Commissario Tasso treibt den Winter aus - Gianna Milani - E-Book

Commissario Tasso treibt den Winter aus E-Book

Gianna Milani

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Beschreibung

Klappernde Schnappviecher, köstlicher Traminer und eine Leiche beim Faschingsumzug

Februar 1963: Etwas widerwillig besucht Aurelio Tasso den Egetmann-Umzug in Tramin, bei dem traditionell der Winter ausgetrieben wird. Vor allem die hölzernen Schnappviecher flößen Tasso Respekt ein. Dann wird mitten in der Menge ein junger Mann umgebracht. Niemand will etwas gesehen haben. Die Möglichkeit, es könne ein Unglück gewesen sein, ist schnell vom Tisch, Beschuldigungen werden ausgesprochen. Sogar ein Schnappviech wird verdächtigt. Mit Hilfe von Mara Oberhöller versucht Tasso tapfer, die vielen verschiedenen Fäden zu entwirren, aber er muss erst einige Knoten lösen, bevor er den Mörder findet.

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Seitenzahl: 375

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumIl Martedì grasso – der FaschingsdienstagEinige Personen, denen Sie vielleicht begegnenProlog, in welchem an einem denkwürdigen Faschingsdienstag eine alte Maske zu neuen Ehren kommt1. Kapitel, in welchem Tasso sich wie in einem Alptraum fühlt2. Kapitel, in welchem Tasso wieder zum Commissario avanciert3. Kapitel, in welchem Tasso sich fragt, wer eigentlich in einem Krankenhaus gesund werden kann4. Kapitel, in welchem Picco begreift, mit was für Monstern er sich da eingelassen hat – echte Schnappviecher wären nichts dagegen5. Kapitel, in welchem Mara es mit einem unwirschen Löwen zu tun bekommt und sich im Maul des Wolfes wiederfindet6. Kapitel, in welchem Mara ab Aschermittwoch wieder zur Praktikantin avanciert7. Kapitel, in welchem Tasso und Vierweger auf Großwildjagd gehen8. Kapitel, in welchem es sich für Mara anfühlt, als würde sie einen Abend an der Adria verbringen9. Kapitel, in welchem Picco in die dunkelsten Stunden seiner Kindheit zurückversetzt wird10. Kapitel, in welchem Tasso eine schrecklich nette Familie trifft11. Kapitel, in welchem Mara ein Angebot für ein neues Tätigkeitsgebiet bekommt, das sie nicht ablehnen kann12. Kapitel, in welchem Picco nicht mehr weiß, was er seinem Bruder noch alles zutrauen muss13. Kapitel, in welchem für Mara der Abend ganz anders endet, als sie erwartet hat14. Kapitel, in welchem Tasso sich etwas anhören muss15. Kapitel, in welchem Mara die ganz alten Geschichten zu hören bekommt16. Kapitel, in welchem Tasso endlich einen Verdächtigen hat – und ein ganz, ganz mieses Gefühl17. Kapitel, in welchem Mara Tee trinkt und dann doch nicht abwartet18. Kapitel, in welchem Picco sich aus seiner Lage befreit19. Kapitel, in welchem Mara Picco aus höchster Gefahr rettet20. Kapitel, in welchem Mara überraschend eine bühnenreife Inszenierung erlebt21. Kapitel, in welchem Tasso sich fragt, ob im Wein wirklich immer die Wahrheit liegt22. Kapitel, in welchem Mara auf den Pfaden ihrer Erinnerungen wandeltIl Gatto randagio – die Straßenkatze1. Epilog, in welchem Tasso eine neue Verbindung anbahnt, von der fraglich ist, ob Bruno Visconti sie gutheißen wird2. Epilog, in welchem sowohl Mara als auch Giulio zu neuen Ufern aufbrechenLa retrospettiva e la prospettiva – Rückblick und Ausblick

Über dieses Buch

Klappernde Schnappviecher, köstlicher Traminer und eine Leiche beim Faschingsumzug Februar 1963: Etwas widerwillig besucht Aurelio Tasso den Egetmann–Umzug in Tramin, bei dem traditionell der Winter ausgetrieben wird. Vor allem die hölzernen Schnappviecher flößen Tasso Respekt ein. Dann wird mitten in der Menge ein junger Mann umgebracht. Niemand will etwas gesehen haben. Die Möglichkeit, es könne ein Unglück gewesen sein, ist schnell vom Tisch, Beschuldigungen werden ausgesprochen. Sogar ein Schnappviech wird verdächtigt. Mit Hilfe von Mara Oberhöller versucht Tasso tapfer, die vielen verschiedenen Fäden zu entwirren, aber er muss erst einige Knoten lösen, bevor er den Mörder findet.

Über die Autorin

Gianna Milani ist das Pseudonym der deutschen Autorin Diana Menschig, die sich seit vielen Jahren für Südtirol und seine wechselvolle Geschichte interessiert. Dabei haben es ihr besonders die sagenhaften Dolomiten angetan. Ein Haus in Norditalien wäre ihr Traum, bis dahin schreibt sie Bücher über ihre Lieblingsregionen.

Mehr unter: giannamilani.de.

Aktuelles gibt es auf Instagram: @dianamenschig

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch dieMichael Meller Literary Agency GmbH, München.

Copyright © 2023 by Gianna Milani

Copyright © 2023 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Dr. Frank Weinreich, Bochum

Umschlaggestaltung: U1berlin/Patrizia Di Stefano

Einband-/Umschlagmotiv: © www.pleesz.com

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-4806-3

luebbe.de

lesejury.de

Il Martedì grasso – der Faschingsdienstag

Dem Brauchtum am letzten Tagvor der Fastenzeitkommt eine besondere Bedeutung zu.

Einige Personen, denen Sie vielleicht begegnen

Bei der Polizia di Stato

Aurelio Tasso, Commissario

Mara Oberhöller, ehemalige Praktikantin

Johann Vierweger, ehemaliger Ispettore, im Ruhestand

Dottore Bruno Visconti, Questore

Gianluca Ferrara, Vice-Questore

Valerio Amirante, Ispettore, Tassos Schreibtischnachbar

Pino Mancuso, Agente

Dottore Simone Agnelli, Rechtsmediziner

Tramin

Die Familie des Opfers

Benedikt Mayer, Winzer

Sieglinde Mayer, Wirtin Pension Haus Bergblick

Margarete Bozener, älteste Schwester

Sabine Wörndl, Schwester, Thomas’ Ehefrau

Rosalie Gruber, Schwester

Georg (Schorsch) Mayer, das Opfer

Stefan Mayer, jüngster Bruder

Jungwinzer der Genossenschaft

Manfred (Fredl) Oberhofer, ein Freund des Toten

Burkhardt Bichler, Nachbar und Freund des Toten

Christoph Wörndl, auch Teil der Schnappviechtruppe

Peter Vogler, außerdem Milchbauer

Franz und Josef Sulzer, Neffen des Bürgermeisters Jakob und des Wirtes Anton (Pension Bacchus)

Schnappviechtruppe

Alfons Unterbacher, Pensionswirt Alpenrose

Rudolf Unterbacher, Alfons’ Cousin, wohnt in Söll

Christoph Wörndl, auch Jungwinzer

Thomas Wörndl, Christophs Bruder, Sabines Ehemann

Matthias Reschner, Metzger

Laurenz Reschner, der Sohn des Metzgers

Weitere Personen

Veronika (Vreni) Bacher, Maras Freundin

Selma Sulzer (geb. Bacher), Wirtin der Pension Bacchus und Veronikas Tante

Anton Sulzer, Wirt der Pension Bacchus, Selmas Ehemann, Jakobs Bruder

Jakob Sulzer, Bürgermeister, Antons Bruder

Annegret Kofler, Gemeindesekretärin

Wilhelm Mayr, Wirt im Goldenen Löwen

Claudia Silva, Zimmermädchen im Goldenen Löwen

Antonio (Tonio) Bianco, Mitarbeiter der Pension Alpenrose von Alfons Unterbacher

Werner Rittener, Apfelbauer, »Dorfchronik« von Tramin

Markus Hofer, ehemaliger Knecht Wörndls, Aufrührer

Giulio di Fabar, Carabiniere in Tramin

Maria Donato, Inhaberin einer Pizzeria

Hedwig Vernatscher, Tassos Tante, wohnhaft in Bozen

Ricardo Bosco, Sekretär des Bürgermeisters von Bozen

Salvatore Girolamo, freier Reporter

Prolog, in welchem an einem denkwürdigen Faschingsdienstag eine alte Maske zu neuen Ehren kommt

Dieses Kostüm aus mehreren Lagen Fell und alten Säcken war einfach nur grauenhaft, viel zu dick und unpraktisch. Er bewegte sich darin wie ein tapsiger Bär.

Schnaufend ließ er die schwere Holzmaske sinken und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er hatte noch nie verstanden, was alle Welt daran fand, sich zu verkleiden und dann brüllend und johlend durch die Straßen zu ziehen. Als Kind hatte ihm das gefallen, natürlich. Aber er war dem Ganzen doch schon lange entwachsen. Und einen Grund zum Saufen ließ sich immer finden, was brauchte es dazu diesen Unsinn mit Traditionen und alldem?

Er setzte die Maske wieder auf. Sein Sichtfeld wurde kleiner, bestand nur noch aus zwei waagerechten Schlitzen. Er hörte seinen eigenen Atem, der ihm dazu feucht auf die Haut zurückschlug. Er hätte ein Tuch vor den Mund binden sollen. Aber dafür war es jetzt zu spät. Sie waren schon alle unterwegs, um die Egetmann-Hochzeit zu feiern. Ein Kerl in Frauenkleidern, der eine Puppe heiratete. Wer hatte sich so einen Schmarrn ausgedacht? Dazu diese Wagen – allesamt lächerlich, aber Hauptsache laut und dreckig.

Seine Eltern hatten die Feiern geliebt, waren sogar einige Mal den weiten Weg nach Tramin gefahren, um die Familie zu besuchen und sich den Umzug anzusehen. Und jetzt lebte er hier, und das ganze Dorf erwartete von ihm, dass er das alles mitmachte und auch noch gut fand.

Das waren solche Momente, in denen er die Pläne bereute, die er mit seinem kleinen Bruder geschmiedet hatte. Und schon lange waren es mehr als nur Momente, es war eher ein Dauerzustand des Zweifelns geworden. Wobei er nicht hätte sagen können, woran es genau lag: an Picco, an Tramin, am Wein, an den Rückschlägen.

Er trat durch die Hofeinfahrt auf die Straße, wo bereits Menschenmassen in Richtung Hauptstraße und Rathausplatz pilgerten, um sich die besten Plätze für den Umzug zu sichern.

Und dann sah er sie. Er lächelte ihr breit und herzlich zu, bis ihm einfiel, dass sie das wegen der Maske gar nicht sehen konnte. Aber sie erkannte ihn – Kunststück, die Maske kam von ihrer Familie, irgendein altes Ding von einem Krampuslauf der letzten Jahre – und trat auf ihn zu.

Sie beugte sich zu ihm und zischte ihm ins Ohr. »Heiz ihm ordentlich ein. Verpass ihm eine Abreibung!«

Er langte nach ihr und gab ihr einen kräftigen Klaps auf ihren ausladenden Hintern. »Zu Befehl.«

Lachend schlug sie ihm aufs Handgelenk. »Heb’s dir für später auf.« Schon war sie in der Menge verschwunden.

Er reihte sich in den Menschenstrom Richtung Rathaus ein. Das kleine Sichtfeld machte ihn nervös, und er ruckelte vergeblich an der Holzmaske herum. Um überhaupt etwas zu sehen, musste er den Kopf ständig hin und her bewegen. Dann fand er die Clique. Sie waren zu siebt. Der eine, auf den er es abgesehen hatte, zwei Mädchen und noch vier andere Burschen.

In der folgenden Zeit hielt er sich ständig in ihrer Nähe auf. Er musste auf eine Gelegenheit warten, bei der sie sich trennten.

Er tastete unter den Felllagen nach dem Messer an seinem Gürtel. Sie wusste nicht, dass er sich inzwischen anders entschieden hatte. Sein Bruder ahnte schon gar nichts, der würde nur wieder herumheulen, dass sie zu weit gingen und das nicht tun sollten. So was konnte er nicht gebrauchen.

Aber er war sicher, dass es nur diese eine Lösung gab. Falls sich eine Gelegenheit ergab, würde er das Problem ein für alle Mal aus der Welt schaffen.

»Gleich geht’s los!«, rief jemand.

Ein paar Leute klatschten. In der Ferne erklang Blasmusik. Eine Ladung Sägespäne flog in die Menge. Um ihn herum wurde gejubelt und gegrölt, Wein- und Obstbrandflaschen kreisten.

Die Clique bewegte sich mitsamt der Menschenmasse Richtung Rathaus. Noch immer blieben sie alle zusammen.

Er umschloss den Griff des Messers und folgte ihnen.

Er war bereit.

1. Kapitel, in welchem Tasso sich wie in einem Alptraum fühlt

Aurelio Tasso hob den Kopf und blickte in ein riesiges Maul. Zähne, teils schwarz, stachen vor dem blutroten Schlund hervor. Das Maul schloss sich. Die Kiefer krachten aufeinander.

SCHNAPP!

Schon ging das Riesenmaul wieder auf.

SCHNAPP!

Vor Schreck sprang Tasso einen Satz zurück. Eine Wolke schlechten Atems stieg ihm in die Nase.

»Pass doch auf, wo du hintrampelst!«

Er bekam einen rüden Stoß in den Rücken und konnte sich gerade noch auf den Beinen halten. Ein Mann mit schrecklichem Mundgeruch rannte an ihm vorbei. Übermütiges Lachen erklang ringsumher. Zum Glück war das Schnappviech inzwischen weitergewandert und versuchte, ein etwa sechsjähriges Mädchen zu erschrecken, das vor Vergnügen jauchzte.

Tasso spürte eine schwere Hand auf der Schulter.

»Schau mal da: Die Kleine schlägt sich sehr viel wackerer als du. Na, Commissario, wer beschützt hier wen?« Johann Vierweger streckte einen Arm aus und zeigte auf das Mädchen, das dem Schnappviech eine Fratze zog, während dessen Maul eifrig auf und zu klapperte. »Gebt acht, ihr Leut’, die gefährlichen Schnappviecher geh’n um!« Vierweger senkte die Stimme zu einem dramatischen Grollen.

»Sei nicht albern. Ich hab mich nur erschreckt.« Tasso zupfte die Ärmel seines Anzugs zurecht und strich über die Hemdmanschette. Ein altes Hemd, ein kaputter Anzug, selbstredend.

Vierweger musterte ihn. »War das nicht dein bester Dreiteiler? Was ist damit passiert?«

»Den habe ich mir im Dezember erst ruiniert, während einer Ermittlung.« Die Details verschwieg Tasso lieber. Sein ehemaliger Ispettore musste nichts davon erfahren, wie er hinter seiner eifrigen Praktikantin Mara Oberhöller über einen Hang am Misurina-See geklettert war.

»Nun, für einen Egetmann-Umzug ist er im perfekten Zustand. Aurelio, der Lumpenpolizist.«

Und wie um Vierwegers Worte zu bestätigen, sprangen zwei alte Weiber – oder waren es als alte Weiber verkleidete junge Männer? – auf Tasso zu und schmierten ihm johlend Ruß ins Gesicht.

Vierweger lachte schallend. Er reckte sich, schaffte es jedoch trotz seiner beachtlichen Größe nicht, außer Reichweite zu kommen. Schon zierten drei schwarze Streifen seine Wangen. Die »Weiber« waren längst wieder fort.

Tasso schüttelte den Kopf. »Was soll ich daran gut finden? Oder amüsant? Es ist lächerlich.«

»Es ist Fasching! Fasnacht, carnevale, nenn es, wie du willst. Und jetzt komm und lass uns einen guten Platz sichern, sonst verpassen wir noch alles.« Energisch stapfte Tassos ehemaliger Kollege voran, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als zu folgen, wenn er nicht am Auto warten wollte. Zwischen Gruppen grölender junger Männer, die Weinflaschen kreisen ließen, Eltern mit kleinen Kindern an der Hand und weiteren unzähligen Verkleideten schlenderten sie in Richtung Rathaus.

Zwei Schnappviecher näherten sich von hinten. Respektvoll trat Tasso zur Seite und ließ sie passieren. Natürlich wusste er, dass diese Gestalten nichts anderes waren als riesige Holzköpfe mit klappernden Mäulern. Sie wurden von Männern getragen, die sich in grobes Leinen oder Säcke gehüllt hatten und die Köpfe mit Stangen über sich hielten, sodass sie eine imposante Höhe von ungefähr drei Metern erreichten.

»Jetzt zieh nicht so ein Gesicht, Aurelio. Das ist eine Feier, entspann dich. Du bist nicht im Dienst.«

»Ich kann diesen Traditionen einfach nichts abgewinnen.« Und hätte Vierweger nicht so beharrlich auf ihn eingeredet, er müsse auf andere Gedanken kommen, so stünde er jetzt auch nicht hier in Tramin. Einen solchen Umzug mit alpenländischer Folklore hätte er niemals freiwillig besucht. Dazu erinnerte er sich nur zu gut an den Fasching in seiner Kindheit. Zu dieser Zeit war seine Mutter einige Male von Rom nach Bozen gereist, um ihre Schwester Hedwig Vernatscher zu besuchen. Den kleinen Aurelio hatte sie mitgenommen. Vermutlich hatte sie gedacht, dieses bunte Spektakel würde ihm gefallen. In Wahrheit war es ihm zu laut gewesen, zu hektisch. Schon als Kind hatte er sich in Menschenmengen nicht sonderlich wohlgefühlt. Inzwischen hielt er es zwar ganz gut aus, aber als angenehm empfand er es nicht.

Noch schlimmer war der Krampuslauf gewesen, den er als Achtjähriger erlebt hatte. Der Lärm und die grausigen Masken hatten ihm zugesetzt. Und schon damals hatten die Erwachsenen ihn ausgelacht.

Tasso wusste nicht einmal mehr, in welchem Ort das gewesen war, ob überhaupt in Südtirol oder möglicherweise in Österreich oder Bayern. Aber nein, es musste Südtirol gewesen sein. In den Dreißigern waren die Läufe vielerorts vom faschistischen Regime verboten worden. Das hatte die Menschen natürlich nicht davon abgehalten, sich diese Masken aufzusetzen und zu feiern. Im Gegenteil, in manchen Dörfern wurde es geradezu als eine Pflicht angesehen, sich dagegen aufzulehnen. Genau das klang ganz nach Tante Hedwig, die vermutlich damals die Idee gehabt hatte, dem Lauf beizuwohnen. Ob sie auch heute hier in Tramin war?

SCHNAPP!

Tasso zuckte zusammen. Das nächste Schnappviech überholte sie und verschwand in der Gasse neben dem Rathaus. Zum Glück hatte Vierweger das nicht mitbekommen, da sein pensionierter Kollege einen Schritt vor ihm ging. Diese Schnappviecher waren den Krampussen eindeutig zu ähnlich.

Tief durchatmen, sagte Tasso sich und zündete sich eine Zigarette an. Er würde auch das hier überstehen. So ein Faschingsumzug war ja nichts Gefährliches.

Sie erreichten den Platz am Rathaus des kleinen Ortes, auf dem sich schon eine beachtliche Menge versammelt hatte. Vierweger zog Tasso zu der Häuserreihe gegenüber der Rathaustreppe. »Komm, stellen wir uns an die Wand vom Goldenen Löwen. Da ist nicht so ein Gewühl, und wir können das Protokoll verfolgen.«

»Was für ein Protokoll?«

»Hast du vorhin die Männer in Frack gesehen? Das sind die Ratsherren. Einer von denen wird sich dort vorn am Brunnen auf eine Leiter stellen und das Protokoll verlesen.« Er deutete nach links.

Tasso brummte nur und beäugte misstrauisch die verkleideten Menschen um sich herum. Es kamen immer noch ständig Neuankömmlinge hinzu. Es wurde gerufen, gejohlt und mit Ratschen, Kuhglocken oder Topfdeckeln Lärm gemacht. Aus der Ferne erklang Blasmusik.

»Hier, trink.« Vierweger hielt ihm eine Taschenflasche unter die Nase.

Tasso nahm einen tiefen Schluck und spürte, wie sich der Schnaps seine Kehle hinunterbrannte. Es war verdammt kalt, immerhin lag kein Schnee mehr.

»Mal sehen, ob sie auch ein Wudele schlachten.«

»Ein was?«

»Na, die Schnappviecher, die heißen Wudele. Da vorne, der Mann im blauen Schurz und mit dem rot karierten Hemd ist ein Metzger.«

Tasso schaute in die angegebene Richtung. Ein kräftiger Mann mit rundem Gesicht und Hakennase stolzierte dort umher, als warte er auf etwas. In der Rechten hielt er ein mit roter Farbe verschmiertes riesiges Metzgerbeil.

»Das ist hoffentlich eine Attrappe.«

»Davon gehe ich aus.«

Das Spektakel nahm seinen Lauf. Phantasievoll dekorierte Wagen wurden von knatternden Traktoren an der Menge vorbeigezogen. Die Männer auf den Ladeflächen verteilten Wolken aus Sägespänen, Mehl und Ruß über das Publikum. Flaschen wurden herumgereicht, der Alkohol floss in Strömen, und außer Tasso schienen sich alle zu amüsieren. Besser gesagt, fast alle. Er entdeckte drei Leidensgenossen: Carabinieri in schwarzen Uniformen, die verstreut in der Menge standen und sich sichtlich unwohl fühlten. Alle drei wirkten so jung, dass Tasso sich im Stillen fragte, ob sie die Erlaubnis ihrer Eltern hatten, hier zu sein.

Vermutlich waren die Carabinieri außer ihm auch die Einzigen, die von diesem Hochzeitsprotokoll des Egetmann-Hansl, das kurz darauf verlesen wurde, kein Wort verstanden.

Die »Ratsherren«, fünf junge Männer in Fräcken – einer mit einem Regenschirm, dessen Sinn sich Tasso nicht erschloss – beendeten ihre Scharade und wurden mit tosendem Jubel und Geschrei verabschiedet.

Vierweger schlug Tasso auf die Schulter. »Gut, oder?«

»Verstehst du diesen Dialekt?«

»Aber sicher.« Vierweger musterte seine mürrische Miene. »Du nicht?«

»Das war doch kein Deutsch!«

Sie wurden von einem begeisterten Aufschrei unterbrochen. Rechter Hand tauchte rund ein Dutzend Schnappviecher auf der Straße auf. Mehrere Burschen hielten ein Seil gespannt und taten so, als versuchten sie, die monströsen Wesen damit in Zaum zu halten. Der »Metzger« stellte sich ihnen breitbeinig entgegen und schwang sein Beil über den Kopf. Ein Wudele brach aus der Herde aus, überrannte den Burschen, der das Seil hielt, und wurde von dem Metzger gestoppt, der ihm beherzt in den Weg trat. Mehrere Männer, auch Zuschauer, liefen hinzu und streckten das Unwesen auf dem Kopfsteinpflaster nieder. Ein Bottich mit rot gefärbtem Wasser wurde herangeschleppt und zusammen mit Sägespänen in die Menge gespritzt.

In Wellen drängten sich die Zuschauerinnen und Zuschauer immer näher, feuerten den Metzger lauthals an.

Tasso flüchtete sich gegen die Hauswand des Goldenen Löwen und pflückte Sägespäne von seinen Lippen. »Widerlich. Und das ist ja Rotwein! Was für eine Verschwendung!«

»Ach komm, das ist sicher irgendein vergorener Fusel, Abfall. Das gute Zeug wird getrunken, keine Sorge.«

»Ich glaube, ich hatte jetzt genug Abwechslung, Johann. Ich warte im Auto auf dich. Lass dir Zeit.« Tasso stieß sich ab und versuchte, seinen Platz bei dem Gebäude zu verlassen. Dabei schwankte er leicht. Die Hälfte von Vierwegers Taschenflasche ging vermutlich auf sein Konto.

Inzwischen waren zwei weitere Schnappviecher ausgebrochen. Eines flüchtete mitten durch die Menge, aber sein Gefährte musste dran glauben und wurde niedergestreckt. Schon lag das Wudele auf der Straße und klappte erbärmlich das große Maul auf und zu. Dabei stieß es spitze Schmerzensschreie aus, die in Tassos Ohren etwas zu echt klangen.

Er blieb stehen und lauschte. War das gar nicht das Schnappviech? Diese Schreie kamen von weiter links, von dort, wo sein Gefährte sich noch durch die Menschen kämpfte und in alle Richtungen schnappte. Die Schreie steigerten sich zu einem grausigen Höhepunkt und brachen dann unvermittelt ab. Tasso starrte angestrengt in die Richtung. Er hatte Mühe, seinen Blick zu fokussieren. Vor ihm erstreckten sich nur wogende Köpfe. Das Schnappviech rannte in der Ferne davon und verschwand in eine Toreinfahrt.

Im nächsten Augenblick kam es nur wenige Schritte vor Tasso zu einem Tumult. Während einige Leute versuchten, aus dem Gewühl zu entkommen, drängten andere voran, um der Ursache der Schreie auf den Grund zu gehen. Ein Carabiniere hatte die Hand an den Gürtel mit der Waffe gelegt und näherte sich aus der entgegengesetzten Richtung.

»Der blutet wie ein abgestochenes Schwein!«, rief jemand mit schriller Stimme.

»Der atmet nicht mehr!«

»Hilfe!«

»Werner, nimm das Kind da weg!«

»Ein Arzt!«

Tasso zögerte nicht länger. Mit kräftigen Ellbogenstößen bahnte er sich seinen Weg und erreichte zusammen mit dem Carabiniere eine Lücke in der Menschenmenge. Dort kniete ein Bursche neben einem leblosen Körper. Eine rote Lache breitete sich zähflüssig aus. Das war eindeutig kein Rotwein. Ratlos schaute der junge Carabiniere erst auf die beiden Gestalten am Boden und dann in die Menge. Dabei fing er auch Tassos Blick auf.

Der kniende Mann hob seine blutverschmierten Hände und starte wild um sich. »So tut doch was! Er ist verletzt! Der stirbt hier weg!«

Um ihn herum wurde es ruhiger, aber niemand reagierte. Vermutlich war es das unfassbar viele Blut, das die Menschen davon abhielt, sich dem reglosen Körper zu nähern. Nicht einmal der Carabiniere rührte sich.

Tasso sprang nach vorne in die Lücke. »Holen Sie einen Krankenwagen! Verstärkung! Jetzt bewegen Sie sich, Signore!«, herrschte er den Uniformierten an.

Der stutzte kurz und nickte dann. Im nächsten Augenblick war er verschwunden, dafür näherten sich seine beiden Kollegen.

Tasso ging neben dem Knienden, der sinnlos mit den Händen in der Luft herumfuchtelte, in die Hocke. Sein Freund lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Pflaster. Beide waren ähnlich mit mehreren Lagen Röcken, einer grünen Schürze und einem Kopftuch bekleidet.

Sanft drehte Tasso den Verletzten auf die Seite. Ein junger Mann, höchstens Mitte zwanzig. Das Hemd war am Hals blutdurchtränkt.

Tasso holte tief Luft, fühlte sich mit einem Schlag wieder nüchtern. Hier zählte jede Sekunde, vielleicht war es sogar schon zu spät. Noch lebte der Verletzte, sein Atem ging stoßweise. Auf den geschminkten Lippen hatten sich schaumig-blutige Bläschen gebildet. Die Augen waren weit aufgerissen, die Pupillen panisch geweitet. Immer noch pulsierte das Blut aus dem tiefen Schnitt. Konnte ein Mensch einen solchen Blutverlust überhaupt überleben?

Der kniende Mann hielt plötzlich ein Küchentuch in die Höhe. »Wir müssen die Blutung stillen. Abbinden! Können Sie das? Helfen Sie ihm!« Er beugte sich vor und wollte das Tuch auf die klaffende Wunde drücken.

Tasso schüttelte stumm den Kopf und ließ ihn dann gewähren. Mit der Rechten schlug er ein Kreuz.

»Helfen Sie! Jetzt tun Sie doch was!« Der Mann fuchtelte hilflos mit dem blutverschmierten Lappen. Er wusste gar nicht, was er tat. Tasso fiel ihm in den Arm, drückte ihn nach hinten. Hektisch blickte er sich um, sah die beiden Carabinieri ebenso regungslos am Rand der Menge stehen wie ihr Kollege zuvor.

»Sie da! Halten Sie den Mann zurück! So geht das nicht! Kann mir jemand wirklich helfen? Ansonsten bleiben Sie zurück, alle miteinander!«

Der kleinere Carabiniere reagierte sofort. Er kam Tasso zu Hilfe und schaffte es, den inzwischen haltlos schluchzenden Mann ein Stück wegzuziehen. Tasso schnappte sich den Lappen und versuchte, die Wunde abzudrücken. Er spürte den rasenden Pulsschlag des Verletzten durch den Stoff.

Der zweite Carabiniere hielt sich für clever. Er baute sich breitbeinig über Tasso auf, stemmte beide Hände in die Hüfte und starrte hinab. »Seit wann erteilt uns ein Zivilist Befehle?« Das waren die ersten Worte auf Italienisch, die Tasso an diesem Tag zu hören bekam. Da dieser Grünschnabel aber Deutsch zumindest verstand, gab Tasso seine Antwort in dieser Sprache.

»Müsste ich nicht, wenn Sie Ihre Arbeit machen würden! Können Sie Erste Hilfe?«, bellte er grob.

Das reichte zumindest, um den Carabiniere zum Schweigen zu bringen. Auf die Idee zu helfen kam er jedoch immer noch nicht, sondern begnügte sich damit, wichtig über dem Verletzten aufzuragen.

Kopfschüttelnd angesichts solcher Inkompetenz ignorierte Tasso ihn. Der Verletzte atmete flacher und hatte die Augen geschlossen. Tasso versuchte, das Tuch besser zu platzieren. Mit dem Unterarm wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Was konnte er noch tun? Er wagte es nicht einmal mehr, den Verletzten zu bewegen. Seine Erfahrungen aus dem Krieg bezogen sich eher auf Schussverletzungen. Und die Beinwunde seines Commandante Bruno Visconti, nachdem der auf die Granate getreten war, hatte er mit seinem Gürtel abbinden können. Aber hier konnte er dem Verletzten schlecht den Hals abschnüren.

Er schaute auf und erblickte zu seiner Erleichterung Vierweger, der die Menge um fast einen Kopf überragte.

Tasso winkte ihm hektisch zu. »Johann! Kannst du eine Absperrung organisieren?« Er wandte sich an die Menschen und versuchte, so vielen wie möglich direkt in die Augen zu schauen. Noch immer hielten sie respektvollen Abstand, schienen hin- und hergerissen zwischen Sensationsgier und dem schrecklichen Anblick des Verletzten in der beständig größer werdenden Blutlache. Die meisten hielten Tassos bohrendem Blick nicht stand, schauten weg und wichen einen Schritt zurück, sofern das möglich war. Helfen konnte oder wollte niemand.

Tasso richtete sich auf. »Hier wurde jemand verletzt«, erklärte er mit lauter Stimme. »Machen Sie Platz, damit der Krankenwagen durchkommt! Wer etwas gesehen hat, meldet sich mit seinen Personalien bei diesem Carabiniere.« Er streckte den Zeigefinger aus.

Der Angesprochene setzte zu einer abwehrenden Geste an, bevor er begriff, dass diese Anweisung ziemlich vernünftig war und ihm die Arbeit erleichterte. Also nickte er energisch.

»Alle anderen verlassen jetzt diesen Bereich!«, rief Tasso. »Wir kümmern uns um alles! Machen Sie sich keine Sorgen. Am besten begeben Sie sich nach Hause.« Im Stillen betete er, dass sich jetzt niemand fragte, ob da ein Messerstecher unterwegs war und womöglich nach weiteren Opfern Ausschau hielt. Eine Massenpanik war das Letzte, was sie hier jetzt brauchen konnten.

Aber vermutlich glaubten die meisten an einen Unfall mitten im Gedränge und dass der Mann, der neben dem Verletzten gekniet hatte, der Verursacher war. Er hockte inzwischen eine Armlänge entfernt und schluchzte laut. Der Carabiniere hielt ihn an den Schultern fest, musste jedoch keine Kraft mehr aufwenden.

»Wir regeln das, Commissario.« Vierweger dirigierte vier Burschen mit dem Seil, mit dem zuvor die Schnappviecher im Zaum gehalten worden waren, ein Viereck um die Leiche zu bilden.

Widerstrebend wichen die vorne Stehenden Schritt um Schritt zurück. Der Carabiniere, der Tasso zuvor widersprochen hatte, fand sich mit finsterer Miene an einer Ecke wieder. Er wurde bereits von Frauen und Männern verschiedenen Alters belagert, die alle gleichzeitig auf ihn einredeten. Ein paar Schaulustige trollten sich, doch die meisten blieben, wo sie waren, gafften ungeniert und besprachen untereinander, was sie sahen.

»Gehen Sie nach Hause, oder meinetwegen feiern Sie woanders weiter! Wird’s bald?«, wiederholte Tasso. Er zweifelte daran, dass seine Worte Wirkung zeigten, aber einen Versuch war es wert.

Vierweger trat heran. Mit einem scheuen Seitenblick auf den Verletzten schlug auch er ein Kreuzzeichen. »Was für eine Sauerei«, fügte er pietätlos an.

In der Ferne war endlich die Sirene eines Krankenwagens zu hören.

»Tasso! Commissario? Hier bin ich!«

Tasso hob den Kopf, ohne seine Position zu verändern. Der Pulsschlag unter seinen Händen wurde noch schwächer. Das Tuch war inzwischen komplett rot gefärbt.

Eine junge Frau in einem zerlumpten rosafarbenen Ballkleid hatte sich über das Seil gebeugt und winkte ihm zu. »Benötigen Sie meine Hilfe?«

»Ah, das Fräulein Oberhöller, grüß Gott«, rief Vierweger. »Kennen Sie sich mit Erster Hilfe aus?«

»Nein, tut mir leid.«

Gereizt wollte Tasso sie schon fortschicken, doch dann sah er die Leica in Mara Oberhöllers Hand und erkannte seine Chance. »Lassen Sie die junge Dame bitte durch. Mara, können Sie Fotos machen?«

Wenn der Verletzte erst abtransportiert war, hätte er später wenigstens ein paar Bilder für die Ermittlungen.

Wieso Ermittlungen? Dachte er bereits so weit? Würde er denn welche leiten?

In dem Moment stutzte auch Vierweger neben ihm. »Sag mal, Aurelio, bist du nicht eigentlich immer noch suspendiert?«

2. Kapitel, in welchem Tasso wieder zum Commissario avanciert

An die folgenden Stunden konnte Tasso sich später nur noch bruchstückhaft erinnern. Vor allem blieb ihm im Gedächtnis, dass viele aufgeregte Menschen ständig durcheinanderredeten. Zum Glück schien es sich wirklich um einen einzelnen Zwischenfall zu handeln; einen Unfall oder vielleicht sogar eine gezielte Tat. Jedenfalls war da kein Amoklauf oder etwas Ähnliches geschehen, denn weitere Attacken gab es nicht. Leider hatte aber auch niemand eine blutverschmierte Person gesehen und es gab keine Beschuldigten, sodass sie niemanden verhaften konnten.

Nicht nur der Krankenwagen samt Notarzt und die Carabinieri rückten an, auch die Polizia di Stato war alarmiert worden. Damit war ein Kompetenzgerangel der beiden Polizeiorgane unausweichlich. Und dass Tasso offiziell gar nicht im Amt war, weil die interne Prüfung seiner Schießerei vom Januar sich hinzog, machte es natürlich nicht einfacher. In dem Augenblick, als der forsche Carabiniere begriff, dass er tatsächlich einem Zivilisten gegenübergestanden hatte, zog er ein Gesicht, als wolle er Tasso am liebsten zum Duell fordern.

Zu Tassos – und auch Vierwegers – Erleichterung folgte der Wagenladung Uniformierter aus Bozen eine schwarze Fiat-Limousine, der kein Geringerer als Vice-Questore Gianluca Ferrara entstieg und die Räumung und Absperrung des Rathausplatzes anordnete. In einem Moment seltener Eintracht vertrieben Carabinieri und Staatspolizei die Schaulustigen und sorgten dafür, dass nach dem Verletzten auch der Mann, der neben ihm gekniet hatte, mit einem Krankenwagen abtransportiert werden konnte. Er stand unter Schock. Tasso sorgte geistesgegenwärtig dafür, dass ein Agente abkommandiert wurde, um ihn später im Krankenhaus zu befragen. Oder zu bewachen – wer konnte das zum jetzigen Zeitpunkt schon sagen?

Danach war es jedoch mit dem Frieden vorbei, denn Ferrara zog ungeachtet des Gezeters seitens der ranghöheren Carabinieri die Ermittlungen an sich. Tasso war klug genug, sich nicht einzumischen, während sein Vorgesetzter und ein rotgesichtiger Mann im Rang eines Maggiore das ausdiskutierten. Ferraras kantige Gestalt, an dem der Anzug immer wie an einem Kleiderhaken hing, wirkte schmächtig gegenüber dem massigen Carabiniere. Außerdem war der Vice-Questore nicht halb so besonnen wie Questore Bruno Visconti; sein Temperament glich vielmehr dem des Ätna seiner Heimatinsel Sizilien. An diesem Tag verlegte er sich jedoch auf eine weitgehend diplomatische Argumentation und führte aus, dass seine beiden besten deutschsprachigen Polizisten vor Ort und sie damit für die Befragungen eindeutig im Vorteil wären.

Verwirrt schauten Tasso und Vierweger sich an, bis ihnen bewusst wurde, dass sie gemeint waren; der eine freigestellt, der andere längst im Ruhestand. Auf den wütenden Hinweis des Maggiore, dass er sehr wohl von Tassos Suspendierung wisse, entgegnete Ferrara lediglich mit einem schmalen Lächeln: »Da irren Sie sich. Er ist seit gestern wieder im Dienst.«

Mit diesen Worten wandte er sich an den Mann, der als Ratsherr das Egetmann-Protokoll vorgelesen hatte und sich als Jakob Sulzer, der echte amtierende Bürgermeister von Tramin, entpuppte, und fragte nach einem Besprechungsraum im Rathaus. Mit einer auffordernden Geste in Tassos Richtung folgte er dem Bürgermeister die Freitreppe hinauf und ins Gebäude. Der Maggiore drohte dem Rücken des Vice-Questore mit der Faust und murmelte, er solle sich noch auf ein Nachspiel gefasst machen. Dann gab er scharfe Befehle in alle Richtungen, woraufhin seine Carabinieri nach und nach den Platz räumten. Übrig blieben drei Agenti sowie sechs Zeuginnen und Zeugen, darunter auch Mara Oberhöller und ihre Freundin, deren Namen Tasso vergessen hatte.

»Tasso? Wie lange soll ich noch auf Sie warten?«, hörte er Ferrara vom Rathauseingang her rufen.

»Ich komme.« Tasso wandte sich an Vierweger. »Begleitest du mich?«

»Glaubst du, das lasse ich mir hier entgehen? Ich hoffe nur, dass Ferrara nicht merkt, wie viel Schnaps ich intus habe. Könnte meinem guten Ansehen schaden.« Er lachte reumütig.

»Darum hast du dir noch nie Gedanken gemacht.« Tasso fühlte sich seit dem Anblick des vielen Blutes wieder nüchtern.

»Ach ja, das stimmt. Vermutlich braucht Ferrara mich mal wieder zum Dolmetschen.«

Kopfschüttelnd ging Tasso voraus und gab im Vorbeigehen Mara ein Zeichen.

»Tasso?« Am Absatz der Treppe tauchte Mara hinter ihnen auf. »Heißt das, ich soll mitkommen?«

»Möchten Sie denn? Das ist jetzt schon der dritte Vorfall, den Sie hautnah miterleben.«

»Also eigentlich bin ich ja keine Zeugin. Ich war nicht einmal in der Nähe, als es passiert ist. Aber das meinen Sie vermutlich nicht, oder?«

»Nein, meinte ich nicht.« Dass sie den Anblick des Verletzten mit dem vielen Blut – zumindest äußerlich – gut wegsteckte, wunderte Tasso jedenfalls inzwischen nicht mehr. Mara hatte sich als seine Praktikantin bei den vorangegangenen Ermittlungen nicht nur als zäh, sondern auch als klug und äußerst nützlich erwiesen.

Vor dem Eingang versuchte Mara vergeblich, ihr Ballkleid, diesen Alptraum aus verdrecktem rosa Tüll, zu bändigen, damit sie durch die Rathaustür passte. Tasso fand diese Verkleidung recht gut gewählt. In der Zuschauermenge hatte sie sicherlich genug Platz um sich herum.

»Commissario?« Ein Agente tauchte hinter ihm auf der Treppe auf, als er das Gebäude betreten wollte.

Tasso hob eine Augenbraue. »Mancuso, haben Sie auch heute Dienst?«

Sichtlich geschmeichelt lächelte der Angesprochene. »Sie erinnern sich an mich?«

»Machen Sie Witze? Sie sind bei meinem letzten Einsatz dabei gewesen. Seitdem wurde ich suspendiert, Sie zum Glück nicht.« Und er war der Agente, der ein Auge auf Mara geworfen hatte, das war Tasso nicht entgangen. Doch auch ohne diese Erinnerung war sein Aussehen wegen der abstehenden Ohren und der krummen Nase ziemlich markant.

Mancuso wurde ernst. »Es hat nicht viel gefehlt. Questore Visconti hat persönlich dafür gesorgt, dass ich und Mauro keine Konsequenzen zu befürchten hatten.«

»Mauro?«

»Agente Cosentino.«

»Ach, richtig. Das freut mich zu hören. Also, dass es keine Konsequenzen nach sich gezogen hat. Sie beide stehen ja ganz am Anfang ihrer Laufbahn.« Es war überflüssig zu sagen, dass die beiden – genau wie er selbst – disziplinarisch hätten bestraft werden müssen, weil sie eigenmächtig und ohne Befehle gehandelt hatten. Mit der Suspendierung hatte das aber nichts zu tun. Die war eine Folge dessen, dass Tasso die Verantwortung für den Tod eines Faschisten während des Schusswechsels auf sich genommen hatte. Und das würde er niemals und keine einzige Sekunde bereuen.

»Waren Sie auch privat hier?«, fragte Mancuso und warf einen vielsagenden Blick auf Tassos lumpigen Anzug.

In dem Moment rief Mara von drinnen, er solle sich beeilen. Tasso lächelte entschuldigend und ließ Mancuso stehen. Offensichtlich war Ferrara jetzt mit der Geduld am Ende und zu seiner üblicherweise fahrigen Art zurückgekehrt.

»Tasso, kommen Sie hier in dieses Büro, ich möchte Sie kurz unter vier Augen sprechen.« Ferrara schob ihn mit einer raschen Handbewegung durch eine Tür und warf sie zu. Dann fuhr er sich durch die kurzen dunklen Haare, sodass sie zu allen Seiten abstanden. »Was ist das da draußen überhaupt? Dantes Inferno?«

»Ein Faschingsumzug. Eine dieser Traditionen hier in Südtirol, das kennen Sie doch.« Da Tasso keine Sitzgelegenheit erblickte, verschränkte er die Arme und blieb stehen.

Ferrara lehnte sich mit der Hüfte gegen einen von Papieren übersäten Schreibtisch. »Ich kenne kirchliche Traditionen, Wallfahrten oder diese weinenden Madonnenfiguren, denen sie in meiner Heimat hinterherrennen. Aber das schlägt alles.«

Tasso erinnerte sich wieder daran, dass Ferrara von sich behauptete, nicht gläubig zu sein. Als er den Vice-Questore einmal dabei überraschte, im Bozner Dom eine Kerze anzuzünden, hatte der abgewiegelt, es schade ja nicht.

»Nun, es sind klassische Bräuche, um den Winter auszutreiben und die Fastenzeit zu beginnen. Außerdem gibt es in Tramin einen ausgezeichneten Wein, und damit lässt es sich eben gut feiern«, erklärte er geduldig, wobei er sich fragte, ob er gerade allen Ernstes dabei war, etwas zu verteidigen, was er selbst lächerlich fand.

Ferrara unterbrach seine Gedanken. »Genug davon. Was ist hier passiert? Was wissen Sie darüber?«

»Momento. Fragen Sie mich als Augenzeugen, oder bin ich jetzt tatsächlich wieder im Dienst?«

Ferrara grinste. »Wie ist es Ihnen lieber?«

Tasso schwieg. Er hatte selten mit Bruno Viscontis Stellvertreter zu tun, aber sie kannten einander gut genug. Außerdem legte der Questore gerade hinsichtlich seines Stellvertreters Wert darauf, auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten und sich intensiv über alles, was in der Questura vor sich ging, auszutauschen. Die beiden Männer waren ungefähr im gleichen Alter, politisch meistens einer Meinung und respektierten ihre jeweiligen Kompetenzen. Ferraras einziger Makel bestand darin, dass er außer ein paar Wörtern kein Deutsch sprach. Sehr viele Italiener in Behörden und Verwaltung legten keinen Wert darauf, die Sprache zu beherrschen, und warteten lieber geduldig, bis die Menschen in Südtirol endlich vernünftiges Italienisch lernten – seit nunmehr fast fünfundvierzig Jahren vergeblich.

Tasso war eine der wenigen Ausnahmen von dieser Regel. Das wiederum mochte der Hauptgrund sein, warum er hier stand, obwohl er so seine Zweifel hatte, dass er in Tramin mit seinem Hochdeutsch, auf das seine Mutter als Städterin aus Bozen solchen Wert gelegt hatte, weiterkam. »Nun, ich nehme an, dass Sie sich denken können, wie gern ich meinen Dienst wieder aufnehmen würde.«

»Dann ist es entschieden, auch in meinem Sinne.« Ferrara legte die Hände an die Schläfen und stöhnte leise. »Ich werde mich morgen früh mit Bruno zusammensetzen. Wie Sie wissen, soll es noch eine Anhörung seitens des Innenministeriums geben.«

Zum ersten Mal bemerkte Tasso, dass Ferrara bereits graue Sprenkel in den braunen Locken hatte. Auch die Falten um seine Augen und auf der Stirn waren deutlich tiefer, als er sie in Erinnerung hatte. Es führte ihm vor Augen, wie unerbittlich die Zeit voranschritt, für sie alle. Tasso würde in diesem Jahr fünfunddreißig werden. Und die Frage, was er eigentlich Gescheites mit seinem Leben anfangen sollte, außer Polizist zu sein, verlangte immer noch nach einer Antwort.

»Tasso?«

»Scusi, was haben Sie gesagt?«

»Ich habe meine Frage wiederholt, was hier passiert ist.«

»Darüber weiß ich bis jetzt nicht viel. Ich hörte Schreie. Als ich bei dem Opfer ankam, war es schon geschehen. Der zweite Mann, der jetzt im Krankenhaus ist, war völlig von Sinnen. Ich habe mich vornehmlich um den Verletzten gekümmert.« Vermutlich vergeblich. Der angespannten Miene des Notarztes nach zu urteilen, hatte es nicht gut ausgesehen.

»Gut, ich überlasse Ihnen das weitere Vorgehen. Machen Sie sich an die Arbeit. Ich hoffe sehr, dass es nur ein Unfall war.« Ferrara schaute an sich hinab. »Habe ich einen Flecken auf dem Hemd? Oder warum starren Sie mich immer noch so an?«

»Nein, Ihr Hemd ist makellos. Ich war in Gedanken. Die Anhörung. Könnte es Probleme geben?«

»Das ist eine sehr gute Frage. Die wichtigen Herren scheinen sich daran zu stören, dass es keine Dienstwaffe war, mit der Sie geschossen haben.«

»Das ist korrekt. Es war eine kleinkalibrige Beretta, die üblicherweise als Sportwaffe benutzt wird. Aber warum ist ausgerechnet das ein Problem? Ricardo Bosco war legal im Besitz der Waffe und hat sie mir geliehen. Ich habe geschossen, ein Mann ist tot. Was noch?«

Ferrara zuckte nur vielsagend mit den Schultern. Dann stieß er sich von der Schreibtischkante ab. »Kommen Sie morgen früh um neun in mein oder Brunos Büro, dann besprechen wir das. Ich lasse Ihnen zwei Männer hier, die Ihnen den Rücken decken, falls es Schwierigkeiten geben sollte, und …«

»Wenn es geht, geben Sie mir Mancuso, das reicht. Und es wäre wirklich hilfreich, wenn Sie etwas arrangieren könnten, damit Vierweger mich unterstützt. Der kennt sich hier auf dem Dorf mit den Leuten besser aus.«

»Meinetwegen. Sie beide hatten als Team einen guten Ruf, da bekomme ich das irgendwie hin. Dann soll er morgen früh auch nach Bozen kommen.«

»Das hilft mir sehr, vielen Dank.«

»Weitere Sonderwünsche? Vielleicht diese fesche Signorina, die da draußen wartet? Die kommt mir bekannt vor.« Ferrara lächelte schmal.

»Das ist Signorina Oberhöller, die Tochter des Bürgermeisters von Meran. Sie hat mich im Dezember während der Ermittlung zum Tod des Malers im Hotel Bellevue unterstützt.«

»Richtig, die Praktikantin. Diese Idee, die Bruno Ende letzten Jahres hatte.« Sein Unterton verriet, dass er in dieser Angelegenheit ausnahmsweise nicht mit dem Questore übereinstimmte und es für eine dumme Idee hielt, eine junge Frau an der Polizeiarbeit teilhaben zu lassen.

Doch Tasso ließ sich davon nicht abschrecken. »Genau genommen musste sie ihr Praktikum Anfang Januar abbrechen, nachdem ich nicht mehr zum Dienst antreten durfte. Es spräche also nichts dagegen, wenn sie …«

»Halt, ich will nichts weiter hören. Für heute ist sie eine Zeugin wie alle anderen, die da draußen stehen. Machen Sie daraus, was Sie für richtig halten. Alles Weitere soll Bruno klären, ich halte mich raus.« Ferrara riss die Tür auf und stürmte mit einem knappen Gruß aus dem Raum. Tasso hörte, wie er im Flur etwas sagte und Vierwegers tiefe Stimme ihm eine Antwort gab.

Erstaunt bemerkte Tasso, wie sehr er sich darauf freute, dass der breitschultrige Südtiroler ihn unterstützen würde. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr er seinen Ispettore vermisst hatte.

Er trat auf den Flur und blickte erst Mara, dann Vierweger und auch Mancuso an, der gerade hineingestürmt kam und Mühe hatte, sich sein begeistertes Grinsen zu verkneifen.

Tasso faltete die Hände vor den Bauch. »Also, dann beginnen wir vier mit der Ermittlung. Wir wissen, dass ein Mann Mitte zwanzig in der Zuschauermenge während des Egetmann-Umzugs verletzt wurde. Soweit ich das sehen konnte, hat er einen Schnitt unterhalb des Halses davongetragen. Im Moment gehen wir davon aus, dass es die Folge eines unglücklichen Gerangels war, vielleicht mit dem anderen Mann, der bei ihm war. Das wird zu klären sein.« Er zögerte ein wenig, bevor er weitersprach. »Natürlich wäre es möglich, dass es sich um einen gezielten Angriff handelte. In diesem Fall müssen wir die Hintergründe der Tat klären. So weit verstanden?«

Alle nickten.

»Mara, Sie haben Fotos vom Tatort gemacht, richtig?«

»So ist es.«

»Lassen Sie die möglichst schnell entwickeln, und sehen Sie zu, dass unser Rechtsmediziner Dottore Agnelli Abzüge bekommt. Mancuso, sprechen Sie eigentlich Deutsch?«

»Nur ein wenig, ich bedaure.«

»Na gut. Johann, du und Mancuso, ihr beginnt mit den Befragungen der Leute da draußen und protokolliert alles. Verschafft euch einen Überblick. Ich fahre nach Hause und ziehe mich um. Danach werde ich versuchen, die beiden Burschen im Krankenhaus zu vernehmen.« Dass er mit dem Opfer würde sprechen können, bezweifelte er jedoch sehr.

Vierweger räusperte sich. »Es sind auch schon welche gegangen, nachdem sie ihre Aussage bei dem Carabiniere gemacht haben. Mindestens ein alter Bauer und zwei junge Burschen. Was die zu sagen hatten, habe ich nicht mitbekommen, ich war zu sehr damit beschäftigt, die sensationshungrige Meute in Schach zu halten.«

»Oh, wie großartig. Wer hat eine Idee, wie wir den jungen Kollegen von der Konkurrenz davon überzeugen, diese Informationen herauszurücken?«

3. Kapitel, in welchem Tasso sich fragt, wer eigentlich in einem Krankenhaus gesund werden kann

Es dämmerte bereits, als Tasso vor dem zentralen Hospital im Bozner Westen ankam. Zuvor hatte er in der Questura den Dienstausweis und seine Beretta abgeholt. Zum ersten Mal seit Wochen fühlte er sich wieder vollständig. Der diensthabende Kollege am Empfang hatte ihn außerdem mit den bisherigen spärlichen Informationen versorgt. Immerhin kannte er jetzt den Namen des Opfers und des Zeugen. Falls es möglich war, wollte er mit beiden sprechen.

Tasso betrat das moderne Gebäude und wurde von dem typischen Geruch nach schlechtem Essen, Desinfektionsmitteln und Krankheit empfangen. Ihm wurde von dieser Mischung beinahe übel. Ob alle Krankenhäuser auf der Welt so rochen?

Er hatte gerade an der Pforte, einem gläsernen Kubus mit Gegensprechanlage, nach den Zimmernummern gefragt, als linker Hand eine Doppeltür aufgestoßen wurde und ein ganzer Tross Ärzte in weißen Kitteln hindurchging.

Tasso erkannte einen von ihnen. »Dottore Agnelli! Ist etwas passiert?«

Der Angesprochene, ein hochgewachsener grauhaariger Mann, kam auf ihn zu und nahm seine Hornbrille ab. »Commissario Tasso. Sie kommen zu spät.«

»Was meinen Sie?«

»Ich wurde soeben verständigt. Georg Mayer ist seiner Verletzung erlegen.« Er stockte. »Nicht, dass mich das verwundert. Die Halsschlagader war eröffnet worden. Er ist verblutet, trotz mehrerer Transfusionen. Die Kollegen haben getan, was sie konnten.«

»Oddio!« Tasso bekreuzigte sich und senkte den Kopf für einen Moment des Schweigens. Ein Mensch war gestorben. Und um ihn herum, so wurde ihm bewusst, erklangen Geräusche von erschreckender Normalität. Die Schritte der Ärztegruppe quietschten auf dem Linoleumboden. Eine Frau fragte den Pförtner nach jemandem. Die Tür des Fahrstuhls öffnete sich, und die Gummilippen lösten sich mit einem Schmatzen voneinander.

Dottore Agnelli räusperte sich. »Möchten Sie bei der Obduktion dabei sein?«

»Wäre das sinnvoll? Erwarten Sie Überraschungen?«

»Überhaupt nicht. Erste Blutproben haben wir ihm bereits abgenommen, nachdem er eingeliefert wurde. Er war nicht nüchtern, und die Todesursache ist klar ersichtlich. Für Sie wird interessant sein, womit dieser Schnitt ausgeführt wurde. Aber sofern niemand eine Person in der Menge gesehen hat, die mit einer Glasscherbe oder einem Messer herumfuchtelte, hilft Ihnen das vermutlich nicht einmal weiter.«

»Nein, da haben Sie recht.«

»Dann also bekommen Sie morgen Abend die ersten Ergebnisse. Ich empfehle mich.« Dottore Agnelli reichte ihm die Hand zum Abschied.

»Halt, noch etwas. Was ist mit den Angehörigen?«

»Die Mutter Sieglinde Mayer ist noch oben auf der Intensivstation. Sie wird betreut. Wenn Sie mich persönlich fragen, wäre es besser, wenn Sie erst morgen mit ihr sprechen. Das alles hat sie verständlicherweise sehr mitgenommen.«

»Natürlich. Ich fahre morgen nach Tramin und rede mit der Familie.«

»Gut, bis dann. Arrivederci.«

Tasso blickte dem Arzt nach, bis er durch eine Schwingtür verschwunden war.

Hätte er mehr tun können? Das Opfer hatte bereits sehr viel Blut verloren, als er eingetroffen war. Die Wunde war riesig gewesen, zumindest in seiner Erinnerung.

Ihm blieb keine Zeit für Schuldgefühle. Er musste sich darauf konzentrieren, den Menschen zu finden, der Georg Mayer das angetan hatte. Derjenige war dafür verantwortlich, niemand anders; ob nun aus Versehen oder mit Absicht. Es war seine Aufgabe, die schuldige Person zu identifizieren.

Er gab sich einen Ruck und ging in Richtung Treppenhaus. Das Zimmer von Manfred Oberhofer, dem Freund des Verstorbenen, lag im vierten Stock. Schon auf dem dritten Absatz ging ihm die Puste aus und dämpfte nach der schlechten Nachricht endgültig die Freude, endlich wieder ermitteln zu dürfen.

Tasso blieb stehen, um zu verschnaufen. Er war doch gehörig außer Form geraten. Was ihn eigentlich nicht wundern dürfte. Es war der 26. Februar, und er saß seit nunmehr sechs Wochen zu Hause und drehte Däumchen. Sogar Bruno Visconti war nach einer vierwöchigen Kur schon eine Woche wieder im Dienst. Wie es dagegen mit ihm nach der Anhörung weiterging, war völlig offen. Vielleicht entschieden die da oben im Innenministerium, dass ein Commissario, der einen Faschisten erschossen hatte, nicht tragbar wäre. Hinzu kam, dass er zu dem Zeitpunkt von diesem unsäglichen Questore aus Trient bereits zum ersten Mal suspendiert gewesen war, und er somit außer Dienst gehandelt hatte. Ein böswilliger Bürokrat könnte das als Akt der Selbstjustiz deuten.

Oder aber sie fanden heraus, dass er nicht die Wahrheit gesagt und Ricardo Bosco die tödliche Kugel abgefeuert hatte. Dann hätte er niemanden in Notwehr erschossen, sondern nur gelogen. Wäre das schlimmer?