Corinnas Fluchten - Edie Kramer - E-Book

Corinnas Fluchten E-Book

Edie Kramer

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Beschreibung

Es stimmt so manches nicht in Corinnas Leben. Aber ein spätabendlicher Anruf stellt ihr träge dahinplätscherndes Leben auf den Kopf. Ihr tödlich verunglückter, schwuler Bruder soll mit einer Leipziger Kollegin ein Kind haben? Ihr Leben nimmt an Fahrt auf. Sie verliebt sich, flieht vor dieser unmöglichen Liebe, bricht hektisch zu einer Fahrt nach Italien auf.

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Seitenzahl: 231

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhaltsverzeichnis

Heute darf sie

Die Luft ist abgestanden

Ihr Zug fährt in dreißig Minuten

Eine halbe Stunde später ist sie abfahrbereit

Sie fährt wieder auf die Autobahn

Als sie aufwacht

Das Weckerklingeln dringt nur langsam zu ihr durch

»Ich habe gerade meine Tage bekommen«

Sie sitzt schon wieder hinter dem Lenkrad

Wann war was?

Sie ist viel zu früh

1. Heute darf sie

Heute darf sie. Es ist Donnerstag.

Sie atmet durch. Einmal in der Woche erlaubt sie sich. Noch. Und nur in diesem Supermarkt. Es ist eine Art langsamer Entzug. Nicht, dass es ihr gelänge, die selbst aufgestellte Regel immer zu befolgen. Aber in spätestens einem Jahr will sie es geschafft haben.

Am kalten Entzug ist sie öfter gescheitert. Obwohl sie sich vor jedem Einkauf vorstellte, dass ein durchtrainierter Detektiv sie mit eisernem Griff am Arm packen und durch den ganzen Laden ins Büro der Supermarktleiterin schleifen würde. Sich drastische Szenen auszumalen soll eine wirksame verhaltenstherapeutische Maßnahme sein. Funktioniert offensichtlich nicht bei allen.

Sie nimmt am Eingang einen der roten Plastikkörbe und drängt an den Kundinnen, die vor den Obst- und Gemüseregalen die Ware begutachten, vorbei. Seitdem sie einmal schimmlige Orangen im unteren Teil einer Kiste entdeckt hat, kauft sie ihr Grünzeug nur noch auf dem Markt oder im türkischen Laden. Wo doch gerade der erste Eindruck beim Betreten des Supermarktes suggerieren soll, dass es hier absolut Frisches und Gesundes gibt und keinerlei Grund besteht, zum Gemüsehändler zu gehen. Einer der Tricks der Supermarktstrategen. Genau wie das unlogische Platzieren oder ständige Umräumen von Lebensmitteln. Die Kundin soll sämtliche Gänge ablaufen, die Regale nach ihrem Lieblingsknäckebrot absuchen, dabei andere Produkte entdecken und mitnehmen.

Sie biegt in den ersten Gang nach rechts ab und steht vor dem Regal mit den Speiseölen. Ganz unten stehen die Plastikflaschen mit billigen Bratölen, die Bückware, ganz oben hübsche kleine Fläschchen mit speziellen Nussölen. Der Gang ist eng und gut zu überblicken.

Seit drei Monaten ist er wieder da, dieser Drang. Ein Jahr lang ist es ihr gelungen, clean zu bleiben, brav alle Artikel in den Korb zu legen und zu bezahlen. Es war ein gutes Gefühl, den Kassiererinnen offen in die Augen schauen zu können.

Die Auswahl an Olivenölen ist in letzter Zeit besser geworden, stellt sie fest. Die preiswerten Öle kommen nicht in Frage – wenn schon, denn schon. Das sind alles Verschnitte von Ölen aus ganz Europa. Oft sogar gestreckt mit billigem Sonnenblumenöl. Sie schaut regelmäßig Verbrauchersendungen, weiß, worauf sie achten muss.

Ein einziges Mal, mit achtzehn, ist sie von einem Detektiv in einer Drogerie erwischt worden. Ein knallroter Ellen-Betrix-Lippenstift steckte in ihrem Wildlederstiefel. Der Detektiv führte sie wichtigtuerisch, mit gnadenlosem Griff vor allen Leuten durch den gesamten Laden in das Büro des Geschäftsführers ab. Keinen Moment dachte sie daran, dem Gorilla eine zu verpassen und abzuhauen. Wäre mit Sicherheit schiefgegangen. Am nächsten Tag hatte sie blaue Flecken am Oberarm.

Kaum, dass sie an die unsägliche Peinlichkeit zurückdenkt, steigt ihr eine unangenehme Hitze in den Kopf. Sie versteht nicht, wieso, verdammt noch mal, diese traumatischen Bilder sie nicht davon abhalten, es immer wieder zu tun.

Der Richterin erzählte sie etwas von Problemen in der Schule – dass eine ehemalige Freundin plötzlich Lügen über sie verbreiten würde – und kam mit fünfhundert Mark Geldstrafe davon. Sie putzte ein halbes Jahr bei einer älteren Dame, zahlte ihre Strafe in Raten ab und beichtete die Sache nur Marlene.

Damals wohnte sie noch zu Hause. Die Post kam spät, sie stürzte jeden Tag nach der Schule an den Briefkasten, um die Gerichtspost abzupassen. Voller Angst, ihre Mutter könnte ihr zuvorgekommen sein.

Marlene hatte gelacht, irgendwas von Champagner für alle geredet und die Sache als Widerstand gegen den Kapitalismus abgetan.

Heutzutage käme ich nicht mehr so billig davon.

Artikel in der Klatschpresse über Ladendiebstähle verfolgt sie mit fiebriger Neugier, sucht nach Gemeinsamkeiten. Winona Ryder musste jede Menge Sozialstunden absolvieren und zwanzigtausend Dollar Strafe zahlen, sich zu einer Psychotherapie verpflichten, weil sie Klamotten und anderes Zeugs bei Saks Fifth Avenue geklaut hatte. Ihr Anwalt plädierte darauf, dass es ein Missverständnis gewesen wäre. Aber wo ist das Missverständnis, wenn man beim Rausschneiden von Preisetiketten gefilmt wird? Farrah Fawcett, die aus »Drei Engel für Charlie«, wollte fehlerhafte Kleidung umtauschen. Als es ihr verwehrt wurde, hat sie die Sache selbst in die Hand genommen.

Ein Öl aus Ligurien, extra vergine, und ein biologisches Olivenöl, auch aus Italien, stehen auf Augenhöhe vor ihr im Regal. Das ligurische Öl ist am teuersten. Die Flasche steckt in einem Mantel aus goldfarbener Metallfolie zum Schutz vor Lichteinflüssen. Sie sieht ansprechend aus. Eine Reihe tiefer gibt es auch noch eine Halbliterflasche mit einem Öl von der Insel Lesbos. Auf Lesbos hat sie mal einen Urlaub mit Marlene verbracht.

Vielleicht sollte ich die griechische Wirtschaft unterstützen! Das Etikett ist auch hübsch.

Eine alte Frau mit einem dünnen fettigen Pferdeschwanz biegt mit ihrem Einkaufswagen in den Gang ein. Sie hängt regelrecht über dem Wagen. Im Warenkorb liegen zwei Dosen Katzenfutter und drei Bananen. Der schmuddelige Mantel der Frau streift Corinnas dunkelbraune Leinenhose. Die Frau greift nach einer Plastikflasche mit Sonnenblumenöl und schlurft weiter. Angewidert stellt Corinna den roten Plastikeinkaufskorb auf den Boden und reibt mit der Hand über ihre Hose. Sie atmet heftig aus, versucht, die plötzliche Wut abzuschütteln. Als sie ihre Handfläche betrachtet, realisiert sie die Absurdität dieser Geste. Wie oft hat sie Menschen in der Bahn beobachtet, wie sie über einen vermeintlich oder tatsächlich schmutzigen Sitz mit der Hand wischen, um sich dann zufrieden hinzusetzen. Sie wischt ihre Handfläche seitlich an der Hose ab.

Zu Hause werde ich als allererstes meine Hände gründlich waschen und die Hose in den Wäschekorb befördern.

Der Gang ist frei. Sie berührt sanft die Goldfolie einer Flasche, greift aber dann doch nach dem Öl von Lesbos, schaut sich noch einmal um und lässt die dunkelgrüne Halbliterflasche in ihre Umhängetasche gleiten.

Anfangs hat sie die Adrenalinkicks genossen. Es fühlte sich nach Selbstermächtigung an. Bestandene Mutproben. Es ging um die Überwindung von Angst.

Eine kurze Erregung schwappt auch jetzt durch ihren Blutkreislauf. Aber danach kommt die Angst.

Warum tue ich mir das an? Ich, Corinna Hartmann, verdiene – verdammt noch mal – genug, um mir ab und zu ein gutes Olivenöl leisten zu können.

Wollte sie mit Ende dreißig immer noch mit dem frühen Tod ihres Vaters hausieren gehen? Damit entschuldigte sie als Jugendliche ihre Diebstähle.

Sie nimmt den Plastikkorb vom Boden und schlendert weiter durch den Gang. Spaghetti stehen auf ihrem Einkaufszettel. Sie legt zwei Pakete in den Korb und geht weiter in Richtung der Kühltheken. Ein französischer Hartkäse aus Schafsmilch, ein Ziegenfrischkäse, ein Päckchen Landbutter und eine Packung Räucherlachs aus dem Atlantik wandern in den Korb.

Im Gang mit den Getränken ist niemand zu sehen.

Schnell greift sie Käse und Lachs, lässt die Sachen in ihre Umhängetasche gleiten. Kalifornischer Rotwein schmeckt von den Supermarktweinen noch am besten. Sie legt zwei Flaschen in den Korb, geht ganz selbstverständlich weiter. Pralinen wären toll. Sie greift nach einer Schachtel mit kleinen Trüffeln.

Im Gang mit den Toilettenartikeln sind keine anderen Kunden zu sehen. Die Trüffel und eine Flasche Wein landen in der Tasche. Ein etwa dreißigjähriger Mann in einer gut geschnittenen Lederjacke biegt in den Gang ein und vertieft sich in das Shampoo-Sortiment. Kurz fragt sie sich, ob er ein Detektiv sein könnte, aber dann holt er einen Einkaufszettel aus seiner Jackentasche und schaut noch mal nach, welches Shampoo er nehmen soll. Er achtet nicht auf sie.

Auf dem Weg zur Kasse legt sie noch die Süddeutsche in den Korb und stellt sich an der rechten der beiden geöffneten Kassen an. Dort kassiert die leicht hektische, immer verschwitzte Supermarktangestellte. Seit Jahren sitzt sie hier tagtäglich. Ihre giftgrüne Umhängetasche hält sie leicht an den Körper gedrückt. In diesem Supermarkt gibt es keine Kameras, nur die Spiegel über den Kassen und vermutlich ab und an einen Detektiv. Die Kassiererinnen sind angehalten, darauf zu achten, dass keine Ware unbezahlt in den Einkaufswagen vorbeigeschmuggelt wird, aber in die Einkaufstaschen dürfen sie nicht schauen.

Sie legt Nudeln, Rotwein, Butter und die Zeitung aufs Band. An der anderen Kasse steht die alte Frau mit dem speckigen Mantel. Sie kramt umständlich in ihrem Portemonnaie und lacht mit der Angestellten. Der scheint es ganz recht zu sein, dass sie mal ein wenig verschnaufen kann. Der Anblick der ungepflegten Gestalt weckt erneut einen leichten Ekel bei ihr und sie wendet sich ab. Sie packt die gescannten Artikel in ihre Umhängetasche und zahlt mit einem Zwanzig-Euro-Schein. Die neuen Geldscheine sind ihr immer noch fremd. Sie nimmt das Restgeld in Empfang, nickt der Verkäuferin freundlich zu. Als sie die schwere Tasche anhebt und ein paar Schritte Richtung Ausgang macht, tritt ihr ein junger Angestellter im Firmensweatshirt in den Weg.

»Darf ich …?«

Eine glühend heiße Welle rauscht von ihrem Magen in den Darm.

Nein!! Scheiße! Gleich werde ich als Ladendiebin vor der netten Filialleiterin stehen und nie mehr hier einkaufen können.

Seit Jahren geht sie hier einkaufen. Sie mag die Angestellten im Supermarkt. Es ist ihr sympathisch, dass er einer der wenigen Läden ist, in dem es am Ausgang keine elektronische Warensicherung gibt.

»… Ihnen einen Gutschein anbieten? Wie Sie sicher schon wissen, renovieren wir unseren Laden und schließen für zwei Monate. Bei der Wiedereröffnung bekommen Sie einmalig fünf Prozent auf Ihren Einkauf.«

Ohne dem jungen Mann ins Gesicht zu schauen, greift sie nach dem Gutschein. Sie murmelt ein kaum vernehmbares Dankeschön und will nur noch raus.

Beinahe läuft sie vor ein Taxi. Sie hebt entschuldigend eine Hand, lässt das Taxi vorbei und befiehlt sich, zur Ruhe zu kommen. Ihr ist schwindlig, ihre Beine zittern. Kurz überlegt sie, in die Apotheke gegenüber zu gehen und ihren Blutdruck messen zu lassen. Sie lässt sich auf eine der grünen Metallbänke sinken. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis sich ihr Puls normalisiert und sie weitergehen kann.

Sie schaut nach oben. Der Himmel ist strahlend blau, ein wunderschöner Sommerhimmel, aber die Rinde der Platanen ist abgeplatzt, und die Blätter ragen halbvertrocknet und staubig grau in die stehende Luft. Gestern war sie voller Vorfreude auf den Abend mit Marlene, gerade ist ihr alles zu viel. Von Weitem sieht sie eine Bekannte auf sich zukommen.

Auf keinen Fall will ich mich jetzt mit der auf einen Smalltalk einlassen.

Sie wechselt die Straßenseite und guckt woanders hin. Als sie am Zebrastreifen steht und einen stämmigen Mann sieht, der mit dem Rücken zu ihr vor der Kneipe gegenüber steht, überfällt sie ein warmes Glücksgefühl, ihr Herz schlägt schneller.

»Micha«, entfährt es ihr.

Und sofort ist es vorbei.

Es passiert immer wieder. Ihr Verstand weiß: Er ist es nicht, aber das verdammte Reptiliengehirn ist schneller. Sollte das für den Rest ihres Lebens so bleiben? Würde ihr Herz noch mit achtzig für Millisekunden einen Freudensprung machen, wenn sie einen nicht mehr ganz jungen Mann dieser Statur mit dunkelbraunen Locken sieht, die am Hinterkopf schütter werden?

Ein Nanomoment Glück: Schau doch, da steht er und lebt. Er sollte sich die Haare schneiden lassen und endlich abnehmen!

Schnell überquert sie die Straße und schaut nicht mehr hin. Sie will beim Türken noch ein paar Feigen kaufen. Baguette steht auch noch auf ihrer Liste.

Ich könnte ein Fladenbrot bei Yalcin kaufen, dann kann ich mir den Weg zum Bäcker sparen.

Auf der schmalen Straße mit den schiefen Ginkgobäumen steht ein Grüppchen junger Leute mit Kaffeebechern in der Hand auf dem Bürgersteig. Sie machen keine Anstalten, sie durchzulassen. »Dürfte ich vielleicht mal?«, sagt sie nicht gerade freundlich und ärgert sich im gleichen Moment, weil sie so unsouverän reagiert. Sie drängt sich durch die lachende Gruppe – am liebsten würde sie diese Ignoranten zur Seite stoßen.

In dem kleinen türkischen Laden packt sie lose Feigen in eine Tüte und nimmt sich ein Fladenbrot aus dem Regal. Sie liebt dieses Geschäft. Yalcin hat das beste Obst und Gemüse und sehr gutes Lammfleisch. Seitdem seine Ehefrau Kopftuch trägt, fühlt sie sich auf eine Art befangen. Sie hat immer gerne mit den beiden geplaudert, aber inzwischen reagiert sie kurz angebunden und fühlt sich mies dabei. Sie wüsste gern, wieso diese fröhliche Frau, die seit zwanzig Jahren mit ihrem Mann zusammen den Laden führt, sich plötzlich verhüllt. Aber sie traut sich nicht, danach zu fragen.

Zwanzig Minuten später liegt der Inhalt ihrer Einkaufstasche vor ihr auf dem Küchentisch. Sie verbietet sich zu überschlagen, wie viel Geld sie eingespart hat. Völlig erschöpft lässt sie sich auf einen Küchenstuhl sinken. Ihr Blick fällt auf den Supermarktgutschein. Sofort schnellt ihr Puls nach oben.

Wie blöd bin ich eigentlich? Das ist so destruktiv, was ich da mache. Und jede Theorie, die ich mir zurechtlege, ist eine zu viel.

Sie reißt die Schachtel mit den Trüffeln auf und stopft die halbe Packung in sich hinein. Ein Blick auf die Küchenuhr bringt sie halbwegs wieder in die Spur.

Marlene kommt in zwei Stunden. Ich sollte schon mal den Rotwein öffnen.

»Nehmen Sie zwei, bezahlen Sie einen.«

Sie lacht unfroh, steckt sich die nächste Praline in den Mund. Einen kleinen Rucola-Salat mit Weißbrot, dann Spaghetti mit einer Soße aus Räucherlachs, Olivenöl, Zitrone und Kapern, anschließend Käse, Feigen und Pralinen, falls noch welche übrig bleiben, soll es geben. Dazu den ganz passablen Kalifornier. Marlene liebt ihre Spaghettigerichte, und sie liebt es, Marlene zu verwöhnen.

Es wird kein opulentes Abendessen. Aber an einem stinknormalen Wochentag treibt sie nicht viel Aufwand mit dem Kochen.

Ich muss noch duschen. Mein Oberteil ist total verschwitzt.

Die alte Frau mit dem schmuddeligen Mantel kommt ihr in den Sinn. Sie stürzt ins Bad, wäscht sich unter fließend heißem Wasser die Hände, bis sie knallrot sind.

Marlene ist ihre engste Freundin. Sie haben sich auf dem Gymnasium kennengelernt. Beim ersten Anblick dieser unbeschwerten Jugendlichen mit dem provozierenden Blick – einem Blick, der sagte: »Komm mir bloß nicht blöd!« – wünschte sie sich nichts anderes, als mit ihr befreundet zu sein. Dieser Wunsch ging überraschend schnell in Erfüllung, und nach einer Weile war da noch mehr.

Wir waren ein tolles Paar.

Corinna seufzt.

Gut, dass wir uns wiederhaben.

Zwei Jahre Liebesbeziehung am Ende ihrer Oberstufenzeit und die dramatische Trennung während des ersten Studiensemesters hatten ihrer Freundschaft letztendlich nichts anhaben können. Damals, als Marlene sich in eine andere verliebte – in eine mitreißende, politisch engagierte Kommilitonin, die auch noch grandios tanzen konnte – und Corinna von einem Tag auf den anderen sitzen ließ, wollte sie nichts mehr mit ihr zu tun haben. Sie hätte nie gedacht, dass sie je wieder ein freundliches Wort wechseln würden. Irrtum. Nach einem halben Jahr Sendepause liefen sie sich zufällig im Kino über den Weg – sie fielen sich in die Arme und versöhnten sich auf der Stelle. Sie sind vertraut miteinander wie eh und je, und dass es keine erotischen Erwartungen mehr aneinander gibt, macht die Sache unkompliziert.

Oder?

Corinna blättert kurz durch die Zeitung, öffnet beide Weinflaschen, räumt die Lebensmittel weg und packt die restlichen Pralinen in den Küchenschrank.

Bevor ich die auch noch in mich hineinstopfe.

Auf dem Weg ins Bad zieht sie sich die Bluse über den Kopf. Das Telefon läutet. Sie zuckt zusammen, empfindet die Klingeltöne schriller als sonst.

Hallo, Corinna. Du bist hier zu Hause.

Sie zerrt sich die Bluse mit einem entschiedenen Ruck vom Leib und lässt sie fallen. Genervt nimmt sie den Hörer aus der Station im Flur und lässt sich im Wohnzimmer in den cremefarbenen Ledersessel fallen.

»Corinna Hartmann«, meldet sie sich wie gewohnt. Mit der freien Hand streicht sie sanft über das Leder.

»Hier ist deine Mutter. Dass du mal ans Telefon gehst, grenzt an ein Wunder. Ich habe es schon ein paar Mal probiert. Vier Telefoneinheiten verplempert für nichts und wieder nichts.«

Wie oft habe ich ihr schon gesagt, dass es pauschale monatliche Telefontarife gibt!? Dass sie dann nicht mehr wegen jeder Einheit herumzetern müsste.

»Schönen guten Abend.«

Der sarkastische Unterton ist an ihre Mutter garantiert verschwendet. »Dann bist du die Person, die nur auf den AB schnauft und auflegt. Das hatte ich mir schon fast gedacht. Kannst du nicht sagen, was du zu sagen hast, und ich rufe dich zurück, wenn ich Zeit habe?«

Corinna beschließt, sich auf keinen Fall den Abend verderben zu lassen.

»Du weißt genau, dass ich nicht auf diese Anrufbeantworter spreche. Du arbeitest doch zu Hause, wieso gehst du dann nicht dran?«

Corinna lässt die Vorwürfe an sich abperlen und antwortet mit neutraler Stimme: »Mama, ich erwarte Besuch und will gleich anfangen zu kochen. Also, was gibt’s?«

»Besuch? Aha. Wann hast du mich denn das letzte Mal zum Essen eingeladen? Ich erinnere mich schon gar nicht mehr. Na ja, ich bin eben nur deine Mutter.«

Lass mich bloß in Ruhe mit deiner vorwurfsvoll theatralischen Nummer. Ich erinnere mich noch sehr gut an das letzte gemeinsame Essen.

Damals, kaum, dass ihre Mutter in den Flur getreten war, flog ihr die Bemerkung »Was hast du denn an?« wie ein Geschoss um die Ohren.

Wieso geraten wir beide immer sofort in vergiftetes Fahrwasser?

Als kleines Kind hatte Corinna ihre Mutter geliebt. Ihren Geruch, ihre tollen Kleider, wie sie leichtfüßig zu einem Schlager durch die Zimmer tanzte. Es war eine distanziert bewundernde Liebe gewesen. So wie man eine tolle Sängerin anhimmelt, sich wünscht, ihr nah zu sein. Mit ihrem Vater war es so viel einfacher gewesen. Er war freigiebig mit der Zuneigung zu seinen Kindern umgegangen. Sie seufzt.

»Rufst du deshalb an oder weswegen?«

»Natürlich nicht!«, flötet es am anderen Ende der Verbindung.

Corinna entgeht der schnelle Wechsel ins betont muntere Rollenfach nicht. Das heißt, dass ihre Mutter etwas von ihr will.

»Also, du weißt doch, dass ich im Herbst immer zwei Wochen nach Meran fahre. In diese gemütliche Pension. Frau Niemann kommt dieses Mal nicht mit, und da wollte ich dich fragen, ob du Lust hast, mitzufahren. Das Zimmer würde ich bezahlen. Was hältst du davon? Der Herbst ist so herrlich in Meran.«

Corinna hätte am liebsten laut geschrien. Zwei Wochen Meran. In der Pension lag das Durchschnittsalter der Gäste bei etwa siebzig Jahren. Eher darüber.

»Ich wollte dieses Jahr mal wieder zum Surfen fahren. Was ist denn mit Frau Niemann?«

»Zum Surfen! Du bist doch keine zwanzig mehr …«

»Aber auch noch keine siebzig. Was ist mit Frau Niemann? Seit Jahren fährst du mit ihr in Urlaub. Ich finde, in deinem Alter sollte man Freundschaften pflegen.«

»Frau Niemann. Frau Niemann. Seit wann interessierst du dich für Frau Niemann? Dauernd beschwert sie sich über die gestiegenen Preise. Ich habe fast den Eindruck, dass sie tatsächlich erwartet, von mir eingeladen zu werden!«

»Aber sie hat doch eine gute Pension als ehemalige Lehrerin.«

»Studienrätin!«

»Habt ihr Streit gehabt?« Vermutlich hat ihre rechthaberische Mutter jetzt mit Frau Niemann wieder mal eine gute Freundin vergrault.

»Jetzt lass doch mal Frau Niemann. Und überhaupt! Was ist denn mit deinen Freundschaften? Frau Becker aus meiner Wandergruppe meinte auch, dass es allerhöchste Zeit für Nachwuchs bei dir wäre …«

Das hört sich an wie ein Mutter-Tochter-Gespräch in einer sehr schlechten Filmkomödie. Hilfe!

»Was Frau Becker sagt, interessiert mich nicht. Ich bin mit meinem Leben sehr zufrieden!«

»Damals der Peter, der war so nett. Aber der war dir zu langweilig.«

Allerdings. Und das ist hundert Jahre her. Peter war ein gutaussehender Typ, nur mit der Zeit stellte sich heraus, dass er sich hauptsächlich für Bastelsets interessierte. Flugzeuge, Kriegsschiffe, Panzer. An den Leimgeruch kann ich mich heute noch erinnern.

Corinna spürt blanke Wut in sich aufsteigen, ihr Gesicht glüht. Nach vier Semestern in Berlin hatte sie Peter an der Uni in Köln kennengelernt. Damals war sie Anfang zwanzig. Ein Jahr lang waren sie zusammen, ihr einziger Ausflug ins heterosexuelle Beziehungsland. Micha hatte nach einem zu dritt verbrachten Abend nur den Kopf geschüttelt und gelästert.

»Mama, hör auf damit. Weißt du, wie lange das her ist? Dass du dich an den überhaupt noch erinnerst! Finde dich damit ab: Du wirst keine Oma! Es gibt Schlimmeres. Übernimm eine Patenschaft für ein Kind in Südamerika oder sonst wo. Es gibt auch hier benachteiligte Kinder, die Hilfe brauchen. Übe Rechnen und Schreiben mit ihnen. Werde Lesepatin. Da gibt es tolle Projekte!«, platzt es aus ihr heraus.

»Du musst nicht gleich so laut werden. Du weißt, wie schnell ich Kopfschmerzen kriege. Frau Doktor Heller sagt, dass jede Aufregung pures Gift für mich ist.«

Corinna hat Lust, das Gespräch einfach wegzudrücken.

Früher konnte man so schön dramatisch den Hörer auf die Gabel werfen. Schade drum.

»Nimm eine Tablette, wenn du Kopfschmerzen hast, und reg dich eben nicht auf. Ich muss jetzt anfangen zu kochen.«

»Die Stéphanie von Monaco …«

»Die Stéphanie von Monaco interessiert mich nicht. Lass uns Schluss machen.«

Bevor ich mich völlig vergesse. Zwei Wochen Meran. Ein Albtraum.

»Kommst du Samstag mal vorbei? Ich habe einen Stoffmusterkatalog hier, wegen der neuen Gardinen.«

»Mal vorbei, das sagt sich so. Hundert Kilometer sind das jedes Mal. Samstag und Sonntag bin ich im Atelier. Die Woche drauf vielleicht.«

»Die Künstlerin hat natürlich mal wieder keine Zeit für ihre Mutter. Weißt du eigentlich, wie einsam ich bin?«

Mutter, Mutter! Ich schreie gleich! Weißt du, wie einsam ich bin?

Corinna atmet langsam ein und aus, hört nicht länger hin. Sie sieht die schmalen Lippen ihrer Mutter vor sich, die beleidigte Miene einer Schmierenkomödiantin. Ilses Repertoire ist ihr hinlänglich bekannt, hat vor Jahren so manche Therapiestunde gefüllt. Sie lässt sich keine Schuldgefühle mehr machen. Die mütterliche Wunderwaffe zündet nicht mehr ganz so zuverlässig.

»Ich komme am nächsten Samstag und schaue mir die Stoffe an. Und jetzt lege ich auf. Schönen Abend.«

Sie wartet eine mögliche Antwort nicht ab, drückt auf die Taste mit dem roten Symbol und wirft das Telefon auf den Beistelltisch.

Warum reagiere ich immer wieder so wütend? Weil sie sich anmaßt, über mich Bescheid zu wissen? Weil ich immer noch hoffe, dass sie mich wirklich einmal sieht? Mich liebt, ohne mich zu kritisieren oder manipulieren zu wollen! Zeit für ein Glas Rotwein. Die Salatsoße könnte ich auch schon vorbereiten.

Corinna geht in die Küche, schaltet den CD-Player an, dreht voll auf, nimmt ein Glas aus dem Schrank und gießt sich ein. Chet Bakers brüchige Stimme füllt den Raum. Sie schlüpft wieder in die verschwitzte Bluse und beschließt, später zu duschen.

Ihr Stiefvater ist vor Jahren mit einer jüngeren Frau auf und davon. Klassisch. Banal. Eine Zeit lang bedauerte sie ihre Mutter, ganz besonders nach Michas Tod vor zwei Jahren. Besorgt um die Mutter, gab sie in den ersten Monaten nach seinem Unfall ihrer eigenen verzweifelten Trauer kaum Raum. Wenn sie sich nicht gerade um Thomas kümmerte, saß sie bei ihrer Mutter oder telefonierte mit ihr.

Ich bin froh, dass sie zurück ins Leben gefunden hat. Dass sie wieder zum Chor geht und an den Wanderausflügen der Kirchengemeinde teilnimmt. Sie ist mehr unterwegs als ich.

Sie nimmt einen kräftigen Schluck Wein, durchquert mit ein paar Schritten die Küche und bindet die blaue Schürze um. Ein Mitbringsel ihrer Mutter aus Südtirol. Sie lacht kurz auf, spürt den Alkohol warm im Magen.

Marlene wollte gegen halb acht kommen, aber wie sie Marlene kennt, würde es eher acht Uhr werden. Sie kann sich Zeit lassen.

Mit geübten Handgriffen bereitet sie eine Vinaigrette, legt sich die Zutaten für die Lachssoße zurecht, deckt den Tisch und wäscht Rucola und Feigen. Ihr Magen knurrt, trotz der Schokotrüffel.

Kein Wunder, ich habe seit dem Frühstück nichts gegessen.

Sie schneidet ein Stück vom Fladenbrot ab, belegt es mit einem Stück Schafskäse und Rucola und beißt kräftig hinein. Ein angenehmes Gefühl der Entspannung macht sich in ihr breit.

Nach dem Abitur haben Marlene und sie Germanistik und Theaterwissenschaft studiert und mit dem Magister abgeschlossen. Marlene ist inzwischen Redakteurin bei einer Literaturzeitschrift und dabei, sich als Kritikerin einen Namen zu machen. Seit über zehn Jahren ist sie mit Jochen liiert – anfänglich ein totaler Schock für Corinna und den gesamten Freundinnenkreis. Sie zogen nach einem halben Jahr zusammen, aber Jochen ist vor zwei Jahren dem unwiderstehlichen Angebot einer Computerfirma gefolgt und hat einen Job als Programmierer in Berlin angenommen. Marlene blieb in der gemeinsamen Wohnung, wollte auf keinen Fall nach Berlin zurück.

Marlene hatte sie damals wegen dieser Studentin verlassen, die Beziehung hielt jedoch nicht lange. Danach kamen bei Marlene weitere mehr oder weniger kurze Affären mit Frauen, bis sie Jochen kennenlernte. Corinna verletzte das mehr als ihr eigenes Verlassenwerden. Marlene und ein Mann! Das war unvorstellbar. Wann hatte sie sich je für Männer interessiert? Auf die Frage, warum Jochen, antwortete sie lapidar: »Er bringt mich zum Lachen. Das ist mal was anderes!«

Aber das ist Schnee von gestern. Eine Weile glaubte Corinna, Jochens Jobwechsel nach Berlin wäre der Anfang eines baldigen Beziehungsendes, aber da irrte sie gewaltig. Ganz im Gegenteil. Marlene und Jochen genießen ihre Fernbeziehung, freuen sich auf die gemeinsamen Wochenenden, aber genauso auf die »freien« Wochentage ohne einander.

Corinna hat gelernt, das Beste aus ihrem Singledasein zu machen. Sie verbringt Freitag und Samstag meist mit Malen in der Eifel, kommt Sonntagmittag nach Köln zurück. Meist sitzt Jochen dann in der Bahn Richtung Berlin, und sie und Marlene lassen gemeinsam das Wochenende ausklingen.

Bin ich zu sehr auf Marlene fixiert?

Damals meldete Marlene sich monatelang nicht. Sie ging nicht ans Telefon, blieb verschwunden. Später ist ihr klargeworden, dass Marlene sich aus Scham verkrochen hat. Weil es ihr so verdammt unangenehm gewesen war, »die Seiten« gewechselt zu haben.

Jochen ist in Ordnung. Er ist nicht der Typ, der ständig im Mittelpunkt stehen muss. Er quasselt einem nicht die Ohren voll, erklärt einem nicht Dinge, die man nicht wissen will. Eifersüchtig auf sie und Marlene ist er auch nicht. Er muss nicht gelobt werden, wenn er den Tisch abräumt. Wenn er spült, dann spült er und »hilft« nicht. Jochen ist umgänglich und ein guter Verlierer beim Poker.

Seitdem Marlene und Jochen die Fernbeziehung führen, sind die Zockerabende leider selten geworden.

Sieben Uhr. Corinna hängt die Schürze an den Haken. Alles ist vorbereitet. Im Schlafzimmer nimmt sie einen frischen Slip aus der Kommode und legt ein schwarzes Top mit V-Ausschnitt bereit. Die getragene Wäsche knüllt sie in den Korb neben ihrem Kleiderschrank und huscht, mit vor der Brust gekreuzten Armen, ins Badezimmer. Sie fröstelt ein wenig. Es dauert wieder ewig, bis die Wassertemperatur stimmt. Unter dem prallen Wasserschwall versucht sie, an nichts zu denken, sich nur dem heißen Wasser hinzugeben.

Als es an der Haustür klingelt, ist es zehn vor acht.

Corinna betrachtet sich kurz im Flurspiegel. Ihre noch leicht feuchten Locken glänzen, der knallige Lippenstift passt perfekt zur Strasskette.

Ich will ihr immer noch gefallen.

Sie drückt auf den Türöffner, schlüpft in ihre schwarzen Stiefel und erwartet Marlene an den Türrahmen gelehnt. Schnaufend landet Marlene auf dem Treppenabsatz im dritten Stock. Sie schwenkt eine Flasche und lächelt.

»Oh je. Ich sollte mal anfangen, etwas Sport zu treiben. Oder du solltest dir eine Wohnung mit Aufzug nehmen. Wir werden schließlich nicht jünger.«

Marlene drückt Corinna die Champagnerflasche in die Hand und küsst sie auf den Hals.

»Ich habe uns einen Schampus mitgebracht. Mmh, du riechst gut. Wie immer. Und du siehst umwerfend aus in deinem Künstlerinnenschwarz. Nur ein wenig müde um die Augen. Oder? Ich bin spät dran, tut mir leid. Wir hatten noch eine Sitzung. Ich bin gar nicht mehr zu Hause gewesen, deswegen mein Outfit.«

Marlene trägt einen grauen Businessanzug, dazu elegante Pumps. Ganz erfolgreiche Karrierefrau. Sie verdient gut und lässt andere gerne an ihrem finanziellen Glück teilhaben.

Corinna ist erleichtert, dass Marlene nicht nachhakt, aber sie kennt sie lange genug, um zu wissen, dass sie darauf zurückkommen wird.

»Komm rein. Magst du ein Gläschen von deinem Champagner zum Einstieg in einen gemütlichen Abend?«

Corinna liebt das Flair, das Marlene umgibt. Ganz gelassene Weltläufigkeit. Über die Selbstverständlichkeit, mit der Marlene Erfolg und Glück für sich akzeptiert, staunt sie immer wieder. Außerdem strahlt sie eine robuste Gesundheit aus und ziert sich nie beim Essen.

»Aber immer. Und ich habe einen Riesenhunger.«

Marlene streift ihre Schuhe ab und folgt Corinna in die Küche.