Cosmic Kiss - Matthias Maurer - E-Book
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Cosmic Kiss E-Book

Matthias Maurer

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Beschreibung

Die Faszination unendlicher Weiten: Astronaut Matthias Maurer hat sie erlebt. In seiner Autobiografie erzählt er von seiner spektakulären Mission zur ISS, seiner Forschung, und was er im Weltall, über die Erde und die Menschheit gelernt hat. Nur zwölf Deutsche haben unseren Planeten je verlassen. Und Matthias Maurer ist einer von ihnen. Doch für den Wissenschaftler ist der Weg in den Weltraum lang und steinig. 2009 besteht er das harte Auswahl-Verfahren der europäischen Weltraum-Behörde ESA und beginnt 2015 mit dem Astronauten-Training. Dabei reist er quer durch Europa, trainiert in China, Japan, Russland, Kanada und in den USA, um sich auf alles vorzubereiten, was im All passieren kann. Im Herbst 2021 startet er schließlich mit der Mission »Cosmic Kiss« zur Internationalen Raumstation. Fast sechs Monate lang lebt und arbeitet er an Bord der Raumstation ISS. Dabei erlebt er nicht nur einen Satellitenabschuss durch Russland, sondern auch den Kriegsausbruch in der Ukraine aus dem All. 400 Kilometer über seiner Heimat schwebend, erkennt er, wie verletzlich die Erde ist. Lediglich durch eine dünne Hülle vom lebensfeindlichen Vakuum getrennt, erfährt er was Zusammenhalt und Teamwork bedeuten. »Und da ist er endlich, mein erster freier, fast schon poetisch berührender Blick auf diese magisch wundervolle Oase inmitten der dunkelsten Finsternis des absoluten Nichts. Eine Erkenntnis, die mich ein wenig erschreckt: Die Erde ist leuchtend und vibrierend blau. Der Himmel hingegen ist immer schwarz. Auch am Tag.« Matthias Maurer Matthias Maurers autobiografischer Bericht über seinen Weg zu den Sternen und sein Leben in der Umlaufbahn begeistert durch wissenschaftliche Details, mitreißende Geschichten aus dem Astronauten-Alltag und ungebremste Entdeckerfreude. Der 600. Mensch, der je die Erde verlassen hat, schildert seine packenden Abenteuer aus ganz persönlicher Sicht und erklärt dabei für alle verständlich, wie Raumfahrt funktioniert und wie sich das Leben in der Schwerelosigkeit anfühlt. Nach dem Erfolg der ISS-Mission hat Maurer das nächste Ziel fest im Blick: einen Flug zum Mond im Rahmen des Artemis-Programms.

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Seitenzahl: 567

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Matthias Maurer

mit Sarah Konrad

Cosmic Kiss

Sechs Monate auf der ISS – Eine Liebeserklärung an den Weltraum

Knaur eBooks

 

Über dieses Buch

Von der Astronautenauswahl bis zum harten Training rund um den Globus schildert Matthias Maurer die wichtigsten Etappen seiner Vorbereitung auf den Flug ins All. Er nimmt uns mit auf seine Mission »Cosmic Kiss« zur Internationalen Raumstation ISS und erzählt begeisternd über den Alltag in der Schwerelosigkeit. Gemeinsam mit einer internationalen Crew meistert er in 400 Kilometern Höhe die Forschungsarbeit an Bord, absolviert einen Außeneinsatz und empfängt Weltraumtouristen. Sein autobiografischer Bericht aus außerirdischer Perspektive ist authentisch, mitreißend und für alle verständlich. Nach der Rückkehr zur Erde hat Maurer nun sein nächstes Ziel vor Augen: einen Flug zum Mond im Zuge des Artemis-Programms.

 

Faszinierende Videos und teils noch unveröffentlichte Fotos zum Buch finden Sie hier:

https://www.droemer-knaur.de/cosmic-kiss-zusatzmaterial

Inhaltsübersicht

Cosmic Kiss

Vorwort von Reinhold Ewald

Prolog im Himmel – Gefangen im Nichts

Auf Umwegen zum Traumberuf

Bildteil 1

Galaktische Erlebnisse auf der Erde

Eine Reise ins Innere unseres Planeten

Donnerndes Ungeheuer in der Steppe

Aquanauten auf dem Meeresgrund

Eisige Stunden in der Wildnis

Historisches Training im Gelben Meer

Mondmission auf Lanzarote

Grenzenlose Freiheit

It’s Showtime!

Ein Spielplatz für Astronauten

Ein Stückchen Weltraum auf Erden

Kosmische Notaufnahme

Geheimnisvolles Sternenstädtchen

Auge in Auge mit dem Drachen

Bildteil 2

Auf Dienstreise im All

»To boldly go«

Ritt mit dem Drachen

Kosmischer Kuss

Schweben und Schwindel

Das bisschen Haushalt

Gefahr aus dem All

Wettlauf gegen die rote Linie

Die Wunden der Erde

Vertrauen

Galaktisch gudd gess

Licht und Schatten

Ein Raumschiff zu Weihnachten

In der Weihnachtsbäckerei

Die beste Nachricht der Welt

Neujahrsgrüße aus der chinesischen Raumstation

Maurer in der Schwerelosigkeit

Weltneuheit im All

Small Talk im Schlafanzug

Sprechstunde bei Dr. Brigitte

100 Tage im All

Achtung, Feuer!

Millionen leuchtender Punkte

Blick auf eine boshaft veränderte Welt

Die Folgen des Krieges

Operation am offenen Herzen

Freunde im Anflug

Die wildeste Party ALLer Zeiten

Die Stunden vor dem Ausstieg ins Nichts

414 Minuten im freien Universum

Schreckmoment zum Ende

Chaos im außerirdischen Paradies

»Go, Eytan!«

Kosmisches Couchsurfing

Abschiedstour

Auf Wiedersehen!

Sturzflug durch die Atmosphäre

Quellen

Vorwort von Reinhold Ewald

Matthias Maurer – »diesen Kuss der ganzen Welt«!

Nanu, Beethoven und Schiller im Weltall? Nun, ein Raumflug ist nicht nur eine körperliche, sondern auch eine emotionale Achterbahnfahrt. Wie fühlt sich Schwerelosigkeit an? Werde ich vom Blick auf die Erde überwältigt? Matthias Maurer hat mit dem Missionstitel »Cosmic Kiss« seine Vorfreude und seine Hoffnung ausgedrückt, nämlich, dass der Weltraum und seine Erforschung uns Menschen mehr bedeuten als der Urlaubsbesuch neuer Länder auf der Erde. Und das hat auch mit seiner Vorgeschichte zu tun.

Aus der zweiten Reihe

Der erste Mensch auf dem Mond? Richtig, Neil Armstrong. Der erste Ausstieg ins All? Richtig, Alexei Leonov. Der Back-up von Sigmund Jähn, dem allerersten deutschen Kosmonauten 1978? Mmh!? Die richtige Antwort wäre Eberhard Köllner gewesen, aber ich nehme es nicht übel, wenn man es nicht weiß. Die Zeitläufte sind so schnell, dass es schon schwierig ist, sich den jeweils Agierenden richtig zu merken, geschweige denn die Leute im Hintergrund. Und doch wäre ein solch schwieriges Unterfangen wie eine Raumflugmission unmöglich, wenn es nicht die Leute gäbe, die selbstlos aus dem Hintergrund die Vornestehenden mit Information, Unterstützung und Kraft für die herausfordernde Aufgabe versorgen. Das sind in der Raumfahrt, inzwischen ein wenig aus der Mode gekommen, die Back-ups oder, im Russischen, die Dublors, die Reserveleute, die genau das gleiche Ausbildungsniveau wie die jeweils Fliegenden erreicht haben und – dramatischer Moment – in den Anfängen ebenfalls im Raumanzug bis an die Startrampe herangefahren wurden, um erst ab dort einen anderen Weg zu nehmen. Dass eine solche Rolle besondere Loyalität zum Programm erfordert sowie menschliche Größe, ist nicht so unmittelbar ersichtlich.

Fast ein Astronaut

Noch härter trifft es diejenigen, die nachweislich das Zeug zum Astronauten haben, aber gar nicht erst ins Training kommen. In jeder Stufe eines Astronautenauswahlverfahrens fallen anfangs 90, später 50 Prozent aus der immer kürzer werdenden Liste heraus. So war es bei meiner Auswahl 1986/87, als von 1300 Bewerberinnen und Bewerbern am Ende 13 Finalisten – darunter drei Frauen – übrig blieben. Und so war es bei Matthias Maurer, der sich 2008 auf die europaweite Bewerbungskampagne der ESA meldete und unter den letzten zehn medizinisch und psychologisch Fitten war. Wenn man nach so viel persönlicher Investition und Hoffnung derart weit gekommen war, braucht es schon einen Moment persönlicher Größe, um zu verdauen, dass sechs andere gewählt wurden. Und es braucht noch mehr Größe, sich dadurch den Spaß an der Raumfahrt nicht verderben zu lassen und gerade in dem Bereich anzuheuern, in dem man tagtäglich die erfolgreichen ehemaligen Konkurrenten vor Augen hat und deren Weg zum Astronauten und zur Astronautin hautnah mitverfolgen kann – oder muss!

Wahre Begeisterung

Matthias Maurer hat 2010 genau diese Wahl getroffen und ist damit auf meinen Spuren gewandelt. Die Mischung aus Lust auf Exploration, Umgang mit Technik und Einblick in viele wissenschaftliche Disziplinen, die Raumfahrt nutzen, fand er so faszinierend und unwiderstehlich, dass er ins Astronautenbüro der ESA wechselte. Als »Boden-Bord-Sprecher« Eurocom – damals noch mit dem Twitter-Namen Explornaut – hat er sich eine zweite Chance als Astronaut mehr als verdient: seine Berufung ins ESA-Team erfolgte im Jahr 2015! Die Begeisterung und sein Können aus der beruflichen Erfahrung haben denn auch seine Cosmic-Kiss-Mission geprägt: Verlässlichkeit, Kompetenz und ein unverwüstlich teamorientierter Charakter ließen die 175 Tage an Bord der Internationalen Raumstation wie im Flug vergehen. Sein persönlicher Bericht zeigt, was Menschen in der Umgebung des Weltalls erreichen können, wenn sie nicht nur über den right stuff verfügen, sondern sich auch einen Sinn für ein außergewöhnliches Erlebnis bewahrt haben.

Diesen kosmischen Kuss wünscht man – um mit Schiller zu sprechen – »der ganzen Welt«!

 

Professor Reinhold Ewald ist Physiker und deutscher Astronaut. Er flog 1997 ins All und forschte 18 Tage auf der MIR-Station.

Prolog im Himmel – Gefangen im Nichts

Mittwoch, 22. März 2022. Ich bin ein kleines Raumschiff im ewigen Nichts, ein winziger Punkt zwischen funkelnden Sternen, ein lebendiger Satellit in der Unendlichkeit. Die pure Schwärze des Universums umhüllt mich wie ein schützender Schleier. Sie vermittelt eine trügerische Geborgenheit in dieser menschenfeindlichen Umgebung, die jeden noch so geringfügigen Fehler gnadenlos bestraft. Es waren nur Sekunden der Unachtsamkeit, einige nicht durchdachte Bewegungen, ein paar falsche Drehungen, aufgrund derer das größte Abenteuer meiner Astronautenkarriere nun ein jähes Ende zu finden droht.

Seit vier Stunden bin ich schon im freien Weltraum unterwegs, lediglich durch zwei Leinen mit der Internationalen Raumstation ISS verbunden. Sie sollen mich davor bewahren, ins All hinaus zu treiben. Doch jetzt halten sie mich gefangen. In dem unbeweglichen Raumanzug, der mich vor dem tödlichen Vakuum abschirmt, kann ich die Situation nicht hundertprozentig analysieren. Aber wie es aussieht, hat sich das lange Rettungsseil mehrmals um meine Beine und zusätzlich um meinen Oberkörper geschlungen. Hilflos wie ein Insekt, das sich in einem Spinnennetz verheddert hat, taumle ich in der Schwerelosigkeit. Satte 400 Kilometer über meinem Heimatplaneten, mit einer Geschwindigkeit von 28000 Kilometern pro Stunde.

Dabei habe ich meinen ersten Außenbordeinsatz bislang so gut gemeistert. Zusammen mit meinem Kollegen Raja Chari glitt ich heute Morgen hinaus in den schier endlosen Kosmos, um unsere galaktische Oase zu warten und für die Zukunft zu rüsten. Beim Verlassen der Luftschleuse fühlte ich mich wie Alice, die in einen Brunnen stürzte und in einem Wunderland wieder auftauchte. Nie zuvor bin ich an solch einem surrealen Ort gewesen. Unter mir dreht sich die Erde beständig um ihre eigene Achse. Meist zeigt sie sich tiefblau. Nur gelegentlich schlüpft sie in ein sattgrünes Kleid mit braunen Fäden, die im Sonnenlicht golden glänzen. Kalte Gebirgsregionen tragen weiße Kronen, tropische Gewässer schimmern magisch in Jade und Aquamarin. Aber plötzlich rückt die Schönheit der farbenfrohen Kugel in den Hintergrund und mit ihr all die Arbeitsschritte, die wir bei diesem herausfordernden Weltraumspaziergang erledigen sollen. Das Einzige, was jetzt zählt, ist, den Fängen der Sicherheitsleine zu entkommen.

Ohne zu wissen, wie das Seil exakt verläuft, versuche ich mich im Blindflug herauszuwinden. Behutsam drehe ich mich nach links, dann noch einmal und noch einmal. Mit jeder Bewegung zieht sich die Schlinge fester zusammen. »Hör auf damit. Du machst alles nur noch schlimmer«, warnt mich meine innere Stimme. Und schlagartig wird mir bewusst, dass es unmöglich ist, mich selbst zu befreien. Düstere Fantasien schießen mir durch den Kopf: Was, wenn Raja mir zur Unterstützung eilen muss und dies den Abbruch unserer Expedition bedeutet? Was, wenn ich der erste Astronaut in der Geschichte werde, der die Rettungsschere benötigt, um sich loszuschneiden? Was, wenn mein wichtigster Tag im Weltraum zum größten Desaster meines Lebens wird? 13 Jahre lang habe ich hart dafür gekämpft, mir diesen Traum zu erfüllen. Das darf nicht umsonst gewesen sein.

Auf Umwegen zum Traumberuf

Als kleiner Junge träumte ich davon, den Himmel in einem Flugzeug zu erobern. Jedes Mal, wenn ein Düsenjet über unseren Garten zischte, malte ich mir aus, wie es sich wohl anfühlt, in solch einer imposanten Maschine abzuheben und vogelgleich der Erdanziehung zu trotzen. Mich faszinierten die Technik, die Geschwindigkeit und die Perspektive von oben. Auf die Idee, an der Spitze einer Rakete in den Orbit zu reiten, war ich aber nie gekommen. Selbst nicht, nachdem ich mir stundenlang Dokumentationen über den deutschen Astronauten Ulf Merbold und seine Space-Shuttle-Mission im Fernsehen angeschaut hatte. Der Gedanke, als Dorfkind aus dem kleinen Saarland in den großen Weltraum aufzubrechen, erschien mir zu abwegig.

Das änderte sich erst, als ich längst erwachsen war. Meinen Traum, Pilot zu werden, hatte ich mir während des Studiums erfüllt, indem ich die Segelfluglizenz erwarb. Beruflich aber war meine Wahl auf einen ganz anderen Bereich gefallen: Ich arbeitete als Projektleiter bei einer Medizinfirma und entwickelte Blutfilter für die Dialyse.

Als ich Anfang März 2008 von der Arbeit nach Hause kam und die Nachrichten anschaltete, erfuhr ich, dass die Europäische Weltraumorganisation ESA neue Astronauten suchte. Der Beitrag fesselte mich – zum einen wegen der nahezu unwirklichen Bilder, die unsere Erde von oben zeigten, zum anderen wegen der Beschreibung des vielfältigen Jobs, bei dem man offenbar zugleich Hausmeister einer Raumstation und Forscher im Universum ist. Ich stellte fest, dass die Raumfahrt im Grunde genommen all meine Interessen kombiniert: komplexe Wissenschaft, internationale Teamarbeit, neueste Technologien sowie eine gehörige Portion Abenteuer. Und von einem auf den anderen Moment war sie da, diese Sehnsucht, unseren Planeten zu verlassen, auf ihn hinabzublicken, ihn als Ganzes zu betrachten. Der Wunsch, in 90 Minuten um die blaue Kugel zu kreisen und dabei leichter als ein Schmetterling in der Schwerelosigkeit zu schweben, durchdrang jede Faser meines Körpers.

Noch am selben Abend informierte ich mich im Internet über die Voraussetzungen, die ein Astronaut erfüllen muss. Die Liste war umfangreich. Doch hinter die wesentlichen Kriterien konnte ich Haken setzen: Ich war Bürger in einem ESA-Mitgliedsstaat, lag mit 37 Jahren noch gerade so unter dem vorgegebenen Höchstalter und hatte meines Wissens keine gesundheitlichen Probleme. Nach dem Abitur hatte ich den Zivildienst angetreten und als Rettungssanitäter praktische Erfahrungen im Bereich Medizin erworben. Anschließend studierte ich Materialwissenschaften und promovierte. Neben gleich mehreren Diplomen konnte ich Fremdsprachenkenntnisse sowie einige Auslandsaufenthalte nachweisen, denn im Rahmen von Stipendienprogrammen hatte es mich nach Großbritannien, Frankreich und Spanien verschlagen, und ich hatte an Wissenschaftskooperationen in Südamerika und Südkorea teilgenommen. Bei den Aufenthalten im Ausland und während einer einjährigen Weltreise nach Abgabe meiner Doktorarbeit habe ich viel über mich selbst gelernt und zudem festgestellt, dass man nicht nur mit dem deutschen Tunnelblick eine Lösung anstreben kann. Oft gibt es ganz verschiedene Wege, die zum Ziel führen. Als Student hatte ich darüber hinaus in gemischten, meist internationalen Wohngemeinschaften gelebt, wodurch ich ein Gefühl für das Zwischenmenschliche und Interkulturelle entwickelte. Dass mir diese Erfahrungen im Lauf meiner Astronautenkarriere noch sehr oft weiterhelfen würden, ahnte ich damals nicht. Fest stand an jenem Abend nur: Ich würde alles dafür geben, eines Tages ins All zu fliegen.

Mitte Mai 2008 aktivierte die ESA das Bewerbungsportal. Für die Anmeldung war ein Code nötig, den man jedoch erst erhielt, wenn man ein ärztliches Gutachten zur Flugtauglichkeit und somit einen stabilen Gesundheitszustand vorgewiesen hat. Als Segelflieger hatte ich kein Problem, diese erste Hürde zu überwinden. Die weitaus größere Herausforderung war die schriftliche Bewerbung. Sie musste perfekt sein, denn ich hatte ja keine Möglichkeit, mich der Jury persönlich vorzustellen. Allein das Papier entschied in dieser ersten Runde, in der rund 90 Prozent aller Bewerber aussortiert werden würden. Auf einem mehrseitigen Formular sollte ich mein Leben in Worte fassen. Jedes noch so winzige Detail war dabei von Bedeutung. Ich erstellte einen akribischen Werdegang und benannte Personen, die etwas zu meinen Qualitäten und Charaktereigenschaften sagen konnten. Dabei wägte ich ganz genau ab, was ich von mir preisgab, und fragte mich immer wieder: Was würde der ideale Raumfahrer antworten? Die Angaben mussten der Wahrheit entsprechen sowie gleichzeitig und trotz der vorgegebenen Kürze das Interesse der Experten wecken. Ein schwieriger Spagat. Tagelang feilte ich an den Formulierungen. Schließlich hängte ich noch sämtliche Bescheinigungen an, die ich im Lauf der Zeit erworben hatte: Zeugnisse, Sprachzertifikate, Führerscheine, Zusatzqualifikationen, Tauch- und Segelfluglizenz. Zu guter Letzt sollte ich erläutern, warum ich Astronaut werden wollte. Vor allem dieses Motivationsschreiben kostete mich Nerven. Zwar fielen mir ausreichend Gründe ein, warum ich ins All fliegen wollte, aber sie in einem strukturierten Text niederzuschreiben war nicht gerade mein Spezialgebiet. Während ich vor mich hin tippte, ging mir ein Gedanke nicht mehr aus dem Kopf: Dies war meine einzige Chance, die Astronautenlaufbahn einzuschlagen, denn beim nächsten Auswahlverfahren – im März 2021 – würde ich die Altersgrenze überschreiten.

Nach etwa einem Monat, kurz vor Ende der Deadline, schickte ich meine Bewerbung ab. Trotz der minutiösen Ausarbeitung rechnete ich mir keine allzu großen Chancen aus, hoffte aber innig auf ein Wunder. Fast im Stundentakt rief ich meine E-Mails ab, und nach einer gefühlten Ewigkeit poppte tatsächlich die ersehnte Nachricht auf. Der Betreff ließ mein Herz jubeln: »Herzlichen Glückwunsch – wir laden Sie zur nächsten Runde ein«. 8500 Kandidaten hatten ihre Bewerbung abgegeben. Ich gehörte zu den knapp 1000, die die erste Hürde genommen hatten!

Sofort steigerte ich mich in den Auswahlprozess hinein. Ich wollte vorbereitet sein, nichts dem Zufall überlassen. Im Internet recherchierte ich zu dem Thema, fand aber nur die vage Information des ehemaligen Astronauten Ulrich Walter, dass sein Auswahlverfahren in den ersten Runden ähnlich dem von Berufspiloten verlief. Also besorgte ich mir ein entsprechendes Lehrbuch. Den Titel, Der Pilotentest – Die optimale Vorbereitung auf den härtesten Einstellungstest, habe ich bis heute nicht vergessen. Ich ackerte die Lektüre Seite für Seite mit äußerster Sorgfalt durch, löste jede Aufgabe mehrfach. Nach einer Weile realisierte ich, dass all die Übungen kein Hexenwerk sind. Zahlenmuster aufstellen, Figurenreihen fortsetzen, Wörter merken – wenn man das Prinzip erst einmal verinnerlicht hat, lassen sich die Aufgaben meist mühelos lösen.

Hoch motiviert und zuversichtlich startete ich Ende Juli in die zweite Runde: Zusammen mit weiteren Astronautenanwärtern ging es zum Eignungstest nach Hamburg. Im Warteraum stellte ich mich zu drei Männern, die sich angeregt unterhielten. Einer von ihnen wollte wissen, ob ich denn auch fliege. »Ja klar, ich bin vom Flughafen Saarbrücken aus gestartet«, entgegnete ich, ohne weiter über meine Antwort nachzudenken. Als plötzlich alle lachten, wurde mir klar, dass ich von Piloten umgeben war, die wissen wollten, welche Maschine ich steuere, nicht, wie ich nach Hamburg gekommen war. Um die Aufmerksamkeit von mir abzulenken, gab ich die Frage zurück. Wie sich herausstellte, arbeitete der Österreicher zu meiner Linken als Linienpilot für eine große Fluggesellschaft, der Deutsche zu meiner Rechten als Testpilot bei der Bundeswehr. Die beiden prahlten mit ihren Kompetenzen, und ihre Selbstsicherheit brachte mich zum Zweifeln. Hatte ich als Werkstoffwissenschaftler in diesem Auswahlverfahren überhaupt eine Chance?

Wir nahmen an Rechnern Platz und rackerten uns den ganzen Tag an den verschiedensten Übungen ab. So sollten wir beispielsweise ein Flugzeug auf Kurs halten, das durch Verwirbelungen aus dem Gleichgewicht gebracht wurde, parallel dazu akustische Informationen mitverfolgen und bei Schlüsselwörtern Zusatzaufgaben per Tastatur oder Joystick erledigen. Die Jury wollte damit unsere Begabung im Bereich Multitasking testen. Bei weiteren Prüfungen ging es um Mechanik, Allgemeinbildung, logisches Denken, technisch-physikalisches Grundwissen, Orientierungsvermögen und Englischkenntnisse. Ein klassischer Einstellungstest – der meinen Kopf mit der Zeit ordentlich zum Brummen brachte.

Auch die anderen Kandidaten hatten zu kämpfen. Ich beobachtete einen Franzosen, der an der Aufgabe scheiterte, sich die einzelnen Nummern einer langen Zahlenreihe einzuprägen und in umgekehrter Reihenfolge aufzulisten. Vor lauter Angst, einen Fehler zu begehen, hörte er auf zu tippen. Laut meinem Lehrbuch war das die falsche Herangehensweise. Die Autoren empfahlen, lieber etwas Falsches aufzuschreiben, als ein weißes Blatt Papier abzugeben. Weil ich mir die Zahlen ebenfalls nicht alle merken konnte, notierte ich eben jene, die mir noch einfielen.

Wie ich viele Jahre später erfuhr, hatte ich die richtige Strategie angewandt. Kaum ein Mensch würde es schaffen, das Nummernmonster im Gedächtnis zu behalten, aber darum ging es bei dieser Prüfung auch gar nicht. Die Juroren wollten vielmehr herausfinden, wie die Kandidaten mit ihrem Versagen umgehen und sich auf die nachfolgenden Aufgaben einlassen. Im Weltraum dürfen sich Astronauten durch stressige Situationen nicht aus der Ruhe bringen lassen. Was auch passiert, sie müssen negative Emotionen sofort abhaken und sich mit freiem Kopf auf das Bevorstehende konzentrieren.

Nach dem Tag in Hamburg war ich total erschöpft und ausgelaugt. Aber das Training zu Hause hatte sich ausgezahlt – davon war ich felsenfest überzeugt. Diese Gewissheit verlieh meinem Interesse an der Raumfahrt einen gewaltigen Schub. Ich wälzte unzählige Bücher, schaute mir Filme und Reportagen an. Besonders die Autobiografie Carrying the Fire des Apollo-11-Astronauten Michael Collins faszinierte mich, da seine Schilderungen mir das Gefühl gaben, hautnah dabei zu sein und hinter die Kulissen der Mondmission zu schauen. Seine Begeisterung war in jeder Zeile der mehr als 500 Seiten spürbar und zog mich vollends in seinen Bann. Nicht einmal das Buch Riding Rockets von Mike Mullane, das hinter die Astronautenromantik blickte und von der unvollkommenen menschlichen Seite der amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA zu Zeiten des Shuttle-Programms erzählte, konnte mir den Spaß vermiesen. Je mehr ich las, desto bewusster wurde mir, dass sich die Faszination für den Weltraum durch die ganze Menschheitsgeschichte zieht. Wir haben schon immer mit Neugier und Fantasie in den Himmel geblickt, um den Ursprung des Lebens und des Universums zu ergründen. Ein geheimnisvoller Kosmos tat sich vor mir auf, ohne den ich mir ein Leben nicht mehr vorstellen konnte.

Umso größer war die Erleichterung, als im August erneut eine positive Nachricht von der ESA eintrudelte. Zwei Jahre nach dem deutschen Fußball-Sommermärchen tauchte ich immer tiefer in mein ganz persönliches Raumfahrt-Märchen ein. Nur noch 192 Bewerber waren in der dritten Runde im Rennen. Mit fünf von ihnen reiste ich ins Europäische Astronautenzentrum EAC nach Köln. Voller Ehrfurcht liefen wir an den Glasfenstern vorbei, durch die wir in die heilige Trainingshalle schauen konnten. Ich entdeckte ein originalgetreu nachgebautes Columbus-Modul, das so auch Teil der Internationalen Raumstation ISS ist. Hier üben Himmelsstürmer für ihre Missionen und lernen, in der Schwerelosigkeit zu forschen. Wie gern hätte ich wenigstens einen kurzen Blick in das europäische Weltraumlabor geworfen. Doch stattdessen führten uns die Prüfer in einen nüchternen Saal im Keller. Zum Auftakt erwartete uns eine ungewöhnliche Aufgabenstellung: »Sie sind auf einer Pirateninsel gestrandet. Schützen Sie sich vor den Bösewichten, rufen Sie Hilfe und bringen Sie sich in Sicherheit. Arbeiten Sie als Team!« Experten aus unterschiedlichen Fachbereichen und der ehemalige Astronaut Gerhard Thiele sahen uns mit Pokerface dabei zu, wie wir uns aus der imaginären misslichen Lage zu befreien versuchten.

Als Hilfsmittel erhielten wir Zettel mit Informationen beispielsweise zur Topografie der Insel, ihren Bewohnern und den verfügbaren Ressourcen. Außerdem durften wir ein Whiteboard benutzen, um unsere Ideen zu notieren und zu ordnen. Voller Eifer legten wir los, sammelten sämtliche Vorschläge und diskutierten die verschiedensten Ansätze. Aber all unsere Anstrengungen schienen aussichtslos, denn auf einen konkreten Plan konnten wir uns nicht einigen. Sollten wir den gewagten, schnellen Fluchtweg wählen oder den sicheren, aber langsamen? War es wichtiger, Hilfe zu rufen oder Nahrung zu suchen? Laut meinem Piloten-Lehrbuch ging es bei solchen Übungen darum, herauszufinden, ob eine Person lieber die Rolle des Anführers übernimmt oder die des folgsamen Untergebenen. Die Autoren warnten davor, zu bestimmend aufzutreten. Da im Weltraum Besserwisser, die sich in den Vordergrund drängen, garantiert nicht erwünscht sind, hielt ich mich zurück, wenngleich es mir in den Fingern juckte, meinen Lösungsvorschlag kundzutun und mich dadurch für die Teamleitung anzubieten.

Das Problem: Führungslosigkeit ist bei diesem Spiel genauso fatal. Und da meine Mitstreiter dieselbe Taktik verfolgten wie ich, steuerten wir zielsicher auf eine Sackgasse zu. Die vorgegebene Lösungszeit verstrich immer schneller.

Irgendwann wurde uns bewusst, dass es gleichermaßen »Leader« und »Follower« brauchte, um die Pirateninsel verlassen zu können. Dank dieser Erkenntnis kristallisierten sich zunehmend die unterschiedlichen Charaktere heraus. Ich bemühte mich nach wie vor, nicht als Alphatier dazustehen, zierte mich aber auch nicht mehr, meine Meinung konstruktiv kundzutun und Struktur in unsere Gruppenarbeit zu bringen. Nach zwei Stunden hatten wir einen genialen Plan geschmiedet, der uns eine sichere Flucht ermöglichen würde. Die Prüfer äußerten sich nicht dazu. Doch mein Gefühl sagte mir, dass unsere Gruppe diese Aufgabe hervorragend gemeistert hatte.

Am frühen Nachmittag rief mich ein Psychologe in sein Besprechungszimmer. Er zeigte mir Papiere mit Tintenklecksen, einen sogenannten Rorschachtest. »Was sehen Sie?«, wollte er freundlich und interessiert von mir wissen.

Ich konnte mein Glück kaum fassen. Schon wieder eine Übung, zu der es in meinem Lehrbuch ein eigenes Kapitel gab. Somit wusste ich, worauf es ankam: Bloß nichts Negatives in das Muster der Tintenkleckse hineininterpretieren, denn Pessimisten sind nicht geeignet als Astronauten. Besser etwas Positives darin erkennen. Das fiel mir erstaunlich leicht. Ich erklärte, dass die Kleckse für mich so aussähen, als würde eine Person einer anderen die Hand entgegenstrecken, um ihr Stabilität und Sicherheit zu geben. Fröhlich und kreativ schmückte ich meine Geschichte immer weiter aus, ohne dabei großartig überlegen zu müssen. Mein Gehirn hatte so die Möglichkeit, sich von dem anstrengenden Aufenthalt auf der Pirateninsel zu erholen, und dem Psychologen schien meine Antwort zu gefallen. Das tat gut, vor allem, weil die nächste Prüfung mir wieder einiges abverlangen sollte.

Diese nahm ich im Zweierteam mit einer sympathischen Irin namens Emma in Angriff. Wir saßen einander gegenüber, jeder einen Bildschirm vor sich, auf dem auch für den Mitspieler relevante Informationen auftauchten. Wir mussten bei einer gemeinsamen Mission individuelle Aufgaben lösen, uns dabei aber kontinuierlich absprechen, um maximale Punkte zu sammeln. Emma stellte sich als eine erstklassige Partnerin heraus. Zwar gerieten wir immer mal wieder ins Straucheln, doch unserer Teamdynamik tat das keinen Abbruch. Ohne hektisch zu werden, tüftelten wir an Lösungen und nahmen unsere Fehlschläge mit Humor. Die Psychologin, die uns während des Tests beobachtete, hatte nichts zu meckern, machte nur stumm ihre Notizen. Daher verbuchte ich auch diese Prüfung als Erfolg, sowohl für Emma als auch für mich. Und war sehr erstaunt, als ich wenige Wochen später erfuhr, dass meine toughe Partnerin ausgeschieden war.

Zum Abschluss des Tages stand ein Meeting mit dem gesamten Prüferteam an. Obwohl alles ziemlich rundgelaufen war, verspürte ich eine gewisse Aufregung, als ich der Jury allein gegenübertreten musste. Eine Psychologin nutzte meine Nervosität aus und bohrte an vielen Stellen des Gesprächs nach, so zum Beispiel bei meinen sportlichen Leistungen. »Wann haben Sie mit dem Joggen angefangen? – Wie oft pro Woche drehen Sie Ihre Runden? – Welche Zeiten laufen Sie?«

Alles simple Fragen, und doch war ich nicht in der Lage, sie überzeugend und angemessen zu beantworten. Ich konnte keine Angaben zu der für Jogger typischen »Zeit je Kilometer« liefern, weil ich nie auf mein Lauftempo geachtet hatte. Statt das zuzugeben, versuchte ich, die gesuchte Zahl im Kopf auszurechnen. Die Psychologin merkte, dass meine Gedanken abschweiften, was ein noch penetranteres Nachhaken zur Folge hatte. Verunsichert und ohne bei meiner Berechnung zu einem Ergebnis gekommen zu sein, stotterte ich vor mich hin. Und in jede meiner Lücken schien die Psychologin mit Wonne hineinzugrätschen. Ihr war es gelungen, mich vollkommen aus dem Konzept zu bringen. Diese Leistung war eines Astronauten nicht würdig. Während ich mich wie ein Fisch am Haken vor dem Tribunal wand, hämmerte es immer lauter in meinem Kopf: »Du hast es vermasselt, Matthias! Rien ne va plus. Das war’s.«

Zurück im Saarland, plagten mich die Gedanken an mein Versagen. In schlaflosen Nächten stellte ich mir wieder und wieder die Frage, wie ich die schwache Leistung gutmachen konnte. Nach langem inneren Kampf um das Für und Wider fasste ich den Entschluss, die Prüfer im EAC zu kontaktieren – am liebsten per Anruf, aber ich hatte keine Telefonnummer. Also erläuterte ich in einer E-Mail meine verkorksten Antworten, ohne dass es zu sehr nach Rechtfertigung klang. Ich entschuldigte mich nicht für mein Gestammel während des Gesprächs, sondern lieferte lediglich die noch ausstehende Angabe zu meiner »Zeit je Kilometer« nach. Zusätzlich fügte ich eine Urkunde bei, die ich nach der Teilnahme an einem Halbmarathon erhalten hatte – inklusive der Zeit, die ich für die 21 Kilometer lange Strecke benötigte. Ich wollte den Juroren beweisen, dass ich mein Verhalten reflektiere und zu meinen Fehlern stehe. Das mag sehr nach Musterschüler klingen, ist aber eine essenzielle Eigenschaft eines Astronauten, wie ich im Lauf meiner Raumfahrtkarriere noch lernte.

Nachdem ich das erledigt hatte, atmete ich befreit durch. Die Sorge, dass mein Traum platzen könnte, wühlte zwar weiterhin in mir, aber die Selbstvorwürfe waren verschwunden. Ich hatte alles mir Mögliche getan, um im Rennen zu bleiben, und versuchte mich gezielt auf das vorzubereiten, was noch kommen mochte. Mein bester Kumpel Dirk war mir dabei eine große Hilfe. Er ernannte sich zu meinem persönlichen Coach. »Wer in den Weltraum fliegen will, muss fit sein«, betonte er stets mit breitem Grinsen im Gesicht. Sein Job als Krankenpfleger hatte zur Folge, dass wir zu ganz unterschiedlichen Zeiten trainierten. Unter freiem Himmel arbeiteten wir sowohl an meiner Kraft als auch an meiner Ausdauer. Mein Freund teilte seine neuesten sportmedizinischen Erkenntnisse mit mir und setzte einen speziellen Ernährungsplan für mich auf. Auch wenn ich nie mit ihm gleichziehen konnte, waren meine sportlichen Fortschritte unbestreitbar. Im Dezember 2008 wurde unser Erfolgskurs allerdings jäh unterbrochen. Dirk erzählte mir, dass er motorische Ausfälle habe, weshalb er Anfang Januar ins Krankenhaus gehe, um das abklären zu lassen.

Wir packten somit gleichzeitig unsere Koffer für das Ungewisse, das vor uns lag. Dirk für die Klinik, ich für die vierte Runde des Auswahlverfahrens. Das Prüferteam hatte mich trotz meines Fauxpas unter die besten 45 Bewerber gewählt! Als mich die Nachricht erreichte, hätte ich am liebsten die ganze Welt umarmt – wäre da nicht die Angst gewesen, dass Dirk ernsthaft krank sein könnte. Sie begleitete mich auch während des Aufenthalts in der südfranzösischen Stadt Toulouse, wo sich die noch übrigen Astronautenanwärter etlichen medizinischen Untersuchungen unterziehen sollten.

Fachärzte checkten uns komplett durch. Wir machten Lungenfunktionstests, sowohl mit als auch ohne Belastung. Kopf, Brust und Bauch wurden durchleuchtet und durchschallt, Herz und Herzkranzgefäße ebenso. Wir mussten Urin-, Speichel-, Stuhl- und Haarproben abgeben, beim HNO- und beim Augenarzt gefühlt sämtliche Tests über uns ergehen lassen, die je für diese Bereiche entwickelt wurden. Die Mediziner analysierten insbesondere unsere Augen ausgiebig: Innendruck, Gesichtsfeld, Sehstärke, Farb- und räumliches Sehen; Sehnerv, Netzhaut und Hornhaut wurden auf Veränderungen untersucht. Zwischendurch traf ich auf die ESA-Ärztin Brigitte Godard, die meine exakten Körpermaße erfasste. Die zierliche Frau, die später meine Flugmedizinerin werden sollte, war mir sofort sympathisch. Sie hatte ihren Blick nicht nur auf die klassische Medizin gerichtet, sondern war auch offen für alternative Behandlungsmethoden und strahlte zudem eine besondere Wärme und Fürsorglichkeit aus.

An einem Morgen fuhren wir zu viert zur Darmspiegelung. Wir nahmen diese unangenehme Prozedur mit viel Humor und witzelten noch lange über den Mediziner, der seine investigative Arbeit in unseren Eingeweiden sichtlich genoss. Auch wenn es schwer vorstellbar ist: Trotz des Untersuchungsmarathons hatten wir jede Menge Spaß. Besonders mit Alexander Gerst, einem ambitionierten Geophysiker, war ich auf einer Wellenlänge. Als Wissenschaftler unter all den Jetpiloten mussten wir beide schließlich zusammenhalten.

Obwohl der Dreikönigstag bereits vorbei war, schenkten uns die Mitarbeiter des Instituts für Raumfahrtmedizin MEDES eine traditionelle Galette des Rois. Statt einer Glücksbohne hatten sie dem Anlass entsprechend eine kleine Astronautenfigur eingebacken. Alex war der freudige Gewinner, der den Glücksbringer in seinem Tortenstück fand. Hätten wir in dem Moment ahnen sollen, dass er es sein würde, der als dritter Deutscher zur ISS aufbricht? Vielleicht. Doch an jenem Abend nahmen wir den Vorboten des Schicksals nicht sonderlich ernst. Alex und ich waren ohnehin überzeugt, dass wir es beide ins Astronautenkorps schaffen würden. Die Bundesrepublik war schließlich stärkster Beitragszahler der ESA und die deutschen Astronauten der derzeitigen Generation nahe am Rentenalter. Zwei neue deutsche Raumfahrer waren unserer Ansicht nach eine logische Konsequenz.

Nach fünf Tagen verließ ich Frankreich mit einem positiven Bauchgefühl. Und tatsächlich durfte ich im Februar mit 21 weiteren Kandidaten in Runde fünf einziehen. Das bedeutete nicht nur, dass ich es in den Endspurt geschafft hatte, sondern vor allem, dass ich kerngesund war. Ganz im Gegensatz zu Dirk! In seinem Kopf wucherte ein bösartiger Tumor. Zusehen zu müssen, wie sich mein bester Freund von einem bärenstarken und superfitten Amateursportler in einen Pflegefall verwandelte, belastete mich enorm. Vor allem aber war ich wütend. Es war nicht fair, dass sich unsere Lebenswege so unterschiedlich entwickelten. Ich stand kurz davor, meinen größten Traum zu verwirklichen, für mich ging es mit dem Fahrstuhl stetig nach oben, immer höher der Sonne entgegen. Gleichzeitig rotierte für Dirk die Abwärtsspirale schneller und schneller.

Während mein Freund mit einer schier übermenschlichen Willenskraft und via Chemotherapie und Bestrahlung um sein Leben kämpfte, packte ich erneut den Koffer. In den Niederlanden, im Europäischen Weltraumforschungs- und Technologiezentrum ESTEC in der Stadt Noordwijk, sollten die verbliebenen Kandidaten um die begehrten Stellen buhlen. Mit zwei von ihnen – Estelle und David – hatte ich mich nach dem Eignungstest der zweiten Runde in Köln angefreundet. Wir waren nicht nur beim Lösen des Pirateninselproblems ein gutes Team, sondern verstanden uns auch auf privater Ebene. Ich freute mich sehr darauf, die beiden Franzosen wiederzutreffen. Außerdem hoffte ich, endlich auch Samantha Cristoforetti persönlich kennenzulernen. Bis dato hatte ich mit der Kampfpilotin immer nur gemailt und hypothetische Gespräche über den Ausgang dieses aufwendigen Auswahlverfahrens geführt. Im Nachhinein betrachtet ist es ein außergewöhnlicher Zufall, dass von all den Bewerbern ausgerechnet die Frau zu einer Vertrauten wurde, mit der ich 13 Jahre später ein paar gemeinsame Tage auf der ISS verbringen würde.

Im ESTEC stand uns ein mehr oder weniger klassisches Jobinterview bevor, bei dem wir eine zehnköpfige Jury von uns überzeugen mussten. Simonetta Di Pippo, Direktorin des Bereichs Raumfahrt bei der ESA, und Michel Tognini, Leiter des Europäischen Astronautenzentrums, wollten unter anderem wissen, welche Weltraummission mir am meisten in Erinnerung geblieben sei und wer beziehungsweise was mich aus der Ruhe bringen könne. Auf letztere Frage antwortete ich spontan und mit vollster Überzeugung: »Meine Freundin!« Die Ehrlichkeit und Authentizität in meiner Stimme brachte die Experten zum Lachen. Das war mein Positivmoment! Trotzdem zweifelte ich, ob ich die Juroren im Gesamtbild überzeugen konnte, denn im Vergleich zu den anderen Bewerbern war ich nicht sonderlich gut darin, mich zu verkaufen. Michel Tognini, der selbst zweimal im All gewesen war, erkannte diese Schwäche und bohrte mehrfach nach: »Matthias, Sie überzeugen mich nicht! Ihrer Begründung, Astronaut zu werden, fehlt es komplett an Leidenschaft! Erklären Sie mir bitte noch einmal, warum Sie Raumfahrer werden wollen!« Aber wie nur sollte ich als kühler Deutscher den heißblütigen Franzosen in Sachen Leidenschaft beeindrucken?

Dieses Problem begleitete mich auch Anfang Mai bei der sechsten und letzten Runde des Verfahrens in der ESA-Hauptzentrale in Paris. Zum wiederholten Mal mussten wir – es waren nur noch zehn Kandidaten übrig – der dreiköpfigen Jury, bestehend aus ESA-Generaldirektor Jean-Jacques Dordain, dem ESA-Direktor für Ressourcen Ludwig Kronthaler und wiederum Simonetta Di Pippo, ausführlich darlegen, warum wir Astronauten werden wollten. Einer meiner Mitkonkurrenten präsentierte der Kommission empathisch eine meisterhaft durchdachte Geschichte, wie ich im Nachhinein erfuhr. Er berichtete von seinem Opa, der Amateurfunker war und zusammen mit ihm seinen Vornamen zum Mond geschickt hatte. Wenig später kam das Funkecho vom Erdtrabanten zurück: Der Mond rief seinen Namen! Da habe er gewusst, es sei seine Bestimmung, die Weiten des Universums zu erkunden.

Mit solch einer emotionalen Story konnte ich nicht mithalten. Ich erzählte den Jurymitgliedern lediglich, es sei ein lang gehegter Traum gewesen, irgendwann einmal die Erde zu verlassen. Während meines Kurzvortrags stand ihnen die Langeweile sprichwörtlich in die Gesichter geschrieben. Jean-Jacques Dordain starrte frustriert auf seine Brille, die er auf dem Tisch hin und her schob, Simonetta Di Pippo kritzelte irgendetwas auf ein Stück Papier, vermutlich, um meinen um Gnade flehenden Blick zu meiden, und Ludwig Kronthaler schien merkwürdig abwesend – so zumindest mein Eindruck. Ich hoffte sehr, dass ich mich täuschte. Mit blutendem Herz ob der schwachen Finalleistung schlich ich von dannen und überließ dem energiegeladenen Tim Peake aus England meinen Kandidatensessel. Lustigerweise berichtete er mir Jahre später, dass auch er Dordains Marotte mit der Brille beobachtet hatte.

In den nächsten Tagen fiel es mir schwer, in mein alltägliches Leben zurückzukehren. Ich war nervös, unkonzentriert und launisch. Fast jeden Abend telefonierte oder textete ich mit Estelle, David, Samantha und Alex. Wir hatten uns versprochen, uns gegenseitig auf dem Laufenden zu halten, doch es gab keine Neuigkeiten. Die ESA hielt sich bedeckt. Sie hatte nicht einmal bekannt gegeben, wie viele Plätze im Astronautenkorps definitiv frei waren, sondern nur von »vier bis sechs« gesprochen. Sicher wussten wir lediglich, dass am Mittwoch, dem 20. Mai 2009, die auserkorenen Nachwuchsraumfahrer bei einer Pressekonferenz in Paris der Öffentlichkeit vorgestellt werden sollten. Ich fieberte diesem Termin entgegen und hatte mir für den Fall der Fälle sogar einen neuen Anzug besorgt. Dass ich auf der Zielgeraden noch eine Absage erteilt bekommen könnte, blendete ich komplett aus.

Zwei Tage vor Ablauf der Frist hatten wir immer noch nichts von der ESA gehört. »Es kann doch nicht sein, dass sich niemand meldet. Irgendetwas stimmt da nicht«, mutmaßte Alex am Telefon. »Wir werden das beide schaffen«, entgegnete ich zuversichtlich. Fast zeitgleich klingelte sein Handy. Hastig beendete er unser Gespräch. In den nächsten Stunden reagierte Alex nicht auf meine Nachrichten. Auch Samantha ließ keinen Ton von sich hören. Da spürte ich die bittere Erkenntnis in mir aufkeimen: Die beiden hatten eine Zusage erhalten – ich hingegen nicht. Fast flehentlich hoffte ich auf ein Wunder, auf dass der ersehnte Anruf doch noch eingehen würde. Mein Traum durfte so nah am Ziel unmöglich enden! Die euphorische Zuversicht der vergangenen Tage, Wochen und Monate wich zunehmend ungläubigem Erwachen. Enttäuschung, Wut, Trauer, Leere und Hoffnungslosigkeit machten sich breit. Keine 36 Stunden später platzte mein Traum endgültig.

Ich war bei der Arbeit, als eine Pariser Nummer auf meinem Handydisplay erschien. Kurz und sehr professionell formuliert teilte mir die Personalchefin der ESA die offizielle Absage mit und bot mir ein Gespräch mit Jean-Jacques Dordain an – aber erst in ein paar Wochen, wenn sich die Enttäuschung gelegt habe. Alles zog sich in mir zusammen. Ich sackte zu Boden. Fassungslos. Schockiert. Unendlich traurig. Ein schwarzes Loch klaffte vor mir, wo ich noch vor zwei Tagen einen Triumphbogen erwartet hatte. Halb in Trance und mit Tränen in den Augen tippte ich eine Nachricht an meine Familie und Freunde, die alle mit mir auf diesen Moment hingefiebert hatten. Sie bestand lediglich aus drei Wörtern: »Ich bleibe erdverbunden.« Dirk war der Erste, der antwortete: »Tut mir voll leid. Wenn du eine starke Schulter zum Anlehnen brauchst, komm vorbei. Ich bin für dich da.« Nur zwei Wochen später, am 3. Juni 2009, ist er gestorben.

Der geplatzte Traum und der Verlust meines besten Kumpels waren sicherlich die größten emotionalen Tiefschläge meines Lebens. Gleichzeitig relativierte Dirks Tod alles. Die Tatsache, dass dieser wundervolle und liebe Mensch viel zu früh gehen musste, führte mir vor Augen, wie komplett unbedeutend mein verlorener Kampf doch war. Bis zum bitteren Ende hatte Dirk sein unfaires Schicksal mit einer schier unfassbaren Würde und immerwährendem Optimismus hingenommen. Bei dem Gedanken daran schämte ich mich für mein erbärmliches Gejammer. In den vergangenen Monaten hatte ich so viele tolle Erfahrungen sammeln dürfen. Mehrere Fachärzte hatten mir bestätigt, dass ich kerngesund war. Außerdem stand noch immer das Telefonat mit dem ESA-Generaldirektor aus.

Emotional wieder auf festem Boden angekommen, beschloss ich, nach vorn zu blicken und meine berufliche Zukunft in die Hände zu nehmen. Ich war neugierig, was der Generaldirektor zu sagen hatte, also nahm ich all meinen Mut zusammen und kontaktierte ihn. Seine Worte brannten sich in mein Gedächtnis ein: »Matthias, Sie haben sich sehr gut geschlagen. Aber leider konnten wir nur sechs neue Astronauten einstellen. Ich habe nun eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie. Die schlechte ist: Sie werden kein Astronaut. Die gute ist: Sie können immer noch für die ESA arbeiten und vielleicht sogar mal Generaldirektor werden.« Der Mann wusste, wovon er sprach und sicherlich auch, wie ich mich fühlte. Genau wie ich war er mal ein Astronautenkandidat gewesen, der trotz erfolgreicher Auswahl nie hatte fliegen dürfen.

Ich war geschmeichelt. Der Generaldirektor wollte mich für sein Team gewinnen – als einen Mitarbeiter, der die Raumfahrt voranbringt. Ein konkretes Stellenangebot unterbreitete mir Dordain zwar nicht, aber er versprach, ein gutes Wort für mich einzulegen, wenn ich mich bei der ESA bewerben würde. Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr manifestierte sich meine Entscheidung. Seit vier Jahren war ich in der Medizinforschung tätig und mittlerweile überreif für einen Wechsel. Ich wollte mich beruflich weiterentwickeln und brauchte zudem eine Ortsveränderung. Einen echten Neuanfang. Im Gegensatz zu den drei anderen gescheiterten Finalkandidaten – zu denen auch Estelle und David gehörten – nahm ich daher die mir gebotene Chance an und bewarb mich Anfang 2010 auf eine Stelle im Kontrollzentrum für das Columbus-Modul. Die Zusage erfolgte prompt.

Wenige Monate später zog ich in die Rheinmetropole Köln. Ich war mir nicht sicher, ob ich es aushalten würde, jeden Tag mit den Leuten zusammenzuarbeiten, die mir meinen Platz im Raumschiff weggeschnappt hatten. Doch die vielen spannenden Aufgaben, die mich in meiner neuen Heimat erwarteten, lenkten mich von diesem qualvollen Gedanken ab. Im Kontrollzentrum des EAC arbeitete ich zunächst als Astronauten-Support-Ingenieur und Eurocom. Mein Job war es, den Kontakt zu den europäischen Bewohnern der Raumstation zu halten, sie bei Fragen zu Experimenten oder anderen Arbeiten auf der ISS zu unterstützen. In dieser Funktion sollte ich 2014 auch »Blue Dot« begleiten, die erste Mission meines ehemaligen Mitkandidaten Alex. Im Lauf der Zeit übernahm ich noch weitere Projekte. Ich initiierte und leitete beispielsweise die Konzeption für den Aufbau der LUNA-Anlage, in der Himmelsstürmer irgendwann für Missionen zum Mond üben sollen. Außerdem war ich dafür zuständig, Kooperationen mit internationalen Partnern aufzubauen. Insbesondere setzte ich mich für die Zusammenarbeit mit China ein. Das Ziel: eines Tages europäische Astronauten und chinesische Taikonauten gemeinsam ins Universum fliegen zu sehen. Mit der Tatsache, dass ich selbst niemals in einer Raumkapsel Platz nehmen würde, hatte ich mich erstaunlich schnell abgefunden. Teilweise durfte ich mit Astronauten trainieren, um deren Arbeitsabläufe besser kennenzulernen. Diese Einheiten waren für mich wie ein Geschenk. So konnte ich zumindest einen Schnipsel meines Wunschberufs erleben.

Ende 2014 fiel eine Vorentscheidung, die mein Leben auf den Kopf stellen sollte: Die Bündnispartner beschlossen, die Betriebsdauer der ISS über das Jahr 2015 hinaus zu verlängern. Damit waren nicht nur unsere Arbeitsplätze im EAC vorerst gesichert, es würde womöglich auch neue Tickets für Flüge zum Außenposten der Menschheit geben. Ehe erste Spekulationen die Runde machen konnten, kam mein Chef, EAC-Leiter Frank De Winne, auf mich zu. Er überrumpelte mich mit einer simplen und zugleich ungemein bedeutenden Frage: »Wir wollen einen Astronauten nachnominieren. Aber alles zunächst ohne jegliche Garantie, dass es klappt. Hast du noch Interesse?« Ich musste keine Sekunde überlegen. »Ja, klar«, stammelte ich ungläubig. Dies war ein kleiner Schritt für die ESA, aber ein Riesensprung für mich! Schlagartig kehrte das Kribbeln zurück, das ich während des Auswahlverfahrens gespürt hatte, und die Sehnsucht, an der Spitze einer Rakete in den Weltraum zu reiten, war wieder da. Ich versuchte, das Frohlocken zu unterdrücken. Ich musste es unterdrücken, da noch lange nichts entschieden war und ich mir eine erneute Achterbahn der Gefühle ersparen wollte.

In den folgenden Monaten durfte ich bereits am Höhlentraining CAVES teilnehmen, das Raumfahrer auf das Leben in der ISS vorbereitet – offiziell allerdings als ESA-Mitarbeiter, denn meiner Nachnominierung als Astronautenkandidat mussten erst noch verschiedene ESA-Gremien zustimmen. Außerdem durchlief ich wieder sämtliche medizinischen Untersuchungen. Bei alledem tappte ich im Dunkeln, ob es dieses Mal ein Happy End geben würde. Diese Ungewissheit quälte mich. Darüber reden wollte ich nur mit meiner Lebensgefährtin und meinen engsten Freunden. Zwar war meine Nachnominierung EAC-intern kein Geheimnis, aber ich versuchte das Thema bei meinen Kollegen zu vermeiden. Zu groß war meine Sorge, etwas Falsches zu sagen und dadurch meine Chance auf einen Raumflug zu gefährden. Stattdessen fokussierte ich mich umso mehr auf meinen Job. Ich hatte das Gefühl, unter besonderer Beobachtung zu stehen, und konnte mir keine Fehler erlauben.

Am 12. Juni 2015 lud mich der ESA-Generaldirektor endlich für ein erneutes Vorstellungsgespräch ein. Als ich das Büro im Satellitenkontrollzentrum ESOC in Darmstadt betrat, hatte es sich Jean-Jacques Dordain bereits auf dem Schreibtischstuhl bequem gemacht. Der Mann, der mir vor sechs Jahren eine schmerzvolle Absage erteilt hatte, sollte nun erneut über mein Schicksal entscheiden. Wieder stellte er mir die Frage, warum ich Astronaut werden möchte. Dieses Mal war ich jedoch besser vorbereitet. An Lebenserfahrung gereift, hatte ich mir vorgenommen, ihn ehrlich und freimütig ob meiner Motivation zu überzeugen. Ich erzählte Dordain zunächst, dass ich damals, als ich von dem Auswahlverfahren hörte, sofort begeistert vom Astronautenberuf war, weil er meine größten Interessen miteinander kombiniert. »In den vergangenen Jahren als ESA-Mitarbeiter ist mir aber auch klar geworden, dass es im All nicht nur um komplexe Wissenschaft, internationale Teamarbeit und neueste Technologien geht. Raumfahrer übernehmen auch eine bedeutsame Botschafterrolle. Sie sind diejenigen, die Kinder und Jugendliche für den Weltraum begeistern können. Das ist mir sehr wichtig«, betonte ich inbrünstig. Ich verabschiedete mich mit einem festen Händedruck und blickte dem Generaldirektor dabei tief in die Augen. Sie verrieten mir, dass er mit diesem Gespräch genauso zufrieden war wie ich.

Und tatsächlich: Einige Tage später kam der sehnlichst erhoffte Anruf. Jean-Jacques Dordain sprach nur wenige Sätze, die ich aber niemals vergessen werde: »Matthias, herzlichen Glückwunsch! Sie dürfen mit der Grundausbildung beginnen, nächsten Monat startet Ihr Russisch-Sprachkurs. Die Mitgliedsländer der ESA müssen aber noch final zustimmen, bevor wir Sie offiziell als Astronaut verkünden können. Behalten Sie die frohe Botschaft also bitte noch für sich.«

Ich war wie elektrisiert. Mein größter Traum würde doch noch in Erfüllung gehen! Ich hatte es ins Astronautenkorps geschafft – wenn auch mit angezogener Handbremse. In einen glühenden Rausch versetzt, musste ich erst einmal innehalten und mir klarmachen, dass sich mein Leben von nun an komplett verändern würde.

Bildteil 1

Sobald die Wiesen mit ausreichend Schnee bedeckt waren, ging es für mich mit dem Schlitten ab auf die Piste. Mein liebster Rodelplatz: ein kleiner Hügel ganz in der Nähe meines Elternhauses. © Privatarchiv Matthias Maurer

Je schneller, desto besser: Als kleiner Junge habe ich die Nachbarschaft besonders gerne auf meinem Kettcar unsicher gemacht. Hier bei meinen ersten Fahrversuchen in meinem Heimatort Gronig im Saarland. © Privatarchiv Matthias Maurer

Schon als Kind träumte ich davon, Pilot zu werden. Diesen Wunsch erfüllte ich mir schließlich während des Studiums. Bei einem Auslandssemester an der Universität in Leeds, England, durfte ich zum ersten Mal selbst den Steuerknüppel in die Hand nehmen. Die Segelfluglizenz erwarb ich dann später im Saarland. © Privatarchiv Matthias Maurer

Am 15. Dezember 2015 erlebe ich meinen ersten Raketenstart. Die Sojus schießt wie ein Lichtblitz vor meinen Augen empor. Obwohl ich einen Kilometer von der Startrampe entfernt stehe, spüre ich die Kraft der Maschine im ganzen Körper. Sie benötigt gerade einmal 180 Sekunden, um die Raumfahrer, unter ihnen mein ESA-Astronautenkollege Tim Peake, in den Weltraum zu befördern. © ESA

Beim Rollout beobachte ich, wie die Sojus-Rakete in Schrittgeschwindigkeit auf einem Schwerlastzug zur Abschussrampe gefahren wird. Es ist skurril, die Hightech-Maschine auf den alten, klapprigen Waggons liegen zu sehen. Früher war es Tradition, Münzen auf die Gleise zu legen und von dem Raketenzug plattwalzen zu lassen. Sie sollten als Talisman dienen. Heute ist das verboten. Ich habe aber trotzdem von einem russischen Kollegen eine solche Münze erhalten. © Privatarchiv Matthias Maurer

Zwei Kapseln sind an der Internationalen Raumstation ISS angedockt: links die Sojus, die drei Kosmonauten ins All befördern kann, rechts eine Progress, die unter anderem Verpflegung und Experimenten-Equipment zum Außenposten transportiert. © ESA/NASA

Traumhafte Unterwelt: Beim CAVES-Training auf der italienischen Insel Sardinien erkunde ich mit einem Team aus Astronauten und Wissenschaftlern die Sa-Grutta-Höhle. In dieser Kammer hängen hunderte Tropfsteine wie Tentakel von der Decke, weshalb unsere Vorgänger sie auf den Namen Jellyfish, Qualle, getauft haben. © ESA

Die Wände in der Unterwelt sind teils so steil, dass wir uns mehrere Meter abseilen müssen. Wie bei Außenbordeinsätzen im Weltraum gilt es dabei, ein detailliertes Protokoll zu befolgen. Ob unter oder über der Erde – die Sicherheit des Teams steht immer an erster Stelle. © ESA

Lagerfeuer-Romantik? Nicht ganz. Jeden Abend versammeln wir uns um eine Lampe, lassen den Tag Revue passieren und besprechen unsere nächsten Erkundungstouren. Neben uns Astronauten sind immer auch unsere Trainer mit dabei, unter ihnen ESA-Ausbilderin Loredana Bessone und Höhlenexperte Francesco Sauro. © ESA

Die unterirdischen Seen, die wir auf unseren Streifzügen durchqueren, sind eiskalt. Doch mit dicken Neoprenanzügen bekleidet, wagen Luca Parmitano (hinten), Sergey Kud-Sverchkov (vorne von links), Alexander Misurkin, ich und Scott Tingle uns ins glasklare Wasser. © ESA

Wie James Bond darf ich mich 2017 beim Überlebenstraining im Gelben Meer an einem Hubschrauber hochseilen. Bei der Übung lernen wir, uns nach einer Notwasserung in Sicherheit zu bringen. © ESA

Im Theorieunterricht in der Hafenstadt Yantai erläutert uns ein Ausbilder, wie wir die Notfallausrüstung richtig einsetzen. Er spricht dabei Chinesisch, weshalb meine ESA-Astronautenkollegin Samantha Cristoforetti (links) und ich besonders aufmerksam zuhören müssen. Bei dem Training lernen wir auch die Raumfahrtikone Yang Liwei kennen, treffen auf Liu Boming und Nie Haisheng, die 2021 auf der chinesischen Station leben, sowie auf Wang Yaping und Ye Guangfu, die zur gleichen Zeit im Weltraum sind wie ich. © ESA

Bei NEEMO 21 lebe ich (oben rechts) für 16 Tage auf dem Meeresboden vor der Küste Floridas, USA. Zu meinem Team gehören (von links): Noel Du Toit (Wissenschaftler), Dawn Kernagis (Wissenschaftlerin), Reid Wiseman (NASA-Astronaut und Kommandant der für 2024 geplanten Artemis-2-Mission zum Mond), Megan McArthur (NASA-Astronautin der Crew-2) und Marc O’ Griofa (Wissenschaftler). Durch das Bullauge der Unterwasserstation zu sehen sind unsere beiden Sicherheitstaucher Hank Stark (links) und Sean Moore. © NASA

Auf der Plattform vor der Aquarius testen Reid Wiseman (rechts) und ich ein Experiment zur optischen Kommunikation. Um eine zuverlässige Datenverbindung zu generieren, müssen wir Lampen, Sender und Empfänger installieren. © NASA

Wasser statt Vakuum: Im Sternenstädtchen, Russland, bereite ich mich auf meinen geplanten – letztlich jedoch leider abgesagten – Außeneinsatz im Orlan-Raumanzug vor. In der Mitte des zylinderförmigen Pools arbeite ich an nachgebauten russischen ISS-Modulen. Die Sicherheitstaucher lassen mich dabei keine Sekunde aus den Augen. © ESA/ROSKOSMOS

Ganz bequem kann ich durch eine Tür in den russischen Orlan-Raumanzug einsteigen. Zuvor habe ich mich bereits in den blauen Kühloverall gezwängt, der verhindert, dass ich in dem hermetisch abgedichteten Mini-Raumschiff überhitze. © ESA/ROSKOSMOS

Beim EVA-Training in Houston, Texas, USA, tragen wir für das Unterwassertraining modifizierte amerikanische EMU-Raumanzüge. Diese sind so schwer, dass wir sie nicht alleine anziehen und ins Becken steigen können. Sogenannte Suit-Techs helfen uns daher in die Monturen. Anschließend werden wir mittels einer Plattform in den NBL-Pool gehievt. © NASA/ESA

Tauchgang im größten Hallenbad der Welt: Der NBL-Pool fasst rund 23 Millionen Liter Wasser. Auf dem Beckenboden ist fast die komplette ISS in Originalgröße nachgebaut. Es gibt keinen Ort auf der Erde, an dem ich mich dem Weltraum näher fühle. © NASA/ESA

Hoch hinaus geht es bei der Kletterausbildung auf der italienischen Insel Sardinien. Die Trainer bereiten uns damit auf die Expedition in der Sa-Grutta-Höhle vor, bei der wir immer wieder steile Passagen überwinden müssen. © ESA

Die karge Vulkanlandschaft auf der Insel Lanzarote, Spanien, ähnelt der Mondoberfläche wie kaum eine andere Region auf der Erde. Hier bereiten wir uns auf künftige Raumfahrtmissionen vor, bei denen wir auf unserem kosmischen Nachbarn landen wollen. © ESA

Wir üben Mond: Beim Geologietraining PANGAEA teste ich gemeinsam mit meinem Ausbilder Hervé Stevenin (links) alte und neue Werkzeuge für die Erkundung des Erdtrabanten. Um die Mission möglichst realistisch zu gestalten, tragen wir improvisierte Raumanzüge – inklusive Helm und klobigen Handschuhen. © ESA

Fliegendes Klassenzimmer: Die Gewinnerschüler der portugiesischen Kampagne »Astronaut für einen Tag« dürfen bei einem Parabelflug das unbeschreibliche Gefühl des Schwebens erfahren. Doch nicht nur die Kinder, auch mein französischer Astronautenkollege Jean-François Clervoy und ich haben jede Menge Spaß. © Novespace/Portuguese Space Agency

Was passiert mit einem Schaumkuss im Vakuum? Elton (links) und ich finden es bei der ZDF-Kindersendung »1, 2 oder 3« heraus. Für mich geht ein Kindheitstraum in Erfüllung, als ich dort am 29. Oktober 2018 zu Gast sein und das Experiment vorführen darf. © ZDF/Ralf Wilschewski

Begleitet von Feuerfontänen starte ich im Januar 2020 beim World Club Dome in Düsseldorf meine Ausbildung zum Weltraum-Diskjockey. Unter dem Pseudonym DJ Explornaut stehe ich gemeinsam mit DJ Le Shuuk (links) am Mischpult. Vor uns: etwa 30 000 Musikfans! © Big City Beats

Im strömenden Regen posieren Stargeiger David Garrett (links), »Big City Beats«-Gründer Bernd Breiter (rechts) und ich vor der Kamera. Auf dem Dach eines Hochhauses in Frankfurt drehen wir einen Werbefilm für die Space Club Kitchen. Unser Ziel: die Menschen durch Musik und Essen miteinander zu vereinen und dabei auch über die Raumfahrt zu sprechen. © BigCityBeats

Der Airbus A310 ist in Bordeaux, Frankreich, stationiert. Regelmäßig hebt er ab, um Wissenschaftler in die Schwerelosigkeit zu befördern. Dort können sie ihre Experimente testen, ohne dass die Schwerkraft die Ergebnisse verfälscht. Wir Astronauten nutzen das Parabelflugzeug der Firma Novespace, um ein Gefühl für das Arbeiten im Weltraum zu bekommen. © ESA/Novespace

Wissenschaft im Forschungsflieger: Bei der Parabelflugkampagne des DLR schauen mein Astronautenkollege Thomas Pesquet (dunkelblauer Anzug) und ich den Forschern schwebend über die Schultern. Sie haben viele spannende Versuche, unter anderem aus den Bereichen Medizin, Physik und Materialwissenschaften, mit an Bord gebracht. © Novespace

Auf einem Spezialanhänger rollt unsere Falcon-9-Rakete aus dem Hangar des Weltraumbahnhofs in Cape Canaveral, Florida, und wird zu der Abschussrampe transportiert. Als ich sie so daliegen sehe, wird mir bewusst: Jetzt geht es wirklich bald los! Die restliche Zeit bis zum Start verbringen wir mit Presseterminen, Fotoshootings und ausgedehnten Strandspaziergängen. © NASA

Beim Walkout ist nichts dem Zufall überlassen: Eine Choreographie schreibt vor, in welcher Reihenfolge wir das Neil Armstrong Operations and Checkout Building verlassen sollen. Raja Chari und Tom Marshburn gehen vorne, Kayla Barron und ich hinten. In dieser Formation dürfen wir noch ein letztes Mal unseren Familien zuwinken, ehe wir zur Startrampe chauffiert werden. © NASA

Die Falcon-9-Rakete hüllt die Startrampe in eine dicke Rauchwolke und zischt dann wie ein Blitz gen Himmel. Sie beschleunigt von 0 auf knapp 28 000 Kilometer pro Stunde in nicht einmal zehn Minuten. Das ist definitiv der schnellste Ritt meines Lebens! © NASA

Galaktische Erlebnisse auf der Erde

Eine Reise ins Innere unseres Planeten

September 2014, Sardinien, Italien

In einer sternenklaren Nacht wirkt das Universum ruhig und friedlich. Doch der Schein trügt: Vakuum, kosmische Strahlung, gigantische Temperaturschwankungen und gelegentlich Brocken von Weltraumschrott – das sind die Bedingungen im All. Mitten in dieser feindlichen Umgebung, in circa 400 Kilometer Höhe über der Erde, schwebt die Internationale Raumstation. Dieses Wunderwerk der Technik schützt seine Bewohner zwar vor den äußeren Einflüssen, aber das Leben innerhalb der ISS ist nicht weniger extrem als die Umwelt. Die Besatzung ist über Monate hinweg eingeschlossen, lebt auf engstem Raum zusammen, muss schwierige Experimente in der Schwerelosigkeit erledigen und jederzeit mit Komplikationen rechnen. Isoliert von Freunden und Familie, erfährt man kaum Abwechslung. Viel Arbeit und wenig Schlaf schlagen zusätzlich auf die Stimmung.

Ob wir diesen harten Anforderungen gewachsen sind, soll sich in einem Höhlensystem auf Sardinien zeigen. »Das Leben in dieser dunklen, kalten und feuchten unterirdischen Welt stellt eine komplett neue Situation dar, die interessante psychologische und logistische Herausforderungen birgt, welche ihr nur als Team meistern könnt«, erläuterte uns Projektleiterin Loredana Bessone zu Beginn des zweiwöchigen CAVES-Programms. Die ersten fünf Tage haben Scott Tingle (NASA), Alexander Misurkin sowie Sergey Kud-Sverchkov (Roscosmos), Luca Parmitano (ESA) und ich schon gemeistert. Wir wohnten in einer Art Berghütte und erhielten einen Schnellkurs in Klettern, Kartografie, Fotodokumentation sowie Vermessungstechniken. Nun steht die eigentliche Mission bevor: Sieben Tage und sechs Nächte muss unsere Gruppe in der Sa-Grutta-Höhle im Gennargentu-Nationalpark mitten auf der Insel ausharren.

Während sich die Urlauber an den Stränden sonnen, steigen wir in die Tiefe des Karstgebiets, das durch die Verwitterung von Kalk- und Dolomitstein entstand. Es beherbergt ein gigantisches Höhlensystem, das kilometerweit ins Erdinnere ragt. »Die unterirdischen Gänge sind von der Außenwelt abgeschnitten«, warnte uns Loredana. Würden die Bewohner der ISS in Schwierigkeiten stecken, könnten sie schneller zu unserem Planeten zurückfliegen als die Höhlenforscher ans Tageslicht klettern. Unbekannte Bereiche des Höhlensystems zu erkunden, ist ein Ziel. Eventuell sogar den als sicher geltenden, bislang jedoch unentdeckten zweiten Ausgang zu finden, aber ein zusätzlicher Ansporn. In erster Linie soll uns die Expedition an unsere Grenzen bringen – denn der wahre Charakter eines Menschen zeigt sich erst außerhalb seiner Komfortzone.

Auszüge aus dem Logbuch einer Reise tief ins Innere unserer Erde.

 

TAG1, 12. September 2014: Der Lichtstrahl meiner Kopflampe verschwindet in der endlosen Finsternis. Von der neuen Welt, die mich umhüllt, kann ich kaum etwas erkennen. Begierig sauge ich die klamme Höhlenluft ein. Sie duftet nach nichts. Ich rieche nur mich selbst. Die Felsen, an denen ich mich entlangtaste, sind feucht und kalt. Von dem herrlichen Spätsommer ist hier unten rein gar nichts zu spüren.

Vorsichtig kraxeln wir tiefer in die Erde hinein. Die Wände sind teils so steil, dass wir uns mehrere Meter abseilen müssen. Entlang einiger Passagen sind Stahlseile gespannt, an denen wir uns sichern – immer mit zwei Karabinerhaken. Denn wie bei Außenbordeinsätzen im All steht auch bei Wanderungen in der Unterwelt die Sicherheit an erster Stelle. Wer sich ins Innere unseres Planeten vorwagt, muss diesen Trip präzise planen und sich zu hundert Prozent auf sein Team verlassen können. Darüber hinaus sollte man permanent konzentriert sein: Die Steine sind glitschig und scharfkantig. Ich muss höllisch aufpassen, um mich nicht daran zu verletzen.

Nach anderthalb Stunden haben wir uns 600 Meter vorgekämpft. Wir erreichen eine Stelle namens Witch Hat, Hexenhut, an der wir unser Nachtcamp aufbauen. Alle Geräusche wirken total verstärkt. Das Rascheln der Schlafsäcke schwillt zu einem knackenden Rauschen. Ein Räuspern klingt wie ein tosendes Donnerwetter. Nach einer Weile falle ich in einen flachen Schlaf, aus dem ich zwischendurch immer wieder aufwache.

 

TAG2, 13. September 2014: Seit vier Stunden marschieren wir in strammer Geschwindigkeit mal auf-, mal abwärts. Die ganze Zeit über halte ich meinen Blick aufmerksam auf den Boden gerichtet, um ja nicht zu stolpern oder auszurutschen. Ein verstauchter Knöchel wäre in dieser Umgebung fatal und würde unsere Expedition massiv beeinträchtigen. »Selbstfürsorge ist Teamfürsorge«, hat uns Loredana eingebläut.

Vor uns liegt ein lang gezogener, riesiger Raum, schätzungsweise größer als das Innere des Kölner Doms. In der Mitte erkenne ich die vagen Umrisse einer kleinen Schlucht, in der ein Bach plätschert. Daneben einen Hügel aus Sand und Schotter, aber auch aus glattem, rutschigem Kalkstein. Vereinzelt liegen Felsbrocken herum. »Willkommen im Basiscamp«, ruft einer der Ausbilder. 110 Meter Felsschicht hängen bedrückend schwer über uns und trennen uns von der Erdoberfläche.

Nach einer kurzen Erholungspause fangen wir an, die zahlreichen Kisten, die unsere fleißigen Helfer seit einigen Tagen für uns hierhergeschleppt haben, zu sortieren und auszuräumen. Küchenutensilien, Essensvorräte, Trinkwasser, Neoprenanzüge, ein Schlauchboot, Werkzeuge aller Art und Boxen mit Experiment-Ausrüstung. Fünf Astronauten und 15 Höhlenexperten benötigen so einiges an Expeditionsmaterial. Dafür durften wir umso weniger private Gegenstände mitnehmen. Drei Paar Socken, drei Unterhosen, ein Schlafanzug, eine Zahnbürste und ein paar Hygieneartikel müssen für die sieben Tage genügen.

Nachdem wir die Zelte aufgeschlagen haben, die uns vor dem permanent von der Decke tropfenden Wasser schützen, fehlt nur noch die Toilette. Genau genommen ist das Höhlen-WC eher ein Plumpsklo, leicht versteckt hinter einem Felsvorsprung aufgestellt. Unsere festen Hinterlassenschaften fallen in einen Beutel, den wir anschließend zuknoten und in einen gesonderten Behälter entsorgen. Unsere Helfer werden diesen zurück an die Erdoberfläche schleppen und dort hygienegerecht entsorgen. Das Flüssige lassen wir in einen Plastikkanister laufen. Ein Drittel unseres Urins kann über einen der kleinen Höhlenbäche abfließen, ohne dass das Ökosystem gestört wird. Die restliche Menge müssen unsere Sherpas ebenfalls hinaustragen. Es darf nichts in der Höhle zurückbleiben.

Als das Basiscamp aufgebaut ist, erkunden wir die nähere Umgebung und beginnen mit unserer wissenschaftlichen Arbeit. Wir müssen jeden Tag etwa fünf Experimente erledigen, geologische und mikrobiologische Proben sammeln sowie die Radon-Strahlung und CO2-Werte messen.

Zum Abendessen erhitzen wir Weltraumnahrung auf einem Campingkocher. Sie schmeckt nach diesem anstrengenden Tag besser als ein Vier-Sterne-Gericht. Mein Körper braucht sicher noch ein bisschen, um sich an die extremen Bedingungen anzupassen. Die Kombination aus 14 Grad Celsius Lufttemperatur und einer Luftfeuchtigkeit von fast 100 Prozent fühlt sich unangenehm an. Bei der kürzesten Pause beginne ich zu frieren, bei der kleinsten Bewegung zu schwitzen.

 

TAG3, 14. September 2014: Das Loch vor meinen Füßen ist so tief und schwarz, dass ich den Boden trotz meiner starken Kopflampe nicht sehen kann. Ein mulmiges Gefühl steigt in mir auf.

Geschäftig legen wir die Ausrüstung zurecht: mehrere Seile, Karabinerhaken, Schlingen und unsere Sicherungsgeräte. Wie bei Außeneinsätzen auf der ISS müssen wir auch jetzt einem Protokoll folgen. Konsequent arbeiten wir dieses Punkt für Punkt ab. Wir dürfen nicht schludern, jeder Fehler könnte uns in Schwierigkeiten bringen. Die Ausbilder halten sich im Hintergrund, kontrollieren aber mit Argusaugen jeden einzelnen Schritt.

»Okay, es kann losgehen«, sage ich angespannt zu Alexander, der gleich mein Leben in seinen Händen halten wird. Ich trete vorsichtig an den Abgrund heran, drehe dem Loch meinen Rücken zu, mache einen großen, mutigen Schritt nach hinten und baumele in einem freien Raum. Unter mir geht es 30 Meter in die unbekannte Tiefe. Nun muss ich mich blind auf Alexander verlassen, der mein Seil fixiert, während ich mich daran herablasse. Wir kennen uns erst seit ein paar Tagen. Doch in diesem Moment ist der Russe kein Fremder, sondern mein bester Freund. Astronauten müssen lernen, ihren Kollegen zu vertrauen. Während unserer Weltraummissionen treten häufiger Situationen auf, die wir allein nicht zu 100 Prozent kontrollieren können. Wir sind auf die Hilfe unseres Teams angewiesen.

Stunden später treten wir den beschwerlichen Rückzug zum Basiscamp an. Unterwegs müssen wir noch unsere Pflichtaufgaben erfüllen und mikrobiologische Proben sammeln. Mit einer Pipette sauge ich Wassertropfen auf, schabe mit einem Löffel kleine Partikel von den Wänden ab und fülle ein wenig Sand vom Boden in durchsichtige Plastiktütchen. Wir spüren sogar ein paar winzige Lebewesen auf. In den vergangenen Jahren haben die Astronauten hier unten sogar neue Arten entdeckt – beispielsweise einen Käfer und ein asselähnliches Tierchen.

 

TAG4, 15. September 2014: Wir landen in einer Kammer, die unsere Vorgänger auf den Namen Jellyfish, Qualle, getauft haben. Tausende Tropfsteine hängen wie Tentakel von der Decke. Die Felsformationen sehen aus wie Fabelwesen. Eine zauberhafte Märchenwelt unter Tage. Im Ball Room stoßen wir auf gigantische, runde Steine in annähernd perfekter sphärischer Präzision. Man könnte glatt meinen, ein Riese hätte hier seine Kanonenkugeln verloren. »Das kann gar kein natürlicher Prozess gewesen sein«, denke ich laut vor mich hin. Doch unser Trainer Francesco Sauro, der nicht nur Geologe, sondern auch einer der weltweit führenden Höhlenexperten ist, versichert mir: »Es ist einer.«

Von dem Anblick beeindruckt, packt Scott das Stativ und die Kamera aus. Er ist dafür verantwortlich, unsere Expedition mit Fotos zu dokumentieren. Kommandant Luca bereitet derweil den nächsten Etappenabschnitt vor. Sergey, Alexander und ich kümmern uns um die Messungen. Ähnlich wie auf der ISS hat jeder von uns bestimmte Pflichten im Team und muss dementsprechend eine Liste mit verantwortungsvollen Aufgaben abarbeiten. Die Herausforderung: Dazu braucht es immer die Unterstützung von ein oder zwei Kollegen. Am aufwendigsten sind die Experimente, sie nehmen jede Menge Zeit in Anspruch. Wertvolle Zeit, die uns zum Erkunden fehlt. Das führt hin und wieder zu Spannungen in der Gruppe.