Libra - Don DeLillo - E-Book

Libra E-Book

Don DeLillo

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Beschreibung

Die Neuauflage eines Klassikers der amerikanischen Gegenwartsliteratur Vor 50 Jahren, am 22. November 1963, wurde der amerikanische Präsident John F. Kennedy in Dallas ermordet. Fiktion und Wirklichkeit verschmelzen nahtlos, wenn Don DeLillo das Leben des Todesschützen Lee Harvey Oswald darstellt und die Ereignisse und Machenschaften schildert, die zu Kennedys Ermordung führten. Don DeLillo entwirft in Libra ein Bild von der Schattenseite Amerikas. Die Bilder sind unvergesslich: Die Limousine John F. Kennedys am 22. November 1963 in Dallas, der aus dem Hinterhalt tödlich getroffene Präsident, die Verzweiflung der First Lady. Don DeLillo geht den Entwicklungen nach, die dazu geführt haben, dass der mächtigste Mann der Welt, der Präsident mit dem großen Charisma, Opfer eines Underdogs, eines Mannes von der Schattenseite Amerikas wurde. Lee Harvey Oswald, der eine unglückliche Kindheit hatte, ging im Anschluss an seine Zeit bei den Marines für einige Jahre in die Sowjetunion. Nach seiner Rückkehr in die USA gerät er, enttäuscht vom Marxismus, unter den Einfluss von Leuten, die von der Paranoia des kalten Krieges geprägt sind. Im Zeichen der Waage – Libra – geboren, ist Lee Harvey Oswald leicht beeinflussbar und ein Mann der Widersprüche. Er lässt sich dafür gewinnen, eine heikle Aufgabe zu übernehmen. Kennedy soll mit einem fingierten Attentat ein Denkzettel verpasst werden. Sieben Sekunden entscheiden bei Oswald darüber, wohin die Waage sich neigt.

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Seitenzahl: 780

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Don DeLillo

Libra

Roman

Aus dem Amerikanischen von Hans Hermann

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Don DeLillo

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungTeil EinsIn der Bronx17. AprilIn New Orleans26. AprilIn Atsugi20. MaiIn Fort Worth19. JuniIn Moskau2. JuliIn MinskTeil Zwei15. JuliIn Fort Worth12. AugustIn Dallas6. SeptemberIn New Orleans25. SeptemberIn Mexico City04. OktoberIn Dallas22. NovemberIn Dallas25. November
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Den Jungs von 607:

Tony, Dick und Ron

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Teil Eins

 

 

 

 

Das Glück ruht nicht in dir selbst, es besteht nicht aus einem Häuschen, aus Geben und Nehmen. Das Glück findest du, wenn du an dem Kampf teilnimmst, bei dem es zwischen deiner eigenen privaten Welt und der Welt im Allgemeinen keine Grenze gibt.

Lee H. OswaldBrief an seinen Bruder

In der Bronx

In diesem Jahr fuhr er viel mit der U-Bahn, auf dreihundert Kilometer Schienen zu den Grenzen der Stadt. Er stand gern vorne im ersten Wagen, die Hände platt gegen das Glas gedrückt. Der Zug preschte durch das Dunkel. Menschen standen auf Bahnsteigen und starrten nirgendwohin, mit einem Blick, den sie seit Jahren übten. Er fragte sich beim Vorbeifahren manchmal, wer sie wirklich waren. Auf den schnellsten Streckenabschnitten vibrierte sein Körper. Sie fuhren manchmal so schnell, dass er das Gefühl hatte, im nächsten Moment könnte alles außer Kontrolle geraten. Der Lärm überstieg dabei die Schmerzgrenze, und er nahm das als eine persönliche Prüfung hin. Wieder eine dieser irrsinnigen Kurven. Im Lärm dieser Kurven war so viel Eisen, dass er es beinahe schmecken konnte, wie ein Spielzeug, das man als kleines Kind gern in den Mund nahm.

Arbeiter mit Laternen gingen an Parallelgleisen entlang. Er hielt Ausschau nach Kanalratten. Eine Zehntelsekunde genügte, und schon hatte man eine Sache komplett gesehen. Dann die großen Bahnhöfe, die quietschenden Bremsen, Menschen zusammengedrängt wie Flüchtlinge. Sie zwängten sich durch die Türen, stießen gegen die Gummikanten, drängten weiter ins Wageninnere, waren rasch eingekeilt und sahen mit geübtem Blick an den nächsten Köpfen vorbei ins Leere.

Mit ihm hatte das alles nichts zu tun. Er wollte nur U-Bahn fahren, sonst nichts.

149th Street, die Puertorikaner, 125th Street, die Neger. Bei der 42nd Street, nach einer Kurve, in der das Kreischen überhaupt nicht mehr aufhören wollte, war der Andrang so groß wie sonst nirgends, Aktenkoffer, Einkaufsbeutel, Schultaschen, Blinde, Taschendiebe, Betrunkene. Er fand es nicht seltsam, dass die U-Bahn mehr an unwiderstehlichen Dingen zu bieten hatte als die berühmte Stadt oben. Es gab dort draußen am helllichten Nachmittag nichts Wichtiges, das er nicht in diesen Tunnels unter den Straßen in reinerer Form hätte finden können.

 

 

Sie saßen vor dem Fernseher im Kellerraum, Mutter und Sohn. Sie hatte für den Motorola einen getönten Filter gekauft. Das obere Drittel des Bildschirms war ständig blau, das mittlere Drittel war rosa und der Streifen ganz unten von einem wogenden Grün. Er erzählte ihr, dass er wieder die Schule geschwänzt hatte und mit der U-Bahn nach Brooklyn rausgefahren war, wo ein Mann einen Mantel trug, an dem ein Ärmel fehlte. »Blaumachen« hieß das hier. Marguerite fand es nicht so schlimm, wenn er hin und wieder einen Tag fehlte. Die anderen Kinder piesackten ihn die ganze Zeit, und er hatte Schwierigkeiten, mitzukommen, eine Unruhe trieb ihn um, das Übliche bei einem Jungen, der vaterlos aufwuchs. Wie damals, als er John Edwards Braut mit einem Taschenmesser bedroht hatte. Nicht dass Marguerite geglaubt hätte, ihre Schwiegertochter sei es wert, Mittelpunkt einer denkwürdigen Auseinandersetzung zu werden. Sie war keine Person von Format, und sie stritten sich nur, weil er an einem Stück Holz herumgeschnitzt und die Schnitzel auf den Fußboden ihrer Wohnung hatte fallen lassen, wo sie versuchten, wieder als Familie zuammenzuleben. Das war nun vorbei. Sie wurden dort nicht mehr geduldet und zogen in den Kellerraum in der Bronx – Küche und Schlafzimmer und alles in einem –, wo blaue Köpfe aus dem Fernseher auf sie einredeten.

Wenn es kalt wurde, schlugen sie gegen die Leitungsrohre, um dem Hausverwalter Bescheid zu sagen. Sie hatten einen Anspruch darauf, dass ordentlich geheizt wurde.

Sie saß da und hörte sich die Klagen des Jungen an. Sie konnte ihm zwar nicht immer, wenn er wollte, eine Platte Koteletts hinstellen, aber sie war beim Lunchgeld nicht kleinlich und legte sogar noch was für ein Comicheft oder eine U-Bahn-Fahrt drauf. Zeit ihres Lebens hatte sie mit der Ungerechtigkeit dieser Klagen fertig werden müssen. Edward ließ sie sitzen, als sie mit John Edward schwanger war, weil er nicht für ein Kind aufkommen wollte. Robert fiel ihr an einem dampfenden Sommertag auf der Alvar Street in New Orleans tot um, als Lee bereits unterwegs war, und das hieß, dass sie Arbeit finden musste. Dann kam der grinsende Mr Ekdahl, die größte, die einzige Hoffnung, ein älterer Mann, der fast tausend Dollar im Monat verdiente, ein Ingenieur. Doch er beging gerissen so manchen Ehebruch, ehe sie ihn schließlich ertappte, als dem Jungen, den sie angeheuert hatte, ein fingiertes Telegramm zu überbringen, von einer Frau im Negligé die Tür geöffnet wurde. Das hielt Dr. Ekdahl aber nicht davon ab, eine Scheidung auszuhecken, bei der sie um eine anständige Abfindung betrogen wurde. Ihr Leben wurde zu einer Geschichte immer neuer Umzüge in immer billigere Wohnungen.

Lee sah in der Tageszeitung ein Foto von Griechen, die im Hafen von einer Landungsbrücke sprangen und nach irgendeinem heiligen Kreuz tauchten. Ihre Priester hatten Bärte.

»Glaubst wohl, ich weiß nicht, was mir hier zusteht.«

»Ich bin den ganzen Tag auf den Beinen gewesen«, sagte sie.

»Ich bin für dich nur ein Klotz am Bein.«

»So was hab ich nie.«

»Glaubst wohl, es macht mir Spaß, mein eigenes Essen zu kochen.«

»Ich arbeite. Ich arbeite. Oder etwa nicht?«

»Wenn hier kaum was Essbares zu finden ist.«

»Ich gehör nicht zu denen, die bloß rumsitzen und jammern.«

Donnerstagabend sah er sich immer die Krimiserien an. Sonderdezernat, Stahlnetz und so weiter. Vor dem vergitterten Fenster Schneetreiben, schräge Striche im Licht der Straßenlaterne. Kälte und Nässe des Nordens. Sie kam nach Hause und sagte ihm, dass sie wieder umzögen. Sie hatte drei Zimmer in der Bronx gefunden, nicht weit vom Zoo, vielleicht ganz reizvoll für einen Jungen, der Tiere mochte.

»Reines Naturprodukt«, kam es aus dem Fernseher.

Es war eine Eisenbahnerwohnung in einem roten Backsteinhaus, fünf Stockwerke, in einer Straße voll grausamer Anblicke. Ein geistig zurückgebliebener Junge in Lees Alter hinkte und hoppelte umher, in den Händen einen lebenden Krebs, den er im Laden des Italieners gestohlen hatte und den er nun kleineren Kindern unter die Nase hielt. Das war hier nichts Besonderes. Gezielte Steinwürfe waren nichts Besonderes. Jungen mit selbst gebastelten Pistolen aus dem Werkunterricht waren nichts Besonderes mehr. Von seinem Fenster aus sah er nachts einmal, wie zwei Jungen die Katze aus dem Lebensmittelgeschäft in einen Rupfensack steckten und den Sack gegen einen Laternenpfahl schlugen. Er versuchte, seine eigenen Unternehmungen auf den Rhythmus der Straße abzustimmen. Meide die Straße mittags zwischen zwölf und eins, zwischen drei und fünf. Mach die schmalen Durchgänge zwischen den Häusern ausfindig, nutz das Dunkel. Er fuhr mit der U-Bahn. Er verbrachte viele Stunden im Zoo.

Es gab ältere Männer, die sich erst auf die kleine Vortreppe setzten, nachdem sie ihr Taschentuch sorgfältig auf dem grauen Stein ausgebreitet hatten.

Seine Mutter war klein und schmächtig und wurde nun allmählich grau. Sie nannte sich gern zierlich, im Spaß zwar, meinte es aber ernst. Sie beobachteten einander beim Essen. Er brachte sich das Schachspielen bei und hatte dazu ein Buch auf dem Küchentisch liegen. Niemand wusste, wie viel Mühe ihm das Lesen machte. Sie kaufte allerlei Figürchen und Schnickschnack und redete über das Thema ihres Lebens. Er hörte ihre Schritte, hörte ihren Schlüssel im Schloss.

»Da ist wieder eine dieser Mitteilungen«, sagte Marguerite, »in der sie mit einer Untersuchung drohen. Hast du die anderen versteckt? Die wollen eine Untersuchung wegen deiner Schulschwänzerei. Das ist die letzte Warnung, steht hier, und sie sagen, du bist noch nie in der Schule gewesen, seit wir umgezogen sind. Nicht einen Tag. Ich möchte bloß wissen, warum ich diese Dinge durch die Post erfahren muss. So was ist ein Schlag, ein richtiger Schock für mich.«

»Was soll ich denn in der Schule? Die wollen mich dort nicht haben, und ich will nicht dort sein. Das geht doch prima auf.«

»Die werden durchgreifen. Es ist nicht wie daheim. Die bringen uns vor Gericht.«

»Ich brauch keine Hilfe vor Gericht. Geh du nur arbeiten, so wie immer.«

»Ich hätte alles dafür gegeben, daheim bleiben und meine Kinder großziehen zu können, und das weißt du auch. Das ist ein wunder Punkt bei mir. Und vergiss nicht, ich bin auch nur mit einem Elternteil aufgewachsen. Ich weiß, was für eine böse Sache das ist. Ich hab bei uns zu Hause in Läden gearbeitet, wo ich für alles zuständig war.«

Jetzt war sie nicht mehr zu halten. Sie würde vergessen, dass er neben ihr saß. Die nächsten zwei Stunden würde sie mit ihrem hohen Singsang füllen, wie jemand, der einem Kind vorliest. Er sah auf das DuMont-Testbild.

»Ich liebe meine Vereinigten Staaten, aber ich lege keinen Wert auf einen Auftritt im Gerichtssaal, wie damals, als mir Mr Ekdahl unberechenbare Wutausbrüche anhängte. Die werden darauf hinweisen, dass sie uns von Amts wegen gewarnt haben. Ich werde ihnen sagen, dass ich zwar eine Frau ohne Schulbildung bin, dass ich mich aber in guter Gesellschaft benehmen kann und dass ich einen ordentlichen Haushalt führe. Wir sind eine alte Soldatenfamilie. Damit werde ich mich verteidigen.«

 

 

Der Zoo war drei Straßen weiter. Spuren von Eis säumten den Wildententeich. Er ging hinunter zum Löwenhaus, die Hände tief in den Jackentaschen. Niemand da. Der Geruch traf ihn mit voller Wucht, eine Wärme und eine Kraft, der großartige Raubtiergeruch nach rohem Fleisch und Fell und dampfender Pisse.

Als die schweren Tore aufgingen und laute Stimmen zu hören waren, wusste er, was ihn erwartete. Zwei Jungs aus der Schule 44. Ein stämmiger Junge namens Scalzo in einer hüftlangen Matrosenjacke und klappernden Schuhen mit einem kleineren rotznasigen Witzbold, von dem Lee nur den Spitznamen kannte, nämlich Nicky Black. Sie waren hier, um die Tiere zu ärgern und den üblichen Wirbel zu machen, der ihre Tage ausfüllte. Fast spürte er ihre hämische Freude, als sie ihn entdeckten, ein kleines Muskelzucken im Hals.

Scalzos Stimme polterte durch den hohen Raum.

»Jeden Tag rufen sie in der Schule deinen Namen auf. Was ist das eigentlich für ein Name, Lee? Ein Mädchenname oder was?«

»Sein Name ist Tex«, sagte Nicky Black.

»Er ist ein Viehtreiber«, sagte Scalzo.

»Du weißt doch, was Viehtreiber tun, oder? Sag’s ihm, Tex.«

»Sie treiben’s mit den Kühen«, sagte Scalzo.

Lee ging mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln durch den Nordausgang, dann die Stufen hinunter und um die Ecke zu den reich verzierten Käfigen der Raubvögel. Er hatte nichts gegen eine Prügelei. Er war bereit, sich zu prügeln. Er hatte sich mit dem Jungen geprügelt, der mit Steinen nach seinem Hund geworfen hatte, hatte gekämpft und gewonnen, ihn gründlich vermöbelt, ihn fertiggemacht, ihm die Nase blutig geschlagen. Das war in der Vermont Street in Covington, als er einen Hund hatte. Aber diese Sticheleien waren eine Qual. Die beiden würden ihn weiterhin ärgern, das Interesse verlieren, einen großen Bogen machen und immer wieder zurückkommen, auf ihm herumhacken, in der Wunde stochern, immer tiefer bohren.

Scalzo schlenderte auf eine Gruppe älterer Jungen und Mädchen zu, die sich rauchend um eine Bank drängten. Lee hörte jemanden sagen: »Ein zweifarbiger Olds, V-8-Maschine und Sportfelgen.«

Der Königsgeier saß auf seiner Stange, Kopf und Hals nackt. Es gibt Geier, die zerbrechen Straußeneier, indem sie mit dem Schnabel Steine dagegenschleudern. Nicky Black stand neben ihm. Es wurde immer der ganze Name benutzt, nie einfach Nicky oder Black.

»Hin und wieder blaumachen, ist eine Sache. Sehr gut, sag ich. Aber du bleibst gleich vier Wochen lang weg.«

Es hörte sich an wie ein Kompliment.

»Spielst du Billard, Tex? Irgendwas musst du schließlich tun, bist doch den ganzen Tag zu Hause. Taschenbillard, stimmt’s? Denk fix.«

Er täuschte einen Schlag in Lees Unterleib an, wich zurück.

»Und überhaupt, wieso lebst du eigentlich im Norden? Mein Bruder war in Fort Benning in Georgia stationiert. Der sagt, unten im Süden müssen sie einen Kieselstein in die Hand nehmen, damit sie wissen, wo links und rechts ist. Das stimmt doch, oder?«

Er nahm die Fäuste hoch wie beim Sparring, wackelte mit dem Kopf und atmete rasch durch die Nase.

»Mein Bruder ist bei der Küstenwache«, sagte Lee zu ihm. »Deshalb sind wir hier. Er ist auf Ellis Island stationiert. Zur Sicherung des Hafens, wie das heißt.«

»Mein Bruder ist jetzt in Korea.«

»Mein anderer Bruder ist im Marinekorps. Vielleicht schicken sie ihn bald nach Korea. Davor hab ich Angst.«

»Vor den Koreanern brauchst du keine Angst zu haben«, sagte Nicky Black. »Aber vor den Scheiß-Chinesen.«

In seiner Stimme schwang Ehrfurcht mit, ein leises Wehklagen. Er hatte zerschlissene Stiefel und eine Armeejacke an, die ebenso dürftig war wie Lees Windjacke. Er war klein wie ein Zwerg und schniefte dauernd, und seine linke Gesichtshälfte war zu einem Dauergrinsen erstarrt.

»Ich weiß, wo man Süßkartoffeln von einem Lastwagen klauen kann. Wir rösten sie immer auf dem Grundstück bei Belmont. Gibt’s bei euch da unten im Süden auch Süßkartoffeln? Ich weiß, wo man diese Heftchen kriegt, die man schnell durchblättern muss, und dann sieht man Leute beim Vögeln. Der Kleine kennt sich da aus. Der Kleine geht von der Schule ab, sowie er sechzehn ist. Ich kann euch sagen.«

Er blies einen Tabakkrümel von der Zungenspitze.

»Der Kleine geht auf dem Bau arbeiten. Als Erstes kauft er sich zehn Hemden mit Mr-B-Kragen. Er spart Geld und hat ruckzuck einen Wagen. Er poliert den Wagen alle vier Wochen. Der Wagen bringt ihm die Puppen ins Bett. Dem Kleinen macht keiner was vor.«

Der Typ, der mit lässig pendelnden Schultern näher kam, war Scalzo. Die Flicken auf seinen Schuhsohlen kratzten leicht über den rauen Asphalt.

»Wieso redest du eigentlich nie mit mir, Tex?«

»Lass mal hören, wie ’n lahmarschiger Texaner redet«, sagte Nicky Black.

»Einwandfrei.«

»Sag was zu Richie. Wo er so nett drum bittet.«

»Aber richtig texanisch. Einfach so. Ich will das schon lang mal hören.«

Lee lächelte und ging dann an der Gruppe vorbei, die sich um die Parkbank drängte und im Wind Zigaretten anzündete, die fünfzehnjährigen Mädchen mit knallroten Lippen, die Jungen in Niethosen mit aufgesteppten Sattelnähten und Pistolentaschen. Vom Hauptplatz nahm er den Weg zu dem Ausgang, der seiner Straße am nächsten lag.

Scalzo und Nicky Black waren zehn Schritte hinter ihm.

»He, Bubi.«

»Er lutscht Pinkelsteine.«

»Schlechter Atem kussfrisch in Sekunden.«

»Eins zwo, eins zwo.«

»Einwandfrei.«

»Eins zwei, Cha-Cha-Cha.«

»Der hat vom Wichsen keine Ahnung.«

»Ich kann euch sagen.«

»Aber wieso redet er nicht mit mir?«

»Was müssen wir eigentlich tun?«

»Rauch ’ne Schwuchtel in der Pfeife.«

»Jeder Zug ein Genuss.«

»Einwandfrei.«

»So red schon mit uns.«

»Wir reden dir wohl nicht fein genug, oder was.«

»Nun sag schon was.«

»Denk fix, Tex.«

»Einwandfrei.«

Am Ausgang fragte ihn ein Mann mit Krawatte und Lumberjack nach seinem Namen. Lee sagte, mit Yankees rede er nicht. Der Mann deutete auf eine Stelle am Boden, um ihm klarzumachen: Hier bleibst du stehen, bis wir diese Sache geregelt haben. Dann ging er zu den beiden anderen Jungen hinüber und unterhielt sich kurz mit ihnen, wobei er in Lees Richtung zeigte. Nicky Black sagte nichts. Scalzo zuckte mit den Achseln. Der Mann wies sich als Beamter zur Überwachung der Schulpflicht aus. Scalzo kratzte sich zwischen den Beinen und sah ihm in die Augen: Na und, Mister. Nicky Black hüpfte, wie um sich warm zu halten, von einem Bein aufs andere, die Hände in den Taschen, und grinste breit mit seinen vorstehenden Zähnen.

Draußen auf der Straße ging der Mann mit Lee zu einem grünweißen Streifenwagen. Lee war beeindruckt. Am Lenkrad saß ein Polizist. Er steuerte mit einer Hand und hatte die andere, die sich um eine Zigarette wölbte, zwischen den Knien liegen.

 

 

Marguerite blieb lange auf und sah das Testbild an.

Lee liebte die Tiere, und so war der Zoo ein Segen, aber sie haben ihn in die Stadt geschickt, in ein Haus, wo die Irrenärzte vierundzwanzig Stunden am Tag auf ihm herumhacken. Jugendarbeit. Jede Menge Puertorikaner. In dem Geplapper muss er duschen. John Edward wollte ihn dazu bringen, sich mit dem Irrenarzt zu unterhalten, aber Lee redet kein Wort mehr mit John Edward, seit er John Edwards Braut mit dem Taschenmesser bedroht hat. Sie haben ihn in einen Schlafraum für Neuankömmlinge gelegt. Sie wollen von ihm wissen, ob er Fingernägel kaut. Sie fragen ihn nach der Religionszugehörigkeit und was nicht alles. Stört er oft im Unterricht? Er kennt den Slang nicht, Euer Ehren. Und überall sind hier diese typischen New Yorker Jungs. Die sehen meinen Sohn in Bluejeans, seinen Levis. Was ist schon Besonderes daran? Aber sie hänseln ihn und fragen ihn, ob er glaubt, er wäre Billy the Kid. Hier geht’s um einen Jungen, der mit seinen Brüdern Monopoly gespielt und ein normales Zeugnis nach Hause gebracht hat, solange wir noch zusammen mit Mr Ekdahl in der Eighth Avenue in Fort Worth gewohnt haben. Es ist nur eine Frage der Anpassung, Herr Richter. Es war nur ein Schnitzmesser, und er hat sie ja gar nicht verletzt, und jetzt reden sie nicht mehr miteinander, Brüder. Dieser Junge studiert das Leben von Tieren, Tieren in ihren Erdlöchern und Höhlen. In ihren Lagern, kann man das sagen? Er ist weit für sein Alter, Euer Ehren. Schon als er ganz klein war, hab ich gesagt, er interessiert sich für Geschichte und Landkarten. Er weiß unglaubliche Dinge, auch ohne den normalen Schulunterricht. Dieser Junge hat in meinem Bett geschlafen, bis er fast elf war, weil wir keinen anderen Platz hatten, und wir beide haben in einem besonders schäbigen, winzigen Zimmer gewohnt, als seine Brüder im Waisenhaus oder auf der Militärakademie oder im Marinekorps und bei der Küstenwache waren. Die meisten Söhne glauben, ihr Daddy kann ihnen den Mond vom Himmel holen, aber der arme Mann fiel einfach um und lag tot im Gras, und das war das Ende vom einzigen glücklichen Abschnitt in meinem Erwachsenenleben. Seither heißt es nur noch Marguerite und Lee. Mutter und Sohn. Von wegen vernachlässigen – das hat es nie gegeben. Die sagen, er schwänzt die Schule, sagen die, und dass er den ganzen Tag zu Hause vorm Fernseher sitzt. Sie reden von einer gerichtspsychiatrischen Untersuchung. Sie reden von Betreuung durch die Protestantischen Brüder. Er hat aber schon Brüder. Wozu noch mehr Brüder? Und von der Heilsarmee ist die Rede. Sie wickeln die Bonbons aus, die ich meinem Sohn mitbringe. Sie wühlen in meiner Handtasche rum. Diese Behandlung ist herabsetzend. Es ist nicht meine Schuld, wenn er sich nicht ordentlich anzieht. Warum denn dieser Wirbel? In Texas ist ein Junge, der die Schule schwänzt, nicht gleich ein Verbrecher, der eingesperrt und untersucht wird. Sie haben meinen Jungen zu einer Eintragung im Kalender gemacht. Sie erwarten, dass ich sie um Erlaubnis bitte, wenn ich nach Hause zurückwill. Wir sind nicht die gewöhnlichen Zugvögel, als die sie uns hinstellen. Wie kann denn um Himmels willen – und ich bin eine Christin – eine nachlässige Mutter ein so sauberes Zuhause bieten, das ich gern zum Beweis vorführe, mit ein paar heiteren Akzenten und alles an seinem Platz. Ich scheue mich nicht davor, unser Essen gut einzuteilen. Es ist schließlich keine Schande, Bohnen zu kochen und Maisbrot zu backen und es sich dann gut einzuteilen. Der Geizkragen war Mr Ekdahl, damals in der Granbury Road in Benbrook, als er anfing, die Ehe zu brechen. Aber mir hat man Ausschreitungen und Wutausbrüche vorgeworfen. Ich habe meinen alten Namen wieder angenommen, Euer Ehren. Marguerite Claverie Oswald. Wir sind dann in die Willing Street gezogen, an die Bahnlinie.

 

 

Er zeichnete Männchen, und seinen Zeichnungen wurde eine gewisse Verarmung zugeschrieben.

Der Psychologe bescheinigte ihm eine »gehobene Normal-Intelligenz«.

Die Sozialarbeiterin schrieb: »Bei der Befragung stellte sich heraus, dass es ihm fast so vorkommt, als gebe es zwischen ihm und anderen Menschen einen Schleier, durch den hindurch sie ihn nicht erreichen können, aber er legt Wert darauf, dass dieser Schleier intakt bleibt.«

Die Lehrerin in der Schule berichtete, dass er Papierflieger durchs Klassenzimmer segeln ließ.

 

 

Er kehrte für den Rest des Schuljahrs in die siebte Klasse zurück. Im Dämmerlicht der Sommerabende fanden sich die Mädchen bei den Bänken am Bronx Park South ein. Jüdische Mädchen, italienische Mädchen in engen Röcken, Mädchen mit Kettchen um die Knöchel, im Gemurmel ihrer Stimmen tauchen immer wieder Jungennamen auf, Liedtexte, kleine Bemerkungen, die er nicht alle verstand. Sie sprachen ihn an, wenn er vorüberging, und er reagierte mit seinem unerforschlichen Lächeln.

Ah, eine nach Bier riechende Frau, im Bus auf dem Weg vom Strand nach Hause. Nach einem Tag in Sonne und Wasser spürt er das müde salzige Brennen in den Augen.

»Als ich dich damals bei meiner Schwester untergebracht habe«, sagte Marguerite, »war das Problem, dass sie einfach selbst zu viele Kinder hatte. Dazu die normalen Familienstreitigkeiten. Das bedeutete, dass ich Mrs Roach in der Pauline Street einstellen musste, als du zwei warst. Aber einmal kam ich heim und sah, dass sie dich schlug, du hattest Striemen an den Beinen, und da sind wir in den Sherwood Forest Drive umgezogen.«

Hitze drang durch die Mauern und Fenster in die Wohnung, sickerte durch das geteerte Dach. Männer trugen sonntags Gebäck in weißen Schachteln durch die Straßen. In einem Süßwarenladen wurde ein Italiener ermordet, von fünf Schüssen so getroffen, dass sein Gehirn neben dem Ständer mit den Comicheften gegen die Wand klatschte. Aus der ganzen Umgebung strömten Kinder in den Laden, um sich die Spuren der gräulichen Spritzer anzusehen. Seine Mutter verkaufte in Manhattan Strümpfe.

Eine Frau auf der Straße, völlig normal aussehend, vielleicht fünfzig Jahre alt, mit Brille und in einem dunklen Kleid, drückte ihm am Fuß der Hochbahntreppe ein Flugblatt in die Hand. Rettet die Rosenbergs, stand darauf. Er wollte es zurückgeben, denn er glaubte, er müsse dafür bezahlen, aber sie hatte sich bereits abgewandt. Er ging nach Hause, wo er im Radio die träge Stimme eines Baseballreporters hörte. Hier ist noch viel Platz, Leute. Kommt raus und genießt dieses Spiel und danach gleich noch eins. Es war Sonntag. Muttertag, und er faltete das Flugblatt säuberlich zusammen und steckte es in die Tasche, um es später zu lesen.

Es gibt eine Welt innerhalb der Welt.

Er fuhr mit der U-Bahn nach Inwood rauf, hinaus zur Sheepshead Bay. Es gab ernste Männer dort unten, die sich im kupferroten Licht wiegten. Er sah Chinesen, Bettler, Männer, die mit Gott redeten, Männer, die in den Zügen lebten, Tag und Nacht, angeschlagen, mit verfilztem Haar, als geduldige Bündel auf den Korbsitzen schlafend. Er hatte sich einmal an den Drehkreuzen vorbeigeschmuggelt. Er fuhr zwischen den Waggons und hielt sich dabei an der schweren Kette fest. Er spürte die Reibung zwischen Rädern und Geleisen in den Zähnen. Die Züge fuhren manchmal so schnell. Er genoss das Gefühl, dass sie im Grenzbereich waren. Woher wollen wir wissen, dass der Wagenführer nicht verrückt ist? Eine merkwürdige Erregung packte ihn. Die Räder entfesselten blau-weißen Funkenregen, wo alles außer Kontrolle geraten musste. Menschen drängten herein, jedes nur denkbare Gesicht aus dem Buch der Gesichter. Sie schoben sich durch die Türen, sie hingen an den Porzellanhaltern. Er wollte nur U-Bahn fahren, sonst nichts. Der Lärm war eine Macht, eine menschliche Kraft. Die Dunkelheit war eine Macht. Er stand vorne im ersten Wagen, die Hände platt gegen das Glas gedrückt. Der Blick auf die Schienen war eine Art von Macht, ein Geheimnis und eine Macht. Die Lichtkegel suchten sich geheimnisvolle Dinge. Der Lärm war von einer Wildheit, die er in seinem Kopf wiederfand, eine wohltuende Welle der Wut und des Schmerzes.

Nie wieder in seinem kurzen Leben, nirgends auf der Welt, würde er je noch einmal diese innere Macht spüren, die zu einem schrillen Schrei anschwoll, diese geheimnisvolle Kraft der Seele in den Tunnels unter New York.

17. April

Nicholas Branch sitzt in dem mit Büchern gefüllten Raum, dem Raum der Dokumente, dem Raum der Theorien und Träume. Im fünfzehnten Jahr müht er sich jetzt damit ab und fragt sich manchmal, ob er nicht wesenlos wird. Dass er alt wird, weiß er. Zeitweise kann er sich nicht auf die vorliegenden Fakten konzentrieren und muss immer und immer wieder auf die Seite, die Zeile, das feinkörnige Detail eines bestimmten Nachmittags zurückkommen. Er gleitet in diese Nachmittage hinein und wieder heraus, die hellen heißen Himmel, die dürftigen Daten Farbe und Tiefe geben. Er schläft manchmal ein, auf dem Stuhl zusammengesackt, die gekrümmten Finger einer Hand am Teppichboden. Dies ist der Raum des Alterns, der feuersichere Raum, überall Papier.

Doch er weiß, wo alles ist. Aus einem Aktenstapel, der sich an einer Wand bis zu halber Zimmerhöhe auftürmt, zieht er geschickt genau die Akte heraus, die er haben will. Die Stapel sind überall. Die Schreibblöcke und Bandkassetten sind überall. Die Bücher füllen hohe Regale an drei Wänden und bedecken den Schreibtisch, einen weiteren Tisch und einen großen Teil des Fußbodens. Ein wuchtiger Aktenschrank ist vollgestopft mit Dokumenten, so alt und dicht gepackt, dass sie möglicherweise drauf und dran sind, sich selbst zu entzünden. Hitze und Licht. Keine Systematik hilft ihm, das Material in dem Raum aufzuspüren. Er nutzt Hand und Auge, Farbe und Form und Erinnerung, die äußere Gestalt aufschlussreicher Dinge, die einen Gegenstand mit seinem Inhalt verknüpfen. Er wacht plötzlich auf und weiß nicht recht, wo er ist.

Manchmal blickt er um sich, entsetzt über das Gewicht des Ganzen, über die Karriere von Papier. Er sitzt inmitten der Datenjauche aus Hunderten von Menschenleben. Ein Ende ist nicht in Sicht. Wenn er etwas braucht, einen Bericht oder eine Abschrift, irgendetwas, gleich wie schwierig, braucht er es nur zu sagen. Der Kurator reagiert schnell, besteht nachdrücklich darauf, genau das richtige Dokument in einem Bereich der Untersuchung zu liefern, der durch Doppeldeutigkeiten und Irrtümer gekennzeichnet ist, durch politische Vorurteile und systematisches Fantasieren und nicht nur das richtige Dokument, nicht nur eine unbedeutende Fußnote aus einer frei zugänglichen Quelle. Der Kurator schickt ihm Material, das noch kein Mensch außerhalb des Hauptquartiers in Langley gesehen hat, Material, das die Ergebnisse interner Untersuchungen umfasst, vertrauliche Akten direkt aus dem CIA-eigenen Sicherheitsbüro. Branch ist dem derzeitigen Kurator noch nie begegnet und bezweifelt, dass er ihn je kennenlernen wird. Sie verkehren telefonisch miteinander, kurz und knapp, aber nie unhöflich, denn irgendwie sind sie ja Kollegen.

Nicholas Branch in seinem mit feinem Leder bezogenen Lehnsessel ist ein pensionierter Leitender Analytiker der CIA, der sich vertraglich dazu verpflichtet hat, die geheime Geschichte der Ermordung von Präsident Kennedy zu schreiben. Sechskommaneun Sekunden Hitze und Licht. Lasst uns eine Sitzung einberufen und das verschwommene Foto analysieren. Lasst uns alles dem Bemühen unterordnen, diesen Augenblick zu verstehen, die einzelnen Bruchteile jeder ereignisreichen Sekunde voneinander zu trennen. Wir werden Theorien aufstellen, die funkelnden Jadegötzen gleichen, faszinierende, auf Mutmaßungen aufgebaute Denkmodelle, viergesichtig, elegant. Wir werden die Flugbahnen der Kugeln zurückverfolgen, bis hin zu Lebensgeschichten, die sich im Schatten abspielen, zu leibhaftigen Männern, die in ihren Träumen stöhnen. Elm Street. Eine Frau wundert sich, dass sie im Gras sitzt, ringsum von Blutspritzern umgeben. Tenth Street. Eine Zeugin lässt ihre Schuhe auf der Motorhaube eines Wagens liegen, der einem blutenden Polizisten gehört. So merkwürdig, findet Branch, dass es fast etwas Heiliges hat. Vieles hier ist heilig, eine Abweichung im Herzland der Realität. Wir sollten die Dinge wieder in den Griff bekommen.

Er gibt ein Datum in den Home-Computer ein, den der CIA ihm der bequemen Nachforschungen wegen zur Verfügung gestellt hat. 17. April 1963. Sofort erscheinen die Namen, zusammen mit den Hintergrundinformationen, Verbindungen, Örtlichkeiten. Der helle heiße Himmel. Die schattige Straße voll hübscher alter Häuser mit Fachwerk aus heimischer Eiche.

 

 

Amerikanische Küche. Diese hier hat eine Frühstücksnische, in der ein Mann namens Walter Everett jun. am Tisch saß und nachdachte, Win, wie sie ihn nannten, versunken in die ringsum sich mehrenden Morgengeräusche, das Erwachen altvertrauter Laute, Mosaik und Herzschlag in jedem glücklichen Zuhause, das Klicken der herausspringenden Toastbrote, Radiostimmen mit ihrem vertrauten und geschäftigen Timbre, ein optimistisches Summen in den Ohren. Der Record-Chronicle lag noch so, wie ihn der Zeitungsjunge zusammengefaltet hatte, neben seinem Ellbogen. Bilder flackerten im sonnenbeschienenen Glanz der Küchengeräte, etwas war immer in Bewegung, eine wandernde Helligkeit, so viel Wissenswertes in der Welt. Er rührte in seinem Kaffee, dachte nach, rührte, saß da in dem alles überflutenden Licht, ließ den Löffel nun pendeln – allem Anschein nach ein sanfter und zurückhaltender Mann.

Er dachte über Geheimnisse nach. Warum brauchen wir sie, und was bedeuten sie? Seine Frau griff nach dem Zucker.

Wichtige Gedanken beschäftigten ihn beim Frühstück. Gedanken beschäftigten ihn mittags in seinem Büro im altehrwürdigen Old-Main-Gebäude. Abends saß er auf der Veranda und dachte nach. Er hielt es für ein Naturgesetz, dass sich Männer mit Geheimnissen oft zueinander hingezogen fühlen, nicht weil sie ihr Wissen mit jemandem teilen wollen, sondern weil sie die Gesellschaft der Gleichgesinnten, der Leidensgenossen, brauchen – kurze Ferien von jenem anderen Leben, von der unheimlichen Wirklichkeit des Zusammenlebens mit Menschen –, die nicht von Berufs wegen oder im Dienst Geheimnisse haben oder deren Arbeit nicht untrennbar mit der eigenen Existenz verknüpft ist.

Mary Frances sah zu, wie er den Toast mit Butter bestrich. Er hielt das Brot zwischen den Fingern der linken Hand und führte das Messer in gleichmäßigen Bewegungen hin und her, hin und her. Wollte er nur die Butter gleichmäßig verteilen? Oder gab es andere, tiefer liegende Bedürfnisse? Es war traurig mit anzusehen, wie er sich in einer nichtigen Tätigkeit verlor, ewig Butter verteilte, aus einer alltäglichen Sache eine leere Zwangshandlung machte, ohne Sinn oder Notwendigkeit.

Sie verstand es, sich nur in vernünftigem Maße Sorgen zu machen. Sie verstand es, den Klang ihrer eigenen Stimme so einzusetzen, dass er auf den sicheren und festen Boden zurückkehrte, an den gedeckten Frühstückstisch, am zehnten sonnigen Tag hintereinander.

»Einer der schönsten Augenblicke? Und ich hab das nie wahrgenommen, bevor wir hierhergezogen sind? Leute, die aus der Kirche strömen. Einfach an der Treppe stehen bleiben und miteinander reden. Ist das nicht ein wunderschöner Anblick?«

»Du hast geglaubt, hier unten gibt’s nur Banditen.«

»Mir gefällt es hier. Du hast doch die Probleme.«

»Männer, die stolz und aufrecht in die Kneipe gehen. Durstig vom Viehauftrieb.«

»Ich rede von Kirchen auch anderswo. Ich hab das einfach nie beachtet.«

»Ich sehe gern Leute, die aus Motels kommen.«

»Nein, ganz im Ernst. Es ist doch ein reizvoller Anblick, wenn die Leute nach dem Gottesdienst langsam aus der Kirche kommen und sich auf dem Rasen oder der Treppe zu kleinen Gruppen zusammenfinden. Sie sind so schön angezogen.«

»Genau deshalb mochte ich als Junge die Sonntage nicht. All die altmodischen Leute in ihrer steifen Kleidung. Das hat mich immer fürchterlich deprimiert.«

»Was ist daran so schlimm? Also, ich bin gern eine altmodische Frau.«

»Dich hab ich auch nicht gemeint.«

Er streckte die Hand aus und strich ihr kurz über den Arm, wie immer, wenn er das Gefühl hatte, er könnte etwas Falsches gesagt oder ihr das Wort abgeschnitten haben. Hör nicht auf meine Worte. Trau meinen Händen, meiner Berührung.

»Es hat so was Behagliches«, sagte sie.

Wir gehen gern aufeinander zu, um beim anderen Trost für unsere Krankheit zu suchen. Der Gedanke beschäftigte ihn am Frühstückstisch in dem freundlichen alten, um die Jahrhundertwende erbauten Haus, mit der geschwungenen Veranda, den Eichenpfeilern, die von einer Klettertrompete umrankt waren. Er hatte Zeit zum Nachdenken, Zeit, alt zu werden, ein alter Mann in Aspik, aus Seife geschnitzt, wunderlich und weiß. Es war nicht ungewöhnlich, dass Männer im Geheimdienst mit einundfünfzig in den Ruhestand gingen. Von irgendeinem Ausschuss war einem Versorgungsplan zugestimmt worden, und in einer amtlichen Erklärung war vom beschwerlichen Leben dieser Leute die Rede, von ihren familiären Problemen, von der Vergänglichkeit von Aufträgen. Doch Win Everetts Rückzug war nicht ganz freiwillig. Es gab da die Geschichte in Coral Gables. Es gab Tests mit dem Lügendetektor. Und von Spezialisten auf drei Ebenen bekam er den Begriff »Motivationsverlust« zu hören. Zwei davon waren CIA-Psychiater, der dritte ein freigegebener Kontaktmann in der Außenwelt, die ihm so unheimlich und real vorkam.

Sie bezeichneten es als »aktiven Ruhestand«. Eine semantische Liebenswürdigkeit. Sie besorgten ihm hier eine Dozentenstelle und zahlten ihm ein Honorar dafür, dass er vielversprechende Nachwuchskräfte anwarb. An einem reinen Mädchen-College hatte das einen reichlich komischen Anstrich, den sogar Win auf eine bittere und selbstzerstörerische Art zu schätzen wusste, als sei er immer noch auf ihrer Seite und betrachte sich selbst aus einer gewissen Distanz.

So weit kommt es schließlich mit uns, dachte er. Dass wir uns selbst bespitzeln. Wir sind unserer eigenen inneren Distanz ausgeliefert. Ein Frühstücksgedanke.

Er klappte die leicht getoastete Brotscheibe zusammen, endlich bereit, mit dem Essen zu beginnen. In seinem Körper sah Mary Frances die Kraft der Überzeugung. Schmal und leicht gebaut. Ein sanftes Gesicht, klare Augen, eine hohe und traurige und gefleckte Stirn. Dieser Mann war von glühenden Überzeugungen erfüllt, von einem Gefühl für gerechte Anliegen. Mary Frances sah das nun klarer als je zuvor, nachdem sie ihn aus den Kommissionen und Planungsgruppen, den Projektgruppen und geheimen Ausbildungslagern verbannt hatten. Ohne echte Pflichten, ohne Kontakt zu den Männern und Ereignissen, die seine Hingabe mit Leben erfüllten, gab es für ihn nur noch das Grundsätzliche, nur noch die Hingabe. Sie fürchtete, er könnte zu einem jener Männer werden, die aus ihrem Groll eine heilige Sache machen, die über die Jahre in einem reinen und gequälten Licht erstrahlt. Im Radio sprachen sie von fünfundzwanzig Grad. Gott ist in Texas gesund und munter.

Suzanne, ihre Sechsjährige, kam herein, offenbar schon wieder hungrig. Den Kopf auf seinen Arm gestützt, stand sie neben ihrem Daddy, einen Fuß etwas über den anderen geschoben, fast mürrisch, das alltägliche Betteln um Aufmerksamkeit. Ihr Haar war vom gleichen nüchternen Blond wie das ihrer Mutter, dicht und drahtig, doch ihr Gesicht war blasser als das von Mary Frances, ohne die Spuren von Wind und Wetter. Weil sie sich ein Kind gewünscht, die Hoffnung aber schon aufgegeben hatten, verkörperte sie etwas Selbstloses in der Welt, eine hochherzige Kraft, die den Kleinmut der Eltern in bewundernde Ehrfurcht verwandeln konnte. Win zog sie auf seinen Schoß und ließ zu, dass sie theatralisch zusammensackte. Er fütterte sie mit dem Rest seines Toastes und machte, ein Blitzen in den grauen Augen, schmatzende Geräusche, während sie kaute. Mary Frances hörte im Sender KDNTLebenslinien, wo Eltern ermahnt wurden, noch wachsamer zu kontrollieren, was ihre Kinder lesen und sehen und hören.

»Überall lauern Gefahren«, sagte die grimmige Stimme.

Win tastete in seiner Brusttasche nach einer Zigarette. Suzanne hörte den Schulbus und lief hinaus. Stille breitete sich aus, die erste Pause des Tages, die erste kleine Erschöpfung. Dann machte sich Mary Frances in ihrem Viyella-Morgenrock daran, den Tisch abzuräumen, und eine Reihe heller klarer Töne hingen in der Luft, zart wie Handglocken.

 

 

Die zwei Männer saßen in Win Everetts provisorischem Büro im Untergeschoss des Old Main im schwachen und zuckenden Licht einer Leuchtstofflampe. Win war in Hemdsärmeln; er rauchte, konnte das Gespräch kaum erwarten, stellte überrascht und ein wenig bestürzt fest, dass er sich sehr darauf freute, bei einem Treffen mit einem früheren Kollegen Neuigkeiten austauschen zu können.

Im Flur arbeiteten Zimmerleute, Männer mit kurz geschorenem Haar, die unter den Heizungsrohren standen und sich in träge schleppendem Tonfall etwas zuriefen.

Lawrence Parmenter beugte sich tief auf seinem Stuhl nach vorn, ein großer breitschultriger Mann im dunklen Anzug und einem blau gestreiften Hemd. Mit seinem blonden Haar, das an den Koteletten leicht grau war, strahlte er selbst im Sitzen Vitalität aus, und er machte den Eindruck eines Mannes, der seine Geschäfte gerne in einer lockeren, freundschaftlichen Atmosphäre bei ein paar Drinks erledigte. Für Win war er irgendwie ein eindrucksvoller Bursche, selbstsicher, mit guten Beziehungen, einer der Männer hinter dem flotten und glänzenden Coup 1954in Guatemala, ein Sammler edler Weine, ein Freund und Kampfgefährte seit den Schweinebucht-Tagen.

»Du lieber Gott, sie haben dich begraben.«

»Texas Woman’s University. Lass dir das mal auf der Zunge zergehen.«

»Was unterrichtest du?«

»Geschichte und Volkswirtschaft. Vom DDP bin ich aufgefordert worden, nach vielversprechenden Studentinnen Ausschau zu halten. Ausländerinnen vor allem. Die stellen sich vor, dass wir eine zukünftige Premierministerin, die zufällig hier studiert, schon jetzt anwerben, sozusagen im Zustand der Unschuld.«

»Du lieber Himmel.«

»Erst überlassen sie mich den Psychiatern«, sagte Win, »und dann schicken sie mich ins Exil. Wo leben wir eigentlich?«

Sie lachten beide.

»Ich sage mir den Namen dieser Institution immer wieder vor. Ich bade darin, überlasse mich seiner Aura.«

»Texas Woman’s University«, flüsterte Parmenter fast andächtig.

Win nickte nur. Er und Larry Parmenter hatten einer Gruppe angehört, die sich »SE Detailed« nannte und aus sechs Militär-Analytikern und Nachrichtendienstlern bestand. Die Gruppe war ein Element in einem vierstufigen Ausschuss, der die Aufgabe hatte, sich mit Castros Kuba und den damit zusammenhängenden Problemen zu beschäftigen. Die erste Stufe, genannt »Senior Study Effort«, setzte sich aus vierzehn hohen Beamten zusammen, zu denen Präsidentenberater, ranghohe Militärs, Sonderbeauftragte, Staatssekretäre, Chefs von Nachrichtendiensten gehörten. Sie tagten eineinhalb Stunden lang. Dann gingen elf Männer aus dem Raum, sechs kamen herein. Die so entstandene Gruppe, »SE Augmented« genannt, tagte zwei Stunden lang. Dann gingen sieben Männer, vier kamen hinzu, darunter Everett und Parmenter. Das war nun »SE Detailed«, eine Gruppe, die besondere verdeckte Operationen ausarbeitete und dann entschied, welche Mitglieder von »SE Augmented« über diese Pläne informiert werden sollten. Diejenigen, die informiert wurden, fragten sich, ob »Senior Study Effort« wissen wollte, was in Stufe drei ablief. Die Wahrscheinlichkeit war gering. Wenn die Sitzung in Stufe drei beendet war, gingen fünf Männer aus dem Raum, und drei paramilitärische Offiziere kamen herein, um »Leader 4« zu bilden. Win Everett war der Einzige, der sowohl der dritten als auch der vierten Stufe angehörte.

»Könnte schlimmer sein«, sagte Parmenter. »Immerhin bist du noch drin.«

»Ich wäre liebend gern draußen, restlos, ein für alle Mal.«

»Und dann? Was würdest du tun?«

»Meine eigene Firma aufmachen. Als Berater.«

»Auf welchem Gebiet? Geheime Invasionen?«

»Das ist das eine Problem, das ich habe. Ich bin so was wie eine verdorbene Handelsware. Die zweite Schwierigkeit ist, dass ich herzlich wenig Talent zum Geschäftsmann habe. Ich versteh was vom Unterrichten. In den Akten der CIA gibt’s wohl ein Bild meiner Seele aus der Zeit vor dem Sündenfall. Das haben sie sich angeschaut und mich dann hierher geschickt.«

»Sie haben dich behalten. Das ist das Entscheidende. Die sind schlauer als du denkst.«

»Ich wäre wirklich am liebsten draußen, für immer. Solange ich hier bin, arbeite ich noch für sie, auch wenn das Ganze ein schlechter Witz ist.«

»Sie werden dich zurückholen, Win.«

»Will ich denn zurückgeholt werden? Ich mag das Gefühl der Unaufrichtigkeit nicht, das ich dabei habe. Einerseits verachte ich sie, andererseits sehne ich mich nach ihrer Liebe und ihrem Verständnis.«

Wissen bedeutete Gefahr, Nichtwissen war ein geschätzter Aktivposten. In vielen Fällen waren dem DCI, dem Direktor der CIA, wichtige Informationen vorzuenthalten. Je weniger er wusste, desto entschiedener konnte er agieren. Er könnte vor einem Untersuchungsausschuss oder bei einer Anhörung oder bei einem Oval-Office-Plausch mit dem Präsidenten nicht so leicht die Wahrheit sagen, wenn er wüsste, was sie in »Leader 4« trieben, oder auch nur, worüber sie redeten oder im Schlaf murmelten. Die Vereinigten Stabschefs brauchten nicht alles zu wissen. Die schauerlichen Details von Operationen waren nicht für ihre Ohren bestimmt. Details waren eine Art von Verseuchung. Die Minister waren gegen Wissen abzuschirmen. Sie waren besser dran, wenn sie nichts wussten oder erst zu spät informiert wurden. Ihre Stellvertreter interessierten sich für Strömungen und Tendenzen. Sie wollten getäuscht werden. Sie verließen sich darauf. Dem Justizminister waren die bedenklichen Details vorzuenthalten, nur Ergebnisse mitzuteilen. Jede Ebene des Ausschusses sollte eine höhere Ebene abschirmen. Ihre Sprache war voller Doppeldeutigkeiten. Es gehörte schon eine besondere Erfahrung und viel Hintergrundwissen dazu, den wahren Sinn gewisser dunkler Bemerkungen zu entschlüsseln. Da gab es Pausen und leere Blicke. Geistvolle Rätsel gingen zwischen verschiedenen Befehlsebenen hin und her, wurden zerlegt, gelöst, ignoriert. Es musste wohl so sein, gab Win im Stillen zu. Die Männer auf seiner Ebene brachten immer neue Geheimnisse hervor, die zitterten wie die Eier von Reptilien. Die Männer machten Pläne, wie sich Castros Zigarren vergiften ließen. Sie entwarfen Zigarren mit eingebauten Sprengstoffkapseln. Sie arbeiteten an einem vergifteten Füllfederhalter. Sie konspirierten mit Typen aus dem organisierten Verbrechen, wollten Attentäter nach Havanna schicken, Giftmörder, Heckenschützen, Saboteure. Sie probierten ein Botulinus-Toxin an Affen aus. Fidel würde genau wie die langschwänzigen Primaten von Krämpfen geschüttelt werden, sich erbrechen, sich in Hustenanfällen winden und einen fürchterlichen Tod sterben. Man muss mal einen hilflos hustenden Affen gesehen haben. Grauenhaft. Sie wollten ihm Pilzsporen in den Taucheranzug schmuggeln. Sie entwarfen eine Unterwassergranate, die explodieren würde, wenn er schwimmen ging.

Die Ausschussmitglieder ließen nur Allgemeines nach oben durchdringen. Aber das eigentliche Ziel ihres Beschützerinstinkts war natürlich der Präsident. Sie wussten alle, dass JFK Castro am liebsten im Grab gesehen hätte, aber sie durften ihm nicht verraten, dass sie sich vorgenommen hatten, sein schuldhaftes Verlangen in die Tat umzusetzen. Das Weiße Haus sollte der Gipfel des Nichtwissens sein. Es war, als stehe ein makelloser Führer zu einer uralten Wahrheit, die von den anderen aufgrund ihres Auftrags in der komplexen Welt gezwungenermaßen nur rein theoretisch bewundert werden konnte.

Aber es gab noch tiefere Schatten, ein seltsames und schweres Schweigen um Pläne von einer Invasion der Insel. Der Präsident wusste natürlich davon – wusste in groben Umrissen, was geplant war, hatte eine Ahnung vom versprochenen Ausgang. Aber das System betätigte sich noch immer als schützende Muse. Er sollte die weicheren Konturen sehen, vor Verantwortung bewahrt werden. Geheimnisse schaffen sich ihre eigenen Netzwerke, glaubte Win. In all seinen merkwürdigen und zwanghaften Verstrickungen, seinen vieldeutigen Verdrehungen und beharrlichen Rätseln und fein abgestuften Wahnvorstellungen würde sich das System wenigstens so lange aufrechterhalten, bis die Männer am Strand waren.

Nach der Schweinebucht war nichts mehr wie vorher. Win war im Frühjahr ’61 ständig zwischen Miami, Washington und Guatemala City unterwegs, um verschiedene Teile der Operation stillzulegen, sich mit Stationschefs und Beratern zu betrinken, führenden Exilpolitikern irgendwie zu erklären, was schiefgelaufen war. Es war die Entwirrung des Knäuels, die ersten Wochen eines Scheiterns, das er offenbar mit aller Entschlossenheit und ohne Rücksicht auf sein eigenes Wohlergehen hinausziehen wollte, wie zum Ausgleich für die halbherzigen Maßnahmen, die zu der Niederlage geführt hatten. Ein neuer Ausschuss ersetzte den alten, weniger raffiniert aufgebaut, obwohl es vielfach dieselben Männer waren, die – ohne dass jemand überrascht oder empört gewesen wäre – in dem getäfelten Raum ihre Plätze einnahmen. Wieder plauderte man über den Tod Fidel Castros. Aber »SE Detailed« und »Leader 4« waren nicht mehr dabei. Die Gruppen wurden aufgelöst, ihre Mitglieder nicht als gescheiterte Verschwörer und Operatoren gebrandmarkt, sondern als diejenigen unter den amerikanischen Invasoren, die vom Anliegen der Exilkubaner persönlich am tiefsten berührt waren. Und gerade die wahrhaft Überzeugten mussten entfernt werden. Durch ihren Kontakt mit den führenden Exilpolitikern und ihre Arbeit bei der Zusammenstellung und Ausbildung der Landungsbrigade waren diese Männer zu empfänglich für politische Veränderungen geworden, lichtempfindlich, unberechenbar. All das wurde natürlich nicht ausgesprochen. Die Gruppen verschwanden einfach, und ihren Mitgliedern wurden ganz unterschiedliche Aufgaben übertragen, die nichts mit Castros Kuba zu tun hatten, der mondbeschienenen Zwangsvorstellung in der smaragdenen See.

Interessanterweise kamen einige der Männer auch weiterhin zusammen.

»Wird er uns finden?«

»Ich hab das Gefühl, er ist schon hier«, sagte Win.

»Mein Flug geht um fünf Uhr fünfundzwanzig.«

»Er findet uns.«

Sie saßen an der Imbisstheke in Shraders Drugstore am Gerichtsplatz. Win rührte seinen Kaffee um, dachte nach, saß da, rührte um. Larry duckte sich immer wieder, um Denton Countys Gerichtsgebäude besser sehen zu können, einen Kalksteinbau von abwechslungsreichem, ausgeprägtem Charakter, mit Türmchen, Ziergiebeln, Marmorsäulen, spitzen Kuppeln, Dachbalustraden, Pavillons im Stil des Second Empire.

»Wenn ich mir diese reich verzierten alten Gebäude an geschäftigen Plätzen der Städte anschaue, finde ich sie von einem Optimismus beseelt, der mir, glaube ich, sehr liegt. Sieh dir dieses Ding an. Einfach imposant. Stell dir mal einen Mann vor, der um die Jahrhundertwende in ein Städtchen im Südwesten kommt und so ein Gebäude antrifft. Welche Stabilität, welcher Bürgerstolz. Es ist eine optimistische Architektur. Sie setzt darauf, dass die Zukunft so viel Sinn hat wie die Vergangenheit.«

Win sagte nichts.

»Ich rede von der amerikanischen Vergangenheit«, sagte Larry, »so wie wir sie voller Naivität sehen, und das ist die einzige Art von Unschuld, die ich billige.«

Das Thema war an sich Kuba. Sie hatten sich ein paarmal in Coral Gables getroffen, in einer Wohnung, die Parmenter dazu genutzt hatte, kubanischen Piloten auf dem Weg nach Nicaragua genaue Anweisungen zu geben. Sie redeten darüber, dass es gelte, unter den Exilkubanern Kontaktpersonen zu behalten, im Castro-Regime ein Netzwerk aufzubauen. Sie waren fünf Männer, die Kuba nicht aufgeben konnten. Aber sie waren auch eine geächtete Gruppe. Das gab ihren Treffen den Charakter einer Selbstbespiegelung. Ihr Interesse richtete sich nach innen. Es gab nur noch ein Geheimnis, das jetzt zählte, und das war die Gruppe selbst.

»Es ist gleich so weit«, sagte Win.

Sie gingen auf einen überdachten Eingang zu und betraten den langen dunklen Eisenwarenladen, einen Ort von verlorener und vorwurfsvoller Schönheit, wo Werkzeuge aus der Pionierzeit und uralte Waagen zu sehen waren und wo Win oft durch die zwei Gänge ging – wie ein Tourist zwischen mannshohen Ruinen, ausgedehnt und traurig. Er musste sich daran erinnern, dass es nur Gebrauchsgegenstände waren. Er kaufte einen Malerspachtel, und als sie zu Larrys etwas abseits vom Platz geparktem Mietwagen zurückkamen, sahen sie eine Gestalt auf dem Beifahrersitz, einen breitschultrigen Mann in einem auffallenden bunten Freizeithemd. Es war T. J. Mackey, für Win ein Cowboytyp, aber von den Männern in »Leader 4« wahrscheinlich der Erfahrenste, ein altgedienter Stabsoffizier, der Exilkubaner an Angriffswaffen ausgebildet und frühe Phasen der Landungen überwacht hatte.

Parmenter setzte sich ans Steuer und summte dabei eine Melodie, die ihn amüsierte. Win saß in der Mitte des Rücksitzes und gab Anweisungen. Mit Mackeys Ankunft bekam der Tag Sinn und Zweck. T-Jay hielt nichts von Klatsch und Tratsch. Er gehörte zu den Männern, denen die Kubaner folgten, ohne Fragen zu stellen. Er war auch der Einzige, der sich weigerte, die Abmahnung zu unterschreiben, als die heimlichen Zusammenkünfte in Coral Gables vom Sicherheitsbüro abgehört worden waren. Wenn ein Monumentalgemälde von den fünf Verschwörern existierte und zeigte, wie sie mit gerunzelter Stirn und krummem Rücken finstere Pläne ausheckten und dabei von Agenten des Sicherheitsbüros überrascht wurden – Männern mit militärisch kurzem Haarschnitt und in Kakihemden mit natürlich abfallenden Schultern –, dann könnte ein solches Bild »Licht kommt in die Höhle der Gottlosen« heißen. Parmenter und zwei andere unterschrieben Abmahnungen, die zu ihren Personalakten genommen wurden. Win unterschrieb und stellte sich einem »technischen Interview«, einem Test mit dem Lügendetektor. Er unterschrieb eine Verzichtserklärung, die besagte, dass er sich dem Test freiwillig unterzog. Er unterschrieb ein Geheimhaltungsabkommen, das besagte, dass er mit niemandem darüber reden würde. Als er bei dem Test durchfiel, versiegelten Sicherheitsleute sein Büro, einen kleinen Raum mit einer blauen Tür, der im dritten Stock des neuen CIA-Hauptquartiers in Langley lag. In seinem Büro fanden sie Papiere und Notizen von Telefongesprächen, die neben den üblichen Mehrdeutigkeiten darauf hinzudeuten schienen, dass Win Everett eigene Leute bei »Zenith Technical Enterprises« unterbrachte, jener aufstrebenden Firma in Miami, die der CIA für ihre neue Welle von Operationen gegen Kuba als Deckadresse diente. Es war ein wenig zu viel. Erst führt er eine Gruppe an, die sich der befohlenen Auflösung widersetzt. Dann startet er innerhalb des ausgedehnten und vielschichtigen Anti-Castro-Programms der CIA eine eigene Operation. Als sich Win einem zweiten Test mit dem Lügendetektor stellte, saß er – die Elektroden in der Handfläche, die Manschette um den Bizeps, den Gummischlauch quer über der Brust – schon nach drei Fragen schluchzend an dem Tischgerät. Es kostete so viel Mühe, nicht zu lügen.

Sie verließen Denton und fuhren nach Süden in eine tiefgrüne Landschaft. Weideland war Büffelgras und Wacholderbüschen überlassen worden; sie kamen an Orte von einer plötzlichen Kahlheit, glühend und grell, zu einem einsamen verkrüppelten Baum, voll grimmiger Knoten. Der Himmel wölbte sich hier unerträglich hoch.

Mackey ließ den rechten Arm aus dem Fenster baumeln. Er hatte offenbar kein Auge für die landschaftlichen Reize. Sie fuhren an einer Baptistenkirche vorbei, die auf Schlackensteinen errichtet war. Wenn die anderen etwas sagten, neigte er den Kopf zur Seite oder schob den Unterkiefer vor, um so seine Zustimmung oder Belustigung zu zeigen.

Parmenter sagte: »Auf diesen alten Friedhöfen müssen Leute liegen, die mit Planwagen hier rausgekommen sind, um Indianer zu jagen oder als Wanderprediger umherzuziehen. Die Gegend hier ist hübsch, Win. Das wär’s doch, verdammt noch mal: Hier könntest du neu anfangen, deiner Tochter was bieten, dir ein Konzert- und Theaterabo nehmen. Die Schule bietet das bestimmt an. Nein, im Ernst.«

Augen im Rückspiegel.

Die Psychiater waren nicht unfreundlich. Aber sie hatten ihn an Krankheit erinnert. Sie verkörperten Krankheit, sie waren selber krank. Ihr Gesicht war stellenweise nicht sorgfältig rasiert. Er brachte es nicht übers Herz, sie darauf hinzuweisen. Diese Männer waren nett, aber unvollkommen oder zu vollkommen, überdeutlich sah er die winzig kleinen Haare. Motivationsverlust. Die Agency war in solchen Dingen tolerant. Die Agency hatte Verständnis. In Wahrheit hatte er keine Agenten bei Zenith Technical Enterprises untergebracht. Sein altes Team war schon an Ort und Stelle und arbeitete lediglich mit neuen Falloffizieren, die bereit waren, von geheimen Stützpunkten in den Keys zu Kaperfahrten aufzubrechen. Doch das belastende Material – fadenscheinig, vage, zufällig – war grundsätzlich schon zu schwerwiegend, als dass es von einem Mann in seiner Verfassung hätte zurückgewiesen werden können. Es war leichter, alles zu glauben, als es abzustreiten. Sie hatten seine Notizen entziffert, die Farbbänder aus seiner Schreibmaschine gelesen. Konnte er ihnen klarmachen, dass er Kuba liebte, die kubanische Sprache und Literatur kannte? Sie hatten den Inhalt seiner Verbrennungstaschen. Wie konnte er ihnen klarmachen, dass seine Machenschaften nicht mehr waren als die Randbemerkungen eines dickköpfigen Narren?

Er zog die Jacke aus und legte sie, nachdem er sie zuerst der Länge nach zusammengefaltet und dann quer übereinandergeschlagen hatte, neben sich auf den Sitz. Mit den Fingerspitzen klopfte er an die Hemdtasche, fingerte nach einer Zigarette.

Sie befanden sich auf einem sonst nur von Farmern benutzten Sträßchen und fuhren auf der Old Alton Bridge über den Hickory Creek. Auf ein Zeichen von Win bogen sie nach rechts in einen Feldweg ein; auf rotem Lehm fuhren sie vier-, fünfhundert Meter unter einem dichten Dach aus Pfahleichen und Hickorybäumen. Wald auf der einen, Weideland auf der anderen Seite. An dem schlichten Holzzaun ließ Larry den Wagen ausrollen. Win zündete eine Zigarette an und lehnte sich zwischen den Sitzen nach vorn. Die Köpfe der beiden vorne sitzenden Männer kamen ihm ein wenig entgegen, drehten sich aber nie nach ihm um.

»Wenn mir meine Tochter ein Geheimnis verrät«, sagte Win, »macht sie eine ganze Menge mit den Händen. Sie greift nach meinem Arm, packt mich am Hemdkragen, zieht mich zu sich heran, zieht mich in ihr Leben. Sie weiß, wie vertraulich Geheimnisse sind. Sie vertraut mir gern Dinge an, bevor sie einschläft. Geheimnisse haben etwas Übersteigertes, fast Traumhaftes. Mit ihnen lässt sich eine Bewegung unterbrechen, lässt sich die Welt anhalten, sodass wir uns in ihr sehen können. Aus dem Grund seid ihr hier. Ich brauchte nur Ort und Zeit festzulegen. Ihr seid gekommen, ohne zu fragen, warum. Ihr habt nicht überlegt, dass es eurer Karriere schaden kann, wenn ihr euch, nach allem was geschehen ist, mit Walter Everett jun. einlasst. Ihr seid hier, weil von einem Geheimnis etwas Belebendes ausgeht. Mein Töchterchen ist freigiebig mit ihren Geheimnissen. Besser fänd ich, ehrlich gesagt, wenn sie das nicht wäre. Geheimnisse geben ihr doch Kraft und Selbstbewusstsein und lassen sie etwas Besonderes sein. Woher soll sie wissen, wer sie ist, wenn sie ihre Geheimnisse preisgibt?«

Die zwei Männer warteten.

»Die Invasion ist gescheitert, weil hohe Beamte versäumt haben, die Grundvoraussetzungen zu überprüfen. Sie ließen sich von einer Stimmung mitreißen, die zu raschem Handeln zwang. Sie waren erpicht darauf, die Erkenntnisse anderer zu übernehmen. Das diente ihrem Schutz. Es gab nie einen klaren Plan. Niemand war je verantwortlich. Einige von ihnen wussten, dass es zur Katastrophe kommen würde. Sie ließen den Dingen ihren Lauf. Sie brachten sich aus der Schusslinie. Sie wollten es erledigt haben. Der Druck war groß, all die bewaffneten Exilkubaner aus Florida heraus- und nach Kuba hineinzubekommen. Vermutlich hat kein Mensch überlegt, was aus ihnen werden soll, wenn wir sie erst mal am Strand abgesetzt hatten. Damit waren wir an der Reihe. Wir waren auf den Flugplätzen oder an Bord der Schiffe, oder wir waren mit den Exilführern in Kasernen eingesperrt. Sie hatten Brüder und Söhne unter den Toten, und bewaffnete amerikanische Soldaten hinderten sie daran, die Kasernen in Opa-Locka zu verlassen. Was sollte ich diesen Männern sagen? Ich kam mir wie ein Bote vor, der Pest und Tod mit sich bringt. Dann der lange langsame Niedergang. Ich wollte das Scheitern rechtfertigen, wollte es dauerhaft machen. Wenn wir schon keinen Erfolg haben konnten, wollten wir wenigstens aus dem Misserfolg das Beste herausholen. Genau darum ging es am Ende, als wir versuchten, die Dinge in Gang zu halten. Es war nur eine vergebliche Übung.«

Sie warteten. Sie waren geduldig und aufmerksam.

»Die Bewegung muss wieder zum Leben erweckt werden. Diese Operationen, die die Agency von den Keys aus unternimmt, sind nichts als Nadelstiche. Wir brauchen einen elektrisierenden Zwischenfall. JFK stellt sich darauf ein, die Differenzen mit Castro beizulegen. Auf der einen Seite sieht er in der Revolution eine Krankheit, die sich über ganz Lateinamerika ausbreiten könnte. Auf der anderen Seite verurteilt er Überfälle auf die Guerilla und will unsere Brigadekämpfer in die U. S. Army holen, wo man sie besser im Auge behalten kann. Wenn wir eine zweite Invasion wollen, eine Invasion, die aufs Ganze geht, ohne Einschränkungen oder irgendwelche Bedingungen, dann müssen wir bald etwas unternehmen. Was Kuba angeht, muss das bequeme Lavieren ein Ende haben. Wir brauchen einen Zwischenfall, der die Exilgemeinde und das ganze Land erregt und schockiert. Wir wissen, dass der kubanische Geheimdienst Leute in Miami hat. Wir wollen einen Zwischenfall inszenieren, der so aussieht, als hätten sie ins Herz unserer Regierung gezielt. Jetzt ist es an der Zeit, hohe Risiken einzugehen. Schluss mit den halbherzigen Maßnahmen, sage ich, Schluss mit dem Zögern und Zaudern.«

Ein Kleinlaster kam auf sie zugefahren, und sie kurbelten die Seitenfenster hoch, um den Staub draußen zu halten. Der Fahrer grüßte lässig, ohne die Hand vom Lenkrad zu nehmen. Sie warteten, bis der Staub sich gelegt hatte, und drehten dann die Fenster wieder herunter. Win machte eine kleine Pause, ehe er fortfuhr.

»Es gibt Dinge, auf die warten wir ein Leben lang, ohne es zu wissen. Plötzlich sind sie da, und uns ist sofort klar, wer wir sind und wie wir vorzugehen haben. Genau so einen Plan habe ich mir immer gewünscht. Ich glaube, ihr werdet spüren, dass er richtig ist. Und wir brauchen das hohe Risiko. Wir brauchen einen elektrisierenden Zwischenfall. Ihr habt darauf genauso sehnsüchtig gewartet wie ich. Davon bin ich fest überzeugt, sonst hätte ich euch nicht gebeten, herzukommen. Wir wollen ein Attentat auf den Präsidenten inszenieren. Wir planen jeden Schritt, gestalten jedes Detail, das zu diesem Zwischenfall führt. Wir stellen ein Team zusammen, hinterlassen vage Spuren. Die Indizien sind nicht eindeutig. Aber sie weisen in Richtung des kubanischen Geheimdienstes, und zwar nach ganz oben. Der Plan enthält zudem eine zweite Kette von Spuren, noch unklarer, noch rätselhafter. Sie verweisen auf die Versuche der Agency, Castro zu ermorden. Ich arbeite an einem Plan, der sowohl Elemente der amerikanischen Provokation als auch der kubanischen Antwort enthält. Wir ziehen die ganze Geschichte mit Papieren durch: Pässe, Führerscheine, Notizbücher mit bestimmten Adressen. Unsere Schützen verschwinden, aber die Polizei findet eine Spur. Bestellscheine von Versandhäusern, Nachsendungsanträge, Fotos. Aus dem üblichen Alltagskram schneidern wir uns einen oder mehrere Täter. Schüsse fallen, die Nation ist schockiert, aufgewühlt. Die Spur der Papiere führt zu bezahlten Agenten, die inzwischen in Venezuela oder Mexiko verschwunden sind. Ich bin überzeugt, dass wir diesen Schritt tun müssen, um Kuba zurückzugewinnen. Dieser Plan hat Abstufungen und Varianten, denen ich erst ansatzweise nachgegangen bin, aber im Wesentlichen steht er schon. Das spüre ich. Ich weiß, was Wissenschaftler meinen, wenn sie von eleganten Lösungen sprechen. Dieser Plan spricht irgendetwas in meinem Innersten an. Er ist von einer zwingenden Logik. Seit Wochen wächst er in mir heran, wie ein Traum, dessen Bedeutung langsam erkennbar wird. Genau diesen Zustand wollten wir immer erreichen. Es ist das wahre Verständnis für das Leben, das Geheimnis des Lebens, und wir müssen es sorgfältig hüten und aufrechterhalten, bis wir Schützen auf einem Dach oder einer Eisenbahnbrücke stationiert haben.«

Es herrschte Stille. Dann sagte Parmenter trocken: »An Castro sind wir nicht rangekommen. Also lasst uns Kennedy treffen. Könnte das nicht das Motiv sein, das dahintersteckt?«

»Aber wir treffen Kennedy ja gar nicht. Wir schießen daneben«, sagte Win.

 

 

Mackey war in der Esso-Tankstelle, etwa hundertfünfzig Kilometer vor der Grenze zu Louisiana, und steckte Vierteldollarmünzen in das öffentliche Telefon. Er versuchte einen Mann namens Guy Banister zu erreichen, einen ehemaligen FBI-Agenten, der ein Detektivbüro in New Orleans unterhielt. Banister war eine Anlaufstelle für CIA-Gelder, mit denen der Kampf gegen Castro in dieser Region finanziert wurde. Mackey kannte ihn aus der Zeit vor der Invasion, als Banister den Exilkämpfern Waffen und Munition geliefert hatte. Es war Zeit, wieder Kontakt aufzunehmen.

Die Stimme am anderen Ende der Leitung gehörte weder Banister noch seiner Sekretärin. Es dauerte einen Moment, bis Mackey die Stimme richtig zugeordnet hatte. David Ferrie. Der Ermittler, Schmiergeldverteiler und geistige Berater. Mackey legte den Hörer auf und ging über die windige Plaza zu seinem Wagen.

David Ferrie zog ein Gesicht, als er das Klicken im linken Ohr hörte. Er neigte zum Zucken. Er zuckte immer vor Spiegeln zusammen, wenn er seine selbst gemachten Augenbrauen und sein Mohairtoupet anklebte. Ferrie hatte ein seltenes und schreckliches Leiden, das nicht zu heilen war. Er war völlig unbehaart. Sein kahler Körper sah aus, als sei er aus der Erde gezogen worden, eine knollige Wurzel oder ein Pilz für Feinschmecker. Aber Ferrie dachte gar nicht daran, sich geschlagen zu geben, den Mut zu verlieren und sich in ein verdunkeltes Zimmer zurückzuziehen, um zu saufen und sich einen herunterzuholen. Er hatte ein lebhaftes Interesse an verschiedenen Dingen. So beschäftigte er sich fast schon sein ganzes Leben lang mit der Heilbarkeit von Krebs. Er hatte dazu eigene Nachforschungen angestellt und Aufsätze darüber geschrieben. Er interessierte sich für Hypnose und konnte Menschen in Trance versetzen. Ein starkes und bleibendes Interesse hatte er an der Fliegerei. Ferrie war Chefpilot bei Eastern Airlines gewesen, bevor seine Krankheit ihn aller Haare beraubte und bevor seine Sexspiele mit Jungen zu einem weit bekannten Faktum wurden, das die Verantwortlichen bei der Eastern als störend empfanden. Er interessierte sich für die kommunistische Gefahr. Und hatte an Kuba Interesse.

Kurz nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, stand Ferrie in dem kleinen Raum hinter Guy Banisters Büro und rückte vor dem Spiegel mit allerlei Grimassen die halbkreisförmigen Augenbrauen zurecht. Er wollte in den Nachbarkreis rüberfahren, wo in einem Einkaufszentrum das Modell eines Atombunkers ausgestellt war. Er wollte sich die Ausmaße ansehen, wollte wissen, was für Vorräte sie hatten und wie sie die aufbewahrten. Er selbst besaß bereits Bettlaken aus Gummi und ein batteriebetriebenes Radio, an dem die CONELRAD-Frequenzen deutlich markiert waren. Er wusste von einem weiter im Südwesten liegenden unterirdischen Munitionslager, das sich möglicherweise in einen richtigen Bunker umbauen ließ, tief im Boden, weit weg von allem, mit Lebensmitteln und Wasser für viele Monate. Der Gedanke an die Bombe baute ihn irgendwie auf. Er stellte sich vor, wie befriedigend es wäre, allein in einem Loch zu leben. Nicht weil er einer mutierenden Lebensform glich, sondern nur um zusätzliche Zeit herauszuschinden, solange über der Erde die Hölle los war. Für sein unglückliches Leben hatte er eine Belohnung verdient.