Corinna, die Ponys und das Meer - Lise Gast - E-Book

Corinna, die Ponys und das Meer E-Book

Lise Gast

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Beschreibung

Corinna ist auf den Weg nach Dagebüll. Von hier aus geht es weiter auf eine Nordfriesische Insel, wo sie plant, den Sommer über auf dem Ponyreiterhof "Möwenhof" zu arbeiten. Sie ist voller Erwartung und Vorfreude.Auf dem Ponyhof lernt Corinna schnell mit ihren neuen Aufgaben umzugehen. Sie ist nicht zimperlich und kann gut anpacken. Die Arbeit mit den Ponys und die Bewirtung der Gäste machen Spaß, aber kosten ihr auch viel Kraft – und vor allem gute Nerven. Doch Corinna ist stark und lässt sich nicht so leicht unterkriegen. Und so erlebt Sie eine unvergessliche Zeit mit neuen Freunden, Ponys und vielen schönen Stunden am Meer.Corinna, die Ponys und das Meer ist ein lebendiger und fesselnder Roman über Alltag und Leben auf dem Ponyhof. Das perfekte Buch für alle Pferde- und Pony-Fans! Lise Gast (geboren 1908 als Elisabeth Gast, gestorben 1988) war eine deutsche Autorin von Kinder- und Jugendbüchern. Sie absolvierte eine Ausbildung zur landwirtschaftlichen Lehrerin. 1933 heiratete sie Georg Richter. Aus der Ehe gingen 8 Kinder hervor. 1936 erschien ihr erstes Buch "Tapfere junge Susanne". Darauf folgen unzählige weitere Geschichten, die alle unter dem Pseudonym Lise Gast veröffentlicht wurden. Nach Ende des zweiten Weltkriegs floh Gast mit ihren Kindern nach Württemberg, wo sie sich vollkommen der Schriftstellerei widmete. Nachdem sie erfuhr, dass ihr Mann in der Tschechoslowakei in einem Kriegsgefangenenlager gestorben war, gründete sie 1955 einen Ponyhof und verwendete das Alltagsgeschehen auf diesem Hof als Inspiration für ihre Geschichten. Insgesamt verfasste Gast etwa 120 Bücher und war neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin auch als Kolumnistin aktiv.-

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Lise Gast

Corinna, die Ponys und das Meer

Saga

Corinna, die Ponys und das Meer

© 1966 Lise Gast

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711508589

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

1

Ich schreibe im Zuge, und obwohl er sich D-Zug nennt, schwankt er so, daß meine Schrift aussieht, als wäre ich in der vorletzten Klasse der Volksschule sitzengeblieben. Das hat den Vorteil, daß jeder, der mein hiermit beginnendes Tagebuch – man könnte auch sagen: meine Reisechronik – vor die Nase bekommt, nach spätestens zwölf Zeilen aufgibt. Diese Aufzeichnungen sind auch nicht für neugierige Augen von Verwandten bestimmt, sondern nur für mich. Vermutlich werde auch ich sie nie wieder lesen, außer vielleicht später im Altersheim, wenn ich mich Sonntag nachmittags langweile und alle anderen Besuch bekommen.

Ich fliege also per Bundesbahn einer der Nordfriesischen Inseln entgegen. Seit ich sie im Atlas gefunden habe, bin ich auf eine lange Fahrt gefaßt. Von München bis Dagebüll – und dann geht es eigentlich erst los, denn dann löst man sich vom Festland – senkrecht nach oben, beinahe durch das ganze Westdeutschland. Da ist ein dickes Tagebuch mit vielen leeren Seiten die einzige Möglichkeit, die Zeit zu verbringen, nachdem alle Kreuzworträtsel liegengebliebener Zeitschriften fast ganz gelöst wurden. Einen Nebenfluß in Spanien und eine Adelsschicht im alten China (oder Peru, ich weiß es nicht mehr) hat mir niemand im Abteil nennen können. Ich habe herumgefragt.

Diese meine Nordlandreise mache ich nicht ganz freiwillig. Die Großfürstin legte mir nahe, München zu verlassen. Sie erlebt viel Kummer mit mir, obwohl sie, gentlemanlike wie sie ist, das nie aussprechen würde. Eine andere Mutter hätte ihre Tochter heftig zur Rede gestellt: »Du bist das zweiundzwanzigste Mal unwahrscheinlich spät nach Hause gekommen, ohne mir mitzuteilen, warum, und ich ahne Furchtbares! Fort mit dir in Zwangserziehung!«

Das würde meine Altvordere nie sagen. Bei ihr heißt es etwa so:

»Du, Cor, meine Freundin in Wyk auf Föhr sucht eine Hilfe für die Hochsaison in ihrem Gästehaus. Und du hast diesen Winter manchmal gehustet. Ob Nordseeluft nicht gut für dich wäre? Geh, sei nett und hilf ihr ein paar Monate lang, sie zahlt gut, soviel ich weiß, und Trinkgelder gibt’s auch ...«

Worauf ich nach reiflichem Überlegen von zwei Minuten Dauer ja sagte. Zu Hause bei uns ist es nicht sehr ruhig, weil Mutter Schnauzer züchtet, es kläfft also von früh bis spät um unser reizendes Häuschen, und außerdem habe ich mich mit Peter verzankt, der sozusagen den Grund meines späten Nachhausekommens bildet. Bitte keine falschen Schlußfolgerungen: Peter ist Schauspieler, und unser Zusammensein kann eben nur nach der Vorstellung stattfinden, so daß es zwangsläufig spät werden muß, wenn man noch nach Waldtrudering hinaus muß.

Ich fuhr also ganz gern weg. Peter kann ruhig einmal ausprobieren, wie München ohne Corinna schmeckt, und die Nordsee hat mich schon immer gelockt. Außerdem soll es im Möwenhof, dem ich entgegeneile, Reitponys geben, auf denen die Gäste durch die Brandung sprengen. Da ich seit Jahren in München im Reitverein nicht nur förderndes, sondern auch aktives Mitglied bin, kommt mir das nicht ungelegen. Man kann Trinkgelder gut in Reitstunden anlegen, vielleicht aber darf man auch unentgeltlich ...

Eines freilich möchte ich nicht. Die Großfürstin, also Mutter, kurz gesagt, und die Besitzerin jenes Möwenhofes sind Freundinnen von früher her. Sie haben sich, sentimental, wie man in ihrer lang, lang vergangenen Jugendzeit war, vorgenommen, später ihre Kinder miteinander zu verheiraten. Nun setzten sie tatsächlich alle beide auch eine ganze Menge in die Welt, Mutter drei, zwei wohlgeratene blonde Brüder und mich schwarzes Schaf – und die Möwe da oben in der salzigen Nordseeluft noch mehr, soviel ich weiß. Mir den Mann meines Lebens aber von der vorhergehenden Generation aussuchen und vorschreiben zu lassen, das mag ich nicht. Dazu bin ich wohl schon zu erwachsen und erfahren; ich hätte es übrigens mit siebzehn auch nicht gemocht. Und mein Zerwürfnis mit Peter ist nicht so tiefschürfend, daß es nicht eine nette Versöhnung nach sich ziehen könnte. Hier also, liebe Vorfahren von Anno dunnemals, spiele ich nicht mit. Und jetzt kommt Hamburg, und ich muß zum Fenster hinausgucken, denn allzuviel gereist bin ich in meinem jungen Leben noch nicht, vor allem nie im D-Zug, was ja viele Vorzüge hat, wenn Mutter es bezahlt.

Nun sitze ich schon wieder in einem neuen Zug; denn in Hamburg mußte ich umsteigen, was ich allerdings erst im letzten Moment merkte. Aber ich kam noch gut über. Soeben trank ich Kaffee im Speisewagen und kam mir vor wie eine Gräfin von und zu. Das Land ist flach, von heckenbestandenen Knicks unterteilt, hell und freundlich. Mir gegenüber sitzt ein junger Mann mit Vollbart. Ich sehe durch ihn hindurch; denn ich kann Vollbärte nicht leiden, noch dazu bei jungen Männern.

Die Großfürstin hat mir einen Prospekt von der grünen Insel Föhr aufgedrängt. Es ist an der Zeit, mich darein zu vertiefen. Wie bei allen derartigen Schriften ist der anzusteuernde Ort natürlich das Paradies auf Erden. Sanfter Wellenschlag, Jodwinde – ich bin bisher immer ohne Jodbefächelung ausgekommen und dabei so gut gediehen, daß ich beim Anprobieren von neuen Hosen dankbar aufatme, wenn die Verkäuferin die Umkleidekabine verläßt, ehe ich den Bund zuziehe – und dreizehn Dornröschendörfer. Na schön.

Schon wieder bin ich umgestiegen, diesmal mit Hinüberlaufen zu einer Kleinbahn, die aus zwei Waggons besteht. Himmel, wer da alles mit will! Frauen mit Kindern auf dem Arm und Körben, in denen Hühner gackern, bei Fuß, und Männer, die fürchterlichen Tabaksqualm von sich geben. Beim Umsteigen springt einen der Seewind an. Das Abenteuer beginnt.

Leider sitzt mir der Vollbart wieder gegenüber. Ich hoffte, er führe weiter nach Sylt und stürzte sich dort ins mondäne Badeleben. Mit solch einem Bart kann man unmöglich ein Dornröschendorf heimsuchen wollen, das ist ein Widerspruch in sich.

Wir zuckeln durchs Flachland. Eine Station heißt Blocksberg, wiederum ein Widerspruch. Und jetzt kommt Dagebüll. Alles greift alarmiert zum Gepäck, aber vom Meer sieht man noch nichts. Aha, der Deich ist davor. Unser Bähnlein nimmt dreimal Anlauf, um bis zum Hafen zu gelangen. Ich wäre nicht böse, wenn es aufgäbe und zurückführe – und ich mit ihm. Auf einmal erscheint mir das Ganze fragwürdig und dumm. Eine Insel. – Insel hat so etwas Endgültiges. Ob man eigentlich dort abreisen kann, wenn es einem nicht mehr paßt? Oder ob es dann lakonisch heißt: »Tut mir leid, geht kein Schiff ...«?

Endlich Meer, Weite, sanftes Schaukeln, salzige Luft. Ich sitze vorn auf dem Fährschiff und sauge die Lungen voll. Das ist schon etwas anderes als die Münchner Luft, wenn Föhn ist!

Dagebüll bleibt zurück, es entzieht sich dem Schiff auf jene merkwürdige Art, wie Festland es an sich hat, von dem man fortgeschippert wird. Früher spielten sie dabei »Muß i denn, muß i denn ...«, später eine Zeitlang »Freut euch des Lebens ...« Hier wird nichts gespielt. Das Fährschiff ist ein nüchternes Transportmittel, ähnlich einer Straßenbahn, und die Möwen sind viel größer, als ich dachte. In dem Lustspiel »Dover-Calais« spielt Peter den Obermaat, oder möchte ihn spielen, zu blöd nur, daß er dazu einen Bart tragen muß ...

Hupp, da war etwas Hartes an meinem Kopf, besser: mein Kopf an etwas Hartem. Eine Kistenkante – Kisten sind hier überall aufgestapelt. Ich muß eingeschlafen und vornübergefallen sein. Das gibt eine bildschöne Beule an der Stirn. Egal, ich fahre nicht zum Möwenhof, um Eroberungen zu machen, sondern, um zu arbeiten. Daß ich aber hier glatt eingeschlafen bin, wo es doch so interessant, auf jeden Fall aber neu für mich zu werden anfängt ...

»Warten Sie, es blutet. Ich hab’ ein sauberes Taschentuch da«, sagt jemand neben mir. Ich hatte instinktiv und, zugegeben, ziemlich töricht an meinem Kopf herumgewischt – Beulen kann man bekanntlich nicht wegwischen. Daß es aber bluten soll ... doch, jetzt merke ich es, es rieselt so warm. Danke. Ich finde es nett, umsorgt zu werden; daß der hilfreiche Geist allerdings – Gott steh mir bei! – der immer noch nicht ausgestiegene Vollbart ist, bedauere ich ein wenig. Das Fährschiff aber geht – ich erinnere mich jetzt – weiter nach Amrum. Vielleicht bleibt er an Bord, und ich steige aus.

Hilfreich ist er sehr, zart und geschickt. Als es zu bluten aufhört, klebt er mir ein Pflaster auf. Inzwischen hat sich die »Pidder Lüng« der Mole genähert und geht längsseits, wie das wohl heißt, Wyk auf Föhr, alles aussteigen!

2

Das war die Einleitung, die in jedes Buch gehört. Wenn ich sie überlese, kommt es mir vor, als seien hundert Jahre vergangen, seit ich sie schrieb. Damals kannte ich den Möwenhof noch nicht.

Wenn man von der Straße her kommt, ist er weiter nichts Besonderes. Ein langgestrecktes Haus, soweit ganz hübsch, reetgedeckt, jedenfalls in die Landschaft passend. Ich war mit einem Auto gekommen, dessen Fahrer mir aufmunterd zunickte, als er mich, meine beiden Gepäckstücke in den Händen und die verpappte Beule auf der Stirn, an der Landungsbrücke stehen sah. Ich mußte wohl einen etwas verlorenen Eindruck gemacht haben, so was hat also auch seine Vorteile.

»Wohin?«

»Möwenhof.«

»Ich auch.«

Es stellte sich dann heraus, daß er nur etwas abzugeben hatte – außer mir. Niemand war da, und so legte er sein Paket auf die Schwelle, winkte mir zu und verschwand. Ich stellte mein Köfferchen ab und ging ums Haus herum. Und da, ja – da – – –

Da muß ich wohl etwas genauer werden. Wie die Zimmer im Möwenhof zueinander liegen, weiß ich noch nicht, es ist auch gleichgültig. Daß aber an das langgestreckte Gebäude des Möwenhofes ein anderes stößt, im rechten Winkel, so daß also eine Art Innenhof entsteht, das ist wichtig. Die Dächer beider Häuser sind vorgebaut, sie geben Schutz bei Regen oder Schnee – ich ahne nicht, ob es hier auf der Insel schneit, aber es könnte ja sein –, und darunter sind, die ganzen Wände entlang, kleine hölzerne Raufen angebracht. An denen standen, als ich, unschlüssig, was zu beginnen sei, um die Ecke schlenderte, viele kleine, dicke, runde Pferdchen nebeneinander und fraßen Heu. Auch ein paar größere waren da, das bemerkte ich aber erst später. Etwas zurückliegend, also nicht mehr im Schutz der Dächer, stand ein flacher, runder Holzbottich, neben dem sich ein Schlauchende schlangenartig ringelte.

Ich habe Pferde immer gerne gemocht. Der Anblick dieser kauenden Winzigkeiten aber, denen dicke Haarbüschel über die schmalen und kecken Nasen fielen, dieser rundlichen Kruppen und schlagenden Schweifchen, versetzte mich augenblicklich in atemloses Entzücken. Mir war, als habe ich mein ganzes bisheriges Leben nur auf dieses »Vorhang auf!« gewartet. Jetzt erst beginnt der erste Akt.

Die Möwe erschien dann auch irgendwann einmal auf der Bühne. »Möwe« ist gleichbedeutend mit Besitzerin des Möwenhofes, Freundin der Großfürstin, meine Brötchengeberin ab heute. Aber auch sie ist nur ein Statist in diesem Stück. Wer könnte wohl bestehen oder Eindruck machen neben dieser kugelig runden, vielbeinigen Herde bezaubernder Hauptpersonen!?

Sie nannte mir, Stück für Stück, die Namen der Kleinen, angefangen beim Hengstchen Perkeo bis hin zur braven, breiten Zuchtstute Genofeva. Genofeva, um irgendwo anzufangen, ist goldfarben mit schwarzer Mähne und schwarzem Schweif, sehr breit, und hat den durchhängenden Bauch, den man oft bei guten Zuchtstuten findet. Ihr zur Seite knabbert ein schlanker Halbjähriger, ganz die Mutter, der vom Vater lediglich den kecken Stern auf der Stirn geerbt zu haben scheint. Perkeo ist ein Fuchs mit heller Mähne und weißen Beinen, bei Shetlandponys sehr selten, und trägt auf der Stirn einen asymmetrischen weißen Fleck, den er diesem Sohn vererbt hat. Übrigens scheint er ihn in kleinen Abwandlungen jedem Kind mitzugeben, jedenfalls allen diesjährigen, wie ich feststellen konnte. Alle unsere Fohlen haben den Stern auf der Stirn – ich sage schon »unsere«. Gedacht habe ich das übrigens von der ersten Sekunde an.

Ach, wo soll man anfangen, wo aufhören? Da sind zum Beispiel zwei ganz besonders nette Schimmelchen. Eins heißt Morchen. Das ist nicht ganz so idiotisch, wie es sich anhört. Alle Schimmelfohlen werden schwarz geboren, und dies heißt außerdem eigentlich Moritat, weil seine Mutter Morea heißt, und wurde von Anfang an in Morchen abgekürzt. Der andere Schimmel heißt Elfe, und das ist fast noch komischer. Denn unter Elfe stellt man sich doch meist etwas ätherisch Schlankes vor, unser Elfchen aber ist vielleicht das derbste und stämmigste Pony der ganzen Schar.

»Wir halten uns eine so große Menge kleiner Ponys, weil es auf Föhr unheimlich viele Kinderheime gibt«, erklärte die Möwe. »Die kleinen Pferde bringen das Geld. Kinder sind wie verrückt auf sie, all ihr Taschengeld geht drauf für Spazierfahrten und Ritte. Wir besitzen drei kleine Kutschen, die zweispännig gefahren werden und die ihre Anziehungskraft nie verlieren. Außerdem sind sie die einzige Freude mancher Kinder, die zeitweise oder auch für immer nicht laufen können. Du wirst hier manches erleben, Cor.«

Die Möwe duzt jeden Menschen, vom Briefträger bis zum Regierungsrat. Sie ist lang und hager und besitzt einen stillen Humor, einen »englischen« Humor, wie mir scheint. Ich habe diese Art von stillvergnügtem Schmunzeln bisher nur in englischen Romanen erlebt. Meist geht sie in Reithosen und Männerpullovern herum, und wenn es kühl wird, trägt sie Herrenjacketts dazu, die längst aus der Mode sind. Dazu hat sie sommers und winters, morgens und abends – nur in der Kirche, beim Essen und im Bett nicht, nehme ich an – eine kleine, flache Schlägermütze auf dem Kopf, schottisch kariert, ohne die sie einfach nicht sie selber wäre. Ich habe sie samt Mützchen sofort ins Herz geschlossen, obwohl ich ja mit einem ziemlichen Vorurteil herkam: Backfischfreundschaften von früher, die die beiderseitigen Kinder miteinander verheiraten wollen – brrr! Aber mit dieser Möwenfrau kann man ein Leben lang befreundet sein. Ich verstehe meine Altvordere, die Großfürstin, jetzt sehr gut.

Bleiben wir bei den Pferdchen. Da ist Blinka, eine Scheckstute, schwarz-weiß, ehrgeizig im Ziehen, schwierig zu reiten. Auf sie dürfen nur Kinder, die von Hause aus schon einige Reitkünste mitbringen, denn sie darf nicht verdorben werden. Daneben Beate, ihre Halbschwester. Beate ist das Pony, auf das man jedes Kind setzen kann: narrensicher, gutmütig bis zur Selbstaufgabe. Es fehlt nur noch, daß sie, wie ein Kamel, sich hinkniet damit faule Jungen, die nicht aufspringen wollen, hinaufsteigen können. Eigentlich braucht Beate einen eigenen Pferdepfleger, der nur dazu da ist, sie vor Überforderung zu bewahren, denn jedes Kind, das anfängt, bei uns zu reiten, möchte Beate haben. Ich meinerseits würde Nikolette vorziehen, ein rassiges, tiefschwarzes, edelgebautes Pony, das auf die kleinste Zügelhilfe reagiert (man merkt das beim Fahren). Ich hab’ ihr sofort einen Reitzügel genäht, der zwei Knoten hat – dort nämlich, wo die Hand des reitenden Kindes liegen soll, darf und muß –, nirgends anders. So ein weiches Pferdemaul darf nicht verdorben und von unverständigen Kinderhänden hartgerissen werden – nur gut, daß ich jetzt da bin! Wer Nikolette reiten will, muß sich ganz unvorstellbar brav benehmen, dafür sorge ich von jetzt ab.

»So, und jetzt wollen wir mal«, sagte die Möwe nach etwa zwei Stunden. Wir standen noch immer nebeneinander, die Arme auf die Querleiste des Zaunes gestützt, und guckten hinüber. Die Ponys hatten aufgehört zu fressen, da das Heu zu Ende ging. »Am Südstrand ist jetzt Wasser. Du hast doch schon auf Pferden gesessen?«

Sie fragte nicht: Du kannst doch reiten? Niemand fragt das, der auch nur einen Schimmer von einer Ahnung von dieser hohen Kunst hat.

»Auf Pferden: ja«, sagte ich wahrheitsgemäß. Sie lächelte, was ihr Gesicht unwahrscheinlich verschönte.

»Dann nimmst du den Jarpur.«

An einem Ende der Reihe waren die Raufen höher und die Ponys größer.

»Isländer sind eigentlich dieselbe Rasse, nur größer als Shetties, sonst aber sehr ähnlich. Dieselbe Langlebigkeit, dieselbe Unermüdlichkeit. Die kleinen sind vielleicht noch etwas gewitzter, die großen gutmütiger«, erklärte die Möwe nebenbei. »Hier ist Jarpurs Trense. Willst du einen Sattel?«

»Reiten sie sich besser ohne?« fragte ich vorsichtig. Jetzt lachte sie richtig.

»Ich reite immer ohne.«

Jarpur ist fast so groß wie ein Pferd – wenn man so sagen kann –, etwa einsvierzig am Widerrist, größer als die anderen Isländer, wie ich feststellte. Trotzdem war es eine Gentleman-Geste von der Möwe, ihn mir zu geben. Er reitet sich wie ein Schaukelpferd. Sie half mir hinauf, nahm den Spann meines linken Fußes ganz leicht in die Hand (hopp, war ich oben) und schwang selbst ihr rechtes Bein geschickt über Sotas Kruppe. Sota ist ihre Leibstute, rostrot, kleiner als Jarpur, eher drahtig als stark und unheimlich schnell. Ich merkte das sofort, als wir losritten und ich Jarpur mit all meiner Technik – allzuviel ist das nicht – treiben mußte, damit er Schritt hielt.

Wir flitzten einen sandigen Weg entlang, links niedriger Nadelwald, rechts Koppeln. Das heißt, die Möwe flitzte. Ich bemühte mich, Jarpur mitzubekommen, damit ich den Anschluß nicht verlor. Dann ein Stück an einem Park entlang – überall Kinderheime, wo man auch hinsieht – und dann an den Strand. Himmel, war das schön!

Die Sonne ging gerade unter. Zwei Hunde, ein größerer und ein mittelgroßer, waren in langen Sprüngen vom Hof hergekommen und hatten sich Sota wortlos angeschlossen. Ich sah sie und die Reiterin jetzt vor dem Hintergrund des Abendhimmels, von diesem überstrahlt, als Silhouette auf dem rotschimmernden, flachen Wasser dahingaloppieren. Beinahe vergaß ich bei diesem Anblick, Jarpur anzutreiben.

Das erwies sich aber auch als unnötig. Auf dem feuchten und durch nichts zu bremsenden Sand, der von den leckenden Wellen überspült wird, schien es dem Wallach Spaß zu machen, auszugreifen. Er verfiel auch ohne Aufforderung in seinen von Frau Möwe angekündigten weit ausgreifenden Schaukelgalopp, in den ich mich, obwohl ich ohne Sattel zu reiten nicht gewöhnt bin, sofort hineinfand. Es gibt keine bequemere Gangart als einen gleichmäßigen Galopp. Jarpur wiegte mich, und ich hatte bereits vergessen, daß man auf Pferden beim Jagdgalopp im Bügel steht, im leichten Sitz, vornübergelegt. Überhaupt – hatte ich je auf Pferden gesessen? Mir war, als gehörte ich seit meiner Geburt – oder schon vorher – auf Ponys, auf diese merkwürdig breiten und flachen, gleichzeitig strammen und weichen Rücken dieser Kleinpferde, mit denen man zu verwachsen scheint, kaum daß man auf ihnen sitzt.

So fest verwachsen allerdings auch wieder nicht. Als die Möwe einmal – wahrscheinlich um einem Priel auszuweichen, den sie gesehen hatte und ich nicht – rechtwinklig abbog, tat Jarpur dasselbe, nicht aber ich, nach dem Gesetz der Trägheit räumte ich den Ponyrücken und flog über Jarpurs Kopf hinweg ins flache Wasser, ohne mir jedoch ein Härchen zu krümmen. Naß wurde ich ein wenig, war es aber schon vorher gewesen durch Sotas schleudernde Hufe vor mir. Jarpur blieb gutmütig stehen und wartete, bis ich, diesmal ohne Hilfe, wieder auf seinem Rücken saß. Die Möwe parierte ihre Sota durch und blieb von nun an neben mir.

»Ja, wir reiten alle längst wieder in der Balance, eigentlich wie Kinder reiten«, sagte sie nachdenklich, »auch in der Reiterei gibt es Moden. Als ich so alt war wie du, war der Knieschluß das A und O.«

»Ich glaube, etwas Knieschluß wäre bei mir im Augenblick auch nicht vom Übel gewesen«, sagte ich erkenntnisvoll. Sie lächelte.

»Natürlich. Und beim Springen geht man sowieso mit dem Knie ans Pferd. Aber sonst – spürst du nicht auch, wie es einen verführt, nur in der Balance zu sitzen?«

Doch, ich spürte es. Es war gleichzeitig ein Schweben darüber und ein Kleben daran; recht unlogisch ausgedrückt, wie ich merke, aber wahr. So ist es oft: das Wahre ist vielfach das Unwahrscheinlichste.

Wir ritten weiter, jetzt im Trab, in langen, weit ausgreifenden, spritzenden Trabschritten, die überhaupt nicht warfen. Ich staunte erst darüber und vergaß es dann.

Ponys am Meer. Ich verstehe nicht, daß es Menschen gibt, die es sich leisten können, wochenlang auf Ponyrücken zu sitzen und durch flaches Wasser zu reiten, den Sonnenuntergang vor sich und die salzige, harte herrliche Luft im Gesicht. Natürlich ist das nicht wörtlich zu nehmen, denn ein Sonnenuntergang dauert nicht wochenlang. Aber was ich damit meine, ist wohl klar. Anderseits ist es ein Glück, daß nur wenige es wissen, sonst gäbe es hier Volk ohne Raum. Wer es aber einmal geschmeckt hat ...

Ja, geschmeckt. Ich hatte das Gefühl, als tränke, ja söffe ich das Ganze in mich hinein. Ein zarteres Wort umfaßt es nicht. Ponys am Meer, sanfter Rhythmus des Reitens, spritzendes Salzwasser, herbe Luft, jappende Hunde, das Knirschen von Muschelschalen, wenn der Pferdehuf sie zertritt, das schwappende Rauschen der Brandung. Man möchte Münchhausens Gedicht »Der hat nie gelebt ...« verbessern oder erweitern: »Der nicht inmitten der herben Salzluft am Strand geritten ...«

Verzeih mir, Dichter, und dreh dich nicht im Grabe um. Ich tu’ es ja nicht, ich meine nur, man müßte.

Als wir wiederkamen, war es schon dunkel. Wir versorgten die Pferde und trennten uns an der »roten« Tür zum Kaminzimmer. Hier sind alle Türen verschiedenfarbig gestrichen. Das ist bei den vielen Gästen praktisch. Ich mochte nicht mehr mit hineingehen zu fremden Leuten und gleichgültigen Menschen vorgestellt werden, nach diesem Ritt, bitte, nicht! Die Möwe hatte Verständnis dafür.

»Aber hungrig müßtest du doch sein?«

Ich war es, gab es aber nicht zu. Essen, so etwas Profanes! »O nein, tausend Dank!«

Ich stand dann lange in meinem winzigen Zimmer am Fenster, ehe ich mich hinsetzte und dies alles aufzuschreiben versuchte. Man kann es ja nur versuchen, kann nur einen Hauch davon einfangen. Immerhin habe ich erfahren, daß Dinge, die man sogleich aus dem ersten Eindruck heraus aufschreibt – auch Träume zum Beispiel –, doch etwas besser im Gedächtnis haftenbleiben. Ich schrieb also und schreibe noch – nein, jetzt mag ich nicht mehr. Eben klopfte es nämlich, und auf mein »Herein« hin brachte mir jemand ein Tablett mit einem Glas Milch und ein paar belegten Broten. An sich herrlich, aber der Jemand war der Vollbart, so wahr ich hier sitze. Das trübte das Fest ein bißchen. Er grinste, als er mein Gesicht sah.

Ich habe die Brote dann doch mit Genuß gegessen und dabei erst gespürt, was für einen wühlenden Hunger ich hatte. Und ich habe mir einzureden versucht, daß der blöde Kerl ein Möwenhofgast ist, der sehr bald wieder geht. Himmel, so jemandem kann es ja hier nicht gefallen. Ich kann Vollbärte nun mal nicht ausstehen, noch dazu bei jungen Männern. Aber ich will mich nicht wiederholen ...

Der Tag beginnt hier zeitig, wie ich am ersten Morgen bereits feststellen konnte. Winni, mir am Abend zuvor als Hilfe in Haus und Hof vorgestellt, etwas jünger als ich, wie ich schätze, mit runden Apfelbacken und ein wenig verschwommenen hellen Augen, weckte mich schon so um fünf Uhr herum.

Übrigens war ich darüber froh. Ich hatte scheußlich geträumt. Einem Aberglauben nach soll doch der erste Traum, den man unter einem bis dahin fremden Dach träumt, in Erfüllung gehen. Wenn das stimmt kann ich mich so bald wie möglich ins Gesträuch knüpfen, wie Peter in solchen Fällen zu sagen pflegt. Ich träumte nämlich, daß ich hinter einem Pony herschwämme, einem wunderschönen, goldfarbenen, und hinter mir her fuhr Peter in einem chromblitzenden Wagen. So was gibt es ja im Traum, und es kam mir auch nicht merkwürdig vor. Daß ich aber vor ihm ausriß und eine fürchterliche Angst hatte, er könnte mich einholen, das ist doch merkwürdig. Ich schwamm also wie ums Leben auf einem ganz glatten, perlmuttfarbenen Meer und war schon ziemlich nahe an meinem ersehnten Ziel, dem Pony, das sich meinen ausgestreckten Händen aber immer wieder entzog. Schließlich berührte ich die Kruppe schon, da lachte es mit einem schadenfrohen Glucksen und tauchte unter, erst mit Kopf und Mähne, dann mit dem Rücken, und schließlich verschwand auch der Schweif. Ich hielt das Ende davon krampfhaft in den Händen und zog und zog, und es begann nachzugeben, so daß ich hoffte, es würde wieder vor mir auftauchen. Da aber war es kein Pony mehr, sondern ein scheußlicher Männerkopf mit langem, grünem Bart, ich glaube, es war Neptun persönlich.

Ich habe nichts gegen alte Götter; im Gegenteil, ich bringe ihnen sogar gewisse mit Mitleid gepaarte Ehrfurcht entgegen – sie können ja nichts dafür, daß man sie entthronte. Dieser Neptun oder Poseidon oder wer es war sah geradezu abscheulich aus. Grün, triefend von Wasser und spöttisch grinsend – wo hatte ich nur dieses Grinsen vor nicht allzu langer Zeit gesehen? Ich mochte mich nicht erinnern, weil ich das Gefühl hatte, dadurch würde es noch schlimmer werden.

Daß man hier von Ponys und Meer träumt, braucht einen natürlich nicht zu wundern. Daß ich aber so voller Angst vor Peter ausgerissen sein soll ...

Er wünscht sich seit langem solch einen chromblitzenden Wagen, das weiß ich. Und ich hätte auch nichts dagegen einzuwenden, einmal neben ihm darin zu sitzen. Freilich kann er das nicht wissen. Ich bin immer viel zu ablehnend und widerborstig gewesen, nicht die Spur liebevoll. An unserem letzten Zank war ich auch schuld. Ich hoffte immerzu, er würde mich einfach überfahren und sagen: »Du meinst das ja alles gar nicht so, wie du es sagst, im Grunde liebst du mich genauso wie ich dich, basta!«, und da würde ich endlich, endlich ein Ja hauchen. Er überfuhr mich aber nie, und das nahm ich ihm übel und wurde immer grantiger. Und so war ich schließlich froh, als die Großfürstin mich in die Verbannung, sprich auf den Möwenhof, schickte.

Vielleicht war es doch einen Tag, eine Stunde, eine Sekunde zu früh, daß ich wegging. So was kann auch die Großfürstin, die das Leben doch in grandioser Weise meistert, nicht ganz genau beurteilen. Vielleicht. Sie hat’s gut, sie liegt, ohne von Träumen geplagt zu werden, daheim und schläft – nicht ganz lautlos, wie ich manchmal durch zwei verschlossene Türen hindurch feststellen konnte, aber mit dem besten Gewissen als Ruhekissen, während ihre Tochter sich mit schrecklichen Poseidonträumen herumschlagen muß ...

Das alles ging mir hauchschnell durch den Kopf, während ich Winnis Stimme hörte. Ich richtete mich mühsam auf.

»Wie blöd du guckst«, sagte Winni mit der Überlegenheit der zuerst Aufgestandenen.

»Mir egal. Hauptsache, ich bin nun auf«, grunzte ich und angelte nach dem Koffer. Heraus mit den ältesten Klamotten. Daß wir nach Futter fahren wollten, hatten wir am Abend verabredet, und es fiel mir jetzt wieder ein.

Der Möwenhof besitzt einen süßen kleinen Wirtschaftswagen, den man sehr hoch beladen kann. Zwei Sensen drauf, zwei Gabeln und ein Rechen, los. Gibt es etwas Schöneres, als zu zweit die zwei Pferdchen aus der Herde herauszufangen, mit denen man heute fahren will?

Am ersten Tag sollten wir, auf Winnis Rat hin, Erle und Espe nehmen, die beiden fetten Räppchen, die so zuverlässig sind, daß man Kinder beim zweitenmal sogar allein kutschieren lassen kann. Winni geht gern auf Nummer Sicher und den Weg des geringsten Widerstandes, Erle und Espe kann man ohne weiteres aus der Herde herausgreifen. Aber bereits an diesem ersten Tag überredete ich sie, daß wir Perkeo nahmen, unseren Hengst. Es fragte sich nur, mit welcher Stute er zusammengehen würde, ohne uns allzuviel Schwierigkeiten zu machen.

»Vielleicht mit Beate«, meinte Winni, aber ich war für Blinka. Zwei so muntere Vierbeiner, das wird bestimmt eine lustige Fahrt werden.

Das wurde es tatsächlich. Bereits die Kurve hinter dem Möwenhof bekam ich nicht, weil Blinka wie verrückt abdeichselte. Manche Pferde haben diese Unsitte an sich. Sie legen sich im Geschirr seitlich, also weit ab von der Deichsel, mitunter so sehr, daß sie ausrutschen und stürzen. Wir rempelten also den Zaun so, daß der Eckpfosten ein paar Meter weit mitging.

»Das muß Sven wieder heil machen«, tröstete Winni mehr sich als mich. Mir blieb keine Zeit, mich trüben Gedanken hinzugeben, denn ich kutschierte, und sie hielt sich mit beiden Händen am Sitzbrett fest, »der kann alles. Du könntest auch etwas langsamer fahren ...«