde er das auch nicht werden, denn Tate würde den Kampf mit Leichtigkeit gewinnen. Er musste sofort handeln und schnell sein, damit die beiden Polizisten, die plötzlich an ihre eigentliche Aufgabe erinnert worden waren, ohne viel Aufhebens zu Boden gingen. Tate musste sie hart treffen. Er warf dem ersten Polizisten die leere Brieftasche entgegen, machte einen Schritt zur Seite und rammte dem zweiten seinen Ellbogen ins Gesicht. Dann ließ Tate dem Ellbogen seine Faust folgen, und der Mann brach auf der Straße zusammen. Tate drehte sich auf der Stelle um und trat dem ersten Polizisten, der ihn immer noch ungläubig anstarrte, in den Unterleib. Ein Faustschlag gegen die Seite des Kopfes ließ ihn neben seinem Kollegen zu Boden gehen. Tate verpasste jedem der beiden noch einen Fußtritt, um sie am Aufstehen zu hindern, schnappte sich seine Brieftasche und das Geld und sprintete in die entgegengesetzte Richtung zu der, in die der Van gefahren war.

Während er rannte, sah er schockierte Gesichter und hörte den empörten Schrei eines Fußgängers, einige Autos hupten beim Vorbeifahren, aber niemand versuchte, ihn aufzuhalten oder ihn zu verfolgen. Ein älteres Ehepaar wich zur Seite aus und zuckte zusammen, als er an ihnen vorbeilief.

»Da hast du dir ja mal wieder einen schönen Schlamassel eingebrockt«, murmelte Tate vor sich hin, während er weiterrannte.

Er kannte die Straßenführung und hatte die Route mit Fox abgesprochen. Wenn der Renault nicht wieder Zeit im Einbahnstraßensystem verloren hatte, würde er inzwischen den Minikreisverkehr genommen haben und an den beiden Polizisten vorbei zurückgefahren sein. Tate lief die Straße hinauf, auf das lachsfarbene Royal Riviera Hotel an der Ecke zu. Hier war er außer Sichtweite der beiden Polizisten und all derer, die die Auseinandersetzung beobachtet hatten, also wechselte er in eine langsamere Gangart. Er zog sein Schlabbershirt aus, sodass das darunter getragene weiße Tank Top zum Vorschein kam, und knüllte das Shirt in seiner linken Hand zusammen.

Tate ging weiter die Avenue Jean Monnet entlang und hielt an der Auffahrt zum Hotel Delcloy an. Ein Taxi mit zwei Fahrgästen auf dem Rücksitz fuhr an ihm vorbei. Er erlaubte sich nun einen Blick zurück und entdeckte den Renault, der gerade um die Ecke bog. Tate ließ den Van passieren und ging weiter den Hügel hinauf. Sein Handy vibrierte in der Hosentasche.

»Letzte Chance für eine Mitfahrgelegenheit. Da vorne ist eine Kreuzung. Wir treffen uns dahinter auf der linken Seite«, schlug Fox vor.

»Negativ«, antwortete Tate. »Fahrt zum Safe House.«

»Aye.« Fox seufzte hörbar. »Verstanden.«

Tate beendete das Gespräch.

Er wusste, dass er sich noch nicht mit seinen Männern treffen konnte, denn solange der Van nicht mit ihm in Verbindung gebracht wurde, war das alles, was zählte. Es war zwar eine dumme Entscheidung gewesen, sich mit den beiden Polizisten anzulegen, aber es war der einzige Schachzug, der ihm eingefallen war, um sich zum alleinigen Ziel zu machen. Er blieb, wo er war, verborgen vor neugierigen Blicken aus dem vorbeifahrenden Verkehr, und wartete darauf, dass das Taxi wieder auftauchte. Tate hörte, wie Sirenen heulend den Hügel herunterkamen. Das nun leere Taxi fuhr auf ihn zu.

Tate winkte es heran und bat den Fahrer, ihn zum Hotel Negresco an der Promenade des Anglais in Nizza, zu fahren. Der Fahrer wollte sich zwar beschweren, aber ein Fünfzig-Euro-Schein änderte seine Meinung.

Tate setzte sich auf die Rückbank. Der Verkehr wurde dichter, als das Taxi durch das Zentrum von Villefranche-sur-Mer steuerte und dann in die Vororte von Nizza fuhr.

Vierzig Minuten später näherte sich Tate dem Safe House. Er verwischte seine Spuren, indem er das Hotel Negresco mehrmals durch verschiedene Türen betrat und wieder verließ, bevor er ein zweites Taxi nahm, das ihn zwei Straßen vom Safe House entfernt absetzte. Tate ging durch das große Tor und dann den Kiesweg hinauf, der zur Villa führte.

Die Außenwände des Gebäudes waren pastellgelb gestrichen, und die Villa war von kräftigem, grünem Rasen und Palmen umgeben.

Salter, der jetzt eine Jeans und ein dunkles T-Shirt trug, schloss hinter ihm das Tor. »Wir hatten wohl Lust auf einen kleinen Einkaufsbummel, was? Unser Gast ist zusammen mit Paddy im Wohnzimmer.«

»Danke.« Tate ging die Stufen zur Eingangstür hinauf. In der Villa war es ein paar Grad kühler, was zum Teil an den hohen Decken, den weißen Wänden und dem hellen Marmorboden lag. Tate durchquerte die geräumige Eingangshalle und betrat das Wohnzimmer. Der Raum war nur spärlich eingerichtet. Eine Gestalt saß an einem Tisch, eine zweite stand am anderen Ende des Raumes, eingerahmt von einem Fenster.

»Du lebst also noch?«, stellte Fox mit gespielter Überraschung fest.

Tate schloss die Tür und ging weiter in den Raum hinein. »Gerade noch.«

Der andere Mann stand jetzt auf und sah Tate an. Er war so groß wie Fox, aber viel schmaler und dreißig Jahre jünger. »Das ist also der Mann, der auf mich geschossen hat!«

»Das ist er«, antwortete Fox mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht. Der SAS-Veteran hatte zuletzt als Sicherheitsberater für mehrere Königshäuser im Nahen Osten gearbeitet, obwohl er eigentlich auf der Gehaltsliste des SIS stand. Es war Fox gewesen, der ihren Gast als SIS-Agenten rekrutiert und ihm vorgeschlagen hatte, überzulaufen, womit er Tates Mission ins Rollen gebracht hatte.

»Paddy, du hast persönlich für meine Sicherheit gebürgt.« Der Akzent des Mannes war Oxbridge, tatsächlich fand Tate, dass der Mann englischer klang als er selbst.

»Ohne deine Zusicherung hätte ich der ganzen Aktion nicht zugestimmt, aber erst dieser Mann hier hat mir die Flucht ermöglicht.«

Tate sah Seine Königliche Hoheit Salman bin Mohammad Al Nayef an, den Mann, den sie herausholen sollten. Den Mann, der den Deal gemacht hatte, detaillierte Informationen über die geschäftlichen und persönlichen Verbindungen seines Onkels zu einer mutmaßlichen neuen terroristischen Bedrohung preiszugeben. Al Nayef mochte ein Mitglied der erweiterten königlichen Familie Saudi-Arabiens sein, aber mehr als ein Sir würde er von Tate nicht zu hören bekommen. Das war etwas, an das sich der Mann ab jetzt gewöhnen musste. »Schön, dass Sie es in einem Stück hierher geschafft haben.«

Ein breites Lächeln erschien auf Al Nayefs Gesicht. »Haben Sie gesehen, wie ich aufgestanden bin und Ihnen die Faust entgegengeschüttelt habe?«

»Ja, das habe ich«, antwortete Tate.

»Das war etwas, was ich in einem Film gesehen habe. Ich dachte, in dem Moment wäre es das Richtige.«

Tate wollte ihn bei Laune halten. »Das war es auch. Sie sahen mutig aus.«

Al Nayef zuckte mit den Schultern und senkte, verlegen wie ein Teenager, den Kopf. »War ich überzeugend?«

»Absolut.«

»Ich habe das geprobt.«

Tate runzelte besorgt die Stirn. »Wo war das? Hat Sie jemand dabei beobachtet?«

»Nein. Niemand hat mich dabei gesehen. Ich war allein in meiner Kabine. Ich habe mir nur ein paar Hollywood-Actionfilme angesehen, um ihre Technik zu studieren.«

»Westentaschenkrieger sind die Gefährlichsten«, sagte Fox.

Tate verkniff sich ein Grinsen.

Al Nayef fuhr fort: »Und wie in einem Hollywoodfilm hatten Sie Platzpatronen in Ihrer Waffe, aber es war trotzdem sehr realistisch.«

»Äußerst realistisch«, stimmte Tate zu. Tatsächlich waren sein erstes und drittes Magazin mit regulären Patronen geladen gewesen. Erst beim zweiten Magazin, mit dem er Al Nayef erschossen hatte, hatte er Platzpatronen verwendet.

Al Nayef streckte seine Hand aus, um die von Tate zu schütteln. »Ich bin nur wegen Ihnen hier. Sie sind ein guter Mensch.«

»Aber sein Modegeschmack ist echt beschissen«, stellte Fox fest.

Tate schüttelte Al Nayefs Hand. »Ich lasse euch beide dann mal allein.«

»Tschüss, Kleiner«, sagte Fox und zwinkerte ihm zu.

Im Gegensatz zu allen anderen sah Tate immer noch aus wie ein Statist aus Miami Vice. Er schloss die Tür und nahm die Treppe in den ersten Stock. Phase 1 der Mission war zwar abgeschlossen, aber es war noch viel zu früh, um sich zurückzulehnen. Die Behörden in Monaco, in Frankreich und im benachbarten Italien würden mittlerweile wissen, dass es einen Anschlag gegeben hatte. Rettungsboote würden nach Al Nayef oder seiner Leiche suchen, und Tates Beschreibung würde inzwischen bestimmt die Runde gemacht haben. Tate dachte über Al Nayef nach. Er hatte eher aufgeregt als ängstlich gewirkt, als wäre das Ganze ein Abenteuer und als müsste er nicht gerade um sein Leben rennen. Er schien den Ernst seiner Lage noch nicht ganz begriffen zu haben.

Vielleicht würde ihm das ja bewusst werden, wenn er sehen könnte, was Tate vorhatte. Doch Tate wusste, dass Al Nayef nicht sehen durfte, was sich in dem Raum befand, den er gleich betreten würde.

Tate ging in das Hauptschlafzimmer und schloss die Tür hinter sich. Plastikfolien bedeckten den Raum und erinnerten Tate an eine Folge von Dexter. Auf dem Boden lag ein Haufen zusammengeknüllter, nasser Kleidung. Eine nackte männliche Leiche war direkt daneben auf einer Plastikfolie abgelegt worden. Der Leichnam war bis auf den fehlenden Unterkiefer unversehrt, das Gesicht war jedoch verstümmelt. Tiefe Risswunden zogen sich quer über das Gesicht, die Nase fehlte und die Wangenknochen waren eingedrückt. Das bis zur Unkenntlichkeit entstellte Gesicht des Toten sah aus, als wäre es von einer schweren Schiffsschraube getroffen worden.

Auf dem Bett lag ein Vorrat an Operationsmasken, Handschuhen und weißen Schutzanzügen. Tate zog einen Satz davon an, dann ging er zu dem Toten und zog ihm mit Mühe Al Nayefs Kleidung über.

Zehn Minuten später lehnte sich Tate zurück und betrachtete seine makabre Schöpfung. Dieser Körper war einmal jemandes Sohn gewesen, vielleicht jemandes Bruder, ein Ehemann oder Vater. Ein plötzliches Gefühl der Reue schnürte ihm die Brust zu. Auch er war einmal der Sohn von jemandem gewesen, ebenso wie sein Bruder, aber im Gegensatz zu dem Körper vor ihm lebten sie beide noch, während ihre Eltern das nicht mehr taten. Und der Mann, der ihre Eltern ermordet hatte – Ruslan Akulov – war noch immer auf freiem Fuß. Tate spürte, wie sich seine Reue in Wut verwandelte.

»Wissen wir, wer er war?«, fragte Fox, der plötzlich mit einer Tasse Kaffee in der Hand hinter Tate auftauchte.

Tate antwortete, ohne auszusehen. »Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass er hier angeliefert wurde und frisch genug ist, um als unser Freund dort unten durchzugehen.«

»Zahnärztliche Unterlagen?«

»Deshalb fehlt ihm wahrscheinlich der Unterkiefer, ist nur schwer nachzumachen.«

»Armer Kerl.«

»Ja.«

»Ich meinte nicht den grinsenden Knaben hier, ich meinte Al Nayef. Heute gehört er noch zum Königshaus, und morgen ist er nur noch Otto Normalbürger.«

Tate drückte den Rücken durch. »Das hätte der SIS mal als Namen in seinen neuen Pass eintragen sollen.«

Ein Lächeln erschien auf Fox' zerfurchtem Gesicht. »Ich habe dir deinen Pass ja noch gar nicht gegeben, oder?«

»Nein.« Tate runzelte die Stirn.

Das Lächeln auf Fox’ Gesicht verwandelte sich in ein Grinsen. »Ich würde mich an deiner Stelle erst rasieren, wenn du ihn gesehen hast.«

Tate zog den Schutzanzug, die Handschuhe und die Maske aus. »Kann ich ihn jetzt haben?«

Fox griff in die Tasche seiner Jeansjacke. »Hier.«

Es war ein echter britischer Reisepass, künstlich gealtert, um keinen Verdacht zu erregen. Tate betrachtete das Foto. Er schloss die Augen und stieß einen Seufzer aus. Es war ein echtes Foto von ihm, mit einem vernünftigen Haarschnitt, aber es zeigte ihn mit einem Hulk-Hogan-Schnurrbart, der zu beiden Seiten seines Mundes herunterhing.

Kapitel 2

Topeka, Kansas, USA

Es war der 12. Juni, der Tag Russlands, und Ruslan Akulov saß im hinteren Teil eines Diners in Kansas, fast im geografischen Zentrum Nordamerikas. Physisch war er sehr weit von Russland entfernt, aber gastronomisch hätte er kaum näher sein können. Das Diner in Topekas Little Russia existierte seit über siebzig Jahren, und ebenso lange wurde hier russisch-deutsches Essen serviert. Akulov biss in eine Gurke, deren Geschmack ihn an die Gurken seiner Großmutter erinnerte, so wie sie sie in ihrem Dorf am Rande Moskaus eingelegt hatte. Es war kurz nach elf Uhr vormittags, und obwohl das Restaurant gerade erst geöffnet hatte, waren bereits mehr als die Hälfte der 35 Plätze besetzt. Ein halbes Dutzend Sitznischen säumten die eine Seite des Diners und sechs Barhocker standen an der durchgehenden Theke auf der anderen Seite. Für Nachzügler waren noch ein paar Tische im hinteren Teil des Restaurants zusammengeschoben worden.

Ein Polizist kam herein und setzte sich auf den letzten freien Barhocker. Er begrüßte den alten Mann, der bediente, und innerhalb einer Minute stand ein großer Salatteller vor ihm, der mit Schinkenstreifen garniert war. Akulov nahm ein Stück von seinem eigenen Schinken, es war der beste, den er seit langem gegessen hatte. Hier war es auf eine Art behaglich, die Akulov vermisste. Er war ein Bürger von Nirgendwo, der keiner Gemeinschaft mehr angehörte. Er war Russe, aber der Pass, den er bei sich trug, war ein amerikanischer und die Sprache, die er jetzt benutzte, war Englisch mit Bostoner Akzent. Er aß eine weitere Gurke. Akulov hielt sich nicht für einen sentimentalen Menschen und hatte keine starken Bindungen zu irgendetwas oder irgendjemandem. Die einzige Familie, die er noch hatte, waren die Männer, mit denen er in der russischen Armee gedient hatte. Doch auch seine alte, streng geheime Spetsnaz-Einheit, die nur als Werwölfe bekannt gewesen war, war inzwischen aufgelöst worden und die überlebenden Mitglieder hatten sich in alle Winde verstreut. Einige, die er gekannt hatte, waren tot, ein paar arbeiteten für private Militärfirmen, wieder andere waren einfach verschwunden.

Für die Welt da draußen war Akulov ebenfalls verschwunden, untergetaucht im amerikanischen Kernland. Was er jetzt tun sollte, wusste er noch immer nicht. Sollte er vollkommen neu anfangen und wiedergeboren werden oder im Verborgenen alt werden? Auf jeden Fall war er jetzt nicht mehr Ruslan Akulov, sondern Russel Cross, ein sechsunddreißigjähriger selbstständiger Versicherungsmakler. Ein Job, der so langweilig klang, dass die Frage, was er beruflich mache, nach dieser Antwort in der Regel nicht weiterverfolgt wurde.

Akulov wusste ein wenig über das Brokergeschäft, aber nichts über das Versicherungsmaklergeschäft. Es war sein Broker gewesen, der ihm seine früheren Aufträge gegen eine fette Provision vermittelt hatte. Als er aus dem Geschäft ausgestiegen war, hatte sein Broker eine beträchtliche Einnahmequelle verloren und war, wie er sich vorstellte, bestimmt nicht sehr glücklich darüber gewesen. Aus alter Gewohnheit schaute Akulov gelegentlich im Internet in den Entwurfsordner eines bestimmten E-Mail-Kontos. Dort hatte sein Broker Nachrichten für ihn hinterlassen, die nie abgeschickt wurden und daher auch nicht als E-Mails zurückverfolgt werden konnten. Diese Entwürfe wurden vom Empfänger sofort gelöscht, nachdem er sie gelesen hatte. Nur er und sein Broker kannten das Passwort für das Konto, und der Name selbst war eine zufällige Mischung aus Zahlen und Buchstaben, die für keinen der beiden eine Bedeutung hatte. Auf diesem Konto hinterließ der Broker auch einen Link zu einer speziellen Seite im Dark Web, auf der die Details für jeden neuen Auftrag für eine bestimmte Zeit nachgelesen werden konnten, bevor sie gelöscht wurden. In unregelmäßigen Abständen hinterließ sein Broker dort auch die Angaben für den nächsten zu verwendenden E-Mail-Account. Das System war einfach, sicher und zuverlässig. Jedes Mal, wenn Akulov auf das E-Mail-Konto zugriff, benutzte er dafür einmalig ein Burner Phone. Und angesichts der Illegalität ihrer Handlungen und der Geldsummen, um die es dabei ging, war er sich ziemlich sicher, dass sein Broker dasselbe getan hatte.

Broker. Akulovs Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln. Tatsächlich war sein Broker eigentlich sein Agent.

Akulov zog ein neues Burner Phone aus der Hosentasche und schaltete es ein. Während er darauf wartete, dass es sich mit dem Mobilfunknetz verband – er traute Wi-Fi nicht – setzte er sein frühes Mittagessen fort. Jeden Moment rechnete er damit, dass sich jemand an seinen Tisch setzen würde, und dann musste er entweder gehen oder das Handy ausschalten.

Er meldete sich bei dem E-Mail-Konto an. Akulov hatte die Nachrichten gelesen, die ihm sein Broker seit seinem Verschwinden geschickt hatte, aber diesmal hatte er sie nicht sofort gelöscht. Die erste war einen Monat später gekommen. Sie war einfach gewesen, nur eine einzelne Zeile, auf den Punkt gebracht: Wo bist du? Zwei Wochen später folgte die zweite Nachricht: Lebst du noch? Dazwischen hatte es weitere gegeben und die letzte, die er erhalten hatte, war zwei Monate alt. Darin stand nur: Wenn du das liest, du bist in Gefahr. Er hatte die Nachricht ignoriert. Die Worte waren unspezifisch und nichtssagend gewesen, es hätte ein Trick sein können.

Akulov blinzelte, als er eine neue Nachricht in dem Ordner entdeckte. Er verstand sie nicht. Der britische Geheimdienst hat die Bestätigung, dass du deinen letzten Auftrag überlebt hast. Sie suchen aktiv nach dir. Um dich zu töten oder gefangen zu nehmen.

Akulov runzelte die Stirn. Sein letzter Auftrag waren die Attentate in den USA gewesen, deren Opfer auf der Abschussliste standen, die man ihm gegeben hatte. Sie enthielt unter anderem drei britische Diplomaten, von denen er zwei liquidiert hatte. Auf der Liste hatten aber auch hochrangige amerikanische Ziele gestanden, und er hatte alle drei getötet. Warum waren die Briten hinter ihm her und nicht die Amerikaner? Warum war es keine gemeinsame Mission? Es war ein Rätsel, und er hasste Rätsel. Wenn er jetzt antwortete, war das die Bestätigung, dass er noch lebte, doch wenn er nicht antwortete …

Die Tür öffnete sich. Ein Paar mittleren Alters trat ein und sah sich um. Sie entdeckten seinen Tisch und kamen auf ihn zu. Kurz entschlossen löschte er die Nachricht und tippte eine Antwort, die aus zwei Wörtern bestand: Warum? Erklärung.

Akulov stand auf, ging zum Tresen und reichte dem alten Mann dahinter mit einem Nicken zwei Scheine, einen Zwanziger und einen Zehner.

Draußen hatten inzwischen düstere Gewitterwolken den Himmel verdunkelt und ein leichter Wind blies ihm Regentropfen ins Gesicht, als er zu seinem Mietwagen ging. Der Challenger parkte zwischen einem alten Pick-up und einem Ford Explorer mit Polizeilackierung. Er stieg ein und drehte den Zündschlüssel herum. Sofort erwachte der 5,7-Liter-Hemi-V8-Motor grollend zum Leben. Der Wagen war ein amerikanisches Muscle Car, und er zauberte Akulov immer wieder ein Lächeln ins Gesicht. Er fuhr langsam rückwärts, blickte zurück auf das einstöckige, rote Diner und glitt dann den Porubsky Drive hinunter.

Jetzt prasselte mehr Regen auf seine Windschutzscheibe, und die Wolken waren noch dunkler geworden. Als er weiter die Straße hinunterfuhr, hämmerte der Regen plötzlich auch von der Seite wie stürmische Fäuste gegen die Scheiben des Wagens. Er verließ einen weiteren Ort, den er aufgrund seines Nomadendaseins nicht kennengelernt hatte. Akulov wusste, dass diejenigen, die ihn jagten, die ihn töten wollten, auch dafür sorgten, dass er ein Leben in ständiger Bewegung führen musste. Ein Leben, dem er zu entkommen versucht hatte, und das ihn nun wieder einholte. Hektisch schoben die Scheibenwischer den Regen von der Windschutzscheibe. Die Leben, die er genommen hatte, die Träume, die er zerstört hatte, hinderten ihn nun daran, sein eigenes Leben zu führen.

Er fuhr an einem Paar vorbei, das Hand in Hand und ohne Regenschirm spazieren ging. Die Haare klebten ihnen am Kopf, die Kleidung an den Körpern, und doch waren die Augen der beiden aufeinander gerichtet. Die Einsamkeit nagte an Akulov. Er war zwar gerade in einem überfüllten Restaurant gewesen, aber er war ein Mann, der für immer allein bleiben würde. Dies war kein Leben, das man ihm aufgezwungen hatte, es war das Leben, für das er erschaffen worden war. Geschmiedet aus Mütterchen Russlands stärkstem Material und gehärtet durch Erfahrung, war Akulov kein Mensch mehr. Er war eine Waffe.

Wichita, Kansas, USA

Akulov hatte die Stadt gewählt, weil ihm der Name gefiel, und das Hotel, weil es anonym war, zu einer mittelgroßen Kette gehörte und über Konferenzräume verfügte. Auf dem Parkplatz stand ein Dutzend fast identischer amerikanischer Limousinen. Er fand einen Platz für seinen Challenger an der Seite des Gebäudes, wo er weniger Aufmerksamkeit erregen würde. Akulov betrat die Hotelrezeption, buchte ein Zimmer für zwei Nächte – das hielt ihm den Rücken frei – und zeigte seinen Führerschein und seine Kreditkarte, die auf den Namen Russel Cross ausgestellt waren. Ein Mann mittleren Alters mit einem aufgesetzten Lächeln und trüben Augen überreichte ihm seine Schlüsselkarte, wies ihn darauf hin, dass es einen kostenlosen Shuttleservice zum nur 0,9 Meilen entfernten Dwight D. Eisenhower Airport gäbe, und wünschte ihm einen angenehmen Abend.

Akulov fand sein Zimmer, das wie gebucht am Ende des Blocks lag. Im Zimmer angekommen, schloss er sofort die Tür ab und schob zur zusätzlichen Sicherung einen Gummikeil darunter. Eine Wand des Zimmers war besonders rot. Er war froh, dass sie sich hinter dem Bett befand, sodass er sie nicht ansehen musste. Unter dem großen Flachbildfernseher auf der Kommode lag eine Karte mit der Aufschrift: kostenloses Wi-Fi. Akulov setzte sich auf das Bett und schaltete ein neues Burner Phone ein, dann aktivierte er das Mobilfunknetz des Handys. Er loggte sich in den E-Mail-Account ein, den er mit seinem Broker teilte.

Im Entwurfsordner befand sich eine neue Nachricht.

Der britische Geheimdienst hat dich als den Camden-Bomber identifiziert. Eine Woche vor dem EMP-Angriff auf die USA im vergangenen Jahr wurde bei Renovierungsarbeiten in einem Geschäftsgebäude, von dem aus der Ort des Bombenanschlags in Camden zu sehen war, ein Smartphone gefunden. Es enthielt Videoaufnahmen des Anschlags. Das Video zeigt, wie du einen Lieferwagen am Eingang zum Camden Market parkst und dann weggehst, um sowohl die Bombe als auch die Sprengstoffweste deines Komplizen zu zünden. Das Vereinigte Königreich geht davon aus, dass du den Anschlag geplant und den Tschetschenen rekrutiert hast. Die endgültige Zahl der Todesopfer betrug 31. Darunter waren auch die Eltern der Brüder Simon Hunter und Jack Tate – beide SIS-Mitarbeiter.

Akulov lehnte sich zurück und schloss die Augen. Das also war der Grund, warum die Briten und nicht die Amerikaner hinter ihm her waren. Die Ermordung von Schlüsselpersonen war eine Sache, aber ein willkürlicher Terrorakt in London war etwas ganz anderes. Er erinnerte sich vage an die damaligen Nachrichten. Zwei Sprengsätze waren gleichzeitig gezündet worden, eine gewaltige Autobombe in einem Lieferwagen und eine Selbstmordweste, die ein illegaler Einwanderer aus Tschetschenien getragen hatte. Camden Market hatte sich schlagartig von einem Ort voller lebenslustiger Marktbesucher in den Schauplatz eines Blutbades verwandelt. Er las die Nachricht noch einmal, in der Hoffnung, dass sie sich inzwischen geändert hätte.

Akulov ließ sein Handy auf das Bett fallen und saß minutenlang schweigend da, bevor er schließlich die Hände hob und sich über das Gesicht rieb. Seine Hände zitterten dabei heftig. Er ballte und lockerte die Fäuste. Das Zittern wurde deutlich schwächer, verschwand aber nicht ganz.

Bilder der Menschen, die er getötet hatte, und davon gab es viele, tauchten in seinem Kopf auf, zogen wie in einem bizarren Filmtrailer an ihm vor seiner inneren Kinoleinwand vorbei. Er sah ihre Gesichter, den Augenblick des Todes und die wächserne Blässe, als sie zu leblosen Hüllen wurden. Aber was er nicht sah, waren unschuldige Opfer. Was er nicht sah, waren die Ziele, die er in London liquidiert haben sollte.

Akulov folgte dem Link, den sein Broker hinterlassen hatte, und rief eine Seite im Dark Web auf. Dort konnte er sich das Filmmaterial ansehen, das die britischen Behörden zur Untersuchung des Anschlags verwendet hatten. Es war nicht nur ein Video, sondern eine Sammlung von Videos. Zwei Videos stammten von vernetzten Überwachungskameras des Camden Council und eines von einer Kamera der London Transport Authority, die auf einer Brücke installiert war. Keines dieser drei Videos zeigte sein Gesicht. Die belastende Aufnahme stammte vom Smartphone eines Touristen. Das Smartphone, das verloren gegangen war. Es zeigte im Hintergrund eindeutig Akulov, wie er aus einem Lieferwagen stieg und wegging, wie er sich an der nächsten Ecke umdrehte, um zurückzublicken, und dann den Knopf auf einer Fernsteuerung drückte, um die Explosionen auszulösen.

Da gab es nur ein Problem.

Das war nicht er.

Er war nie dort gewesen.

Man hatte ihn reingelegt.

Akulovs Gesicht hatte sich in eine emotionslose Maske verwandelt, während er sich das Filmmaterial wieder und wieder ansah und jedes Mal versuchte, herauszufinden, wo es manipuliert worden war, wie man ihn in die Szene eingefügt hatte. Aber es gab keine Auffälligkeiten, keine Verzerrungen, keine verpixelten Stellen. Er kannte sich zwar ein wenig mit Bildbearbeitung aus, war aber beim besten Willen kein Computerspezialist. Aber was jemand da gemacht hatte, war eigentlich unmöglich.

Seiner Meinung nach gab es nur drei Möglichkeiten, um zu beweisen, dass er nicht der Mann auf den Bildern war. Erstens, indem er bewies, dass das Filmmaterial manipuliert worden war, zweitens, indem er die Identität des wahren Täters herausfand und drittens, indem er bewies, dass er sich zum Zeitpunkt des Anschlags an einem anderen Ort aufgehalten hatte.

Er merkte sich die Adresse des Links, schloss die Seite und googelte das Datum des Bombenanschlags in Camden. Er wusste, wo er an diesem Tag gewesen war, aber er wusste auch, dass es fast unmöglich war, eine Bestätigung dafür zu bekommen. Denn die einzige Person, die mit Sicherheit bestätigen konnte, dass er an diesem Tag nicht in London gewesen war, war sein Broker, der ihn mit einem Auftrag ans andere Ende der Welt geschickt hatte.

Er hatte keine Ahnung, wie das Filmmaterial manipuliert worden war. Er hatte jedoch eine Idee, wer der wahre Bombenbauer gewesen sein könnte. Der Bombenanschlag hatte die Hunters betroffen, und die Tatsache, dass sein Broker sie erwähnt hatte, war ein Zeichen. Durch den EMP-Angriff auf die USA im vergangenen Jahr wusste er, dass Maksim Oleniuk – sein letzter Arbeitgeber – den Anschlag auf die beiden SIS-Mitarbeiter in Auftrag gegeben hatte. Und Oleniuks private Militärfirma Blackline hatte ihre Spezialisten ausschließlich über seinen Broker gebucht.

Er musste nachdenken. Akulov ließ sich vom Bett auf den Boden gleiten. Er machte dreißig stramme, schnelle Liegestütze, dann presste er die Hände vor der Brust fest zusammen. Schließlich setzte er sich mit gut durchbluteter Brust auf und dachte an seinen Broker. Es war ein Kollege aus Russland, der vor dem Zusammenbruch der mächtigen Sowjetunion für den Geheimdienst KGB gearbeitet hatte. Die Identität des Brokers war eigentlich geheim, aber Akulov hatte sich geweigert, für jemanden zu arbeiten, dessen Namen er nicht wusste. Dass beide die Identität des jeweils anderen kannten, war eine Versicherung für den Notfall und wie zu Zeiten des Kalten Krieges war die gegenseitige Vernichtung garantiert, wenn einer von ihnen reden würde. Was keiner getan hatte. Sein Broker war durch Akulovs erfolgreiche Aufträge reich geworden und der Halo-Effekt, dass der Broker eine Verbindung zu Russlands meist gefürchtetem Attentäter hatte, brachte ihm ständig neue Aufträge und Kunden ein.