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Kleine Mäuse und noch kleinere Viren terrorisieren die Menschen. Ein Wissenschaftler bekommt ebenso unverhofft übersinnliche Hilfe wie ein Kannibale. Um Eingliederung in eine menschliche Gesellschaft bemüht sich ein Werwolf ganz redlich. Und der Leser erfährt endlich die Wahrheit über die Absichten mancher Einhörner und alleinstehender Männer. 15 Phantastische und weniger phantastische Geschichten offenbaren die düstere Seite literarischer Sandkastenspiele.
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Seitenzahl: 422
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Autor, Herausgeber, Verlag, Titelbild, Satz und Korrektorat: Ruth Boose, 2023, Berlin
Coverdesign: Royana Helmar
Druck und Vertrieb: epubli, Service der neopubli GmbH, Berlin
Kontakt: [email protected]
Inhaltsverzeichnis
Legopocken Titel
Vorwort
Legopocken
Hundeelend
Der Monat mit der Maus
Die Veröffentlichung
Die Fischerhütte
Aussortiert
Das erste Einhorn
Eine zweite Chance
Nachtfalter
Das Vermächtnis des Langschweins
Autorenfreundschaft
Wolfhard
Auch Sehnsucht macht blind
Nur Schmiere stehen
Der beunruhigende Fremde
Danksagung und Ausblick
Das Brot war steinhart, schmeckte aber wenigstens nicht schimmlig. Noch hatte sie alle Zähne, dachte sie, obwohl sie seit ihrer Einlieferung keinen Arzt, geschweige denn Zahnarzt mehr zu Gesicht bekommen hatte.
Letzteres würde sich nun ändern. Endlich! Sie hatte über ein Jahr warten müssen, um in die Kartei aufgenommen zu werden. Es war natürlich verständlich, dass sich der Aufwand der Registrierung nur lohnte, wenn danach mit reichlich Ausbeute zu rechnen war. Und in ihrem Fall traf das zweifelsohne zu. Sie verfügte sowohl über die Motivation als auch die notwendigen Voraussetzungen. Voraussetzungen und Motivation bedeuteten in diesen Mauern schlicht, dass man einer längeren Haftstrafe ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung entgegensah. Dreizehn Monate hatte sie gekämpft, für ihre Kinder, für ihre Familie, für ihre Zukunft … vergebens. Wer einmal in die Mühlen des Systems geraten war, wurde so leicht nicht wieder ausgespuckt. Zu beweisen, dass sie unschuldig war, hätte sie sich im Grunde genommen sparen können, denn Unschuldsvermutung oder andere Hinweise auf einen Überrest von Rechtsstaatlichkeit gab es nur noch für belanglose Fälle oder zumindest solche, die nicht schon von der öffentlichen Meinung oder interessierten Kreisen vorverurteilt worden waren. Nicht jedoch für sie, den perfekten Sündenbock.
Aber was half es, abwechselnd in Hass und Selbstmitleid zu schwelgen? Das änderte nichts. Sie musste den Tatsachen ins Auge sehen und das einzige verbliebene Schlupfloch nutzen, das dieses System ihr noch bot: die Registrierung!
Wenigstens hatte Urda gehört, dass es rasch gehen sollte. Ein weiteres Jahr würde sie es hier drin nicht mehr aushalten, bis sie verrückt würde oder zusammenbrach, geschweige denn fünfzehn oder mehr! Nicht dass sie jemand misshandelt oder besonders schikaniert hätte. Sowohl die Wärter als auch die Mithäftlinge behandelten sie reserviert, aber nicht unfreundlich. Sie bekam stets ausreichend Nahrung und durfte einmal am Tag ihre Zelle verlassen.
Schlimmer als der körperliche Abbau war der geistige. Es gab keine Abwechslung, keine Anreize, keine Aufgaben, keine Erledigungen. Selbst das Zählen der Tage war sinnlos, denn für „lebenslänglich“ gab es kein Ablaufdatum mehr.
„Guten Tag, Frau Schoppel. Mein Name ist Linda Graham. Wir freuen uns außerordentlich, Sie heute hier in unserem Institut begrüßen zu dürfen. Nehmen Sie doch bitte Platz.“
Im Gegensatz zu ihrer schmutzigen Zelle war der Büroraum im zweiten Stock des riesigen Forschungsgebäudes von „DropperTech Pharmaceuticals“, das seinen Hauptfirmensitz in Porton hatte, ein Palast. Das Unternehmen war erst vor wenigen Jahren privatisiert worden und an die Börse gegangen. Wie rasch sich die Ansprüche an den Alltag anpassten – noch vor zwei Jahren hätte sie ein derartiges Büro mit seinen funktionalen Möbeln und dem Linoleumfußboden als langweilig, kalt und wenig inspirierend empfunden. Selbst das obligatorische Bild an der Wand war millimetergenau platziert und möglichst unverbindlich und gehaltlos. Auf Urda wirkte es nach der langen Haft geradezu farbenfroh, abwechslungsreich, voller Atmosphäre.
Ein gepolsterter Stuhl. Wann hatte Urda das letzte Mal auf einem so bequemen Stuhl gesessen? Sie musterte ihr Gegenüber: Aha, die Leiterin höchstpersönlich. Urda kannte ihr Gesicht aus der Broschüre des Konzerns. Warum war die Professorin so scheißfreundlich zu ihr? Heuchelei war völlig unnötig, denn dies war kein Bewerbungsgespräch, bei dem das Gegenüber ausgetestet und Spielchen gespielt werden mussten. Wer hierher kam, kam aus Verzweiflung, und niemand wurde abgewiesen. Jedenfalls munkelte man, dass sich die Firma sehr darum bemühte, jedem Registrierten geeignete Plätze und Möglichkeiten zuzuweisen.
„Guten Tag“, entgegnete Urda. Die Aufregung war ihrer Stimme deutlich anzuhören. „Und ich freue mich, dass ich so rasch eingeladen worden bin.“
„Wie Sie sicher bereits aus der Informationsbroschüre und dem Bewerbungsformular erfahren haben, bietet unsere europaweit tätige Forschungs- und Entwicklungseinrichtung geeigneten Kunden eine einzigartige Möglichkeit zur Rehabilitation an.“
Kunden! Das klang ja wie beim Arbeitsamt.
„Ja, ich habe das so verstanden, dass ich meine Haftstrafe durch Teilnahme an wissenschaftlichen Forschungsprojekten verkürzen kann, bis sie abgegolten ist.“
Simon Ackermann war von mehreren Schüssen durchsiebt vor seiner Villa im Stadtteil Grunewald aufgefunden worden. Weshalb er unbewacht gewesen war, blieb im Dunkeln. Ebenso wie die Frage, wohin die Videoaufzeichnungen seiner Überwachungskameras entschwunden waren.
Völlig verängstigt hatten alle vier Kinder mitansehen müssen, wie Urda während der Durchsuchung ihrer bescheidenen Wohnung grundlos brutal zu Boden geschlagen und schließlich abgeführt worden war. Auf ein erfolgreiches Gnadengesuch oder vorzeitige Entlassung brauchte sie nicht zu hoffen. Immerhin war sie erklärter Staatsfeind: Auch nur die Erwägung einer Abmilderung des Urteilsspruches durch eine barmherzige Seele hätte sofort einen Sturm der Entrüstung in den Medien ausgelöst. Das war in der Berufung und der späteren Revision gleich ganz deutlich geworden. Einmal hatte ein Reporter es gewagt, ihre Verzweiflung vor der Tat zu thematisieren, indem er erwähnt hatte, dass ihre Familie von Zwangsräumung bedroht war. Von der hierfür verantwortlichen Immobilienfirma erhielt der angesehene Politiker Simon Ackermann dank seines Engagements großzügige Zuwendungen, doch das ließen die Medien in diesem Zusammenhang besser unter den Tisch fallen. Es gab keine Tatwaffe, allein, es war bekannt, wie sie Simon Ackermann in aller Öffentlichkeit beschimpft und ihm den Tod angedroht hatte. Dennoch hegte niemand Zweifel an ihrer Täterschaft – außer denen, deren Stimmen ohnehin niemand ernst nahm. Schließlich hätten zu tiefschürfende Ermittlungen zutage fördern können, dass der ehrenwerte Abgeordnete auch in zahlreiche illustre Geschäfte und Korruptionsvorgänge verwickelt war und dieses nebenberufliche Engagement ihm neben vielen neuen Partnern auch einige Feinde eingebracht hatte. Es war für alle Beteiligten – mit Ausnahme Urdas nicht systemrelevanter Familie – praktischer und hilfreicher, sie für die Aufklärung dieses Verbrechens zu nutzen, womit die Kinder gleich ins Heim verfrachtet und die angedachte Wohnungsräumung zeitnah vonstattengehen konnte.
Rückblickend hatte Urdas verzweifelter Kampf durch die Instanzen nur eine frühzeitigere Anmeldung verhindert. Denn auch wenn es in so gravierenden Fällen nur Formsache war: Solange ein Angeklagter nicht rechtskräftig verurteilt worden war, so lange durfte sich dieser auch nicht bei DropperTech Pharmaceuticals, einem führenden und forschungsorientierten Pharmakonzern, bewerben.
„Das trifft im Groben zu. Lassen Sie es mich Ihnen kurz erläutern: Zunächst einmal werden Sie von unserem Team gründlich durchgecheckt; Sie sind Nutznießer der modernsten Diagnostik, die es hierzulande gibt. Zusätzlich führen wir mit Ihnen noch mehrere klinische Interviews durch, wofür ich Ihnen vorab diese Fragebögen aushändige. Bitte nicht erschrecken! Es sieht mehr aus, als es ist. Wenn beim Ausfüllen Fragen oder Unklarheiten auftreten, scheuen Sie sich nicht, uns jederzeit zu kontaktieren. Das Personal der JVA Sonnenhof ist dazu angehalten, rund um die Uhr für diesen Service zu sorgen.
Ach ja, was Sie vielleicht erfreuen wird: Die Zeit, die Sie hier in unserem Institut verbringen, wird keinesfalls mit der Ausgangszeit aus ihrer Haftzelle verrechnet.“
„Aha. Schön.“ Urda fiel etwas ein, was sie unbedingt schon beim ersten Termin fragen wollte.
„Sagen Sie, wie lange muss ich an Ihrem Programm teilnehmen, um eine lebenslange Haftstrafe abzugelten?“
„Sie kommen mir mit Ihrer Frage zuvor, aber ich verstehe Ihre Ungeduld und Aufregung nur zu gut. Wenn Ihre körperliche, geistige und seelische Untersuchung abgeschlossen ist, werden alle geeigneten Einsatzmöglichkeiten aufgelistet, an denen Sie teilnehmen können. Selbstverständlich werden Sie zuvor umfassend informiert, auch über die … Risiken. Vor jeder einzelnen Teilnahme müssen Sie eine Einverständniserklärung unterschreiben, die nebenbei bemerkt einen vollständigen Haftungsausschluss, auch seitens Angehöriger, beinhaltet.“
„Kann ich nicht ein Mal für immer unterschreiben?“
„Bedauerlicherweise nicht. Sie wissen ja, die versicherungsrechtlichen Stolpersteine.“
Professor Graham wirkte ehrlich betrübt ob dieser Einschränkung.
„Wäre es möglich, mit einer einzigen größeren Teilnahme am Forschungsprogramm möglichst schnell meine gesamte Zeit … ähm … loszuwerden? Natürlich ist es mir genauso wichtig, der Volksgesundheit zu dienen“, fügte Urda noch rasch hinzu.
„Es freut mich, dass Sie sich so sehr dafür begeistern, unsere überaus wichtige Arbeit zu unterstützen. Wir tragen eine große Verantwortung für die Gesundheit unserer Kunden. Daher ist nur eine stufenweise Teilnahme erlaubt: Bevor man für einen Versuch der nächsthöheren Stufe zugelassen wird, muss man mindestens einen der vorhergehenden Stufe absolviert haben. Dabei variiert der Zeitaufwand auch innerhalb einer Stufe sehr stark. Jedes einzelne unserer immer wieder neuen Angebote wird nach einem Algorithmus bewertet und einer Stufe zugeordnet, die wiederum einer bestimmten Vollzugszeit entspricht. Für die Bewertung werden verschiedene versuchsspezifische Variablen wie Zeitaufwand, Gesundheitsrisiko, Langzeitfolgen und deren Wahrscheinlichkeiten erhoben, ebenso kundenspezifische Faktoren wie Alter, Geschlecht und natürlich die Größe der passenden Zielgruppe in den aktuellen Populationen unserer Partnereinrichtungen.“
„Was meinen Sie mit Zielgruppe?“, wunderte sich Urda. „Sagten Sie nicht, jeder dürfe selbst entscheiden, für welche … hm … Experimente er sich zur Verfügung stellt?“
„Prinzipiell ist das richtig. Nur ist nicht jeder Kunde für jedes Experiment geeignet. Sehen Sie, für viele Fragestellungen ist es entscheidend, die Probanden nach ganz spezifischen Kriterien auszuwählen. Nur so ist eine vernünftige Auswertung und Vergleichbarkeit von Ergebnissen gewährleistet. Aber“, die Professorin lächelte, „sorgen Sie sich nicht, es ist für jeden etwas dabei. Und seit einigen Wochen haben wir eine ganz besondere Forschungsgruppe, die händeringend nach Probanden aller Altersklassen sucht. Das Genehmigungsverfahren hat sich unnötigerweise etwas hingezogen“, fügte sie fast entschuldigend hinzu.
„Welche denn?“ Urdas Augen leuchteten hoffnungsvoll auf.
Schmunzelnd erwiderte die Leiterin: „Bisher hat mich das noch jeder unserer Kunden gefragt, da sind Sie keine Ausnahme. Wenn der Registrierungsprozess abgeschlossen ist, erhalten Sie jede Woche Einsicht in unsere Datenbank, in der alle freien Plätze für Probanden verzeichnet sind. Damit kommt schon etwas Abwechslung in Ihren Alltag, ohne dass wir eine Gegenleistung verlangen“, strahlte sie.
Urda versprach, sämtliche Unterlagen so rasch wie möglich nach bestem Gewissen auszufüllen. Mit einem sehr freundlichen und sehr wissenden Lächeln verabschiedete sich Frau Professor Graham von ihr. Sie sollte sie niemals wiedersehen …
Der erste ärztliche Untersuchungstermin war schon zwei Tage später angesetzt. Entweder hatte die Firma enorm große Kapazitäten für die Bearbeitung der Registrierungsbewerbungen – oder es gab doch weniger Interessenten, als Urda vermutet hatte. Sie vergaß immer wieder, dass der Großteil der Insassen nur recht begrenzte Strafen abzusitzen hatte. Die Teilnahme an mutmaßlich riskanten Forschungsstudien lohnte sich nur, wenn man nicht mehr viel zu verlieren hatte oder extrem ungeduldig war. Und ungeduldig war Urda allemal. Mit jedem Tag, den sie eingeschlossen in dieser Stumpfheit verbrachte, verlor sie einen weiteren Tag mit ihren Kindern.
Wenigstens hatte sie Glück im Unglück gehabt: Noch im vorigen Jahr waren die Menschenversuche an freiwilligen Häftlingen sehr umstritten gewesen. Kritiker hatten dem Pharmakonzern vorgeworfen, langwierige Erprobungen und Genehmigungsverfahren auf Kosten von Menschenleben abzukürzen. Zuvor hatten selbst die harmlosesten Tests Unsummen gekostet und waren in ihrer Ausgestaltung arg begrenzt gewesen. Doch das Argument, dass schließlich kein Häftling zu einer Teilnahme gezwungen wurde, hatte das Bundesverfassungsgericht zu der Entscheidung bewogen, grünes Licht für das neue Modell zu geben. Manche Gegner befürchteten, dass nun viele potenzielle Wiederholungstäter verfrüht erneut auf die Menschheit losgelassen würden – doch der Nutzen für die Menschen überwog nach sorgfältiger Abwägung den möglichen Schaden. Neben hochmotivierten Wissenschaftlern, die nun endlich Hypothesen leichter direkt prüfen, anstatt sie durch Auswertung von unausgegorenen Statistiken mit all ihren Unsicherheiten ableiten zu müssen, freuten sich vor allem Tierversuchsgegner.
Es gab außerdem die Möglichkeit, durch Probandschaft Angehörigen oder Freunden eine Geldsumme, einen Arbeitsplatz oder ähnlich Verlockendes zu schenken. Für Urda war das keine Option, denn sie wünschte sich nichts sehnlicher, als wieder für ihre Kinder zu sorgen. Erst nachdem sie ihr entrissen worden waren, war ihr diese letzte zentrale Lebensaufgabe klar geworden.
„Hier händige ich Ihnen die Ergebnisse der medizinischen Eingangsuntersuchungen aus.“
Erstaunt nahm Urda das Blatt entgegen und wendete es mehrmals ungläubig. „Das ist ja nur ein einseitig bedruckter A4-Bogen.“
„Mit Ihrer Registrierung haben Sie ausdrücklich auf das Recht an Ihren eigenen Daten verzichtet. Was Sie wissen müssen, wird Ihnen schon mitgeteilt.“
„Ja, Blutgruppe, Diabetes, Übergewicht … das wusste ich schon vorher.“ Urda hatte sich mehr erwartet.
„Was interessieren eine arbeitslose Mörderin Einzelheiten zu medizinischen Befunden, die sie rechtlich nichts mehr angehen?“, wunderte sich die Mitarbeiterin. „Wir haben die Daten erhoben, um festzustellen, für welche unserer breit gefächerten Studien eine Teilnahme infrage kommt. Aber schauen Sie doch mal in den untersten Absatz, der interessiert unsere Kunden erfahrungsgemäß am meisten.“
Sie starrte Urda auffordernd an.
„Ähm, danke für den Hinweis“, sagte Urda eingeschüchtert. Gespannt überflog sie die letzten Zeilen. Sie war 46 Jahre alt. Ihre voraussichtliche Haftdauer war nach der eingehenden Untersuchung auf 15 Jahre festgesetzt worden. Sollte sie sich darüber nun freuen oder ärgern? Einerseits waren 15 Jahre leichter durch Versuchsteilnahmen abzuarbeiten als 25 oder 35. Doch andererseits bedeutete dies, dass die Ärzte sie für zu vorbelastet hielten, um noch ausgiebig ihre mögliche Zeit in Freiheit zu genießen und zu gestalten. Ihr Jüngster wäre dann schon erwachsen.
Für Mörder wurden nie weniger als 15 Jahre festgesetzt, da dies der Mindestzeit für „lebenslänglich“ entsprach. Wie würden sich wohl diejenigen entscheiden, die schon zu Beginn ihrer Haftzeit dem Rentenalter nahe waren? Urda versuchte sich vorzustellen, wer sich eher mit einem Lebensende in Haft anfreundete und wer alles auf eine Karte setzte und dabei den Tod riskierte.
Wieso wich die Angestellte ihrer Frage nach dem Grund für die verhältnismäßig gering veranschlagte Resthaftdauer aus? Verschwieg man ihr die erbliche Neigung zu einer schweren Krankheit? Trug sie Krebszellen in sich? Oder hatte die Leiterin Mitleid mit ihrem Schicksal gehabt? Hatte die Professorin selbst Kinder und wollte es anderen ersparen, ohne Eltern aufwachsen zu müssen? Hatte sie vielleicht gar an Urdas Unschuld geglaubt? Doch es war naiv, darauf zu bauen. Der Strafprozess hatte eindeutig klargestellt, dass sie weder Gnade noch Vernunft zu erwarten hatte. Nein, sie würde sich ihre Freiheit qualvoll erstreiten müssen. Stück für Stück.
„Darf ich Sie nun zu unserem Recherche- und Anmeldungsraum geleiten?“, unterbrach die Angestellte ihre Gedanken.
Der Weg durch den Gang war nicht weit. Schon drei Türen weiter lag ein großer, rechteckiger Raum, der durch großzügige Fensterflächen und beigefarbene Wände hell und lichtdurchflutet war. Routiniert drückte die Angestellte den Einschaltknopf am Bildschirm und bewegte den Mauszeiger, woraufhin eine blau unterlegte Tabelle erschien. Offensichtlich liefen die zwölf Rechner, die Urda sah, den ganzen Tag über.
Die beiden Frauen nahmen auf bequemen Bürostühlen Platz, und die Firmenangestellte begann mit Blick auf den Bildschirm damit, ihren Erklärungstext herunterzurattern:
„Wir haben hier ein ganz einfaches Ampelsystem für unsere Kunden. Schauen Sie auf die Kreise in jeder Zeile … nein, links, vor der Studienbezeichnung.
Ja, genau, der grüne hier beispielsweise. Grün bedeutet, dass Sie sich für die Teilnahme eintragen können. Das tun Sie, indem Sie das Kästchen hinter der Bezeichnung anklicken, sodass ein Haken erscheint. Nach der Auswahl scrollen Sie nach unten auf die Schaltfläche ‚Verbindlich anmelden‘.
Gelb bedeutet, dass Sie zwar nicht optimal geeignet sind, aber dennoch teilnehmen können. Leider halbiert sich die gutgeschriebene Zeit dadurch im Vergleich zu einer Teilnahme an grünen Studien. Und Rot bedeutet schließlich, dass Sie nicht zur gesuchten Zielgruppe gehören und nicht an der Studie teilnehmen dürfen.“
„Und was heißt Grau?“
„Ein grauer Kreis bedeutet, dass Sie sich entweder nicht anmelden dürfen oder bedauerlicherweise alle zu vergebenden Probandenplätze bereits belegt sind. Sie können dennoch ein Nachrücker-Häkchen setzen, denn manchmal wird kurzfristig ein Platz frei. Das geht jedoch nur zusätzlich zur Anmeldung für eine Studie in Gelb oder Grün.“
„Darf ich etwa sonst nur eine Anmeldung tätigen?“
„Ja, aber keine Sorge; sobald die Teilnahme erfolgreich abgeschlossen, bescheinigt und die Zeit auf Ihrem Haftkonto gutgeschrieben worden ist, dürfen Sie sich sofort für die nächste Studie registrieren.“
„In der Tabelle ist fast alles grau“, beschwerte sich Urda.
„Das liegt daran, dass Sie neu in unsere Kartei aufgenommen wurden und somit nur die Studien freigeschaltet sind, die der Stufe 1 zugeordnet sind.“
„Ach so, ich erinnere mich. Ich muss in jeder Stufe eine Studie mitmachen, bevor ich zur nächsten aufrücken kann.“
„Sie dürfen selbstverständlich auch jederzeit wieder an Studien einer geringeren Einstufung teilnehmen. Wenn es organisatorisch und physiologisch miteinander vereinbar ist, ist in Ausnahmefällen auch eine gleichzeitige Teilnahme an mehreren Studien erlaubt. Das bedeutet, Sie dürfen sich bereits nach dem ersten Teilnahmetag für Studien der Stufe 2 eintragen, die inhaltlich vereinbar und daher auf ‚Grün‘ geschaltet sind.
Ab Stufe 4 kommen leider extra Papierkram und vorgeschriebene Beratungsgespräche auf Sie zu. Reine Formsache. So, nun wünsche ich viel Spaß und Erfolg beim Entdecken, Anmelden und Mitmachen!
Und vergessen Sie nicht: Sie dienen dem Gemeinwohl. Ihre Risikobereitschaft ist ein großer Beitrag, weshalb die Gesellschaft Ihnen einen Teil Ihrer gerechten Strafe erlässt.“ Die Angestellte schaute sie giftig an.
Urda hätte ihr gern erklärt, wie vielen Verurteilten eine günstigere Vergangenheit auch eine für alle günstigere Zukunft beschert hätte. Doch wer würde sich dann noch in die langen Listen für die Probanden eintragen? Sie las sich die Themen der verschiedenen Untersuchungen überhaupt nicht durch. Zu aufgewühlt war sie, um jetzt Interesse aufzubringen. Ihre Auswahl traf sie nach einem einzigen Kriterium: dem Verhältnis von Zeitaufwand zu gutgeschriebener Zeit.
Erst nachdem sie rasch den Haken hinter dem grünen Kreis gesetzt und anschließend die Anmelde-Schaltfläche angeklickt hatte, damit ihr niemand den möglicherweise letzten freien Platz vor der Nase wegschnappen konnte, überflog sie den Titel.
Eine harmlose Verträglichkeitsprüfung für einen neuen Wirkstoff. Phase 0, sie wäre eine der Ersten. Wie günstig sie es getroffen hatte!
„Mögliche Nebenwirkungen: Halluzinationen, Angstzustände, Orientierungslosigkeit, Schlafstörungen, Atemnot, Herzrasen.“ Das kannte sie von Beipackzetteln ihrer Antidepressiva, reine Panikmache.
Drei Monate betrug die offizielle Verrechnungszeit. Das war so gut wie nichts, gemessen an ihrer Gesamtstrafe. Doch immerhin wurde der Aufwand lediglich mit einer Woche ausgewiesen. Sieben Tage statt 91 Tagen, zwölf von dreizehn Hafttagen eingespart.
Ob die Schlafstörungen von ihrer ersten Studienteilnahme oder den zunehmenden Rückenschmerzen und Depressionen, verursacht durch ihren langen Aufenthalt in der JVA Sonnenhof mit ihren unbequemen Betten, stammten, würde sie nie herausfinden. Es spielte auch keine Rolle. Trotzdem war es lästig, dass ihre Erinnerungen sich wieder vermehrt als Zwangsgedanken in ihr Bewusstsein schoben …
Neugierig überprüfte Urda die nun für sie freigeschalteten Untersuchungen der Stufe 2. Es gab viele neue grüne Ampeln für sie. Wiederum fackelte sie nicht lange, sondern markierte zielsicher die Zeile, die ihr dazu dienen würde, besonders viel Haftzeit abzuwerfen. Ihre Kinder warteten auf sie. Jeder Tag in Haft war ein vergeudeter Tag. Es interessierte sie kaum, worum es in den einzelnen Forschungsprojekten ging. Offenbar schien Stufe 2 nicht erheblich größeren Aufwand oder Gefahr zu bedeuten, denn Urda musste enttäuscht feststellen, dass ihr lediglich sechs weitere Monate anerkannt werden würden. Aus Gesprächen mit anderen Gefängnisinsassen hatte sie den Eindruck gewonnen, dass die verhängte Haftdauer für viele Straftaten seit Einführung der Menschenversuche gestiegen war.
Sie entschied sich dafür, einige Wochen verschiedene Gemüse in definierten Mengen zu sich zu nehmen, die offenbar mit einem noch nicht zugelassenen Pflanzenschutzmittel behandelt worden waren. Die Einweisungsgespräche verliefen erfreulicherweise kurz und knapp.
„Jede Woche wird die Dosis gesteigert. Bitte füllen Sie immer abends diesen Fragebogen aus und geben ihn ab, wenn Sie zur Blut- und Urinkontrolle vorgeführt werden. Mögliche Symptome sind Hautausschläge, Verdauungsbeschwerden, Kopfschmerzen, Müdigkeit, Kreislaufstörungen, Krämpfe und hormonelle Wirkungen, weshalb wir alle drei Tage zusätzliche Untersuchungen vornehmen werden.“
„Das sind aber sehr viele mögliche Nebenwirkungen“, wagte Urda unsicher anzumerken.
„Nun, das Pestizid soll schließlich Schädlinge abtöten und nicht anzüchten“, erklärte die Technische Assistentin genervt. „Und jetzt halten Sie bitte still, sonst kann ich Ihren Blutdruck nicht messen.“
Eine Sekunde zu lang begegneten sich ihre Blicke, dann lehnte sich die TA nachdenklich zurück.
„Für all die Unterhaltung und Abwechslung, die wir Ihnen mit diesen spannenden Testreihen abseits der drögen Gefängniseintönigkeit bieten, könnten Sie schon ein wenig dankbarer auftreten. Sie tun gerade so, als würden Sie UNS einen Gefallen tun und nicht umgekehrt.“
„Verzeihung, diesen Eindruck wollte ich nicht erwecken“, beeilte sich Urda rasch, die Gunst der Assistentin wiederzuerlangen. Neue Feinde konnte sie sich nicht mehr leisten, nicht nach allem, was ihre Kinder erdulden mussten, und nicht, nachdem ihr zugetragen worden war, dass die Auswahl und Bewertung der Probanden nicht vollständig nach rein medizinischen Gesichtspunkten erfolgten.
„Natürlich bin ich außerordentlich dankbar. Es ist nur so … sechs Monate Haftverrechnung sind nicht sehr viel dafür, dass ich … dass …“ Sie brach ab. Welchem Risiko sie sich aussetzte, konnte sie von allen Versuchsbeteiligten am allerwenigsten einschätzen, und einer verurteilten Mörderin hatte niemand Rechenschaft abzulegen.
Eine der Wissenschaftlerinnen trat in den Raum und erkundigte sich nach dem Fortschritt und den Messergebnissen, die anerkennend aufgenommen wurden: „Schon wieder abgesunken. Sie sind viel zäher, als …“ Mitten im Satz brach die Frau ab und flüsterte dann verschwörerisch: „Ich verrate Ihnen mal ein kleines Geheimnis, um Sie aufzumuntern. Wenn Sie es trotz Ihres Alters schaffen, während der Haft schwanger zu werden, könnten Sie an einer Studie der Stufe 4 zu diesem Pestizid teilnehmen. Sie ist zeitaufwendig, doch sicher viel aufregender, als nutzlos in Ihrer Zelle herumzusitzen und den Steuerzahlern auf der Tasche zu liegen. Alle unsere männlichen Kunden sind außerordentlich neidisch auf diese Möglichkeit, die ihnen verwehrt bleibt. Denn es wird vor allem die Gefährdung des ungeborenen Lebens untersucht, während sich die bisherigen erwachsenen Teilnehmerinnen zumeist bester Gesundheit erfreuten. Stellen Sie sich bloß vor, danach wären Sie mit einem Schlag den Rest Ihrer Strafe los … Ach, mir war ganz entfallen, dass Sie ja ein Sozialhilfefall waren.“
Urda zweifelte an den Gedächtnislücken der Ärztin. Sozialhilfe bekam nur bewilligt, wer einer Sterilisation zustimmte.
Ihr Gegenüber bemühte sich redlich um ein trauriges Gesicht. „Glauben Sie mir, wir bedauern das weitaus mehr als Sie. Wie vielen hungrigen Menschen hätten Sie sonst helfen können!“ Dann nickte sie ihrer Angestellten zu, die zwischendurch aufgeräumt hatte: „Weitermachen!“
Ermattet starrte Urda die graue Decke über sich an. Wie schlimm würde es erst werden, wenn sich schon die Teilnahme an einer Stufe-2-Studie so grässlich anfühlte?
„Ahhh!“ Aggressiv rieb und kratzte sie wieder an den gerade erst verschorften Wunden ihrer Pickelchen. Sie griff nach der weißen Tube und behandelte die quälenden Stellen. Immerhin wurde ihr die vermeintlich juckreizstillende Salbe, die sie dreimal am Tag auf ihre entzündete Haut rieb, als Probandschaft der Stufe 1 zwecks Zulassung ebendieser Hautsalbe anerkannt, womit sie ein paar weitere Wochen gewann.
Die klebrige, schlecht einziehende Paste half kaum. Sie stank zwar nach vielerlei Parfüm, aber der Hautausschlag veränderte sich davon nicht. Er ließ erst nach, als sie zwei Wochen kein verseuchtes Gemüse mehr zu sich genommen hatte.
Von nun an las Urda die Themenüberschriften samt Erläuterungen etwas sorgfältiger durch. Bislang war es um die Erprobung und Zulassung von Lebensmittelzusätzen, Pestiziden und neuen medizinischen Wirkstoffen gegangen. Ab Stufe 3 wurden jedoch zunehmend Tests angeboten, deren Zielsetzung sich ihren bescheidenen Kenntnissen völlig entzog. Sich allerlei Toxinen, Kälte- und Hitzebehandlungen, Strahlungen, diversen weiteren Strapazen, Schmerzen und vielgestaltigen Verletzungen auszusetzen, klang nicht gerade verlockend. Früher hätte sie die Verschleierung von Sinn und Zweck auf die Palme gebracht, doch jetzt blieb Urda gleichgültig. Alles war bedeutungslos geworden … alles außer dem mit jedem Tag steigenden Schaden an ihren schuld- und wehrlosen Kindern. Ein Schaden, dessen Wachstum nur sie stoppen, dessen Auswirkungen nur sie zu mildern vermochte.
Der Bildschirm flackerte auf. Sie gab ihre Anmeldedaten ein und die altbekannte Tabelle wurde geladen. Ihr mittlerweile geschulter Blick glitt rasch über die grün, gelb, rot und grau eingefärbten Kreise am Zeilenanfang, bis er abrupt hängen blieb:
Anerkennungszeit: 5–25 Jahre
Zeitlicher Aufwand: 5 bis 10 Wochen
Mit zu Fäusten geballten Händen widerstand sie dem starken Impuls, unverzüglich die Anmeldung zu tätigen. Außer ihr befand sich niemand im Zimmer. Selbst wenn es andere Anmelderäume geben sollte, wäre es höchst unwahrscheinlich, dass ihr jemand binnen Minuten den freien Probandenplatz vor der Nase wegschnappen würde. Sie zwang sich dazu, wenigstens die Beschreibung in Ruhe durchzulesen und das Risiko abzuwägen, bevor sie den Haken setzen wollte.
Es handelte sich augenscheinlich um eine Doppelstudie, was die große Spannweite der möglichen Anerkennungszeit erklärte.
Der erste Teil befasste sich mit Ausbreitungswegen und Ansteckungsmöglichkeiten eines Krankheitserregers. In der angeschlossenen Studie ging es darum, bei bestehender Infektion ein Prüfpräparat namens Legovirimat auf seine Verträglichkeit zu testen. Dafür benötigte die Forschungsabteilung noch dringend Vergleichspatienten aus der Risikogruppe.
Augenblick mal, da klingelte etwas bei Urda. Wie war doch gleich der Name der untersuchten Krankheit? Tatsächlich, es handelte sich um die Anfang des Jahres ausgebrochenen Legopocken!
Also gab es sie tatsächlich. Erstaunt musste sich Urda eingestehen, dass sie falsch gelegen hatte. Bislang hatte sie die Berichte darüber für Regierungspropaganda gehalten, um wieder einmal neue Ausbeutungs- oder Überwachungsmaßnahmen durchzusetzen.
Es war ihr zuwider, ausgerechnet dem mächtigsten Pharmakonzern bei der Entwicklung einer Behandlungsmöglichkeit zu helfen, aber sie hatte keine Wahl.
Auch verspürte sie bislang keine Furcht. Schließlich hielt sie die in sozialen Medien kursierenden Behauptungen, dass DropperTech Pharmaceuticals das Virus zwecks Sicherung seiner Monopolstellung im Auftrag interessierter Kreise absichtlich hergestellt und freigesetzt hatte, für ebenso aus der Luft gegriffen. Sie kannte niemanden, der ernsthaft an Legopocken erkrankt oder gar gestorben war. Also konnte es schon nicht so dramatisch sein.
Erleichtert atmete sie auf, als die Anmeldung erfolgreich abgeschlossen werden konnte. Erfahrungsgemäß würde es nicht lange dauern, bis sich ein Mitarbeiter in der JVA Sonnenhof meldete und sie über die anstehenden Testtermine informierte.
Es ging noch schneller als sonst. Die Voruntersuchung fand bereits am nächsten Morgen statt, was Urda nur recht sein konnte. Nachdem sie Urin und Blut abgegeben und ein paar kurze Fragen beantwortet hatte, erklärte ihr eine Technische Angestellte – die Wissenschaftler waren meist zu beschäftigt, um mehr kostbare Arbeitszeit als unbedingt nötig mit ihren Versuchskaninchen zu verbringen – den Ablauf.
„Wir werden Sie über mögliche Eintrittspforten mit dem Virus in Berührung bringen, also durch Hautkontakt, Inhalation oder Injektion. Dabei steigern wir die Dosis schrittweise. Sie verdienen Ihre Anrechnungszeit sozusagen im Schlaf, denn aufgrund der Inkubationszeit von sechs bis zehn Tagen warten wir die meiste Zeit nur ab und messen täglich die Viruslast.“
Aufgeregt unterbrach Urda die Mitarbeiterin: „Ab welcher … Menge … ist denn mit einer Ansteckung zu rechnen?“
„Da Sie zur Risikogruppe gehören, erscheint uns bereits die zweitniedrigste Dosis vielversprechend. Aber seien Sie beruhigt, Sie erhalten die fünf Jahre auch dann gutgeschrieben, wenn es bei der drittniedrigsten Dosis weiterhin nicht zu einer Infektion kommt!“
„Und wenn ich … krank werde?“
„Dann bekommen Sie als Bonus fünf weitere Abzugsjahre mit Ihrer Haftzeit verrechnet!“, versprach die TA.
‚Nur fünf weitere Jahre‘, dachte Urda enttäuscht. Sie brauchte den Befreiungsschlag, und zwar sofort. Nicht noch mehr Zeit vertändeln! „Am Rechner wurden mir hinter dem Thema 25 Jahre maximale Verrechnungszeit angezeigt. Ich habe das Häkchen in der Annahme gesetzt, dass ich geeignet und zugelassen bin, an allen nötigen Versuchen teilzunehmen, um diese Maximalzeit zu erreichen.“
„Oh?“ Die TA blickte erstaunt auf und legte sogar den Kugelschreiber ab. „Sie möchten sich für die Dosissteigerung bis zur klinisch abgesicherten Diagnose anmelden?“
„Ja, also“, Urda wackelte verunsichert mit dem Kopf, „wenn es das war, was mit 25 Jahren Anrechnungszeit vergolten wird, dann definitiv.“
Die TA geriet in Bewegung. „Warten Sie, ich rufe gleich den verantwortlichen Wissenschaftler, Herrn Doktor Dearden, an. Er wird gelinde gesagt begeistert sein.“ Etwas leiser fügte sie hinzu: „Die Legopocken sind nämlich sein Steckenpferd, sein kleines Baby.“
Während Urda angespannt wartete, telefonierte die TA. Abwesend glitt ihr Blick über die geöffnete Akte. Urda konnte verstohlene Blicke nicht unterdrücken. Ein winziges Lächeln, ein kleines Nicken. Jede Geste versuchte sie zu interpretieren. Jede Reaktion konnte ein Hinweis sein.
„Ja, sie passt hervorragend in die Zielgruppe … Ja, sie hat momentan keine weiteren Termine oder Untersuchungen mehr. Alle bisherigen Teilnahmen sind abgeschlossen. Ja, ihr Allgemeinzustand ist trotz der Eingangsprognose und der hohen Testbelastung erstaunlich gut … Ja, das werde ich gleich vorbereiten … Nein, Herr Doktor, hat sie nicht … Ja, natürlich, ich kümmere mich gleich darum.“
Dann … die Erlösung!
„Er kommt gleich zu uns herüber. Da haben Sie aber ein Riesenglück! In letzter Zeit ist Doktor Dearden vielbeschäftigt. Na, ich erwähnte es ja bereits, die Legopocken sind seine große Leidenschaft.“
Stumm warteten sie auf die Ankunft des Wissenschaftlers. Eine merkwürdige Schwere lastete in der Luft, als kündige sich Unheil an.
Obschon sie eine Erfolgsmeldung erstattet hatte, glaubte Urda, für Sekundenbruchteile einen Anflug echten Bedauerns über das Gesicht der TA huschen zu sehen.
Eine besorgte Frage brach heraus: „Sind denn ganz sicher noch Plätze frei, werde ich teilnehmen können? Ich habe mich auf jeden Fall rechtzeitig registriert und sollte geeignet sein. Die Studie war grün markiert.“
„Allerdings“, bestätigte die Mitarbeiterin, und wieder wirkte sie seltsam traurig. „Sie sind perfekt geeignet. Dass sie als gesunde Mutter und Angehörige der Risikogruppe zugelassen werden, sollte Ihre geringste Sorge sein.“
Verwundert runzelte Urda die Stirn. Noch nie hatte irgendein Angestellter der Forschungsabteilung ihrer Beobachtung nach bislang auch nur den Anschein erweckt, unprofessionelle Gedanken an seine Studienteilnehmer zu verschwenden.
Immer länger schienen sich die Minuten zu dehnen. Es wurde Urda extrem unangenehm, herumzusitzen, ohne fachliche Worte wechseln zu müssen. Sie widmete ihr Augenmerk betont interessiert dem blauen Kugelschreiber auf der zugeklappten Akte, wohingegen die TA geschäftig Zettel sortierte und zwischendurch immer wieder unbehaglich auf ihren Rechner blickte.
Schließlich konnte Urda die Stille nicht mehr ertragen.
„Dürfte ich vielleicht ein Glas Wasser haben?“
„Puh. Na, Sie machen mir aber Arbeit!“ Widerwillig erhob sich die TA, bedachte Urda mit einem vorwurfsvollen Blick und füllte etwas Leitungswasser in einen Plastikbecher.
Es klopfte. „Na endlich.“
Ein schmaler Mittvierziger mit Dreitagebart und Nickelbrille betrat den Raum.
„Ah, da ist ja unsere fleißige Kundin. Guten Tag, mein Name ist Doktor Harold Dearden. Ich leite diese Studie. Schön, Sie mit im Boot zu haben. Sicher sind Sie auch stolz, bei dieser spannenden Forschungsreihe mitwirken zu dürfen?! Wie geht es Ihnen? Es ist mir wichtig, dass meine Probanden sich im Institut stets rundum wohlfühlen.“
Dass er Urda nur mit einem kurzen Blick streifte, strafte seine zugewandte Ansprache Lügen. Zur TA gewandt erklärte er: „Danke, Sie können jetzt gehen, ich übernehme hier.“
Ohne ein weiteres Wort verließ die Mitarbeiterin fluchtartig das Zimmer.
Eine Zeit lang machte er konzentriert irgendwelche Notizen und blätterte in ihrer Akte, während Urda der Dinge harrte, die da kommen mochten.
„Na, möchten Sie noch etwas über unsere Studie wissen? Es kommt nicht alle Tage vor, dass –“ Er stockte für eine Sekunde, dann lächelte er ihr aufmunternd zu.
Urda überlegte kurz. „Mir ist klar, dass mich als Versuchska… ähm, Kundin, die medizinischen Hintergründe nichts angehen, aber dürfte ich Ihnen aus Neugier eine allgemeine Frage stellen?“
Doktor Dearden runzelte misstrauisch die Stirn. „Und die wäre?“
„Warum heißen die Legopocken eigentlich Legopocken?“
Jetzt lachte der Forscher krächzend. „Das wissen Sie als vierfache Mutter nicht? Na, so etwas Banales kann und darf ich gern beantworten:
Stellen Sie sich ein Virion als Bausatz aus verschiedenen Legosteinen vor. Die Bauanleitung beinhaltet nun nicht, wie die Legosteine zusammengefügt werden, denn das geschieht praktischerweise von ganz allein. In unserem Fall ist sie ein Plan für die Herstellung der benötigten Legosteine.
Wenn Ihr Kind nun anstelle der braunen 3*2er-Steine grüne 3*3er-Steine haben wollte, könnte es den Teil aus einer anderen Virus-Bauanleitung herausschneiden und in seine Anleitung einkleben. Und weil auch in gestandenen Männern im Grunde noch der kleine Legobastler steckt, haben Wissenschaftler ein Virion gebaut, für das es in der Natur zuvor noch gar keine vollständige Anleitung gab. Für ein pinkes 2*3er-Steinchen hat unsere Forschungsgruppe sogar selbst den Bauplan geschrieben. Aus den vielen bunten, lustigen Kugeln, die man durch verschiedene Bausteinkombinationen herstellen kann, ist nun leider … ein schwarzer Todesstern entstanden.“
„Lustig und bunt? Das ist ja wohl ein unpassender Vergleich“, empörte sich Urda.
„Das haben Sie natürlich völlig richtig erkannt“, lächelte der Mann und strich sich über den Dreitagebart auf seinem Kinn. „Die echten Bauteile sind nicht farbig, da sie viel kürzer als Lichtwellenlängen sind.“
„Also, ich habe da im Gefängnis etwas ganz anderes gehört“, warf Urda ein. „Die Legopocken sollen ihren Namen nämlich der Tatsache verdanken, dass Patient Null ein kleines Kind war, das durch einen verseuchten Legostein infiziert wurde.“
„Das klingt jetzt aber zu böse“, widersprach der Molekularbiologe energisch und schürzte abfällig die Lippen. „Die Legobausatz-Namenserklärung ist wissenschaftlich passender und viel schöner. Als Mutter hätte ich Ihnen mehr Feinfühligkeit zugetraut, selbst so einer eiskalten Mörderin.“
Urda schnappte nach Luft. Das Gespräch schien ihr entglitten zu sein. Was war an ihr vorbeigegangen? Hatte sie den Herrn unbeabsichtigt beleidigt, dass er so wütend reagierte?
„Verzeihen Sie, ich wollte nicht herzlos wirken“, gab sie vorsichtshalber nach. „Ein pinkes Steinchen erklärt die Namensgebung der neuen Seuche natürlich viel niedlicher als tote Kinder.“
„Na also“, bestätigte Doktor Dearden sie nachsichtig und nickte. „Wenn Sie an einen neuen Lego-Bausatz denken, während wir die Dosissteigerung durchführen, fühlen Sie sich auch gleich viel wohler.“
Er kramte in einem Aktenordner, heftete einen Satz Papiere aus und schob ihr einen Kugelschreiber zu. „Hier die üblichen Formulare …“
Eine diffuse Angst stieg in Urda auf. Hatte sie doch zu vorschnell entschieden? Auf einmal erschien es ihr übereilt, ohne weitere Aufklärung auf die Anmeldung gedrängt zu haben. Der Wissenschaftler schaute sie zunächst erwartungsvoll und schließlich ein wenig ungeduldig an, als sie keine Anstalten machte, den angebotenen Stift zu ergreifen.
„Gibt es noch Fragen?“
„Wie behandeln Sie mich, wenn ich erfolgreich infiziert bin?“
„Eine Gruppe erhält den Prüfstoff, Legovirimat, während die Negativkontrolle darin besteht, der anderen Gruppe ein Placebo zu injizieren.“
„Aber das heißt ja, dass ich … höchstwahrscheinlich schwer erkranke, ja, sterbe!“
„Sie haben aber wenig Vertrauen in unsere Forschungsarbeit“, kommentierte der Molekularbiologe ihren Vorwurf mit gespielter Beleidigung. „Denken Sie etwa, wir tüfteln nur, um arme, unschuldig eingesperrte Häftlinge zu quälen und zu töten?“
‚Wer weiß, vielleicht, um sie rascher loszuwerden, vor allem, wenn sie tatsächlich unschuldig sind?‘, dachte Urda. Andererseits, was hatte sie erwartet? Laut antwortete sie: „Selbst wenn Ihr Wirkstoff helfen könnte, bekommen ihn doch nur 50 % der Probanden, wenn ich recht verstanden habe?“
„Natürlich“, erwiderte Doktor Dearden in zunehmend genervtem Ton. Dann zog er die buschigen Augenbrauen leicht zusammen und beugte sich ein wenig vor. „Aktuell sind Ihre Kinder im Heim ‚Wiesenglück‘ im Stadtzentrum untergebracht.“ Seine Augen verengten sich und taxierten die verzweifelte Mutter wie ein Raubtier seine Beute. Er fuhr fort: „Wenn Sie an unserem spannenden Experiment teilnehmen, erhalten Sie nach Ihrer Entlassung unverzüglich das Aufenthaltsbestimmungsrecht zurück und können mit ihnen in eine erstklassige Wohnung ziehen. Diese wird vollmöbliert bereitgestellt. Die Miete für das erste Jahr entfällt.“
Urda blickte den Wissenschaftler zweifelnd an. Durfte er überhaupt ein solches Angebot unterbreiten?
Der Forscher wusste wohl um ihr Misstrauen, denn er legte nach: „Dies ist ein einmaliges und großzügiges Angebot, das von ganz oben abgesegnet ist. Ich darf es Ihnen sogar schriftlich geben.“
„… Das alles nur, wenn ich mich anstecken lasse?“
„Selbstredend. Aber wussten Sie schon, unsere neuesten Untersuchungen besagen, dass nur 80 % der Infizierten in Ihrer Altersklasse versterben!“
„Der Gesunden oder der Vorbelasteten aus der Risikogruppe?“
„Sie müssen dringend an Ihren negativen Einstellungen arbeiten.“
Doktor Dearden machte eine kurze Pause und redete dann fröhlich weiter, ohne inhaltlich auf ihren Einwand einzugehen. „Auch ohne unser neues Medikament gibt es also eine reelle Überlebenschance. Und, stellen Sie sich nur vor, 0,5–1 % entwickeln lediglich leichte Symptome. Das klingt doch sehr fair, oder?“
„Was, wenn ich trotzdem daran sterbe?“
Zu ihrem Erstaunen bemühte sich Doktor Dearden um eine Antwort: „Sie haben doch vier Kinder, die aufgrund ihres geringen Alters ebenfalls zur Risikogruppe gehören. Die Letalität, also die Sterblichkeitsrate in dieser Altersgruppe, beträgt nicht 80, sondern 99 Prozent. Ihre Studienteilnahme könnte wertvolle Erkenntnisse liefern, um Millionen weiterer Kinder vor dem sicheren Tod zu bewahren.“
Betroffen starrte Urda dem schmächtigen, blassen Mann in die rehbraunen Augen. „Die Tödlichkeit der Legopocken für Kinder ist also gar keine Lüge, um Familienbande zu zerstören und Hysterie zu schüren?“
Der Wissenschaftler konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Na, Sie haben wohl wirklich zu viele Verschwörungstheorien gelesen!“ Betont versöhnlich fügte er hinzu: „Wir möchten Sie nicht beeinflussen oder gar bedrängen. Nur, die Plätze für Stufe-5-Experimente sind erfahrungsgemäß rasch voll.“
Urda zögerte und schaute Doktor Dearden unschlüssig an. Dass das Hauptmotiv dieses ehrgeizigen Forschers war, kranken Menschen zu helfen, konnte sie sich als leidgeprüfte vierfache Mutter jedenfalls nicht ernsthaft vorstellen.
Der Molekularbiologe ließ sich keinerlei Enttäuschung oder Anspannung anmerken. Nüchtern sprach er nach einer Pause weiter: „Sehr gern können Sie sich auch für eine weniger gefährliche … schauen Sie, dort unten am Bildschirmrand steht es in der Liste … Antikörperstudie … eintragen. Ich klicke es mal an … therapeutische monoklonale Antikörper … ah, sehen Sie, das wollte ich Ihnen zeigen: Das Risiko, am zuvor induzierten Darmkrebs zu versterben, liegt bei läppischen einundzwanzig Prozent.
Oder sehen Sie mal hier, Ausschaltung eines lebenswichtigen Enzyms mittels Gene-Editing. Gern erläutert meine Assistentin Ihnen alles Weitere. Zwei tolle Alternativen, mathematisch betrachtet, nicht wahr?“
„Bei denen ich zehn statt fünfzehn Jahre gutgeschrieben bekomme und meine Kinder im Heim verbleiben? Steht so zumindest im Verrechnungsfeld“, gab Urda missmutig zurück.
„Das ist korrekt“, erwiderte er akkurat betont.
„Nein, meine Kinder leiden mit jedem weiteren Tag, den ich hier verplempere. Bis wann muss ich mich wegen der Legopocken-Studie entscheiden?“
„Mein Team kann ohnehin erst in zweieinhalb Stunden mit den Vorbereitungen beginnen. Bis 16:00 Uhr können Sie es sich überlegen, danach müssten wir uns beeilen, weil Sie vorher den Vertrag und die zusätzlichen Einverständniserklärungen unterschreiben müssen und wir noch ein paar Angaben benötigen. Mit dem Prozedere sind Sie bereits vertraut. Sie sind ja schon ein alter Hase.“
‚Oh ja, ein Versuchskaninchen, hoffentlich kurz vor der Pensionierung.‘ Urda gab sich innerlich einen Ruck. Nicht einen Pfifferling waren alle bisherigen Strapazen wert, wenn sie diesen Weg nicht konsequent bis zum Ende verfolgte! Sie durfte so kurz vor dem Ziel nicht plötzlich egoistisch und kleinlich werden.
Eine Legopocken-Infektion nahm ihren vier schuldlosen Kindern mit 80%iger Wahrscheinlichkeit die Mutter, ein Rückzieher entzog sie ihnen mit nahezu 100%iger Sicherheit. Seit dem allerersten Blick in die Studiendatenbank hatte Urda noch keine solche Möglichkeit bekommen, so einen Sechser im Lotto. Den Gewinn nicht anzunehmen hieße, ihn nicht wert zu sein, ihre Familie nicht länger zu verdienen! „Lassen Sie es gut sein. Ich mache es.“
Mit gespielter Überraschung sah ihr künftiger Schicksalsengel von seinen Unterlagen hoch. „Das ging jetzt aber schnell.“
„Reichen Sie mir den Papierkram rüber.“
Der eifrige Wissenschaftler vergaß alle Professionalität, rieb sich die Hände und strahlte wie ein Castor-Transport.
Die Glückssträhne ging für beide Seiten weiter: Bereits die niedrigste Infektionsdosis erzielte ihre Wirkung. Ein ziemlich junger Arzt begleitete den Studienleiter, um die frohe Botschaft zu überbringen und sich ein Bild vom Fortschritt der Virenausbreitung zu machen.
„Herzlichen Glückwunsch! Sie haben Fieber bekommen, ein gutes Zeichen. Wir konnten die erfolgreiche Infektion bereits mittels PCR nachweisen.“
„Mein Hals schmerzt so. Was ist, wenn ich eine Mandelentzündung habe?“
„Wollen Sie etwa unterstellen, dass unsere langjährig erfahrenen Mitarbeiter Bakterien nicht von Viren unterscheiden können?“ Der Experte klang schwer beleidigt.
„Nein … ich habe nur Angst, wie es weitergeht.“
„Diese Unsicherheit kann ich Ihnen gern nehmen“, erwiderte der Arzt freundlich. „In den nächsten Tagen werden sich Hautrötungen und daraus Papeln entwickeln. Wie bei Insektenstichen gebe ich Ihnen schon mal den Tipp, während der Abheilung möglichst nicht daran herumzukratzen. Alles eine Frage der Selbstdisziplin.“
Urda sprang über Gräben. Tiefe, breite, pechschwarze Gräben. Sie durfte keinen einzigen verpassen, in keinen einzigen hineinstürzen. Es war eine einfache und sinnlose Aufgabe, und dennoch hing ihr Überleben davon ab, denn die Gräben hörten nicht auf, auf sie zuzurasen. Wie in einem sehr einfach gestalteten Computerspiel. Obwohl sie ihren Körper nicht spürte, erschöpfte die Dauerfokussierung auf diese einzige Handlung des perfekten Springens sie unendlich. Es gab nichts mehr außer ihrem Hürdenmarathon und der Gewissheit, dass Fallen oder Stehenbleiben ihren sicheren Tod bedeutete. Sie wusste nicht mehr, wann es angefangen hatte, und gnädigerweise bekam sie ebenfalls nicht mehr mit, als es endlich ausklang und sie das Bewusstsein verlor.
Die maßlose Anstrengung hatte aufgehört. Gefahr spürte sie weiterhin. Standen da nicht graue Schemen hinter einem milchigen Schleier und lachten über sie, während sie üble Vernichtungspläne schmiedeten und sie dabei unablässig beobachteten?
„Was reden die da über mich?“ Misstrauisch starrte Urda durch die durchsichtige Wand einer Isolierzelle. Dass sie es darin noch karger und einsamer haben würde als in ihrer Gefängniszelle, hatte man ihr verschwiegen.
Etwas trat durch eine Schleuse, es war das erste Mal seit … ja, wie lange war sie schon hier? Tage? Wochen? Oder gar Monate? Sie hatte ihr Zeitgefühl völlig verloren.
Die Schemen näherten sich ihrem Bett. Menschen. Zwei Männer. Langsam nahmen sie deutlichere Gestalt an. Beide trugen Raumanzüge wie in einem Science-Fiction-Film. Der Größere wies auf sie und sprach. Die Laute erschienen ihr fremdartig und hallend, wie von weither.
Plötzlich erinnerte sie sich und erkannte die Stimme durch den Schutzanzug wieder: Es war die des begeisterten Wissenschaftlers Harold Dearden, der ihr sein kleines Baby implantiert hatte.
Der andere Marsianer drehte sich zu ihr um und erwog, dass nun bald Phase 2 des Experimentes beginnen könnte.
„Was haben Sie mit mir vor, was heißt Phase 2?“ Gern hätte sie ihn wütend angeschrien, aber ihr fehlte die Kraft dazu.
Er lächelte etwas mitleidig. „Oh, guten Morgen, Sie sind wieder bei Bewusstsein.“
„Wie, Sie glaubten wohl, Sie könnten sich heimlich anschleichen?“, gab sie böse zurück. „Was? Was? Was haben Sie vor?!“
„Wir haben gar nichts mit Ihnen vor, außer Sie gesund zu machen. Sie haben Wahnvorstellungen, nichts Ungewöhnliches. Nehmen Sie diesen Unsinn nicht allzu wichtig, verwenden Sie Ihre Energie lieber auf den Kampf gegen die Krankheit.“ Einer der beiden lachte leise, dann verschwanden die Marsianer wieder.
Urda wollte noch widersprechen, aber ihre Kraftreserven waren durch dieses kurze Wortgefecht bereits aufgebraucht. Sie spürte eine erste Empfindung von außerhalb ihres Körpers: das völlig durchnässte Laken.
Je mieser sie sich fühlte und je häufiger sie sich dieses Zustandes bewusst wurde, desto klarer wurde Urda, dass sie überleben würde.
Nach einer unbestimmten Zeit trat erneut ein überaus freundlicher und enthusiastischer Marsianer an ihr Krankenbett, der sich als Arzt vorstellte.
„Wollen wir ein paar Stehversuche machen?“, scherzte er.
Urda versuchte, ihre Füße in Richtung Bettkante zu bewegen. Doch … es ging nicht. Sie gehorchten ihrem Willen nicht so, wie sie es sollten. Erschrocken schrie sie auf. „Ich kann meine Beine nicht richtig bewegen! Warum fühlt sich mein rechtes Bein wie gelähmt an? Haben Sie mir ein Betäubungsmittel gespritzt?“
„Wie käme ich denn auf den absurden Gedanken, jemandem ein derartiges Medikament zu spritzen, der seit Tagen betäubt herumliegt? Ihre Muskulatur ist ein bisschen atrophiert. Hier, nehmen Sie diese Mobilitätshilfe.“ Der Arzt reichte der völlig verständnislos dreinblickenden Urda ein Paar Krücken.
Schon das Aufsetzen misslang. Panik wogte in ihr auf, darin mischte sich Wut. Wut auf den dummen Mann vor ihrem Bett, der nicht begriff! „Warum hören Sie mir nicht richtig zu? Ich sagte nicht, dass mein rechtes Bein schwach ist, sondern ich sagte, dass es teilweise gelähmt ist.“ Immerhin gelang es ihr mittlerweile wieder, die Stimme ein wenig zu heben.
„Eine dauerhafte Lähmung ist nicht diagnostiziert worden, aber nicht ausgeschlossen.“
Das hysterische Aufflackern in ihrem Blick deutete der Experte völlig falsch: „Aber dafür gibt es keine zusätzlichen Leistungen, wenn Sie darauf abzielen sollten.“
„D-dauerhaft?“ Urdas Gesichtszüge entglitten. „Wie … dauerhaft?“
„Sie haben wohl die Erläuterungen der möglichen Folgeschäden auf Seite 18 des Probanden-Vertrages nicht gründlich genug gelesen?“, erwiderte der Mediziner und schwenkte in gespielter Strenge seinen erhobenen rechten Zeigefinger vor dem Gesicht hin und her. „Na, zu Ihrem Glück steht darunter noch, dass Ihnen für diesen Fall auf unsere Kosten alle notwendigen Hilfsmittel dauerhaft bereitgestellt werden.“ Er lächelte versöhnlich. „Wie viele Finger zeige ich?“
„Drei?“
„Freuen Sie sich. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Sie in den kommenden Tagen noch erblinden … Was schauen Sie denn so betroffen drein? Es gibt keinen Haken. Die hundert Euro für die Mobilitätshilfen fordern wir nicht zurück.“
„Hundert Euro? Das wird ja immer besser!“, ereiferte sich Urda.
„Allerdings“, lachte ihr Wohltäter, „denn offensichtlich hat auch Ihr Gehör bislang nicht unter Spätfolgen gelitten.“
Es dauerte noch über eine Woche, bis Urda wieder richtig laufen konnte und schließlich als genesen eingestuft wurde. Obwohl die unzähligen Pusteln längst verkrustet und eingetrocknet waren, musste sie innerhalb des Gebäudes einen Schutzanzug sowie Handschuhe tragen – reine Vorsichtsmaßnahme, aber reichlich übertrieben, wie sie fand. Zum Abschlussgespräch saß sie mit Herrn Doktor Dearden, seinem Vorgesetzten und einem Mitarbeiter der JVA Sonnenhof im selben Büroraum, in den sie am ersten Tag zur Registrierung gekommen war.
„Wie fühlt es sich an, wieder ein vollwertig rehabilitiertes Mitglied unserer Gesellschaft zu sein?“, erkundigte sich der Doktor und beäugte sie wie ein wertvolles Juwel.
„Ich will schleunigst hier raus und zu meiner Familie.“
„Sobald Sie diese Verschwiegenheitserklärung unterschrieben haben, auch über die Ergebnisse, die …“
„… sind mir wie alles andere im Moment herzlich egal. Ich bin heilfroh, dass ich Ihr teuflisches Experiment überstanden habe. Sie haben mir kein Gegenmittel gegeben, nur ein Placebo, darauf könnte ich wetten!“
„Frau Schoppel, Sie werden vollständig genesen. Ich wünsche Ihnen alles Gute in freier Wildbahn.“ Der Forscher lächelte verschmitzt.
„Ja ja!“ Wütend funkelte sie ihren ehemaligen Peiniger an. „Sie meinen, ob ich es schaffe, nicht wieder im Knast zu landen, nicht wahr?“
„Das auch.“
„Wenn Sie mich betrügen und ich das Sorgerecht nicht zurückerhalte, dann …“ Sie sprach besser nicht weiter, so kurz nach ihrer Entlassung und angesichts ihrer einschlägigen Vorstrafe.
„Na aber, Frau Schoppel! Unser ehrwürdiges Unternehmen hat einen guten Ruf zu verlieren. Selbstverständlich werden Sie Ihre Kinder wieder in die Arme schließen dürfen.“
Noch am selben Tag wurde Urda auf freien Fuß gesetzt. Zusätzlich zu ihren Sachen bekam sie einen Schlüsselbund und einige Papiere ausgehändigt. Auf dem Mietvertrag, der sich darunter befand, stand eine Adresse. Sie war noch nie in diesem Stadtviertel gewesen. Vor ihr erstreckte sich eine erstaunlich saubere Straße, die zu beiden Seiten von Viergeschossern mit stuckverzierten Fassaden gesäumt wurde. Sollte sich der Pharmariese wider Erwarten doch als barmherziger Samariter herausstellen?
Aufgeregt drehte sie den Haustürschlüssel. Er passte tatsächlich. Das Wunder war geschehen. Sie war geheilt UND frei. Ja, mehr noch, sie bekam eine neue Wohnung und ihre Kinder zurück. Träumte sie, oder war dies die Wirklichkeit? Sie betete darum, dass es wahr wäre, dass diese zweite Chance real war.
Die Wohngegend war ein Traum, verglichen mit dem schäbigen Ghetto, in dem die Familie vor Urdas Inhaftierung gehaust hatte. Als sie ins Treppenhaus kam, bewunderte sie die restaurierten Wand- und Deckenverzierungen. Der Altbau war komplett und aufwendig saniert worden. Obwohl es einen Fahrstuhl gab, lief Urda die Stiegen in den ersten Stock hoch. Kaum eine Fluse zierte die geflochtene Stufenmatte. Im ganzen Flur duftete es nach Bohnerwachs. Auf den Fensterbrettern zwischen den einzelnen Stockwerken standen echte Pflanzen. Nicht ein einziges Bonbonpapierchen verunzierte das Gebäude.
Ihr neues Heim war ein großzügiges Luxusappartement mit einer geräumigen Wohnküche, einem Bad mit Dusche und Whirlpool-Badewanne sowie insgesamt fünf weiteren Zimmern. Wie versprochen war alles mit neuen Möbeln versehen. Schon allein die Einbauküche samt Dunstabzugshaube hätte Urda sich niemals leisten können.
Doch der allerschönste, lang ersehnte Moment kam am Abend. Es klingelte. Dem heraufdringenden Geschrei und Getrappel folgte eine Minute später eine ältere Dame vom Jugendamt, die Urda mit knappen Worten einige Zettel aushändigte und sich ein paar Unterschriften geben ließ. Dabei hielt sie gebührenden Abstand. Es schien, als sei sie nicht aus freien Stücken hier, denn sie hatte Mühe, ihr Missfallen über den Lauf der Dinge zu unterdrücken und der wiedervereinten Familie professionell freundlich alles Gute zu wünschen.
Erst bestürmten die vier Kinder die Mutter mit Umarmungen und tausend Fragen. Mit Tränen in den Augen bereitete Urda ihnen das Abendbrot. Das erste Mal aßen sie dann gemeinsam in ihrer neuen, riesigen Küche.
Nur die Älteste, ein fünfzehnjähriges Mädchen mit blonden Zöpfen, hielt sich noch zurück und wollte dem neuen Familienglück nicht so recht trauen.
„Wer bezahlt das alles?“, erkundigte sie sich nach bewundernden Blicken auf die Einrichtung.
„Im ersten Jahr leben wir hier mietfrei. Aber keine Sorge, für die Zeit danach ist ebenfalls gesorgt. Mir wurde eine Halbtagsanstellung im Büro zugesagt.“
„Ich will das hintere Zimmer!“, krähte Urdas älterer Sohn dazwischen.
Da rückte die elfjährige Tochter näher an ihre Mutter heran.
„Was ist mit deinem Gesicht geschehen?“, fragte sie entsetzt. „Haben Sie dir wehgetan?“
So betroffen und mitfühlend hatte Urda seit Langem niemanden mehr erlebt.
„Nein, mein Prinzesschen“, beruhigte sie die Kleine. „Das war nur so ein hässlicher Hautausschlag, den ich mir in der JVA Sonnenhof eingefangen habe, weil nicht alle dort sich immer so schön ordentlich die Hände waschen wie wir.“
Schuldbewusst sah ihr Sohn zur Seite.
„Aber jetzt ist schon alles verheilt, seht ihr? Es tut auch gar nicht mehr weh.“
Vorsichtig betastete das Mädchen die hässlichen Narben.
„Du siehst damit so gruselig aus. Aber du bist trotzdem meine allerliebste Mutti.“
„Ja, meine auch!“, fielen die anderen ein, um ihre Verbundenheit zu bekräftigen.
„Oh, Mutti, wir haben dich so vermisst.“
„Ich euch auch. Jeden einzelnen Tag habe ich an euch gedacht und gebetet, dass ihr im Heim Wiesenglück wenigstens gut versorgt seid.“
Urda verlor sich in der Umarmung ihrer kleinen Tochter. So weich und glatt war die junge Haut, so warm die noch schwachen Ärmchen, die sie vertrauensvoll umschlangen. Leicht gelockte Haare kitzelten die scheußlichen Male an ihrem Hals. Alles war diesen wunderschönen Moment wert gewesen. Ohne zu zögern, würde sie alle Qualen nochmals über sich ergehen lassen.
„Musst du bald wieder weg?“, sprach das Mädchen plötzlich laut aus, was die ganze Zeit unsichtbar zwischen ihnen im Raum gestanden hatte. Angst, aber auch Hoffnung schwangen in ihrer Stimme mit.
„Ich verspreche euch, ich werde nie, nie, nie wieder fortgehen. Ich werde von jetzt an immer bei euch bleiben“, hauchte Urda. Erneut konnte sie nicht verhindern, dass Tränen in ihre Augen stiegen. „Es tut mir so leid. Ich werde alles tun, um die schreckliche Zeit wiedergutzumachen.“
Sie schliefen gemeinsam ein – das nagelneue und riesige Boxspringbett erlaubte diesen Luxus.
Wie im Flug gingen die Tage in ihrem neuen Heim an ihnen vorüber. Alles wollte neu erlebt und erkundet werden. Urda genoss ihre zurückgewonnene Bewegungsfreiheit und die Zeit mit den Kindern, die alle erst in vierzehn Tagen zur Schule gehen sollten, mehr denn je zuvor.
Rasch war die erste Woche herum. Langsam fingen die fünf an, daran zu glauben, dass ihrer Familie eine zweite Chance geschenkt worden war. Es war später Abend. Erschöpft deckte Urda ihren Jüngsten zu. Diese Erschöpfung fühlte sich angenehm, auf gemütliche Art schwer an, denn sie wurde hervorgerufen durch angenehme Belastungen, nicht vergleichbar mit ihrer durchgestandenen Krankheit und all den vorangegangenen Strapazen. Urda sehnte sich selbst nach ihrem von DropperTech Pharmaceuticals gestifteten, schönen, weichen Bett, das tausendmal gemütlicher und behaglicher als ihr Zellenbett war – schon allein aufgrund der Tatsache, dass es ihr allein gehörte. Behutsam löste sie sich von ihrem Sohn, stand auf, streichelte nochmals über seinen hellbraunen Haarschopf.
„Schlaf gut und träum was Schönes.“
„Mutti“, sagte der Kleine plötzlich in weinerlichem Ton. „Mein Kopf tut so weh.“
Einige Sekunden lang geschah gar nichts.
„Mutti? Hast du mich gehört?“