Cosmopolis - Don DeLillo - E-Book

Cosmopolis E-Book

Don DeLillo

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Don DeLillos Meisterwerk nun im Kino Als »Cosmopolis« 2003 erschien, wurde der Roman international als literarisches Meisterwerk gefeiert, das DeLillos Rang als einer der wichtigsten Autoren der Welt abermals unterstrich. Heute wirkt DeLillos Roman im Angesicht der weltweiten Finanzkrise beinahe prophetisch und ist aktueller denn je. David Cronenberg hat »Cosmopolis« nun mit Robert Pattinson und Juliette Binoche verfilmt. Die Geschichte: Eric Packer, 28 Jahre alt, ist ein reicher, gewissenloser Börsenspekulant. Unterwegs in seiner Stretchlimousine zu einem Friseurtermin, führt ihn sein Weg über die 47. Straße quer durch Manhattan. Das Herz von New York steht an diesem Frühlingstag im April 2000 kurz vor dem totalen Kollaps. Der amerikanische Präsident ist in der Stadt, gewalttätige Globalisierungsgegner demonstrieren und ein Sufi-Rapper wird unter großer Anteilnahme seiner Anhänger zu Grabe getragen. Mitten durch dieses Chaos schleicht Packer mit seinen Sicherheitsbeamten, seiner Frau, seiner Liebhaberin und seinem Leibarzt im Schritttempo voran, ohne wirklich vorwärts zu kommen – und am Ende seiner 24-stündigen Odyssee durch Manhattan verliert er mehr, als er sich je hat vorstellen können. »Schwindelerregend intelligent geschrieben, ein irritierendes Buch von großer diagnostischer Qualität« (Frankfurter Rundschau)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 246

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Don DeLillo

Cosmopolis

Roman

Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Don DeLillo

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Motto

IM JAHR 2000

TEIL EINS

1. Kapitel

Benno Levins Bekenntnisse

2. Kapitel

TEIL ZWEI

3. Kapitel

Benno Levins Bekenntnisse

4. Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Für Paul Auster

Inhaltsverzeichnis

Eine Ratte wurde zur Währungseinheit

Zbigniew Herbert

Inhaltsverzeichnis

IM JAHR 2000

Ein Tag im April

Inhaltsverzeichnis

TEIL EINS

1

Der Schlaf ließ ihn jetzt öfter im Stich, nicht ein- oder zweimal die Woche, sondern viermal, fünf. Was tat er, wenn das passierte? Er machte keine langen Spaziergänge in die aufziehende Abenddämmerung hinein. Kein Freund war ihm so nah, dass er ihn mit einem Anruf belästigen wollte. Was hätte er sagen sollen? Es ging um Momente des Schweigens, nicht um Worte.

Er versuchte, sich in den Schlaf zu lesen, wurde aber nur ruheloser. Er las Wissenschaftliches und Lyrik. Er mochte karge Gedichte, die minuziös ins Weiße platziert waren, ins Papier gebrannte Reihen alphabetischer Anschläge. Gedichte machten ihm bewusst, dass er atmete. Ein Gedicht legte Dinge im jeweiligen Augenblick offen, auf deren Wahrnehmung er normalerweise nicht vorbereitet war. Darin lag die Nuance jedes Gedichts, zumindest für ihn, nachts, in diesen langen Wochen, ein Atemzug nach dem anderen im rotierenden Raum ganz oben in der dreigeschossigen Maisonnette.

Eines Nachts versuchte er im Stehen zu schlafen, in seiner Meditationszelle, aber er war bei Weitem nicht geschickt genug, nicht Mönch genug. Er umging den Schlaf und steuerte die Gegenstellung an, eine mondlose Stille, wo jede Kraft durch eine andere ausbalanciert ist. Dies war eine äußerst kurze Linderung, eine kleine Pause im Aufruhr der rastlosen Identitäten.

Es gab keine Antwort. Er versuchte es mit Sedativa und Hypnotika, wurde aber abhängig davon, sie schickten ihn in engen Spiralen nach innen. Noch der blasseste Gedanke trug einen Schatten von Angst. Was tat er? Er konsultierte keinen Analytiker im hohen Ledersessel. Freud ist passé, Einstein als Nächster dran. Heute Nacht las er die spezielle Relativitätstheorie, auf Englisch und Deutsch, legte das Buch aber schließlich beiseite und lag vollkommen reglos da, versuchte den Willen für das eine Wort aufzubringen, um das Licht abzuschalten. Ringsum existierte nichts. Nur das Geräusch in seinem Kopf, der Geist in der Zeit.

Mit seinem Tod würde nicht er zu Ende gehen. Die Welt würde zu Ende gehen.

 

Er stand am Fenster und beobachtete den Anbruch des großen Tages. Die Aussicht reichte über Brücken und Meeresengen und Wasserarme hinweg, über Stadtteile und Zahnpastasuburbs hinaus, bis zu den Weiten von Landmasse und Himmel, die man nur als tiefe Ferne bezeichnen konnte. Er wusste nicht, was er wollte. Unten auf dem Fluss war immer noch Nacht, halb Nacht, und aschige Dunstschwaden wogten über den Schornsteinen am jenseitigen Ufer. Die Huren waren inzwischen wohl, spekulierte er, mit wackelnden Entenpopos aus ihren laternenhellen Ecken geflohen, und andere älteste Gewerbe kamen gerade in Gang, Warenlaster rollten aus den Märkten, Zeitungslaster von den Laderampen. Bestimmt durchquerten Brotlieferanten die Stadt, und vereinzelte Heimkehrer aus dem Tollhaus der Nacht kurvten Sound hämmernd über die Avenues.

Nichts Edleres als eine Flussbrücke und die aufbrüllende Sonne dahinter.

Er beobachtete hundert Möwen, die eine schwankende Schute flussabwärts verfolgten. Sie hatten große, starke Herzen. Das wusste er, unverhältnismäßig zur Körpergröße. Er hatte sich mal für die filigranen Details der Vogelanatomie interessiert und sie gemeistert. Vögel haben Röhrenknochen. Er meisterte die unwahrscheinlichsten Themen an einem halben Nachmittag.

Er wusste nicht, was er wollte. Dann wusste er es. Er wollte sich die Haare schneiden lassen.

Er blieb noch etwas stehen, beobachtete eine einzelne Möwe, die sich erhob und in einem Luftkräusel trudelte, und bewunderte den Vogel, dachte sich in ihn hinein, versuchte ihn zu ergründen, den robusten, redlichen Schlag seines gierigen Aasfresserherzens zu erfühlen.

Er trug Anzug und Krawatte. Ein Anzug milderte die Wölbung seiner überentwickelten Brust. Nachts trainierte er gern, in metallischen Rudermaschinen mit Gegengewichten, er machte stoisch immer wieder Bizepscurls und Bankdrücken, was alle Wallungen und Zwänge des Tages abbaute.

Er ging durch die Wohnung, achtundvierzig Zimmer. Das tat er, wenn er sich zaudernd und deprimiert fühlte, schlenderte am Sportschwimmbecken entlang, dem Spielsalon, dem Fitnessraum, vorbei am Haifischbecken und dem Vorführsaal. Er blieb am Barsoi-Zwinger stehen und sprach mit seinen Windhunden. Dann ging er in den Nebentrakt, wo es Währungen im Auge zu behalten und Hintergrundberichte auszuwerten galt.

Der Yen war entgegen den Erwartungen über Nacht gestiegen.

Er ging zurück nach oben in den Wohnbereich, langsam jetzt, und blieb in jedem Zimmer stehen, nahm in sich auf, was dort war, mit einem tiefen Sehen, das jeden Funken Energie in Strahlen und Wellen festhielt.

Die Kunstwerke an den Wänden waren vor allem geometrische Farbfelder, große Bilder, die die Räume dominierten. Das Atrium mit Skylight wurde von hohen, weißen Gemälden und einem plätschernden Brunnen in gebetshafte Ruhe gehüllt. Im Atrium herrschte die Spannung und Anspannung eines turmhohen Raums, der fromme Stille erfordert, um angemessen gesehen und erlebt zu werden, wie eine Moschee, leise Schritte und in der Kuppel murmelnde Felsentauben.

Er mochte Gemälde, die seine Gäste nicht anzuschauen wussten. Vielen erschlossen sich die weißen Bilder nicht, schleimfarbene, mit dem Messer verspachtelte Flatschen. Besonders gefährlich, da es keine neuen Werke waren. Im Neuen liegt keine Gefahr mehr.

Er fuhr mit dem Fahrstuhl, in dem Satie erklang, in die Marmoreingangshalle. Seine Prostata war asymmetrisch. Er ging nach draußen und überquerte die Avenue, dann drehte er sich um und betrachtete das Gebäude, in dem er wohnte. Er empfand Übereinstimmung. Es war neunundachtzig Stockwerke hoch, eine Primzahl, hinter einer unauffälligen Oberfläche aus rauchigem bronzefarbenen Glas. Sie hatten eine Kante oder Grenze gemeinsam, Wolkenkratzer und Mann. Das Haus war dreihundert Meter hoch, der höchste Wohnturm der Welt, ein länglicher Gemeinplatz, dessen einzige Aussage in seinem Format bestand. Der Wolkenkratzer hatte die Art von Banalität, die sich mit der Zeit als wahrhaft brutal herausstellt. Aus diesem Grund mochte er ihn. Er mochte es, dazustehen und ihn anzuschauen, wenn er in dieser Stimmung war, argwöhnisch, benommen und belanglos.

Der Wind wehte schneidend vom Fluss her. Er holte seinen Palm Organizer heraus und piekte sich eine Notiz über das Anachronistische des Wortes Wolkenkratzer hinein. Kein jüngeres Gebäude sollte mit diesem Wort bezeichnet werden. Es gehörte zu dem althergebrachten Geist der Ehrfurcht, zu den pfeilförmigen Türmen, die eine Erzählung waren, lange bevor er auf die Welt gekommen war.

Auch der Handcomputer war ein Gegenstand, dessen Ursprungskultur so gut wie verschwunden war. Er wusste, er würde ihn ausrangieren müssen.

Der Turm gab ihm Stärke und Tiefe. Er wusste, was er wollte, sich die Haare schneiden lassen, aber er stand noch etwas länger in dem aufsteigenden Lärm der Straße und musterte Masse und Ausmaß des Turms. Der große Vorteil von dessen Oberfläche bestand darin, das Flusslicht aufzufangen und umzuleiten und die Gezeiten des offenen Himmels nachzuahmen. Eine Aura von Stofflichkeit und Reflexion. Er ließ den Blick der Länge nach daran entlanggleiten und fühlte sich mit dem Turm verbunden, sie hatten die Oberfläche und die Umgebung, die an beiden Seiten in Berührung mit der Oberfläche kam, gemeinsam. Eine Oberfläche trennt Innen von Außen und gehört ebenso zum einen wie zum anderen. Unter der Dusche hatte er sich einmal Gedanken über Oberflächen gemacht.

 

Er setzte seine Sonnenbrille auf. Dann kehrte er über die Avenue zurück und näherte sich den Wagenschlangen aus weißen Limousinen. Da standen zehn Wagen, fünf in einer Reihe am Rinnstein, vor dem Turm in der First Avenue, und fünf in der Querstraße Richtung Westen. Auf den ersten Blick sahen die Autos identisch aus. Vielleicht waren einige dreißig oder fünfzig Zentimeter länger als andere, was von Details der jeweiligen Verlängerung und den Extras, die der Besitzer verlangt hatte, abhing.

Die Fahrer rauchten und plauderten auf dem Bürgersteig, in dunklen Anzügen und barhäuptig, alle auf dem Sprung, doch das würde man erst rückblickend merken, wenn sie heiße Augen kriegten, ihre Zigaretten wegwarfen und ihre uneingeübten Haltungen verließen, nämlich sobald sie die Objekte ihrer Aufmerksamkeit erspähten.

Doch vorläufig plauderten sie, Stimmen mit Akzent bei einigen, Muttersprachlertöne bei anderen, und sie warteten auf den Investmentbanker, den Baulöwen, den Venturekapitalisten, den Software-Unternehmer, den globalen Obermufti von Satellit und Kabel, den Diskontmakler, den hakennasigen Medienboss, den exilierten Staatschef irgendeiner zermalmten Landschaft aus Hunger und Krieg.

In dem Park auf der anderen Straßenseite standen stilisierte schmiedeeiserne Lauben und Bronzespringbrunnen, auf deren Grund ein Streufeuer aus schillernden Pennymünzen. Ein Mann in Frauenkleidern ging mit sieben eleganten Hunden Gassi.

Ihm gefiel die Tatsache, dass sich die Autos nicht voneinander unterscheiden ließen. Er hatte auch so ein Auto haben wollen, weil er es für eine platonische Replik hielt, schwerelos trotz der Größe, weniger Gegenstand als Vorstellung. Aber er wusste, das stimmte nicht. So etwas sagte er nur der Wirkung halber und glaubte keine Sekunde daran. Er glaubte eine Sekunde daran, aber mehr auch nicht. Er hatte das Auto nicht nur wegen der Übergröße haben wollen, sondern weil es aggressiv und verächtlich war, metastasierend, dieses unmäßige Mutantending, das sich breitbeinig gegen jedes Argument behauptete.

Sein Sicherheitschef mochte das Auto wegen der Anonymität. Lange weiße Limousinen waren zu den unauffälligsten Fahrzeugen der Stadt geworden. Er wartete gerade auf dem Bürgersteig, Torval, kahl und halslos, ein Mann, dessen Kopf aussah, als ließe er sich für Wartungsarbeiten abnehmen.

»Wohin?«, fragte er.

»Ich will mir die Haare schneiden lassen.«

»Der Präsident ist in der Stadt.«

»Uns doch egal. Wir müssen uns die Haare schneiden lassen. Wir müssen einmal quer durch die Stadt.«

»Da stoßen Sie auf Verkehr, der sich in halben Zentimetern äußert.«

»Nur damit ich Bescheid weiß. Von welchem Präsidenten ist die Rede?«

»Vereinigte Staaten. Straßensperren werden errichtet«, sagte er. »Ganze Straßen vom Stadtplan getilgt.«

»Zeigen Sie mir meinen Wagen«, sagte er zu dem Mann. Der Fahrer hielt ihm die Tür auf, startbereit für den Lauf hinten um den Wagen herum und nach vorn zur eigenen Tür, acht Meter entfernt. Wo die Schlange aus weißen Fahrzeugen endete, parallel zum Eingang der Japan Society, begann eine weitere Autoschlange, die Town Cars, schwarz oder indigo, und die Fahrer warteten auf Mitglieder der diplomatischen Missionen, auf die Delegierten, Konsuln und sonnenbebrillten Attachés.

Torval saß vorn beim Fahrer, wo es im Armaturenbrett Computerbildschirme gab und ein Nachtsichtdisplay auf dem unteren Monitor, der an die Infrarotkamera im Kühlergrill angeschlossen war.

Im Wagen wartete Shiner, sein Technologie-Chef, klein und mit einem Jungensgesicht. Er schaute sich Shiner nicht mehr an. Schon seit drei Jahren nicht mehr. Sobald man einmal hingeschaut hatte, gab es nichts weiter zu erfahren. Man würde noch sein Knochenmark in einem Whiskyglas wiedererkennen. Er trug sein ausgebleichtes Hemd, dazu passende Jeans, und saß wie immer in einer onanistischen Hocke da.

»Also, was haben wir herausgefunden?«

»Unser System ist sicher. Wir sind unangreifbar. Es gibt kein Hackerprogramm«, sagte Shiner.

»Anscheinend aber doch.«

»Eric, nein. Wir haben alles getestet. Niemand überlastet das System oder manipuliert unsere Webpages.«

»Wann haben wir das alles gemacht?«

»Gestern. Im Komplex. Unser schnelles Eingreifteam. Es gibt keinen ungeschützten Zugang. Unser Versicherer hat eine Bedrohungsanalyse gemacht. Wir sind gegen Angriffe abgepuffert.«

»Überall.«

»Ja.«

»Auto eingeschlossen.«

»Eingeschlossen, absolut, jawohl.«

»Mein Auto. Dieses Auto.«

»Eric, ja. Bitte.«

»Du und ich, wir sind seit dem ersten winzig kleinen Start-up zusammen. Ich will jetzt von dir hören, dass du immer noch das Stehvermögen für diesen Job hast. Die Zielstrebigkeit.«

»Dieses Auto. Dein Auto.«

»Den nicht nachlassenden Willen. Denn ich höre ständig von unserer Legende. Wir sind alle jung und clever und von Wölfen aufgezogen worden. Aber das Phänomen des Rufs ist eine heikle Sache. Ein Mensch kann durch ein Wort aufsteigen und durch eine Silbe abstürzen. Ich weiß, dass ich den falschen Mann frage.«

»Was?«

»Wo war das Auto gestern Nacht, nachdem wir unsere Tests gemacht hatten?«

»Ich weiß nicht.«

»Wo kommen diese Limousinen nachts alle hin?«

Shiner sackte hoffnungslos in die Tiefen dieser Frage.

»Ich weiß, ich wechsle gerade das Thema. Ich habe nicht viel geschlafen. Ich seh mir Bücher an und trinke Brandy. Aber was passiert mit den vielen Stretchlimos, die den ganzen Tag lang durch die pulsierende Stadt pirschen? Wo verbringen sie die Nacht?«

 

Das Auto geriet noch vor der Second Avenue in stehenden Verkehr. Er saß im hinteren Teil des Wagens im Klubsessel und betrachtete die aufgereihten Datenschirme. Auf jedem Monitor ein Datenmedley, lauter fließende Symbole und Gipfelzacken, pulsierende polychrome Zahlen. Er nahm dieses Material in ein paar langen, stillen Sekunden auf, die Sprachlaute der geschminkten Köpfe ignorierend. Es gab eine Mikrowelle und einen Herzmonitor. Er starrte die schwenkbare SpyCam an, und sie starrte zurück. Früher hatte er hier in einem von Hand fernbedienten Raum gesessen, aber das war jetzt vorbei. Ein nahezu berührungsfreies Umfeld. Er konnte die meisten Systeme sprachgesteuert starten oder einen Bildschirm mit einer Handbewegung leer fegen.

Ein Taxi quetschte sich längs neben sie, der Fahrer hupte. Das löste hundert andere Hupen aus.

Shiner rutschte auf dem Klappsitz neben der Bordbar herum und schaute nach hinten. Er trank frischen Orangensaft durch einen Plastikstrohhalm, der in stumpfem Winkel aus dem Glas ragte. Er schien zwischen den Schlucken irgendetwas in den Halm hineinzupfeifen.

Eric sagte: »Was?«

Shiner hob den Kopf.

»Hast du manchmal das Gefühl, du weißt nicht, was los ist?«, fragte er.

Shiner sprach in seinen Strohhalm hinein, als wär’s ein Bordübertragungsgerät.

»Dieser ganze Optimismus, Booms und Höhenflüge. Die Dinge geschehen irgendwie peng. Dies und das gleichzeitig. Ich strecke die Hand aus, und was fühle ich? Ich weiß, dass du alle zehn Minuten tausend Dinge analysierst. Muster, Verhältnisse, Indices, ganze Informationsdiagramme. Ich liebe Information. Sie ist unsere Süße und unser Licht. Sie ist ein weltumfickendes Wunder. Und wir sind von Bedeutung für die Welt. Menschen essen und schlafen im Schatten unseres Tuns. Aber zur gleichen Zeit, was?«

Es gab eine lange Pause. Endlich schaute er Shiner an. Was hatte er zu dem Mann gesagt? Er hatte keine harte, scharfe Bemerkung an ihn gerichtet. Er hatte eigentlich überhaupt nichts gesagt.

Sie saßen im Crescendo der Hupen. Der Lärm war so, dass er ihn nicht wegwünschte. Es war der Ton eines Grundschmerzes, der archaische Klang einer Ureinwohnerklage. Er dachte an rituell brüllende Männer in zerlumpten Gruppen, soziale Einheiten des Tötens und Fressens. Rotes Fleisch. Das war der Instinkt, das Trauerbedürfnis. Im Kühlschrank waren heute Getränke. Nichts Festes für die Mikrowelle.

Shiner sagte: »Irgendein besonderer Grund, dass wir im Auto sind statt im Büro?«

»Woher weißt du, dass wir im Auto sind statt im Büro?«

»Wenn ich diese Frage beantworte.«

»Auf welcher Grundlage?«

»Dann werde ich etwas sagen, das halbwegs schlau ist, aber weitgehend oberflächlich und wahrscheinlich auf irgendeiner Ebene unzutreffend, das weiß ich. Und dann wirst du mir dein Beileid dafür aussprechen, dass ich je geboren wurde.«

»Wir sind im Auto, weil ich mir die Haare schneiden lassen muss.«

»Lass doch den Friseur ins Büro kommen. Lass dir die Haare dort schneiden. Oder lass den Friseur ins Auto kommen. Lass dir die Haare schneiden und geh ins Büro.«

»Haareschneiden, das heißt, was. Assoziationen. Kalender an der Wand. Überall Spiegel. Es gibt keinen Friseurstuhl hier. Nichts Schwenkbares, außer der SpyCam.«

Er änderte seine Sitzposition im Sessel und beobachtete, wie die Überwachungskamera sich justierte. Sein Bild war früher fast immer zu sehen gewesen, weltweit videoverbreitet vom Auto, vom Flugzeug, vom Büro und von ausgewählten Stellen in seiner Wohnung aus. Aber Sicherheitsfragen mussten geregelt werden, und jetzt operierte die Kamera in einem geschlossenen Kreislauf. Eine Krankenschwester und zwei bewaffnete Wachen schoben durchgehend Dienst vor drei Bildschirmen in einem fensterlosen Raum im Büro. Das Wort Büro war inzwischen überholt. Es hatte null Gehalt.

Er spähte aus dem von außen undurchsichtigen Fenster zu seiner Linken. Er brauchte einen Moment, bis er begriff, dass er die Person auf dem Rücksitz des Taxis neben ihnen kannte. Sie war seit zweiundzwanzig Tagen seine Frau, Elise Shifrin, eine Dichterin, die durch Blutsverwandtschaft Ansprüche auf das sagenhafte Bankvermögen der Shifrins in Europa und der ganzen Welt hatte.

Er kodierte eine Botschaft an Torval vorn. Dann trat er auf die Straße und tippte an das Taxifenster. Sie lächelte überrascht zu ihm auf. Sie war Mitte zwanzig, mit kupferstichfeinen Zügen und großen, kunstlosen Augen. Ihre Schönheit hatte etwas Entrücktes. Das war faszinierend, aber vielleicht auch nicht. Ihr Kopf saß leicht nach vorn gerichtet auf einem schlanken, langen Hals. Sie hatte ein unerwartetes Lachen, etwas misstrauisch und erfahren, und er mochte es, wie sie einen Finger an die Lippen legte, wenn sie nachdenklich sein wollte. Ihre Gedichte waren scheiße.

Sie glitt zur Seite, und er stieg neben ihr ein. Das Hupen verebbte und brandete wieder auf, in ritualistischen Zyklen. Dann schoss das Taxi diagonal über die Kreuzung, bis zu einem Punkt knapp westlich der Second Avenue, wo der nächste Stau wartete, Torval joggend und schwitzend immer hinterdrein.

»Wo ist dein Auto?«

»Anscheinend können wir es nicht finden«, sagte sie.

»Ich würde dich ja mitnehmen.«

»Kann ich nicht. Auf keinen Fall. Ich weiß, dass du unterwegs arbeitest. Und ich mag Taxis. Ich war in Erdkunde nie gut, und ich lerne viel dazu, wenn ich die Fahrer frage, wo sie herkommen.«

»Sie kommen aus Horror und Verzweiflung.«

»Ja, genau. Man lernt etwas über die Länder, wo Unruhen sind, indem man hier mit dem Taxi fährt.«

»Ich hab dich schon eine Zeit lang nicht mehr gesehen. Ich hab dich heute Morgen gesucht.«

Er nahm effektheischend seine Sonnenbrille ab. Sie starrte ihm ins Gesicht. Gerader Blick, konzentrierte Aufmerksamkeit.

»Deine Augen sind blau«, sagte sie.

Er hob ihre Hand zu seinem Gesicht, roch und leckte daran. Dem Sikh am Steuer fehlte ein Finger. Eric betrachtete den Stummel, beeindruckend, eine ernste Sache, ein körperlicher Schaden, der Geschichte und Schmerz in sich trug.

»Schon gefrühstückt?«

»Nein«, sagte sie.

»Gut. Ich habe Hunger auf etwas Dickes, Kerniges.«

»Du hast mir nie gesagt, dass du blaue Augen hast.«

Er hörte das statische Knistern in ihrem Lachen. Er biss ihr in den Daumenknöchel und öffnete die Tür, und sie gingen über den Bürgersteig in das Cafe an der Ecke.

 

Er saß mit dem Rücken zur Wand und beobachtete, wie Torval sich an der Eingangstür aufbaute, wo er einen guten Überblick hatte. Es war voll. Er hörte vereinzelte Worte auf Französisch und Somali, die durch die Lärmkulisse sickerten. So war das an diesem Ende der 47. Straße. Dunkle Frauen in elfenbeinfarbenen Kleidern gingen im Flusswind auf das Sekretariat der UNO zu. Wohntürme hießen L’Ecole und Octavia. Irische Kindermädchen schoben Kinderwagen durch die Parks. Und Elise natürlich, Schweizerin oder so was, saß ihm gegenüber am Tisch.

»Worüber sollen wir reden?«, fragte sie.

Er saß vor einem Teller voller Pfannkuchen und Würste und wartete darauf, dass der kleine Butterquader schmolz und verlief, damit er ihn mit der Gabel in den zähen Sirup einwirbeln und dann zuschauen konnte, wie die Zinkenspuren langsam in der Soße versanken. Er begriff, dass Elise ihre Frage ernst gemeint hatte.

»Wir brauchen einen Heliport auf dem Dach. Ich habe mich um die Luftrechte gekümmert, brauche aber noch eine Flächennutzungsumwidmung. Willst du nichts essen?«

Es schien sie abzuschrecken, das Essen. Grüner Tee und Toast unberührt vor ihr.

»Und einen Schießstand neben dem Fahrstuhl. Reden wir von uns.«

»Du und ich. Wir sind hier. Ja, warum nicht.«

»Wann schlafen wir wieder miteinander?«

»Machen wir. Versprochen«, sagte sie.

»Haben wir nämlich schon seit einiger Zeit nicht mehr.«

»Wenn ich arbeite, weißt du. Die Energie ist kostbar.«

»Wenn du schreibst.«

»Ja.«

»Wo machst du das? Ich suche dich, Elise.«

Er beobachtete Torval, der in zehn Metern Entfernung die Lippen bewegte. Er sprach in sein Revers hinein, in ein verborgenes Mikro. Er trug einen Ohrknopf. Das Handy selbst saß festgegürtet unter seinem Jackett, nicht weit von seiner stimmaktivierbaren tschechischen Handfeuerwaffe, noch so ein Emblem für das internationale Gepräge des Viertels.

»Ich rolle mich irgendwo zusammen. So habe ich es immer gemacht. Meine Mutter hat früher immer Leute losgeschickt, um mich zu finden«, sagte sie. »Mädchen und Gärtner, die Haus und Grund abgesucht haben. Sie glaubte, ich wäre wasserlöslich.«

»Ich mag deine Mutter. Du hast die Brüste deiner Mutter.«

»Ihre Brüste.«

»Tolle Stehtitten«, sagte er.

Er aß schnell, inhalierte sein Essen. Dann aß er ihrs. Er glaubte zu spüren, wie die Glukose in seine Zellen drang und die anderen Bedürfnisse seines Körpers anfeuerte. Er nickte dem Cafebesitzer zu, einem Griechen aus Samos, der von der Theke her winkte. Er kam gern hierher, weil Torval dagegen war.

»Sag mir eins. Wohin fährst du jetzt?«, sagte sie. »Zu einem Termin irgendwo? In dein Büro? Wo ist dein Büro? Was genau machst du?«

Sie linste ihn über die Brücke ihrer aufgestützten Hände hinweg an, ihr Lächeln im Versteck.

»Du weißt Dinge. Ich glaube, das ist es, was du machst«, sagte sie. »Ich glaube, du widmest dich dem Wissen. Ich glaube, du erwirbst Informationen und verwandelst sie in etwas Grandioses und Grässliches. Du bist ein gefährlicher Mensch. Stimmt’s? Ein Visionär.«

Er beobachtete, wie Torval eine Hand auf die Seite des Kopfes legte und demjenigen zuhörte, der in seinen Ohrknopf sprach. Er wusste, diese Apparaturen waren nur noch Relikte. Degenerierte Strukturen. Die Handfeuerwaffe vielleicht gerade noch nicht. Aber das Wort verlor sich schon in Nebelschwaden.

 

Er stand beim falsch geparkten Auto und hörte Torval zu.

»Bericht vom Komplex. Es gibt eine glaubwürdige Drohung. Sollte man nicht unterschätzen. Das heißt, einmal quer durch die Stadt.«

»Wir haben schon zahlreiche Drohungen gehabt. Alle glaubwürdig. Ich stehe immer noch hier.«

»Keine Bedrohung Ihrer Sicherheit. Seiner.«

»Wer zum Teufel ist ›seiner‹?«

»Der Präsident. Das heißt, einmal quer durch die Stadt geht nicht, es sei denn, wir hängen den ganzen Tag dran, mit Keksen und Milch.«

Er empfand Torvals stämmige Gestalt als Provokation. Torval war knotig und voller Schrägen. Er hatte den Körper eines schweren Gewichthebers, als wäre er aufrecht und in der Hocke zugleich. Sein Auftreten hatte die plumpe Überzeugungskraft und redliche Wachsamkeit, mit der untersetzte Männer eine Aufgabe angehen. Das waren feindselige Impulse. Sie weckten Erics Sinn für seine eigene körperliche Autorität, seine Vorstellungen von Stärke und Muskelkraft.

»Schießt denn noch irgendwer auf Präsidenten? Ich dachte, es gäbe inzwischen anregendere Ziele«, sagte er.

Sein Sicherheitspersonal sollte über ein ausgeglichenes Temperament verfügen. Torval passte nicht ins Muster. Mal war er ironisch, dann wieder leicht verächtlich, bei bestimmten Standardmaßnahmen. Und dann sein Kopf. Sein rasierter Kopf und die anomale Stellung seiner Augen zeugten von unablässiger Wut. Seine Aufgabe war selektives Konfrontationsverhalten, nicht Hass auf eine gesichtslose Welt.

Ihm war aufgefallen, dass Torval ihn nicht mehr mit Mr Packer anredete. Er redete ihn jetzt gar nicht mehr an. Durch diese Auslassung entstand eine Lücke in der Natur, groß genug, dass ein Mann hindurchgehen konnte.

Er merkte, dass Elise weg war. Er hatte vergessen, sie zu fragen, wo sie hinwollte.

»Im nächsten Block gibt es zwei Frisiersalons. Eins, zwei«, sagte Torval. »Wir brauchen nicht quer durch die Stadt. Die Situation ist nicht stabil.«

Leute hasteten vorbei, die anderen der Straße, endlos anonym, einundzwanzig Leben pro Sekunde, um die Wette laufende Gesichter und Pigmente, Sprühregen aus flüchtigstem Dasein.

Sie waren da, um deutlich zu machen, dass man sie nicht anzuschauen brauchte.

 

Jetzt saß Michael Chin auf dem Klappsitz, sein Währungsanalyst, und stellte gemächlich eine beträchtliche Beunruhigung zur Schau.

»Ich kenne dieses Lächeln, Michael.«

»Ich glaube, der Yen. Ich meine, wir haben Grund zur Annahme, dass wir hier vielleicht allzu überstürzt leveragen.«

»Das Blatt wird sich zu unseren Gunsten wenden.«

»Ja. Ich weiß. Hat es immer getan.«

»Die Überstürztheit, die Sie da zu sehen glauben.«

»Was hier geschieht, stellt sich nicht dar.«

»Es stellt sich dar. Sie müssen nur etwas hartnäckiger suchen. Verlassen Sie sich nicht auf die Standardmodelle. Denken Sie grenzüberschreitend. Der Yen sagt uns etwas. Lesen Sie es. Und dann springen Sie.«

»Wir setzen hier im großen Stil.«

»Ich kenne dieses Lächeln. Ich möchte es gern respektieren. Aber der Yen kann nicht noch höher steigen.«

»Wir leihen uns gigantische Summen, gigantische.«

»Jeder Angriff auf die Grenzen der Wahrnehmung sieht zwangsläufig zunächst nach Überstürztheit aus.«

»Eric, kommen Sie. Wir spekulieren ins Leere.«

»Ihre Mutter hat Ihrem Vater die Schuld an dem Lächeln gegeben. Und er ihr. Es hat etwas Tödliches.«

»Ich glaube, wir sollten nachregulieren.«

»Sie glaubte, sie müsste Sie zu einer besonderen Beratung schicken.«

Chin hatte Studienabschlüsse in Mathematik und Wirtschaft und war doch immer noch ein Junge mit einem Gossenpunkstreifen im Haar, in launischem Rote-Bete-Rot.

Die beiden Männer redeten und trafen Entscheidungen. Es waren Erics Entscheidungen, die Chin widerstrebend in seinen Palm Organizer eingab und dann mit dem System abstimmte. Das Auto fuhr. Eric betrachtete sich auf dem ovalen Bildschirm unterhalb der SpyCam, strich sich mit dem Daumen über die Kinnlinie. Das Auto hielt an und fuhr weiter, und er bemerkte, dass er, wie eigentümlich, gerade den Daumen auf seine Kinnlinie gelegt hatte, ein oder zwei Sekunden, nachdem er es auf dem Bildschirm gesehen hatte.

»Wo ist Shiner?«

»Auf dem Weg zum Flughafen.«

»Warum haben wir immer noch Flughäfen? Warum heißen sie Flughäfen?«

»Ich weiß, dass ich diese Fragen nicht beantworten kann, ohne Ihren Respekt zu verlieren«, sagte Chin.

»Shiner hat gesagt, unser Netzwerk wäre sicher.«

»Dann ist es das auch.«

»Sicher vor Eindringlingen.«

»Er ist der Beste, den es gibt, wenn es darum geht, Löcher zu finden.«

»Warum sehe ich dann Dinge, die noch nicht passiert sind?« Der Boden der Limousine war aus Carrara-Marmor, aus den Steinbrüchen, wo Michelangelo vor einem halben Jahrtausend gestanden und seine Fingerspitze auf den funkelnd weißen Stein gelegt hatte.

 

Er betrachtete Chin, der sich auf seinem Klappsitz in wilden Gedankengängen verlor.

»Wie alt sind Sie?«

»Zweiundzwanzig. Was? Zweiundzwanzig.«

»Sie sehen jünger aus. Ich war immer jünger als alle um mich herum. Eines Tages änderte sich das.«

»Ich fühle mich nicht jünger. Ich fühle mich total im Nichts verortet. Ich glaube, ich bin so weit, das Geschäft hinter mir zu lassen, eigentlich.«

»Stecken Sie sich einen Kaugummi in den Mund und versuchen Sie, ihn nicht zu kauen. Für jemanden in Ihrem Alter, mit Ihrer Begabung gibt es nur ein Ziel auf der Welt, das sich beruflich und intellektuell lohnt. Was ist das, Michael? Die Interaktion zwischen Technologie und Kapital. Ihre Untrennbarkeit.«

»Die Highschool war die letzte wirkliche Herausforderung«, sagte Chin.

Auf der Third Avenue ging nichts mehr. Die ständige Dienstanweisung des Fahrers lautete, beim Rückstau auf die Kreuzung vorzupreschen, nicht schlapp zurückzubleiben.

»Ich habe ein Gedicht gelesen, in dem eine Ratte zur Währungseinheit wird.«

»Ja. Das wäre interessant«, sagte Chin.

»Ja. Das hätte Auswirkung auf die Weltwirtschaft.«

»Schon der Name. Besser als Dong oder Kwacha.«

»Der Name sagt alles.«

»Ja. Ratte«, sagte Chin.

»Ja. Die Ratte schloss heute niedriger gegenüber dem Euro.«

»Ja. Es gibt zunehmende Befürchtungen, dass die russische Ratte abgewertet wird.«

»Weiße Ratten. Denken Sie mal darüber nach.«

»Ja. Schwangere Ratten.«

»Ja. Schwangere russische Ratten werden auf den Markt geworfen.«

»Großbritannien stellt auf die Ratte um«, sagte Chin.

»Ja. Schließt sich dem Trend zur Universalwährung an.«

»Ja. USA etablieren Rattenwährung.«

»Ja. Jeder US-Dollar gegen Ratte rückkaufbar.«

»Tote Ratten.«

»Ja. Hamsterkäufe von toten Ratten als globale Gesundheitsbedrohung bezeichnet.«

»Wie alt sind Sie?«, sagte Chin. »Jetzt, wo Sie nicht mehr jünger sind als alle anderen.«

Er schaute an Chin vorbei zu den gegenläufig rasenden Zahlenströmen. Er begriff, wie viel ihm das bedeutete, das Fließen und Springen von Daten auf einem Bildschirm. Er studierte die figurativen Diagramme, die organische Muster ins Spiel brachten, Vogelflügel und gespaltene Muschel. Es war oberflächlich zu behaupten, Zahlen und Tabellen wären die kalte Verdichtung unbotmäßiger menschlicher Energien, und jegliche Sehnsucht, jeglicher Mitternachtsschweiß würden auf nachvollziehbare Einheiten im Finanzgeschäft reduziert. Dabei hatten Daten selbst eine Seele und leuchteten, waren ein dynamischer Aspekt des Lebensprozesses. Darin bestand die Eloquenz von Alphabeten und numerischen Systemen, inzwischen lückenlos in elektronischer Form erfasst, in der Null-Einsheit der Welt, dem digitalen Imperativ, der jeden Atemzug der auf dem Planeten lebenden Milliarden bestimmte. Das war der Atem der Biosphäre. Unsere Körper und Ozeane waren da, kennbar und ganz.

 

Das Auto fuhr wieder an. Er sah den ersten Frisiersalon auf seiner Rechten, an der Nordwestecke, Filles et Garçons. Er spürte, wie Torval vorn auf seinen Befehl wartete, das Auto anzuhalten.

Er erhaschte einen Blick auf die Markise des zweiten Geschäfts, nicht weit vor ihnen, und sprach einen kodierten Satz in einen Signalprozessor in der Trennwand, dem Schiebefenster zwischen Fahrer und hinterem Wagenteil. Dies löste auf einem der Monitore am Armaturenbrett einen Befehl aus.

Das Auto kam vor dem Wohngebäude zwischen den beiden Salons zum Halten. Er stieg aus und betrat den überdachten Durchgang, ohne darauf zu warten, dass der Doorman zu seinem Telefon schlurfte. Er betrat den Innenhof, zählte sich im Geist auf, was darin war, die schattenliebenden Pfaffenhütchen und Lobelien, die Buntnessel, der Christusdorn mit seinen gefiederten Blättern und ungeplatzten Schoten. Er konnte sich an den lateinischen Namen des Baums nicht genau erinnern, wusste aber, er würde ihm in der nächsten Stunde einfallen, oder irgendwann tief in der fortdauernden Flaute der nächsten schlaflosen Nacht.

Er ging unter einem Kreuzgewölbebogen aus weißem Gitterwerk hindurch, das mit Kletterhortensien bepflanzt war, und betrat dann das eigentliche Gebäude.

Eine Minute später stand er in ihrer Wohnung.

Sie legte eine Hand auf seine Brust, bewusst dramatisch, um festzuhalten, dass er da war und real. Dann fingen sie an zu taumeln und sich zu umklammern, und sie arbeiteten sich zum Schlafzimmer vor. Rammten den Türpfosten und prallten zurück. Einer ihrer Schuhe löste sich, baumelte halb herab, aber sie konnte ihn nicht abschütteln, und er musste ihn wegtreten. Er presste sie gegen die Wandmalerei, ein minimalistisches Raster, das zwei Helfer des Künstlers mehrere Wochen lang mit Maßinstrumenten und Grafitstiften ausgeführt hatten.

Sie zogen sich erst richtig aus, als der Liebesakt gelaufen war.

»Hatten wir eine Verabredung?«

»War gerade in der Nähe.«

Sie standen auf den gegenüberliegenden Seiten des Bettes, bückten und beugten sich, um letzte Kleidungsstücke loszuwerden.