Coronavirus - Düstere Geschichten - Ruth Boose - E-Book

Coronavirus - Düstere Geschichten E-Book

Ruth Boose

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Beschreibung

Ein Mann versucht, seine Alpträume auf ungewöhnliche Art zu bekämpfen. Die Körperwelten-Ausstellungen haben sich erstaunlich weiterentwickelt. Am Meer stranden seltsame und bedrohliche Tierkadaver. Eine uns allen bekannte Seuche erreicht ebenso ungeahnte neue Dimensionen wie ein neuer Bestattungsritus. Außer Kontrolle gerät auch eine unkonventionelle Therapiemethode gegen schwere Depressionen ... Auf alle Freunde atmosphärischer und ungewöhnlicher Horrorgeschichten warten meine ersten 11 Erzählungen.

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Seitenzahl: 403

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Ruth Boose

Coronavirus

Düstere Geschichten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Autor, Herausgeber, Verlag, Titelbild, Satz und Korrektorat: Ruth Boose, 2020, Berlin

Druck und Vertrieb: epubli, Service der neopubli GmbH, Berlin

Kontakt: [email protected]

Inhaltsverzeichnis
Titel und Impressum
Vorwort
Coronavirus
Realitätstest
Spender
Forsit
Der Bestattungsritus
Rebellion
Das Spiel
Die Ritualtherapie
Seelenwanderung
Anatomie eines Ghuls
Flucht
Danksagung und Ausblick

Vorwort

 

Nachdem ich die Kurzgeschichten meines Vaters sowie eine Anthologie zusammengestellt und veröffentlicht habe, folgt nun der erste Band meiner eigenen Werke.

 

Das Phantastische, der geheimnisvolle Grenzbereich zwischen utopisch ausgedachten Welten und realistisch möglichen Visionen, hat mich von Kindheit an fasziniert: Es ist eine Parallelwelt, die den Alltag und die Wirklichkeit durchdringt, damit interagiert und über das Unterbewusste unbemerkt unsere Entscheidungen beeinflusst.

 

Neben dem gewöhnlichen, oberflächlich leicht beobachtbaren Schrecken der uns umgebenden Welt gibt es noch eine zweite Schicht des Grauens, die subtiler, irrationaler, unrealistischer, aber deshalb nicht weniger wirkungsvoll ist. Selbst die überzeugtesten Wissenschaftler und Atheisten sind innerlich niemals völlig frei von dieser magischen Macht und Symbolik des Phantastischen.

 

Darüber zu schreiben und davon zu lesen fühlt sich an wie der neugierige Tanz und das Gaffen in einen gähnenden Abgrund – im Vertrauen darauf, dass man selbst psychisch stark genug ist, nicht hineinzustürzen oder davon verschlungen zu werden.

 

Eine Anmerkung zur Titelgeschichte sei mir noch gestattet:

Hierbei handelt es sich nicht um einen Werbegag angesichts der aktuellen Ereignisse, sondern um die Verarbeitung dadurch hervorgerufener Gedanken und Traumbilder, die auf die ein oder andere Art in jedem von uns schlummern, zumeist aber durch rationale Überlegungen verdrängt werden.

So schlägt das Phantastische wieder die Brücke zurück zum Alltag, zur Realität, zum klaren Verstand, den es zu unterhöhlen sucht.

Coronavirus

Im Nachhinein war es offensichtlich gewesen, was uns verschwiegen worden war, aber hinterher ist man bekanntlich immer schlauer.

Schon zu Beginn des ersten Ausbruchs hatte es die obskursten Verschwörungstheorien bezüglich der Herkunft des Virus oder der wahren Gründe für die drastischen Eindämmungsmaßnahmen gegeben. Doch die Wahrheit war weitaus einfacher – und dramatischer.

Dass ganze Volkswirtschaften nicht aus Sorge um ein paar Alte und Kranke lahmgelegt worden waren, hätte man sich angesichts der ansonsten selten um das Wohl der ihren Entscheidungen anvertrauten Völker bedachten Herrscherkasten schon denken können. Schließlich sterben allein in Deutschland auch in normalen Zeiten knapp eine Million Menschen im Jahr. Und schließlich hatte es zuvor ständige Diskussionen angesichts Überalterung, Wohnungsnot und überlasteter Sozialversicherungen gegeben.

Der tatsächliche Grund der Regierungen für die fast schon surreale Furcht vor dem unbekannten Feind erwies sich als mehr als berechtigt: Niemand mochte sich festlegen, wann die Veränderungen stattgefunden hatten, ob sie stufenweise oder in einem einzigen Infizierten erfolgt waren. Ihre Auswirkungen wurden erst nach und nach bekannt und fanden trotz Vertuschungsversuchen rasch ihren Weg an die Öffentlichkeit.

Zuerst stiegen die Todesraten an, nur langsam, da sich herausstellte, dass die Inkubationszeit sich nahezu verdoppelte. Dann wies man eine längere Beständigkeit der Viruspartikel in der Luft und auf Oberflächen nach. Für diese Familie sind größere Mutationen eher untypisch, aber nach so vielen Patienten war es doch geschehen und hatte den Erreger viel gefährlicher gemacht, als es die schlimmsten Befürchtungen und Szenarien der Wissenschaftler für möglich gehalten hatten.

Seitdem sind mehrere Wochen vergangen. Ich ziehe mittlerweile allein durch die Straßen und gehe nur auf Umwegen in meine Wohnung zurück. Die Ausgangssperren können kaum noch flächendeckend kontrolliert werden, weil trotz intensiver Schutzmaßnahmen immer mehr Polizisten und Soldaten erkranken und sterben. Aber ich bin nicht nur zum Hamstern unterwegs, ich leiste meinen Beitrag wie eine stille Buße und Abbitte für meine Existenz, indem ich helfe, wenn es möglich ist und sich anbietet.

Heute entdecke ich eine alte Dame, die an ihrer Haustür steht und unschlüssig und verzweifelt überlegt, ob sie sich herauswagen soll.

Ich begrüße sie freundlich und erkundige mich, ob Sie meine Hilfe benötigt.

„Ich habe kein Geld und kein Essen im Haus“, erklärt sie ängstlich und abweisend. Ihr Misstrauen verstärkt meinen Wunsch, zu helfen, nur noch.

„Brauchen Sie denn nichts? Sie sahen aus, als wollten Sie etwas besorgen?“

Sie gibt ihren Widerstand auf, vermutlich ist ihr klar, dass sie kaum noch etwas zu verlieren hat.

„Ach, ich bin eigentlich in Quarantäne, und eine Nachbarin hat mir das Nötigste besorgt. Aber sie ist fort, es findet sich auch sonst niemand, der freiwillig für mich losgehen würde. Ich bin bisher daheim geblieben, aber wenn ich nichts unternehme, verhungere ich.“

Kurz entschlossen biete ich mich an: „Ich kann für Sie einkaufen gehen. Jetzt gleich.“

„Aber Sie kennen mich doch gar nicht. Und ich … ich habe kein Geld im Haus. Ich weiß nicht einmal, ob die Rentenversicherung noch zahlt. Viele Automaten in dieser Gegend sind zerstört oder ausgeraubt, wurde mir berichtet.“

„Hören Sie, machen Sie sich keine Gedanken darüber. Sagen Sie mir nur, woran es Ihnen am dringendsten mangelt, und ich will es besorgen.“

Zweifelnd, aber bereitwillig zählt sie mir ein paar Dinge des täglichen Bedarfs auf. Luxusgüter wie Klopapier zählen schon lange nicht mehr dazu, es fehlt am Grundlegendsten.

Als ich gehe, sieht sie mir traurig nach, sie rechnet nicht mit meiner Rückkehr. Es ist ein schönes Gefühl, ihr ehrlich erstauntes Gesicht zu sehen, als ich klopfe und sie mir öffnet und feststellen muss, dass ich wider Erwarten mit einem großen Einkaufswagen voller Lebensmittel zurückgekehrt bin. Vorsichtig packe ich die Waren aus und stelle sie in ihren Flureingang.

Zur Krönung lege ich ihr verschmitzt ein dunkles, in durchsichtige Folie verpacktes Fleischstück auf den Schuhschrank, das mindestens drei Kilo wiegt.

Sie schaut mich ungläubig an. „Wie sind Sie da rangekommen? Es gibt doch fast nur noch Konserven? Wilderei wird von der Bundeswehr strengstens geahndet.“

Ich lächele und übergehe ihren verwunderten Einwand. „Es ist noch sehr frisch, aber Sie sollten nicht zu lange mit der Zubereitung warten. Ich habe erst heute früh selbst davon probiert, es schmeckt wirklich köstlich.“

Da sieht sie mich mit so einem rührenden Blick an, dass ich beinahe anfangen muss zu weinen. Es fällt mir schwer, ihm standzuhalten, ohne mich wegzudrehen. Früher fand ich es sehr schwierig, Menschen zu erfreuen und selbst Anerkennung zu finden. Aber nun, da das Wesentliche zählt und gesellschaftliche Konventionen wie getrockneter Lack von den Menschen abgeblättert sind, ist es ein Kinderspiel.

„Warten Sie“, sagt sie mit brüchiger Stimme und humpelt in ihr Zimmerchen. Ich ahne schon, was sie vorhat.

Schließlich kehrt sie in den Flur zurück. Sie will mir etwas in ein Beutelchen stecken. Dabei ballt sie ihre Hand zu einer Faust, es scheint ihr recht unangenehm zu sein, dass ich versuche, einen Blick darauf zu erhaschen. Für einen Sekundenbruchteil sehe ich etwas aufblitzen und weiß Bescheid.

„Behalten Sie es“, sage ich. „Wer weiß, wann Sie das noch brauchen werden.“

Erst ist sie störrisch, wie es viele Leute mit dem Alter werden, doch dann gibt sie ihren Widerstand auf.

Ob Gold und Schmuck langfristig noch krisensichere Anlagen bleiben, wird davon abhängen, ob das Virus sich selbst eindämmt, bevor die Menschheit zurück ins Steinzeitalter versetzt wird.

Sie hustet. Mühsam stützt sie sich am Schuhschrank ab. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie vermutlich bereits selbst infiziert ist. Als sie meinen Gesichtsausdruck bemerkt, weicht sie einen Schritt zurück. So will ich sie nicht zurücklassen. Ich trete auf sie zu und nehme sie in den Arm.

„Ist schon gut“, flüstere ich.

„N… nein … ich weiß nicht, ob …“

„Keine Sorge. Ich bin immun.“

Sie schiebt mich von sich weg. „Niemand ist immun. Bislang konnte weder Heilmittel noch Impfstoff gefunden werden. Diese Krankheit wütet schlimmer als die Pest.“

„Machen Sie sich keine Gedanken um mich und verlieren Sie nie die Hoffnung. Erst gestern habe ich im Radio gehört, dass Forscher bedeutende Fortschritte bei der Entwicklung einer Impfung gemacht haben.“

Ich weiß, wie lächerlich diese Behauptung angesichts der Mutationsrate und der Raumstruktur der weniger veränderlichen, doch schwer durch Antikörper erreichbaren Virusrezeptoren ist, aber das Mütterchen ist bestimmt keine Virologin.

Dankbar drückt sie meine Hand. „Sie sind ein Engel. Gott segne Sie.“

Bin ich ein Engel? Ich bezweifele das sehr stark.

„Nicht doch“, wehre ich peinlich berührt ab. „Jeder sollte versuchen zu helfen, wo er kann, und nicht nur an sich selbst denken. Die Menschheit hat sich nur so weit entwickelt, weil sie sozial war. Allein hätte niemand eine Chance, lange zu überleben.“

Wie heuchlerisch, denke ich mir. Aber was sollte ich der alten Dame denn anderes erzählen? Ich möchte, dass sie stirbt, ohne den Glauben an die Menschheit ganz zu verlieren. Oder den Glauben an ihren Gott, dessen Werk nun viele als Sintflut oder Vorzeichen der Apokalypse werten.

Heimliche Zusammenkünfte und Aktionen verschiedenster Religionsgemeinschaften tragen immer noch erheblich zur Verbreitung der Seuche bei. Was bedeuten auch schon ein paar qualvolle Wochen, wenn im Himmel 72 Jungfrauen oder Ähnliches auf einen warten? Und wer weiß, vielleicht ist so eine Irrationalität in diesen hoffnungslosen Zeiten sogar richtig.

Nachdem ich mich verabschiedet habe, trotte ich durch die vermüllten und verwüsteten Straßen. Nur noch selten kommen Fahrzeuge der Stadtreinigung vorbei. Die Ruhe, die über diesen Gebieten am Stadtrand liegt, trügt aber. In letzter Zeit haben Plünderungen und auch Vergewaltigungen stark zugenommen. Allein bin ich hier nicht mehr sicher, ich muss mir einen anderen Ort für meine Betätigungen suchen. Außerdem könnte ich mich überall nützlich machen, Hilfe wird nicht nur von den Alten in der Stadt gebraucht. Und ich habe auch schon eine tolle Idee …

Erschöpft kämpfe ich mich durch das Unterholz, denn Wege oder gar Straßen sollte ich meiden. Bei jedem verdächtigen Geräusch kauere ich mich angstvoll zusammen. Kriminelle und aggressive Menschen muss ich ebenso fürchten wie Kontrollen, vor allem die kreisenden Hubschrauber dürfen mich nicht entdecken und aufhalten, denn ich habe meine Papiere und Zeugnisse verloren und durchschreite gerade Sperrgebiet.

Doch gleich habe ich es geschafft, nur noch dieser eine Hügel, wenn ich mich recht entsinne. Und ja, richtig, ich habe mich nicht getäuscht! Jetzt endlich liegt es in einer riesigen Senke vor mir, groß, grau und in der idyllischen Natur genauso deplatziert wie die riesigen Einkaufszentren im Speckgürtel, nur dass die Kunden hierher nicht freiwillig kommen.

Ich spüre ein Gefühl in mir aufsteigen. Zuerst kann ich es nicht einordnen, doch es wird immer stärker. Unaufhaltsam breitet es sich in mir aus, überflutet jede Faser meines Körpers und erfüllt meinen Geist. Alle Zweifel, Ängste und Befürchtungen sind wie weggeblasen, die Anspannung wird einfach fortgespült.

Mein Blick schweift über das notdürftig eingerichtete Lazarett, dessen Gesamteindruck eher an ein Dritte-Welt-Land als an eines der ehemals modernsten und bestorganisierten Gesundheitssysteme der Welt erinnert.

Jetzt kann ich das Gefühl identifizieren. So irre es mir selbst erscheint, es ist … reine, pure … Freude.

Nun besteht kein Grund mehr zum Verstecken. Ich wende mich an den erstbesten Mann im Schutzanzug.

„Entschuldigen Sie bitte, wo finde ich einen Arzt?“

Erschöpft und etwas missbilligend wirkt er, sein Gesicht kann ich hinter der dicken Maske nicht so richtig erkennen. „Der ist beschäftigt. Welche Symptome haben Sie denn?“

„Aber nein, ich bin kein Patient. Ich möchte hier im Krankenhaus mitarbeiten.“

„Sie? Sie wissen schon, was das hier ist?“

Fast fühle ich mich ein wenig beleidigt. Ich werde wie ein unvorsichtiges Kind behandelt, das der ungehaltene Vater von einer Dummheit abhalten muss.

„Aber ja, ich möchte etwas zur Versorgung beitragen“, beginne ich von Neuem.

„Klingt zu schön, um wahr zu sein. Fast alle Medizinstudenten sind letzte Woche desertiert.“

Er benutzt den Begriff desertiert, nicht geflüchtet. Man merkt auch am sprachlichen Ausdruck, dass Bürgerkriegszustände herrschen. Dabei kann ich es den Studenten nicht verdenken. Panik ist nun mal stärker als Pflichtbewusstsein. Hätte meine eigene Familie mich nicht vor wenigen Wochen verstoßen, wäre ich jetzt ganz sicher irgendwo in der Welt, aber aller Wahrscheinlichkeit nach nicht hier.

„Warten Sie, ich hole jemanden.“ Er verschwindet, offenbar überfordert damit, wie er weiter mit mir zu verfahren hat. Trotz der frischen Luft weht von den riesigen Plastikzelten eine merkwürdige Mischung aus Desinfektionsmitteln, Urin und Fäulnis zu mir herüber.

Nach kurzer Zeit erscheint ein älterer Mann, ich vermute, dass es sich um einen Arzt handelt.

„Guten Tag, mein Mitarbeiter sagte mir, Sie suchen Arbeit? Dies ist ein Corona-Krankenhaus, das wissen Sie? … Eigentlich hätten Sie gar nicht in den Sicherheitsbereich kommen dürfen, ohne kontrolliert zu werden“, fügt er etwas verwundert hinzu.

„Ich weiß. Ich bin nicht bloß des Geldes wegen gekommen, ich bin einfach hier, um zu helfen.“

Der Mann ist verblüfft und schaut mich mit einem durchdringenden Blick an. Er kann mich nicht einschätzen. Mein naives, offenherziges und gutmütiges Auftreten lässt mich schwach und unbedarft wirken.

„Hm. Woher kommen Sie?“

„Aus Glienicke.“

„Haben Sie keine Familie oder Freunde?“

„Nein, nicht mehr.“

„Tut mir leid.“ Er zwingt sich zu einem Gesichtsausdruck, der Mitgefühl ausdrücken soll, ist aber offensichtlich schon so abgestumpft, dass es ihm schwerfällt. Wenn man derart viel Elend gesehen hat, verwundert das nicht. Mir traut er diese emotionale Abgrenzung wohl nicht zu, denn er erkundigt sich, warum ich mich für geeignet halte.

„Wollen Sie ernsthaft ein Bewerbungsgespräch mit mir führen? Haben Sie zu viele Anwärter?“, gehe ich in die Offensive.

Er zuckt müde mit den Achseln. „Meinetwegen. Wir brauchen jede helfende Hand. Was ist denn Ihr beruflicher Hintergrund?“

„Ich habe schon mal als Laborant gearbeitet“, erkläre ich, „aber das ist bereits länger her. Mein medizinisches Wissen hält sich leider in Grenzen.“

Noch bevor er etwas erwidern kann, stürmt ein Mitarbeiter auf uns zu und berichtet atemlos: „Die letzte Lieferung ist heute Morgen immer noch nicht durchgekommen. Wir haben kaum noch Schutzanzüge.“

Verzweifelt schaut er abwechselnd mich und den Arzt an, so als könnte einer von uns diese herbeizaubern oder eine schlaue Antwort auf dieses Problem finden.

„Ist schon gut“, beruhige ich den Arzt. „Lassen Sie mich beim Untersuchen und Begraben der Toten helfen. Dazu brauche ich keine Schutzausrüstung. Ich habe keine Angst. Es ist doch bekannt, dass das Virus spätestens sechs Stunden nach Todeseintritt inaktiv wird.“

Ihm ist klar, dass das nur eine Propagandalüge zur Beruhigung der Bevölkerung ist. Denn auch diesbezüglich ist das Virus stabiler geworden, wenngleich es immer noch viel empfindlicher bleibt als Sporen bildende Bakterien. Was diesem Doktor jedoch nicht klar ist, das ist mein eigenes Wissen um diese Tatsache.

Und er nimmt meine Gefährdung in Kauf. Wie er selbst sagte, jede helfende Hand wird gebraucht, denn herumliegende Leichen oder unsauberes Arbeitsmaterial können schließlich auch viel Ungeziefer anlocken und zu weiteren Gesundheitsrisiken führen. Einen zusätzlichen Ausbruch von Ruhr oder Cholera kann in dieser kritischen Lage niemand gebrauchen. Ich sehe, wie es in seinem Gehirn arbeitet.

„Na schön. Auf Ihr Risiko. Ziehen Sie sich wenigstens Mundschutz und Handschuhe an, davon haben wir noch ein paar Vorräte.“

Er winkt einen Pfleger heran, der mich kurz im Krankenlager herumführt und mir erklärt, wo ich die wichtigsten Utensilien für meine Arbeit finde. Ich habe vor Aufregung große Mühe, mir diese vergleichsweise einfachen Belehrungen und Instruktionen zu merken. Nachfragen sollte ich mir sparen, das hält nur unnötig auf. Immerhin wird man mich nicht – wie früher – rauswerfen wollen, wenn ich etwas falsch verstehe, den richtigen Gegenstand oder Ort nicht gleich finde oder meine Arbeit nicht so erledige, wie es eigentlich gedacht war. Diese Tätigkeit könnte aber auch jeder Laie ausführen, es braucht dazu kein besonderes medizinisches oder pflegerisches Wissen. Meine Aufgaben bestehen darin, Sterbende und Tote zwischen den Stationen des Gebäudes, den Feldlazaretten und den Begräbnisanlagen hin und her zu schieben.

Und wenn gerade niemand abzuholen ist, helfe ich bei der notdürftigen Versorgung der Patienten aus, bringe medizinische Produkte oder Lebensmittel von A nach B oder putze und desinfiziere einfach nur, so gut es geht. Natürlich kann man auch hierbei als Laie viel falsch machen, doch alle sind froh über meine Hilfsbereitschaft. In den ersten Tagen habe ich zwar die Erschöpfung und das raue Klima zu spüren bekommen, aber man erwartet keinen Small Talk von mir. Wenn ich Pause habe, ziehe ich mich zurück, und das Personal meidet mich ebenfalls.

Ganz im Gegensatz zu den Kranken! Sie lechzen geradezu nach Aufmerksamkeit. Für ein paar Brocken eines noch so belanglosen Gespräches sind sie unendlich dankbar. Da die Helfer überfordert und teils genervt oder furchtsam sind, können sie sich neben der medizinischen Versorgung nicht auch noch um die menschliche kümmern.

Also gehe ich abends, wenn es dämmert, freiwillig durch die langen Reihen der Krankenbetten und bringe den Menschen ein wenig positive Stimmung mit. Meine gute Laune sorgt für Ablenkung, für Minuten der Normalität, in denen sie ihr schweres Schicksal vergessen können. Ich bemühe mich um Freundlichkeit, ich möchte ein bisschen Licht in diese ewige Finsternis tragen.

Der junge Mann lächelt mir schwach zu. Ich lächele sanft zurück. Er wird bald sterben, das fühle ich. Vielleicht werde ich ihn schon morgen auf meinem Rollwagen abholen müssen. Seit seiner rapiden Veränderung rafft das Virus gesunde Menschen in der vollen Blüte ihres Lebens ebenso dahin wie die Greise und Geschwächten. Da ist sie, die ersehnte Gleichstellung aller Menschen, um die so lange gerungen wurde. Der Gedanke mag sarkastisch sein, aber für mich hat er etwas Tröstliches angesichts sonstiger Ungerechtigkeiten und allen Leides. Selbst die Reichsten und Mächtigsten werden nicht verschont, es trifft sie ebenso wie den Hartz-IV-Empfänger, auf den sie vor ein paar Monaten noch geringschätzig herabgeblickt haben.

„Haben Sie nicht Feierabend für heute? Ich sehe Sie schon den ganzen Tag wie ein fleißiges Bienchen herumsausen“, erkundigt er sich.

„Ich mache das gern, und die Krankheit macht auch keinen Feierabend“, gebe ich zurück.

„Wie Sie angesichts dieser schrecklichen Zustände so viel Zuversicht und Fröhlichkeit ausstrahlen können, ist ein kleines Wunder. Sie sind ein Segen für die Patienten. Ohne Sie würde es mir bestimmt schon viel schlechter gehen. Sie sind eine ganz besondere Frau.“

Ja, das befürchte ich auch, aber diese Vermutung spreche ich lieber nicht laut aus. Ich betrachte die teils eingetrockneten, teils frischen Spuren von Blut, Speichel und Schweiß auf dem blütenweißen Laken. Die Muster sehen immer wieder anders aus, und ich ertappe mich dabei, wie ich mit den Augen den komplizierten Linienverläufen folge, als müsste ich das Bild vor mir abzeichnen. Oft graben sich unwichtige, kleine Details stärker in die Erinnerung als große Ereignisse. Die Namen meines Chefs und meiner Kollegen merke ich mir nach sieben Tagen Arbeit immer noch nicht, aber diese eindrucksvollen Muster werde ich nie mehr vergessen.

Der Mann wird von einem Hustenfall geschüttelt, doch ich weiche nicht zurück. Ganz genau verfolge ich den Überlebenskampf seines Körpers. Er wird ihn verlieren, bestimmt noch in dieser Nacht, jetzt bin ich mir ganz sicher.

„Möchten Sie noch etwas Wasser? Viel zu trinken ist wichtig bei hohem Fieber.“

Ich reiche ihm meine eigene Flasche.

„Sie werden sich infizieren“, flüstert er entsetzt.

„Nein“, gebe ich ebenso leise zurück. „Ich bin immun.“

„Sie wollen mich auf den Arm ne…nehmen.“ Sein Versuch, sich aufzurichten, scheitert und er sinkt zurück in die Kissen.

„Sehen Sie, ich trage keine Handschuhe“, erkläre ich triumphierend und nehme mir den Mundschutz vom Gesicht. Dann streichele ich über sein fettig gewordenes Haar und die eingefallene, blasse Haut. Der schlanke Mann gafft mich verständnislos an, als wäre ich ein Gespenst. „Es wird alles gut. Ich werde bei Ihnen sein.“

Jetzt glaubt er zu verstehen.

„Sie wollen mich nur trösten. Sie sind so ein lieber Mensch.“

„Ja, ich will sie trösten.“ Das ist nicht gelogen. Aber warum ich so lieb zu ihm bin, erkläre ich nicht.

Im Morgengrauen, nachdem ich nur wenige Stunden geschlafen habe, werde ich schon wieder geweckt. Und trotzdem springe ich voller Tatendrang und wohlgelaunt von meinem Lager auf.

„Ah, was für ein herrliches Wetter!“, schwärme ich den Kollegen und Patienten vor. „Womit soll ich anfangen?“

Ich hatte recht mit meiner Vorhersage. Der hübsche, schlanke, zum Sterben viel zu junge Mann hat tatsächlich den Kampf gegen das Virus verloren. Wenigstens ist er glücklicher verstorben, weil ich bei ihm war, rede ich mir ein. Außer ihm muss ich noch viele weitere Tote abholen. Der Muskelkater von der ungewohnt harten Arbeit ist immer noch da, vor allem in meinen Armen und Schultern.

Später muss ich bei der Sektion der wissenschaftlich interessanten Fälle assistieren, doch es gelingt mir, allen ein freundliches und aufmunterndes Lächeln zu schenken. Ich beklage mich auch nicht wie andere über die Arbeitsbelastung, sondern hole freiwillig rasch alles, was gerade benötigt wird. Beim späteren Reinigen und beim Ein- und Ausräumen des Autoklavs summe ich leise vor mich hin. Wie erfreulich, dass ich endlich als nützlich empfunden werde.

Es wäre aber auch zu schön, um wahr zu sein, wenn nicht doch noch etwas dazwischengekommen wäre! Ich habe leichtfertig einem weiteren Patienten von meiner Immunität berichtet. Und dann hat dieser Mann aufgrund meiner Zuwendung doch tatsächlich die Willenskraft aufgebracht, die Nacht zu überleben, nur um dem Personal von meiner erstaunlichen Offenbarung berichten zu können. Diese altruistische Hoffnung auf ein Heilmittel, das für ihn sowieso zu spät käme, ließ ihn bis 9:17 Uhr durchhalten. Erst danach habe ich ihn zur provisorischen Leichenhalle gebracht und von dort aus dann wieder andere zum bereits vom Bagger ausgehobenen Massengrab.

Der Leiter dieses Krankenhauses höchstpersönlich spricht mich an und bittet mich mitzukommen. Auf seinem Schreibtisch liegt ein Wust von Akten, auch die Schränke um ihn herum sind vollgestopft. Unter seinen Augen liegen tiefe dunkle Ringe, doch ich erkenne auch so etwas wie ein hoffnungsvolles Leuchten.

„Ist es wahr, was Sie dem Patienten erzählt haben? Sind Sie wirklich immun? Sie wissen, was das bedeuten könnte?“

Ich zögere. Das erste Mal muss ich jetzt verhindern, Zuversicht zu verbreiten.

„Hm. Nein. Es tut mir leid. Der Mann hat mich im Fieberwahn vielleicht missverstanden oder sich etwas erträumt. Sie wissen ja, dass das bei den Patienten häufiger vorkommt, wenn es dem Ende entgegengeht.“

„Er ist aber nicht der Erste, der das behauptet.“

Erschrocken zucke ich zusammen. „Wie meinen Sie das?“

Bedächtig, aber sehr aufmerksam beobachtet er mich, während er weiterspricht. „Zuerst habe ich es auch für Unsinn gehalten, Fieberträume, wie Sie sagen. Aber mehrere Krankenpfleger haben unabhängig voneinander berichtet, dass Sie spätabends in den Stationen herumschleichen und den Patienten nahekommen.“

„Niemand hat Zeit, sich etwas mit ihnen zu unterhalten. Ich wollte doch nur, dass sie nicht voller Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit aus dieser Welt scheiden. Es tut mir leid, dass … dass das jetzt herausgekommen ist.“

„Die Mitarbeiter und Patienten haben mir auch berichtet, dass Sie, seit Sie hier sind, keinerlei Furcht vor Ansteckung zeigen. Stimmt es, dass Sie nachts sogar ohne Mundschutz und Handschuhe an die Krankenbetten treten?“

Mir tritt der kalte Schweiß auf die Stirn. Was soll ich jetzt entgegnen? Es ist zwecklos zu leugnen, der Arzt würde mich nicht damit konfrontieren, wenn er nicht bereits Beweise oder zumindest unwiderlegbare Aussagen gegen mich in der Hand hätte. Also bleibt nur die Flucht nach vorn.

„Also gut“, gebe ich widerstrebend zu. „Es ist wahr. Ich bin immun. Ich weiß es schon seit Längerem, seit meine Familie … seit sie das Virus … Sie wissen schon.“

Der Arzt reißt die Augen auf. Ich bemerke, dass nicht nur seine Hoffnung, sondern auch sein wissenschaftlicher Ehrgeiz geweckt ist.

„Aber warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt? Ahnen Sie überhaupt, welche Möglichkeiten sich damit eröffnen könnten? Haben Sie auch nur die leiseste Ahnung davon, wie lange sich die besten Wissenschaftler in aller Welt schon die Köpfe zerbrechen und nach einem Heilmittel oder Impfstoff forschen, bislang völlig vergeblich?“

Beschämt senke ich den Blick, das schlechte Gewissen ist nicht vorgespielt. „Ich hatte Angst, dass man mich als Versuchskaninchen ewig lange einsperren und allerlei unmenschlichen, schmerzhaften Experimenten unterziehen würde. Es ist nicht so, dass ich nicht helfen wollte! Sie sehen doch, ich bin hier, und ich tue für die Lebenden, was ich kann.“

„Aber Ihre Sorge ist unbegründet. Im Gegenteil, man wird Sie behandeln wie ein rohes Ei. Natürlich muss man Sie an einen sicheren Ort bringen, aber es würde nicht an Annehmlichkeiten fehlen; und das Schmerzhafteste, das Sie fürchten müssen, ist die Entnahme von Blut und anderen Proben.“

„Können Sie mir das versprechen? Dass man mich nicht auseinanderschneidet oder quält, meine ich?“

„Aber natürlich.“

„Gut. Dann stelle ich mich zur Verfügung.“

Er atmet auf. „Sie werden vielleicht die größte Heldin der Menschheitsgeschichte! Ich rufe rasch meinen Vorgesetzten an, diese Sache hat allerhöchste Dringlichkeit und Priorität. Bitte warten Sie vor dem Sprechzimmer am Ende des Ganges auf mich.“

„Natürlich. Danke, dass Sie so verständnisvoll sind.“

Vor lauter Aufregung vergisst der Arzt, darauf überhaupt zu antworten, und stürmt aus seinem Büro. Verwundert sieht ihm ein Kollege nach.

Jetzt senkt sich langsam die Abendsonne über den Horizont. Das riesige Krankenhaus und die es umgebenden provisorischen Lazarette liegen mindestens fünfzehn Kilometer hinter mir. Noch weiter konnte ich mich beim besten Willen nicht mehr fortschleppen.

Der umgestürzte, bemooste Baumstamm, auf dem ich mich erschöpft ausruhe, ist nasskalt und wird immer ungemütlicher. Ich zittere, friere von innen heraus. Beruhigend rauscht der Wind durch die Baumwipfel und kühlt meine glühenden Schläfen. Ja, hier möchte ich bleiben, in der Natur, im Wald, den ich schon immer geliebt habe. Ich ertrage es nicht länger, bei den Menschen sein.

Ich weiß nicht, wie lange ich es noch vermag, deshalb beeile ich mich so damit, meine Geschichte aufzuschreiben. Vielleicht wird doch noch ein Gegenmittel gefunden, und dann werden die Kinder meiner Kinder eines Tages diese Zeilen lesen und verstehen, weshalb ich fliehen und die Menschheit im Stich lassen musste. Weshalb ein bisher immer so hilfsbereiter Mensch und die derzeit einzige Hoffnung für alle sich so klammheimlich aus dem Staub gemacht hat.

Ich grinse unwillkürlich. Die alte Dame aus der Vorstadt ist vielleicht schon kurz nach meiner Abreise verstorben. Vielleicht hat sich jemand die Mühe gemacht, den Inhalt ihres Magen-Darm-Traktes zu analysieren? Vor meinem inneren Auge lasse ich die Ereignisse der letzten zwei Wochen noch einmal Revue passieren. Ja, es war ein Alptraum. Furchtbar, schrecklich. Und doch habe ich niemals zuvor so intensiv gelebt.

Wenn ich den Mut dazu finde, werde ich mich erhängen, doch mein Überlebenstrieb ist merkwürdigerweise extrem stark. Vermutlich werde ich zu feige sein und dann qualvoll ersticken.

Vielleicht habe ich noch ein paar Tage, mit etwas Glück eine Woche.

Nur finden darf mich niemand, denn was man mit mir anstellen würde, wenn die wahren Motive für meine Selbstlosigkeit in dieser dunklen Zeit herauskämen, das möchte ich mir nicht ausmalen.

Versonnen streichele ich über das in der Dunkelheit nicht erkennbare Ding in meinem Rucksack, ein letztes Souvenir von meiner Arbeitsstelle. Seinem Besitzer wird es sicher nicht fehlen.

Realitätstest

Er hatte schon ein ungutes Gefühl, als er von seinem großzügigen Spaziergang heimkehrte. Mit seiner Mischlingshündin Susi war er nach Norden aus der Stadt gefahren und bis zum Südrand des Poyenstichs an der Havel gewandert. Dort hatte er sich einige zum Verkauf stehende, teils arg sanierungsbedürftige Häuser und Höfe angesehen. Normalerweise müsste seine Frau mittlerweile, es war bereits gegen 19:00 Uhr und die Sonne senkte sich über den Horizont, schon zuhause sein und die Reste des Mittagessens für ihn aufwärmen.

Unten stand die Haustür sperrangelweit offen. Wie leichtsinnig das doch war! Auch hierher, in diese heruntergekommene Gegend, aus der er so bald wie möglich herauskommen wollte, konnten sich unerfahrene Diebe und Einbrecherbanden verirren, die noch nicht wussten, dass in den Wohnungen selten etwas zu holen war. Aber heute ärgerte er sich nicht über die Nachlässigkeit seiner Nachbarn, sondern erschrak zutiefst. Das war ein schlechtes Omen. Ob etwas Ungeplantes geschehen war?

Widerstrebend und besorgt näherte er sich dem Hauseingang. Auch die stählerne Kellertür war geöffnet. Er spähte die Stufen hinab, jemand hatte die Kellerbeleuchtung eingeschaltet. Verwundert erblickte er zu beiden Seiten der schmutzigen Steintreppe säuberlich aufgeschichtete Knochen auf notdürftig angeschraubten Regalbrettern.

„Sitz!“

Susi gehorchte und wedelte freundlich mit dem Schwanz. Zumindest schien es keine unmittelbare Bedrohung zu geben.

Woher um alles in der Welt kamen diese Knochen? Er befestigte die dunkle Lederleine am Treppengeländer, das in den ersten Stock führte, und ging vorsichtig einige Stufen in den Keller hinab. Es roch nach all den Jahren immer noch leicht nach Asche und Kohlenkiepen. Und nach Knochen! Er hatte bisher nie darüber nachgedacht, dass auch menschliche Knochen einen eigenen Geruch ausstrahlen können. Die meisten Gebeine waren säuberlich aufgestapelt, dazwischen thronten Totenschädel, die allesamt sehr gut erhalten waren. Sie konnten noch nicht lange hier liegen.

„Guten Abend, Willibald!“

Er fuhr zusammen, ließ sich aber äußerlich nichts anmerken. Es war nur die Hausmeisterin.

„Oh, guten Abend, Amelia. Haben Sie die Türen geöffnet?“

„Ja“, antwortete sie. „Ich musste wieder beide Treppenaufgänge putzen und habe gleich etwas gelüftet. Seit das Bezirksamt uns nötigt, die Überreste Verstorbener in den Kellern zu lagern, weil Friedhofsflächen für den Hausbau benötigt werden, ist es noch staubiger und muffiger geworden.“

Willibald konnte sich gar nicht entsinnen, dass das Bezirksamt jemals einen derartigen Beschluss gefasst hatte. Hätte er als Wohnungsbesitzer nicht darüber informiert werden müssen? Immerhin gehörte ihm anteilig Gemeinschaftseigentum, wozu auch die Kellergänge zählten.

„Na, Susi, passt du schön auf dein Herrchen auf? Ja, bist eine ganz Feine.“

Susi war allseits beliebt, weil sie überaus freundlich, intelligent und zur großen Freude der Hausmeisterin auch sehr gepflegt war.

Verwirrt musterte Willibald die aufgetürmten Stapel unterschiedlichster Gebeine, unter denen die großen Röhrenknochen der Extremitäten dominierten.

„Ist es überhaupt erlaubt, Menschenknochen hier so offen zu stapeln?“, äußerte er zweifelnd. „Immerhin könnten sie leicht herunterfallen oder gestohlen werden.“

Ihm kam diese Lösung pietätlos vor. Störte es die Angehörigen nicht, dass sie keine gewidmeten Gräber mehr besuchen konnten, sondern ihre Lieben achtlos und anonym in Kellern und auf Dachböden verteilt wussten?

„Die Handwerker, die Nischen in die Wände stemmen und eine Absicherung anbringen sollten, hätten schon letzte Woche kommen müssen. Ich werde gleich morgen noch einmal Druck bei der Hausverwaltung machen. Sie haben recht, es könnte sich leicht jemand verletzen, immerhin sind einige Knochen auch sehr scharfkantig.“

Amelia schien gar nicht mitbekommen zu haben, dass Willibald weniger die Gefahr für die Anwohner als vielmehr die moralische Bedenklichkeit dieser neuen Bestattungsform hatte kritisieren wollen.

Ein schmaler, relativ kleiner Schädel rechts über der untersten Stufe erregte seine Aufmerksamkeit. Etwas mit ihm stimmte nicht. Grauen erfasste ihn. Äußerlich konnte er nichts Besonderes daran entdecken, und doch erfüllte er ihn mit Entsetzen. Er wollte sich wieder abwenden, doch die leeren Augenhöhlen hypnotisierten ihn wie magisch. Weshalb brachte ihn dieser doch vergleichsweise harmlose Anblick derart aus der Fassung?

„Amelia, werden uns eigentlich die Namen der Menschen mitgeteilt, die hier gelagert werden?“, erkundigte er sich. Sein Blick blieb auf den zierlichen Schädel geheftet.

„Na, das wäre nun wirklich zu viel Bürokratie. Es reicht schon, dass ich diverse Unterlagen über die Lebenden in diesen beiden Häusern in meiner Wohnung stapeln muss!“, beschwerte sich die Hausmeisterin.

„Ach ja, das ist schon mal der Ihrer netten Ehefrau, Willibald, Sie haben ja selbst einen schönen Platz für sie ausgesucht.“

Willibald erstarrte. Er glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Mühsam keuchte er. Seine Hand umklammerte den Lauf der Kellertreppe, weil er glaubte, das Gleichgewicht zu verlieren.

Deshalb also hatte ihn der Anblick mit Schrecken erfüllt! Ohne jemals eine Röntgenaufnahme seiner Frau betrachtet zu haben, hatte er gespürt, dass dies ihr Kopf war. Er hatte ihn sofort erkannt, es nur nicht wahrhaben wollen.

Es dauerte einige Sekunden, bis er überhaupt etwas hervorbringen konnte.

„Hulda ist … tot?“

„Aber nein, Sie Witzbold!“, lachte die Hausmeisterin. „Quicklebendig! Vorhin kam sie mir doch von der Arbeit entgegen!“

„Wie … wie ist das möglich?“, stammelte er ungläubig. Ein Mensch konnte ohne seinen Kopf nicht existieren. Wollte ihn Amelia auf den Arm nehmen?

Grinsend starrte ihn der Schädel seiner Frau an, als wollte er seine lächerliche Unwissenheit verhöhnen. Willibald war doch nur auf einen Tagesausflug mit Susi fort gewesen! Er hätte schwören können, dass sich am Vorabend kein einziger Knochen im Keller befunden hatte. Schon gar nicht der Totenschädel seiner Frau! Hatte sie sich nicht noch in der Frühe von ihm verabschiedet?

Die Hausmeisterin schien zu überlegen, ob seine Frage ernst gemeint war, dann entgegnete sie beruhigend:

„Ja, Erwachsene werfen ihren Schädel viel seltener ab als Kinder, ungefähr alle zehn bis zwanzig Jahre. Schließlich wachsen sie nicht mehr. Aber das ist wie bei den Hirschen, die ihre Geweihe immer wieder abwerfen und dann neu bilden, es hört zeitlebens nicht auf.“

„Abwerfen?“

Willibald hatte noch nie davon gehört, dass Menschen Knochen abwerfen konnten wie Geweihe oder Schlangenhäute. Warum tat Amelia so, als sei das das Natürlichste auf der Welt? Es war biologisch unmöglich!

Noch nie hatte er seinen Schädel gewechselt, und noch nie hatte dies einer seiner Freunde oder Verwandten getan, auch nicht als Kind oder als Jugendlicher während eines Wachstumsschubes, wo dies angeblich häufiger vorkommen sollte.

Nein, seine Frau war tot. Ihr Totenkopf war der Beweis. War das unmögliche Benehmen von Amelia lediglich ihrer Verunsicherung geschuldet, wie sie mit seiner Fassungslosigkeit angesichts des Todes seiner geliebten Ehefrau umgehen sollte? Sie war gut darin, Treppenaufgänge und Small Talk zu pflegen, aber offensichtlich nicht darin, Witwer zu trösten.

„Ah, da ist sie ja!“, rief Amelia fröhlich aus.

Willibald riss seine Aufmerksamkeit gewaltsam von Huldas Schädel und hob den Kopf. Verblüfft starrte er auf eine anmutige, kleine Frau mittleren Alters, die das Treppenhaus heruntergelaufen kam.

„Na, ihr zwei, ich habe euch im Hausflur reden hören“, begrüßte sie sie. „Und das ohne mich!“, fügte sie mit gespieltem Tadel hinzu.

Diese Frau, die zu ihnen herunterkam, war niemand anderes als Hulda. Aber sie konnte es nicht sein. Hulda war tot.

Lächelnd bückte sie sich und streckte ihre Hand nach Susi aus, um sie zu begrüßen.

Die Mischlingshündin zog den Schwanz ein und winselte. Dann fing sie mit angelegten Ohren an zu knurren und kläffte einmal ängstlich.

„Ach Susilein, Dummerchen, ich bin`s doch!“

Aber Susi hatte recht: Das da war nicht seine Hulda. Das Ding war überhaupt keine Frau, sondern nur die hastig geformte Karikatur eines Menschen, so als hätte sich ein Schauspieler für eine Filmszene eine Maske übergestreift.

Was auch immer hier gespielt wurde, die Hausmeisterin spielte das Spielchen mit.

„Ihr Mann ist eben zur Tür hereingekommen und hat noch einmal Ihren Schädel bestaunt“, erklärte sie zu dem Ding gewandt, das vorgab, Hulda zu sein, indem es sie unbeholfen nachäffte.

Die falsche Hulda grinste wissend. Dann trafen sich ihre Blicke und sie schien besorgt.

„Willi, Schatz, ist alles in Ordnung? Du wirkst etwas abgespannt. Komm hoch, ich mache dir einen Tee …“

Das Ding näherte sich und wollte ihn berühren, vielleicht sogar küssen.

„Nein!“, keuchte Willibald. „Lass mich … FASS MICH NICHT AN!“

Aber sie näherte sich weiter. Er glaubte, einen Geruch wie von sehr alten Knochen an ihr zu bemerken. Da stieß er sie brüllend von sich und drehte sich ruckartig weg.

Durch diese Drehung schien er plötzlich für eine Sekunde lang schwerelos zu werden. Dann landete er mit einem Poltern auf dem Laminatfußboden. Er war hart und kalt. Willibalds Ellenbogen schmerzte.

Nicht schon wieder ein Alptraum! Verdammt!

Es war noch dunkel, also nicht einmal fünf Uhr morgens. Er hatte gerade einmal vier Stunden geschlafen. Ihm war klar, dass er nicht mehr einschlafen konnte. Er wollte seiner Frau nichts davon erzählen, denn sie würde es wieder nur auf sein Feierabendbier schieben. Dabei gönnte er sich diese kleine Belohnung schon seit fünfundzwanzig Jahren und hatte davon nie Alpträume bekommen. Sie hatten erst vor einem halben Jahr begonnen und seitdem nicht mehr aufgehört. Normalerweise konnte er sich kaum an Träume erinnern, doch diese brannten sich in sein Gedächtnis und tauchten wie über die Realität projizierte Bilder immer wieder ohne Vorwarnung auf. Manchmal geschah so etwas mitten in der Arbeit oder in einem Gespräch mit Kollegen, und dann vergaß er, was er gerade hatte tun wollen oder was sein Gegenüber gesagt hatte.

Zuerst waren die Alpträume vereinzelt vorgekommen und er hatte sie auf die hohe Arbeitsbelastung zurückgeführt. Dann waren sie wöchentlich aufgetreten, und seit einigen Wochen verging kaum eine Nacht, in der er ruhig und unbehelligt schlafen konnte. Mittlerweile trank er abends schon ein weiteres Feierabendbier, um das Zubettgehen hinauszuzögern, weil er sich vor den grässlichen Träumen fürchtete. Der Inhalt selbst war nicht ernst zu nehmen und erschreckte ihn im Wachzustand kaum. Aber er nahm stets ein lähmendes Gefühl von Furcht oder Hoffnungslosigkeit mit in den Wachzustand hinüber, und sein Nervenkostüm litt zunehmend unter dem Schlafmangel. Er war reizbar und unkonzentriert geworden, regte sich über Kleinigkeiten auf und hatte sich schon einige Schnitzer erlaubt, die anderen Kollegen vielleicht schon eine Abmahnung eingebracht hätten.

Zwei Wochen lang hatte sich er Schlaftabletten verschreiben lassen. Aber das war keine Dauerlösung, schon allein deshalb nicht, weil er keine Lust hatte, Dauergast in Wartezimmern zu werden. Die Wirksamen wie Zolpidem waren alle verschreibungspflichtig. Außerdem fühlte er sich nach der Einnahme dieser Schlaftabletten am nächsten Tag wie gerädert, obwohl sie tatsächlich dafür sorgten, dass er traumlos mindestens zehn Stunden durchschlief.

Am Wochenende wurde es heiß. Willibald war von einem guten Kollegen zum Grillen und Kartenspielen eingeladen worden.

Nach einigen Bierchen lockerten sich Stimmung und Zungen der Männer. Interessiert stellte sich Willibald zu zwei der Kollegen, die sich über Träume unterhielten und dabei so taten, als wären sie Experten, nur weil sie ein oder zwei Youtube-Videos darüber gesehen hatten. Dann entfernte sich einer der beiden, um Platz für ein weiteres Bier und eine Bratwurst zu schaffen.

Möglichst beiläufig erkundigte sich Willibald danach, ob es möglich sei, unangenehme Träume loszuwerden.

„Oh, dafür gibt es viele Möglichkeiten, aber die sicherste und effektivste ist immer noch die, direkt während des Traumes anzusetzen. Dazu musst du dir natürlich bewusst sein, ob du gerade träumst oder wach bist.“

„Wie stelle ich zuverlässig fest, ob ich gerade wach bin?“, wollte Willibald wissen.

„Schau dir den Teller in deiner Hand an. Welche Farbe hat seine Oberfläche?“

„Weiß mit ein paar blauen Mustern.“

„Nun schließe die Augen für ungefähr eine halbe Minute und sieh den Teller vor deinem geistigen Auge. Stell dir vor, dass der Teller grün wäre. Konzentriere dich auf dieses Grün.“

Darin war Willibald gut, sein räumliches Denken war weit überdurchschnittlich ausgeprägt.

„Ja … klappt … und?“ Was wollte der Kollege damit beweisen?

„Öffne die Augen wieder. Welche Farbe hat der Teller nun?“

„Blöde Frage, weiß natürlich.“

„Das war schon der ganze Test“, erklärte sein Gegenüber.

„Du bist jetzt wach. Wäre der Teller nach dem Öffnen deiner Augen immer noch grün und nicht wieder weiß, dann wüsstest du, dass du gerade schläfst. Wenn es dir gelingt, durch Konzentration und Willenskraft deine Umgebung zu beeinflussen, dann träumst du. Am einfachsten geht es mit Farben von Gegenständen um dich herum.“

„Und wie soll das Alpträume verhindern?“, fragte Willibald.

„Wenn du diese Übung jeden Tag mindestens dreimal machst, am besten in aufwühlenden oder beängstigenden Situationen, dann wirst du den Realitätstest verinnerlichen und zunehmend auch in Träumen anwenden. Erkennst du während eines Alptraumes, dass du träumst, kannst du ihn beeinflussen. Du kannst Figuren in deinen Träumen verschwinden oder erscheinen lassen, deine Umgebung und deine Fähigkeiten verändern oder auch bewusst fragen, warum dir diese Traumbilder erschienen sind. Denn irgendeinen Grund muss es doch haben, dass du in letzter Zeit so von der Rolle bist.“

„Danke, das probiere ich mal aus.“

Hoffentlich würde Willibalds Kollege niemandem von seinem Schlafproblem erzählen. Man sollte ihn bloß nicht für ein Mädchen halten.

Gleich am nächsten Morgen nach einer weiteren schlechten Nacht ergab sich die Gelegenheit für den ersten Realitätstest.

„Ich habe schon wieder deine dreckigen Socken im Schlafzimmer gefunden. Ist es denn zu viel verlangt, sie bis zum Wäschekorb zu tragen?“, beschwerte sich Hulda, als er müde und verkatert durch den Flur schlurfte.

Er starrte seine Ehefrau an. Sie trug ein ärmelloses, blaugrünes Kleid, das ihr bis zu den Fesseln reichte.

Dann schloss er seine Augen. Das Kleid wurde rot, knallrot, und aus der angespannten Meckerfratze war ein neckisch grinsendes Gesicht geworden. Er hielt das Bild fest und betrachtete es. Schließlich öffnete er vorsichtig seine Augen. Das Kleid war wieder blaugrün und seine Frau schaute ihn immer noch etwas ungehalten an.

„Schade“, murmelte er.

„Was ist schade?“, wollte sie wissen.

„Ach, nichts.“

„Dann sei doch bitte so lieb und hole mir ein paar Batterien aus dem Keller. Du weißt, dass ich dort ungern heruntergehe.“

„Ich auch“, dachte er sich. Hoffentlich befanden sich keine Menschenknochen an den Wänden.

Obwohl Willibald diese Übungen im Wachzustand mit wachsender Begeisterung ausführte und sich konzentriert die wunderbarsten optischen Veränderungen ausmalte, wurde er weiterhin von unkontrollierbaren, widerwärtigen oder klaustrophobischen Träumen geplagt. Wann würde endlich der Moment kommen, in dem er einen Traum als solchen erkannte und ihm seinen Schrecken nehmen konnte?

Einige Wochen später stand er in der riesigen Werkshalle seiner Firma, in der er schon seit geraumer Zeit als Industriemechaniker angestellt war. Normalerweise konnte er in Ruhe an seinem Arbeitsplatz vor sich hin werkeln und nebenbei interessante Beiträge über Astronomie auf seinem iPhone hören.

Doch heute hatte eine Begehung durch Vertreter aus der Chefetage stattgefunden, die sich Strategien überlegten, wie sie ihren Gewinn maximieren und die Personalausgaben minimieren konnten. Willibald war sich ziemlich sicher, dass kein Einziger von ihnen jemals für längere Zeit selbst mit den Händen körperlich anstrengende Arbeit verrichtet hatte.

Beim Anblick der mit seinem direkten Vorgesetzten plaudernden Männer stieg Wut in ihm auf. Ohne Menschen wie ihn wäre dieses ganze System längst zusammengebrochen, Menschen wie er hatten die teuren Anzüge der selbstgefälligen Fatzken mit ihrem Schweiß finanziert, und der einzige Dank für die jahrzehntelange Treue bestand darin, dass überlegt wurde, seinen Bereich auszulagern oder zu verkaufen.

Es war klar, dass er gerade wach war und arbeitete, aber dies war eine Situation, die ihn aufwühlte. Deshalb war sie wunderbar geeignet, um wieder seine Übung zu absolvieren. Grau war das Jackett des ihm unbekannten Vorstandsmitgliedes, ebenso grau dessen Hose. Willibald stellte sich deutlich vor, wie der gesamte Anzug in ein lächerliches Schweinchenrosa getaucht wurde und dem eitlen Herrn ein Schweineschwänzchen wuchs. Als das Bild stabil und deutlich vor ihm stand, öffnete er seine Augen wieder.

Wie erschrak er aber, als das Vorstandsmitglied in einem rosafarbenen Anzug vor ihm stand. Lächelnd reichte man ihm die Hand.

„Ich möchte mich im Namen des gesamten Vorstandes bei Ihnen für die langjährige gute Zusammenarbeit bedanken und wünsche Ihnen noch einen schönen Feierabend für heute!“

Wie war das möglich? Niemals würde ihm so ein abgehobener Neureicher die Hand schütteln oder sich gar persönlich bei ihm bedanken!

Der Herr im rosa Schweinchenanzug drehte sich um, und Willibald entdeckte ein kleines, gekringeltes Schwänzchen aus seiner teuren Hose hervorlugen.

Dann wurde es ihm schlagartig klar:

Er hatte es geschafft! Er hatte es zum allerersten Mal geschafft, mittels der neuen Realitätstesttechnik seines Kollegen einen Traum als solchen zu erkennen, und zwar mittendrin und ganz bewusst, noch lange vor seinem eigentlichen Ende und dem unausweichlichen Aufwachen.

Und es kam noch besser: Willibald erwachte nicht, er träumte weiter. Sein Wissen hatte ihn nach der Theorie nun auch zum uneingeschränkten Herrscher dieses Traumes gemacht.

Er ließ die Vorstandsmitglieder und den Verräter aus dem Betriebsrat einen nach dem anderen wie Seifenblasen zerplatzen. Plopp! Plopp! Plopp!

Aus der großen Fläche des Schalters wurde ein Videobildschirm. Technomusik dröhnte aus neu entstandenen Lautsprechern.

Willibald wollte noch ein paar junge Damen durch die Tür hereinkommen lassen, doch das ging nicht. Also beschloss er, die Werkshalle zu verlassen und den Tag warm und sonnig werden zu lassen, damit er am Fluss Rad fahren und angeln konnte.

Verblüfft stellte er fest, dass das Tor der Halle nicht mehr an seinem Platz war. Alle Türen waren verschwunden. Er setzte seine Technik der Visualisierung ein, doch so sehr er sich auch konzentrierte, die Türen wollten nicht mehr auftauchen. Immer, wenn er die Augen öffnete, waren sie wieder weg.

Jetzt wurde es ihm zu bunt und er beschloss, den Traum zu beenden. Aber wie?

„Ich will in meinem schönen, warmen Bett aufwachen!“, sagte er beschwörend zu sich selbst. Er presste die Augenlider sehr fest und sehr lange zusammen. Doch er befand sich immer noch in der großen, türlosen Halle. Er war ein Gefangener seines eigenen Traumes.

„Ich will aufwachen!“, rief er. Warum nur hatte er vergessen, seinen Kollegen zu fragen, wie man bewusst einen Traum beenden konnte?

Da kam ihm eine Idee: Er stach sich mit der Ecke des Schraubendrehers in die offene linke Handfläche und heulte vor Pein auf. Die Schmerzwelle ebbte ab. Willibald zählte leise bis drei, dann öffnete er bewusst nur das linke Auge. Er befand sich immer noch in der Halle und hielt immer noch den Schraubendreher in der rechten Hand.

Alles wirkte unheimlich real, keiner seiner Alpträume war bisher so realistisch, logisch korrekt und detailreich gewesen. Selbst der Schmerz in seiner Hand und die nun hervortretenden Blutstropfen konnten nicht echter wirken. Er führte die verletzte Hand dicht vor seine Augen und konnte jede einzelne Linie nachverfolgen.

„Ich will aufwachen!“, schrie er verzweifelt und donnerte mit dem Schraubendreher gegen das Gehäuse eines Schalters, dass es dumpf widerhallte.

Nichts geschah. Wieso konnte er sich nicht einfach wie so oft auf dem Laminatfußboden seiner Wohnung wiederfinden?

Der Ratschlag seines Kollegen war überhaupt nicht hilfreich gewesen, im Gegenteil! Er hatte ihm den schlimmsten Alptraum beschert, den er bislang gehabt hatte. Warum hatte er sich auch dazu überreden lassen, in seiner Einbildungskraft herumzupfuschen, anstatt zu einem Fachmann zu gehen? Willibald hatte sich quasi selbst einer Gehirnwäsche unterzogen, die ihn dazu gebracht hatte, Realität und Traum nun so sehr zu hinterfragen, dass er überhaupt nicht mehr erkennen konnte, was was war.

Gab es überhaupt einen Wachzustand, so wie er ihn zu kennen geglaubt hatte? Wenn er nun diesen Traumzustand mit Gewalt beendete, würde das dazu führen, dass er endgültig erwachte, oder würde es seinen Tod herbeiführen? Er musste Gewissheit haben.

Er stieg die Metalltreppe in der Halle hoch, bis er sich fünfzehn Meter über dem Boden befand. Der Fußboden bestand aus grauem, solidem Beton. Ein Aufprall aus dieser Höhe sollte ausreichen, um ihn entweder zu töten oder erwachen zu lassen.

Es kostete ihn enorme Überwindung, den Schritt ins Leere zu tun. Seine sonst recht schwindelfreien Beine wurden weich und wollten ihm den Dienst versagen. Dann verlor er das Gleichgewicht. Er schloss seine Augen nicht. Rasend schnell näherte sich der Boden. Doch der Aufprall blieb aus. Willibald glitt einfach durch eine Täuschung einer Barriere. Der harte, massive Beton bestand nur optisch, wie eine Projektion. Er beinhaltete keine Kräfte, die sein Gefüge stabilisierten. Wie hatte Willibald dann zuvor darauf stehen und laufen können? Hatte allein sein Glauben an die Festigkeit den Beton bestehen lassen?

Willibald begriff: Der Betonboden war die ganze Zeit über eine Illusion gewesen! Er sah zurück. Das Grau löste sich allmählich auf, der Boden wurde durchscheinend wie eine Seifenblase. Dahinter kam leerer Raum zum Vorschein. Willibald stürzte in diesen leeren Raum. Durch seine antrainierte Willenskraft gelang es ihm, seinen Sturz zu bremsen und stillzustehen. Kein Widerstand, kein Windhauch zeigte an, dass sich noch Luft um ihn herum befand. Er sah sich um, doch er konnte nichts entdecken, was auf das Vorhandensein seiner Arbeitsstätte in der näheren Umgebung schließen ließ. Nur ein paar sich langsam auflösende Schatten in zerfließenden Farben konnte er noch an den Rändern wahrnehmen.

Träumte er immer noch? Oder war das der Tod? Wie viel Zeit war vergangen? Gab es hier überhaupt so etwas wie Zeit?

Er würde sich seine Realität wieder neu erschaffen, zusammensetzen müssen. Stück für Stück. Es wäre besser für ihn gewesen, dachte er sich, nicht auf die Rückgewinnung der Kontrolle hingearbeitet zu haben. Doch wie sollte er noch einem Kollegen böse sein, von dem er sich mittlerweile nicht einmal mehr sicher sein konnte, ob er nicht auch Teil eines langen, sehr langen Traumes war?

Spender

Iduna hatte schon viele Fehlentscheidungen in ihrem Leben getroffen und bestimmt die Hälfte davon nicht einmal als Ursache für ihre vielfältigen Sorgen ausfindig gemacht. Doch dieses Mal war sie sich sicher, endlich eine wichtige Entscheidung richtig zu treffen – die entscheidende Entscheidung, die alles aufwiegen würde, was sie zuvor falsch gemacht haben mochte.

Trotz ihrer Kontroversität hatten die Körperwelten-Ausstellungen sie zwar begeistert, aber nie zum Nachdenken über ihren eigenen Körper, ihren eigenen Tod gebracht. Auch ihre ethischen Überzeugungen hatte sie seit ihrer Jugendzeit niemals ernsthaft hinterfragt, sondern lediglich im Hintergrund als prüfende Instanz bewahrt.