Crash Island - Ina Vultchanova - E-Book

Crash Island E-Book

Ina Vultchanova

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Beschreibung

In Crash-Island geht es um zwei Frauen, die unabhängig voneinander ihre Geschichte erzählen. Sie kennen sich kaum, doch zwischen ihnen besteht eine magische Verbindung: Die eine, frisch gebackene Astrologin per Selbststudium, liest aus den Sternen, dass der anderen ein Zusammenbruch, ein Krach bevorsteht. Jede der beiden kennt nur ihren Teil der Geschichte, und die erzählten Puzzleteile - zwei persönliche Universen, gleichzeitig so unterschiedlich und einander so ähnlich - müssen vom Leser zu einem Ganzen zusammengefügt werden. Erzählt wird von Frauen, Männern, Kindern und Katzen und einer faszinierenden einsamen Insel - allem Anschein nach die kroatische Insel Krk - wo der von den Sternen vorhergesagte Crash passieren könnte. Außerdem geht es in den Geschichten um Land und Meer, Regen und Höhlen, Sterne und Sonne, Räume und Häuser; vor allem aber geht es um menschliche Dinge, Eingebungen und Frustrationen, Träume und Tatsachen, Liebe und deren Zerbrechen, um Sehnsucht und die Unmöglichkeit, in der Seele des anderen zu leben. Ob der vorausgesagte Krach eintrifft, erfährt der Leser auf der überraschenden letzten Seite des Romans erfahren. Was man so nicht erwartet hat: Eigentlich wird gar nicht die Geschichte eines Zusammenbruchs erzählt.

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Ina Vultchanova

CRASH ISLAND

Roman

Aus dem Bulgarischen von Elvira Bormann-Nassonowa

1. Auflage 2020© eta VerlagAlle Rechte vorbehalten

eta Verlag | Petya LundSchönhauser Allee 2610435 Berlinwww.eta-verlag.dekontakt @ eta-verlag.de

Titel der Originalausgabe „Остров Крах“Korporacija Razvitie, Sofia, Bulgarien 2016

Übersetzung: Elvira Bormann-NassonowaLektorat: Marie-Luise AlpermannGestaltung & Satz: Stefan MüssigbrodtTitel-Illustration: Eugene Ga / Shutterstock

ISBN 978-3-9820030-9-2

The European Commission's support for the production of this publication does not constitute an endorsement of the contents, which reflect the views only of the authors, and the Commission cannot be held responsible for any use which may be made of the information contained therein.

Ina Vultchanova |

Crash Island

Für Kapka

Erster Teil

Ich glaube, sie sollte sich die Haare kurz schneiden lassen. Vor vier Jahren, als sie kurze Haare hatte, sah sie nicht einfach nur zehn Jahre jünger aus. Überhaupt regt es mich auf, wenn man „zehn Jahre jünger“ sagt. Zehn Jahre jünger als was? Aber die Hauptsache war, dass sie nicht jünger aussah, sondern ihr wahres Gesicht gefunden hatte. Ich meine das, was Friseure – oder eher Filmregisseure – eigentlich tun sollten: das richtige Gesicht finden.

Für mich hatte sie schon immer Ähnlichkeit mit einer Gräfin. Wenn sie ihr Haar straff nach hinten kämmt und es dicht am Kopf zusammenbindet, richten sich auch ihre Schultern auf, sie schaut dann anders, geht anders und sieht wirklich wie eine Gräfin aus. Meistens ist ihr Haar jedoch zerzaust, sie kneift die Augen zusammen und blinzelt unter dem Pony. Und sie merkt gar nicht, dass sich ihre Nase kräuselt. Denn sie ist stets überzeugt, gut auszusehen.

Damals hatte ich ihr gesagt, das kurze Haar stehe ihr sehr gut, sie solle es immer so tragen. Sie entgegnete, es sei zu damenhaft und sehe aus wie eine „Frisur“. Keine zwei Wochen später hatte sie es wieder mit diesem scheußlichen orangen Gummi hinten zusammengebunden. Die meisten Frauen genieren sich einfach, wenn sie gut aussehen. Oder sie fürchten vielleicht, lächerlich zu wirken. Diese Angst kenne ich, ich habe sie viele Male empfunden, bevor ich mein jetziges Gleichgewicht erlangt habe. Die Leute können echt fies grinsen, sodass es dir wirklich so vorkommt, als wäre alles zu Ende. Vor allem, wenn du ganz sicher erkennst, dass es dir nicht nur so vorgekommen ist. Es ist dir überhaupt nicht bloß so vorgekommen, sie feixen dir direkt ins Gesicht.

Wie lächerlich das jetzt ist, da ich nun weiß, was ich wert bin. Und was DIE wert sind.

Selbstverständlich ist sie unglücklich und tut so, als sei sie es nicht. Wie alle. Ständig ist sie ausgesprochen fröhlich. Sie lächelt sogar, wenn sie allein den Korridor entlanggeht. Statt „Guten Tag“ zu sagen, lächelt sie noch breiter. Ein tolles Lächeln. Es zerreißt einem regelrecht das Herz vor Kummer.

Doch sie macht niemals Komplimente. Nie sagt sie dir etwas Nettes. Sie reißt ihre gutgläubigen Augen auf und erzählt dir sofort die jüngste witzige Geschichte, die ihr passiert ist. Zum Beispiel – man habe ihr den Strom abgestellt, weil sie vergessen hatte, die Rechnung zu bezahlen, die Katze habe die Kerze umgeworfen und ihr Mann sei auf die Barrikaden gegangen und habe sich geweigert, auswärts Hackfleischröllchen zu essen. Sehr witzig.

Ich fühle mich nicht überlegen, eher empfinde ich Mitleid. Ich glaube, ich habe eine Stufe erreicht, auf der ich anfangen sollte, anderen zu helfen. Deshalb versuche ich jetzt, sie zu verstehen. Ich versuche mir vorzustellen, wie man vergessen kann, seine Stromrechnung zu bezahlen. Das fällt mir wirklich schwer.

Nun isst sie Torte. Im Buffet gibt es eine Torte, die ganz aus schwerer Schoko-Butter-Creme besteht. Ein einziges Stück davon genügt, um dir sämtliche Arterien auf immer zu verstopfen. Sie holt sich fast jeden Tag eines. Jetzt schaut sie zu mir, leckt den Löffel ab und lächelt. Mir ist schon lange klar, dass Menschen so etwas tun, weil sie sich unbewusst für etwas bestrafen wollen. Nur ich allein weiß, was es mich gekostet hat, aus diesem Kreis herauszukommen.

Ich war ein dickes Kind – das war furchtbar, aber noch schlimmer war, dass ich auch in der Pubertät dick blieb. Heute weiß ich natürlich, dass ich selbst schuld daran war, doch damals habe ich das noch nicht gewusst. Damals konnte ich noch nicht begreifen, wieso es so ungerecht zuging, ich verstand nicht, weshalb nur ich dick war, und ich hatte Angst.

Es gelingt mir, mit einer Art Lächeln zu antworten, doch ich bin nicht wirklich gut darin, für Falschheiten bin ich nicht wirklich geeignet, deshalb blicke ich hinunter auf meinen Tee. Er ist in einer Porzellantasse, die ich von zu Hause mitgebracht habe. Das ist so leicht, aber die Wenigsten tun es. Den Leuten ist es egal. Sie halten ihre heißen, weich gewordenen Plastikbecher mit zwei Fingern und die Plastiklöffel drücken gegen ihre Wangen. Im Fernsehen läuft ein Fußballspiel, ein paar Männer starren auf den Bildschirm. Und natürlich trinken sie. Warmes Bier und warmen Wodka aus Plastikbechern.

Ich schaue auf meinen Ring – der ist perfekt. Endlich etwas, das nicht aus Plastik ist.

Nun will ich erzählen, was ich mit der Wohnung gemacht habe.

Meine Wohnung befindet sich in der Pirotska-Straße, aber weiter oben, nach den Geschäften. Die Wohnung ist sehr klein, zwei Zimmer, nur wenige Quadratmeter, im vierten Stock. Sie ist dunkel, hat nur einen winzigen Balkon an der Küche, der gerade mal ausreicht, um die Kartoffeln zu lagern. Jetzt sind dort natürlich keine Kartoffeln mehr, sondern Blumen. Hortensien. Die Toilette ist so klein, dass man kaum die Tür schließen kann, wenn man sie betritt. Im Bad war früher eine Sitzwanne mit grau gewordenen, ehemals weißen Kacheln. Ein kleines, zweigeteiltes Wohnzimmer mit einer Glastür, wobei nur eine Seite ein Fenster hat. Dort habe ich als Kind geschlafen. Es war ein langes, schmales Schlafzimmer, in das eigentlich kein Doppelbett passte, doch meine Mutter schaffte es eines Tages, ein Doppelbett hineinzupferchen, woraufhin sich der Kleiderschrank nur noch bis zur Hälfte öffnen ließ. Das Treppenhaus war schmal, gewunden und stets voller Katzenpisse. Als meine Mutter und mein Vater starben – beide im selben Jahr –, hatte ich jede Nacht Albträume, in denen die Gefahr immer vom Treppenhaus ausging. Damals hatte ich noch nichts von Feng-Shui gehört, aber unbewusst war mir klar – das Treppenhaus! Das Treppenhaus war so schlecht ausgerichtet, dass auch Spiegel nichts mehr helfen konnten. Ich musste die Tür zumauern und auf der anderen Seite die Mauer durchbrechen, um den Eingang dorthin zu verlegen.

In dieser Wohnung war einfach nichts so, wie es sein sollte. Hätte ich Geld gehabt, ich hätte sie einfach verkauft und mir eine andere gesucht. Aber so viel Geld hatte ich nicht. Sukzessive, nach und nach, bekam ich das Geld für die Renovierung zusammen. Ich esse nicht mehr viel. Ich stricke und nähe – einen Großteil meiner Kleidung mache ich mir selbst. Bis auf die Hüte. Hüte kann ich nicht selbst machen und muss sie kaufen. Aber sonst – alles. Letztes Jahr habe ich mir sogar einen Mantel genäht.

Es hat sich hingezogen. Doch in den Monaten, in denen mein Geld höchstens für ein chinesisches Teeservice oder einen indischen Vorhang reichte, kaufte ich Bücher und las. Feng-Shui, Yoga, Meditation, Bücher zur Selbsthilfe. Jeden Tag machte ich einen kleinen Schritt. Auch der längste Weg beginnt mit einem ersten Schritt, nicht wahr.

Bei mir war der erste Schritt der größte. Ich entrümpelte. Ich hatte das Gefühl, dass die Müllabfuhr einige Monate nur für mich unterwegs war. Unser Müllcontainer an der Ecke genügte mir längst nicht – jeden Tag füllte ich noch zwei weitere.

Ich entrümpelte.

Mein Kinderspielzeug, die Kleidung meiner Eltern, ihre Abiturzeugnisse und Hochzeitsfotos. Ich warf ihre gesamte Bettwäsche weg, die verschlissenen, rauen Wolldecken, die zerbeulten Töpfe, die dicken, groben Teller, die angeschlagenen Tassen, das Mehlsieb und die Kuchenförmchen, die Große Sowjetische Enzyklopädie, die Jacquard-Teppiche und das Linoleum aus der Küche. Am schwierigsten wurde es, als ich anfing, die Möbel rauszuwerfen. Träger, die sie über das schmale Treppenhaus zum Müllcontainer hätten bugsieren können, konnte ich mir nicht leisten. Ich kaufte eine Axt und zerhackte sie, was ganz schön schwer war. Damals war ich körperlich noch nicht so fit. Manchmal kämpfte ich die ganze Nacht mit einem einzigen Stück. Die Nachbarn schauten mir zu, wenn ich die kaputten Holzteile die Treppe hinuntertrug. Auch die Schaummatratzen musste ich zerschneiden und in Müllsäcken hinausbringen. Am schwersten war es mit der Federkernmatratze – ich hackte und schnitt sie klein. Eine ganze Woche hatte ich damit zu tun. Dann blieben noch der Herd und der Kühlschrank. Und die halbautomatische Waschmaschine. Und der Fernseher. Deren Anblick musste ich noch weitere zwei Monate ertragen. Immer wieder schaltete ich Zeitungsanzeigen. Einmal kam eine Frau, sah sie sich an, sagte nichts und ging wieder. Schließlich heuerte ich ein paar Roma vom sogenannten Salzmarkt an. Danach musste ich zwei Wochen lang von Joghurt leben.

Ich behielt nicht ein einziges Teil von dem Gerümpel. Ich kaufte mir ein Stück Schaumgummi und schlief sieben Monate auf dem Boden, bis ich das Geld zusammen hatte, die Wände einreißen zu lassen. Ich hatte schon alles konzipiert – direkt auf dem Fußboden –, sämtliche zehn Quadratmeter. Schon lange wusste ich, wie ich die Beziehungsecke verstärken, das Gleichgewicht wiederherstellen und das Yang fördern würde.

Denn das Gleichgewicht in diesem Haus war gestört. Aber wenn der Mensch weiß, was er will, kann er alles.

Heute ist der letzte Freitag des Monats und ich werde sie anrufen. Ich rufe sie immer am letzten Freitag an. Ich sage nichts, rufe nur an. Doch stets um dieselbe Zeit – um neun Uhr abends.

Manchmal ist niemand da. Manchmal nimmt ihr Mann oder ihr Sohn ab. Das spielt keine Rolle. Immer ist es ein Freitag und immer um neun. Ich denke, das hat sie sich jetzt gemerkt.

Ich habe meinen Urlaubsantrag eingereicht und einen Reisepass beantragt. Wie üblich fiel mir erst vier Tage vor der Abreise – als ich die Fahrkarte schon gekauft hatte – ein nachzuschauen, ob mein Pass nicht vielleicht abgelaufen sei. Natürlich war er abgelaufen. Sogar schon letztes Jahr. Nachweislich war ich in den letzten fünf Jahren nur vier Mal verreist, nun musste ich 63 Lewa bezahlen, um innerhalb von drei Tagen einen neuen Pass ausgestellt zu bekommen. Warum passiert so etwas immer nur mir?

Auch diesmal war es nicht mit nur einem Gang getan, obwohl ich mir wirklich Mühe gab. Ich hatte im Bürgeramt angerufen. Als endlich jemand ans Telefon ging, fragte ich, was ich mitbringen müsse – nur den Personalausweis und den alten Pass. Und 63 Lewa. Gut. Als ich hinkam, stand an der Tür: Personalausweis, alter Pass und ein aktuelles, höchstens sechs Monate altes Passfoto.

Na gut. Teils gut, teils schlecht. Es klappte also nicht im ersten Anlauf. Andererseits wollte ich sowieso schon lange ein anderes Passbild machen lassen, weil ich an jeder Grenze entsetzt angeschaut werde und Schwierigkeiten bekomme. An der serbischen Grenze wurde ich einmal mitsamt Gepäck aus dem Zug geholt, mein Pass wurde irgendwohin gebracht. Ich fragte, was passieren würde, wenn der Zug abfährt, worauf sie sagten, dass ihnen das egal sei. Der Zug hatte fünfundzwanzig Minuten Aufenthalt, ich bekam meinen Pass in der vierundzwanzigsten zurück. Denn ich habe keine Hakennase. Mit Sicherheit habe ich keine Hakennase, doch die Ausleuchtung auf dem Foto war so, dass ich aussehe wie eine durchgeprügelte Bosnierin auf der Flucht, noch dazu mit Hakennase.

Deshalb freute ich mich zunächst. Ich ging in den nächstbesten Fotoladen und sagte, dass ich Passbilder haben wolle. Sie sagten mir, ich solle mich fertigmachen, und sperrten mich in ein kleines Zimmer ohne Lüftung, mit einem Spiegel und zwei eingeschalteten Scheinwerfern. Wir schrieben immerhin den 28. Juli und die Temperatur betrug 36 °C. Ich wartete etwa zehn Minuten und sah dann in den Spiegel. Mein Gesicht war vollkommen nass, der Schweiß lief mir in die Augen. Bekanntlich reizt Schweiß die Augen und lässt sie rot werden. Deshalb verließ ich das Zimmer und ging Bescheid sagen, dass ich nun fertig sei. Die freundliche junge Frau war jedoch gerade dabei, irgendwelche Rahmen zu verkaufen. Da kam die mürrische junge Frau, sagte: „Kein Problem, ich mache die Fotos“ und schob mich wieder in den Gaswagen. Sie fragte, ob ich fertig sei, und ich war so dumm zu antworten, dass ich mir gern mit irgendetwas das Gesicht abwischen würde, denn dieser ganze Schweiß glänzte gewiss. Unwillig warf sie mir ein gut verschlossenes Päckchen zu, an welchem ich von allen Seiten zu ziehen begann; meine Hände waren jedoch schweißig und ich bekam es beim besten Willen nicht auf. Wie sich herausstellte, handelte es sich um „Feuchttücher“ und in diesem Staat weiß scheinbar jeder, wie sie zu öffnen sind. Außer mir. Im Prinzip war das auch egal, denn mein Gesicht war ohnehin total feucht, noch feuchter hätte es nicht werden können, deshalb setzte ich mich auf den Stuhl und blickte finster ins Objektiv. Die mürrische junge Frau sagte, ich solle den Kopf etwas neigen und das Kinn heben. Ich versuchte, beide Aktionen gleichzeitig durchzuführen. Ich gab mir echt Mühe, was auf dem Foto durchaus zu sehen ist, weil am Hals zwei Sehnen wie dicke Seile hervortreten.

(Das Telefon klingelt wie verrückt. Ich gehe einfach nicht ran, denn ich wische gerade den Fußboden, was ich für spätestens halb vier am Nachmittag eingeplant hatte.)

Die Frau knipste und knipste einfach nicht, schon wieder verlangte sie, ich solle den Kopf etwas neigen und das Kinn anheben. Schließlich fragte sie: „Soll ich das Foto so machen?“ Ich antwortete: „Egal, ich heule sowieso schon.“ Dann drückte sie endlich auf den Auslöser, sagte, ich solle mir das Foto auf dem Bildschirm ansehen und ihr sagen, ob es mir tatsächlich gefalle; ohne hinzuschauen sagte ich, dass es mir gefalle.

Erst auf der Straße sah ich es mir an. Es war schlimmer als das frühere, aber das liegt womöglich daran, dass ich älter geworden bin.

Die Abreise aus Sofia war schrecklich. Ich hatte Mischo dann doch gebeten, mich zum Busbahnhof zu fahren, obwohl ich wusste, dass er sauer war. Er war in bester saurer Verfassung. Die ganze Zeit war er am Meckern – gleich geraten wir in einen Stau, gleich wird der Ventilator seinen Geist aufgeben und der Motor wird sich überhitzen, wir werden ohnehin zu spät kommen, weil es absolut nicht ausreicht, eine Stunde vorher da zu sein. Eine Stunde vorher sei viel zu spät. Dabei dachte ich, dass es auch genügen würde, zehn Minuten vorher da zu sein, denn schließlich ist das kein Flugzeug, sondern ein Bus nach Zagreb. Ich werde ohne alle Zoll- oder Passkontrollen einreisen können, muss lediglich meine Reisetasche zum Gepäckraum des Busses schleppen. Doch genau das erwies sich als kritisch.

Wir kamen eine Stunde vor Abfahrt an und waren in keinen einzigen Stau geraten – man hätte sich schon große Mühe geben müssen, um am Sonntagnachmittag um drei in einen Stau zu geraten. Dann musste ich herausfinden, in welcher Baracke sich das Büro der Firma befand, bei der ich die Fahrkarte gekauft hatte, dort würde man mir sagen, wo der Bus stand. Mischo wollte im Auto auf mich warten. Den Parkplatz fanden wir sofort, obwohl er sich die ganze Zeit Gedanken gemacht hatte, ob es dort wohl einen Parkplatz gäbe. Es gab einen. Aber der Onkel vom Parkplatz meinte, dass er doch lieber gleich hier auf der Straße parken könne, statt zwei Lewa Gebühren zu zahlen. Also parkte er gleich da. Ich stürzte los, um das Büro zu suchen, verlief mich natürlich zwischen den Baracken und wusste überhaupt nicht mehr, wie die verdammte Firma hieß, denn die heißen doch alle gleich und immer fängt der Name mit „I“ an und ist ganz kurz. Ich ging in die Baracken von „Ina“, „Iva“, „Ivette“, „Irene“, „Ivy“ und „Inko“, erkundigte mich überall, doch schlussendlich stellte sich heraus, dass ich zur Firma „Elen“ musste, dort nämlich hatte ich meine Fahrkarte gekauft. Der Name fing gar nicht mit „I“ an, oder jedenfalls fast nicht. All das absolvierte ich im Schnelldurchlauf, wie in einem Charly-Chaplin-Film. Genau zehn Minuten später rannte ich außer Atem auf das Auto zu und wusste bereits, welcher mein Bus war und wo er stand. Jetzt muss ich aber noch meine Reisetasche hintragen. Und die ist ziemlich schwer, weil ich die Absicht habe, eineinhalb Monate wegzubleiben. Deshalb ist Mischo sauer, und ich weiß, dass er recht hat. Außerdem sind Bücher in der Reisetasche sowie Zigaretten für eineinhalb Monate, pro Tag eine Schachtel. Ich habe auch verschiedene Cremes und Reinigungsmilch eingepackt, damit ich sie dort nicht kaufen muss. Dann noch geschlossene Schuhe für Regen, Sandalen, Sportschuhe und Badeschlappen. Zwei Handtücher und einen Anorak, und einen dicken Pullover, für alle Fälle. Hosen für den Strand und für kalte Tage, Strandkleider, sogar eine Haartönung, denn in eineinhalb Monaten könnte ich so etwas vielleicht gebrauchen. Außerdem sind drei Mappen mit CDs drin und überhaupt ist die Tasche schrecklich schwer. Deshalb bat ich Mischo, mir zu helfen. Eigentlich liegt es eher in meiner Natur, sie mir selbst über die Schulter zu werfen und loszurennen, denn dies scheint mir der leichteste Weg zu sein. Diesmal aber bat ich ihn, mir zu helfen. Wir fassten jeder auf einer Seite an und trugen sie zum Bus, der auf dem Busparkplatz stand, fünfzig Meter entfernt. Meiner Meinung nach dauerte das dreißig Sekunden, aber das war Zeit genug: Als wir die Reisetasche auf den Boden stellten und hochblickten, sah ich den Abschleppdienst. Der Kran hatte das Auto bereits am Haken und war eben dabei, es anzuheben. Wir ließen die Reisetasche auf den Asphalt fallen und stürzten wie die Wahnsinnigen hin. Der Parkplatzwächter war natürlich verschwunden. Ich vermute, er selbst hat sie per Handy gerufen, kaum dass Mischo ausgestiegen war.

Die Leute vom Abschleppdienst waren von der verständigen Sorte – sie machten das Auto los und ließen sich von uns nur 30 Lewa geben, ohne Rechnung. Das handelte Mischo aus, nachdem er sich lang und breit entschuldigt hatte. Aber er sah überhaupt nicht zufrieden aus und fuhr sofort los. So verabschiedeten wir uns für eineinhalb Monate, ohne Kuss.

Jeden Morgen stehe ich um sechs Uhr auf, ziehe die Laufkleidung an und gehe zum Jogging-Platz. Der nächstgelegene passende Ort ist für mich der Westpark. Eine abscheuliche Gegend, aber wenn man die Welt um sich herum unter Kontrolle hat, schafft man es, nur die Dinge zu sehen, die man sehen will, und das, was man nicht sehen will, nicht zu sehen.

Meine Joggingausrüstung ist wirklich hübsch – keine Markenkleidung, doch die Farben sind mit Liebe gewählt und selbst das Stirnband hat genau die Farbe der Sportschuhe. Sobald ich im Park bin, beginne ich zu laufen, und zwar exakt dreißig Minuten auf der Strecke, die ich zuvor geplant habe. Manchmal bin ich schon in sechsundzwanzig Minuten durch, doch normalerweise bemühe ich mich, das Tempo nicht zu erhöhen. Das Tempo muss immer gleich bleiben, außerdem ist dreißig eine gute Zahl. Nach genau dreißig Minuten verlasse ich den Park und mache mich auf den Heimweg. In meiner wunderschönen Joggingausrüstung gehe ich zwischen grauen, unansehnlichen Menschen, die bereits auf dem Weg zur Arbeit sind. Sie sehen mich nicht besonders freundlich an, denn gerade in diesem Stadtteil sind sie es nicht gewöhnt, Joggingkleidung zu sehen. Aber ich bin noch schlimmer – ich würdige sie gar keines Blickes. Ich sehe zu, dass ich sie nicht sehe.

Nachdem ich die Stufen voller Katzenpisse hinaufgestiegen bin – das Treppenhaus ist noch immer so vollgepinkelt und ich habe bisher keine Idee, wie ich das ändern könnte – schließe ich die Tür auf und bin BEI MIR.

BEI MIR ist es anders.

Auf das elende Bad habe ich völlig verzichtet, die Wanne steht jetzt im großen Wohnraum. Sie ist sehr schön und teuer. Ich drehe den Wasserhahn auf und stelle den Teekessel auf den Herd. Am Morgen trinke ich stets eine Tasse heißes Wasser, bevor ich frühstücke. Das reinigt mich von innen. Genau dann, wenn das Wasser zu kochen beginnt, ist auch die Wanne vollgelaufen. Ich gieße mir eine Tasse ein und lege mich in die warme Wanne. Seife oder Duschgel benutze ich nie – nur warmes Wasser von innen und außen. Es tut gut, den Tag so zu beginnen. Ich blicke nach oben, wo über meinem Kopf ein farbiges Glasmosaik angebracht ist. Gern würde ich in den Himmel schauen, doch das geht nicht, weil über mir noch zwei Stockwerke sind. Ich greife nach der Fernbedienung auf dem Fußboden und stelle Elvis an. Natürlich keine Rocksongs, nur die wirklich guten Sachen. Seine sanften Lieder höre ich gern, wenn ich in der sanften Wanne liege. Das warme Wasser trinke ich in kleinen Schlucken, so, wie es der Naturheiler Dimkov empfiehlt. Wenn ich ausgetrunken habe, beginnt genau das Badewasser abzukühlen, denn die gesamte Zeit ist exakt berechnet. Dann steige ich aus der Wanne und schlüpfe in den zyklamroten Bademantel.

Das Frühstück muss ich mir nicht erst zubereiten, denn es ist schon lange fertig. Nie kaufe ich fertige Haferflocken, die wie Popcorn aus Schaumgummi sind. Ich weiche Getreide ein. Ich kaufe ein Kilo Getreide und weiche es ein, sodass ich eine Woche lang davon essen kann. Ich lasse es keimen, und jeden Tag ist die Keimung ein wenig weiter vorangeschritten. Diesem Wochenrhythmus muss ich einmal nachgehen, mir scheint, er birgt etwas, das ich noch erkennen muss. Vielleicht sind die Tage, an denen die Sprossen am längsten sind, die wichtigsten. Oder es ist umgekehrt – wichtig sind die Tage, an denen der Prozess gerade erst beginnt. Es gibt noch so vieles, das ich nicht weiß.

Heute ist Sonntag und das Getreide ist ganz am Anfang des Zyklus. Ich frühstücke langsam, esse nie in Eile. Ich habe Zeit.

Wenn ich fertig bin, kommt der wichtigste Moment – der des Einreibens. Bodylotion ist zu teuer, es gibt sowieso keine gute. Ich verwende Olivenöl, dem ich jedoch eine selbst gemachte Kräutermischung beifüge. Ich versuche gar nicht, nach Nivea zu riechen, meine Duftkombination ist wirklich seltsam, das kommt daher, dass ich sie nicht mit der Nase, sondern mit dem Verstand auswähle. Ich will wissen, was ich auf mir verreibe. Ich habe eine genaue Vorstellung von jedem Detail und was es bedeutet.

Nun brauche ich noch dreißig Minuten zum Trocknen, denn Olivenöl zieht nicht so schnell ein. Zehn Minuten mache ich Atemübungen und danach meditiere ich zwanzig Minuten. Dabei verwende ich den Satz „Ich kontrolliere diese Welt und ich habe sie erschaffen.“

Keine Ahnung, wer sich diese Welt ausgedacht hat, aber sie kommt mir leicht bösartig vor. Mischo und ich hatten uns ohne jeden Kuss verabschiedet, er hatte 30 Lewa für den Abschleppdienst bezahlt und dachte nun sicher, ich sei schuld, und genau zwanzig Minuten, nachdem wir aus Sofia heraus waren, stießen wir auch noch auf eine Warteschlange. Von einer Grenze war nichts zu sehen, als der Bus anhielt, nicht einmal in der Ferne; ich nahm die Kopfhörer ab, um zu hören, was man uns erklären würde, aber es gab keine Erklärungen. Das ist echt ätzend – erst hetzt man sich ab, dann steht man herum und wartet. Und während man sich abhetzt, vergisst man Verschiedenes, zum Beispiel Reiseproviant und Mineralwasser, und dann wartet man und kann nichts machen.

Drei Stunden, bis wir den Grenzübergang endlich zu Gesicht bekommen.

Als er sichtbar wurde, sagte der Fahrer über die Lautsprecheranlage: „Wir sind an der Grenze zu Serbien. Wir machen eine Stunde Pause, aber Sie dürfen den Bus nicht aus den Augen verlieren. Die Toiletten befinden sich links. Die Benutzung ist kostenfrei, doch es gibt kein Wasser und kein Toilettenpapier. Der Free-Shop ist rechts. Jeder hat Anspruch auf eine Flasche Alkohol und eine Stange Zigaretten. Für alles andere haften Sie selbst.“

Zu den Toiletten stürzten wir ziemlich schnell. Es waren diese komischen neuen Kabinen, die schaukeln, wenn man eine jähe Bewegung macht.

Im Free-Shop gab es weder Mineralwasser, noch etwas zu Essen. Es gab Parfüm, doch das billigste kostete 39 Euro und roch mir gar nicht gut. Deshalb kaufte ich einen Liter Whisky für 7 Euro und noch eine Stange Zigaretten. Zigaretten kann man nie genug haben. Ohnehin war ich die Bescheidenste, denn alle kauften mindestens zehn Stangen, einer verlangte sogar hundert, egal welcher Sorte, nach ihm wurde es leer im Free-Shop, weil es nichts mehr zu verkaufen gab. All das Zeug stopften sie in die leeren karierten Reisetaschen, die sie extra mitgebracht hatten. In meine Reisetasche passte absolut nichts mehr, deshalb ließ ich die Flasche und die Zigaretten wie der größte Säufer und Kettenraucher auf dem Sitz liegen und ging noch ein wenig spazieren, denn der Bus machte keinerlei Anstalten loszufahren. Ich ging noch einmal in den Free-Shop und kaufte mir eine Dose Bier. Zurück im Bus schaffte ich es irgendwie, sie zu öffnen, und stellte sie in die dafür vorgesehene runde Öffnung des Tischchens vor mir. Just in diesem Augenblick fuhr der Bus ruckartig in Richtung Grenzübergang an und das ganze Bier ergoss sich über meinen Rock, der leider Gottes aus Popeline war und breit genug, um einen halben Liter Bier aufzunehmen. Da hielt der Bus erneut und der Fahrer sagte durchs Mikrofon: „Zollkontrolle. Stellen Sie sich mit Ihrem gesamten Handgepäck auf der linken Seite des Busses in eine Reihe.“

Ich kippte den Inhalt meines Rockes auf den Fußboden, nahm die Tasche in die eine Hand, die Literflasche Whisky und die Stange Zigaretten in die andere und reihte mich verzweifelt in die Schlange. Die Zöllner warfen mir nur einen flüchtigen Blick voller Abfälligkeit zu. Sie wussten Bescheid.

Frühmorgens um vier Uhr fünfundzwanzig hält der Bus vor dem Motel. Es ist dunkel und es regnet. Beherzt ergreife ich die Reisetasche und hieve sie mir auf die Schulter, doch dann komme ich im Regen nur sehr langsam voran. Nach wie vor gebe ich ein jämmerliches Bild ab mit meinem noch halb nassen, zerknitterten Rock.

Das Motel ist zehn Kilometer von Zagreb entfernt und hat Gott sei Dank eine durchgängig geöffnete Cafeteria. Ich lasse die Reisetasche neben dem erstbesten Tisch auf den Boden fallen, begebe mich sofort auf die Suche nach einer Toilette, danach hole ich mir drei Zentimeter Espresso, wofür ich drei Euro berappen muss, nun endlich darf ich mich auf den Stuhl setzen und mein Buch aufschlagen. Cortés‘ zukünftige Frau praktiziert gemeinsam mit ihrer Großmutter irgendwelche aztekischen Riten. Na super, das passt perfekt zu diesem absurden Motel außerhalb von Zeit und Raum um vier Uhr morgens. Es ist warm und mein Rock trocknet weiter, wenn auch in absonderlich gekräuselten Formen. Der Espresso ist gut. Er ist die zwei Lewa pro Zentimeter wirklich wert, ich bestelle mir direkt noch einen. Als um halb neun statt um sechs endlich Emtcho eintrifft, habe ich bereits vier getrunken. Die Flasche Whisky war preiswerter. Wir küssen uns, er entschuldigt sich und erzählt etwas von den Straßenverhältnissen, ich sage, dass der Espresso gut sei, worauf er meint, das sei genau das, was er jetzt brauche. Also stürme ich los und kaufe zwei weitere.

Mit Geld gehe ich eher verantwortungslos um, als dass ich knauserig wäre, aber viel habe ich nicht mitgenommen. So hatte ich unsere Vereinbarung verstanden, außerdem weiß Emtcho, dass ich nicht so viel habe wie er. Sicher hätte ich etwas mehr einstecken können, doch das schien mir unfair gegenüber dem Kleinen Mischo und dem Großen Mischo. Der Kleine Mischo ist Emtchos Sohn. Wir haben ihn nach Emtchos Vater genannt. Doch den Leuten ist nur schwer begreiflich zu machen, dass der Kleine Mischo nicht der Sohn des Großen Mischo ist. Sie fragen mich einfach, was der Junior so macht.

Emtcho hat zugenommen. Dass er sich den Schädel kahl geschoren hat, hatte ich schon vergangenes Jahr gesehen und akzeptiert, denn da gab es ohnehin nicht viel zu scheren. Ansonsten ist er noch genauso groß und erschreckend weiß und hat noch immer dieses charmante, entwaffnende Lächeln. Ich hasse Emtcho schon lange nicht mehr, auf eine gewisse Art liebe ich ihn sogar noch. Emtcho ist liebenswert. Jetzt erläutert er, er sei über furchtbare Bergstraßen gefahren, um abzukürzen, doch dort habe es geregnet und sei neblig gewesen, weshalb er sehr langsam fahren musste. Es gebe auch Tunnel, die seien kaputt, aber man müsse durch sie hindurch – wenn ich ihm verspreche, nicht zu kreischen, werde er jetzt gleich mit mir dort entlangfahren, damit ich sehe, was er meint.

Wie immer gelingt es ihm, ein Thema zu entwickeln. Ich glaube, deshalb habe ich ihn gemocht. Denn Emtchos Themen sind immer abenteuerlich und lustig, während die von Mischo traurig und ernüchternd sind. Dafür sind sie ehrlich im Gegensatz zu Emtchos Themen.

Ich trinke meinen fünften Espresso und der Aschenbecher vor mir ist voll. Emtcho dagegen hat das Rauchen wieder einmal aufgegeben und meint streng, im Jenseits werde nicht geraucht. Es sei nicht nobel. Ich aber glaube, dass er vielleicht deshalb zehn Kilo zugelegt hat, was mir auch nicht nobel erscheint, doch das sage ich nicht. Emtcho ist ein knuffiger Typ.

Sein Auto erweist sich als nagelneuer Jeep, grasgrün, damit es im Einklang mit der Rückkehr zur Natur steht, vermute ich mal. Nun fällt mir auf, dass sein dezent im Military-Style gehaltener Anzug und der kahl rasierte Schädel super zum Jeep passen. Diszipliniert schnalle ich mich an, während er erklärt, dass er nur wegen mir nicht über die furchtbaren Bergstraßen fahren, sondern diesmal endlich die Autobahn nach Rijeka finden werde. Die suchen wir während der folgenden fünfzig Minuten, wobei wir im Kreis über diverse Kleeblattkreuze und Viadukte fahren und stets auf das Hinweisschild für ein und dasselbe Dorf treffen. Jetzt ist mir klar, dass er tatsächlich rechtzeitig losgefahren ist und mich nicht einfach aus Gehässigkeit zweieinhalb Stunden im Motel hat warten lassen. Emtcho hat einen ganz schlechten Orientierungssinn, das hatte ich vergessen.

Schließlich sage ich, wenn er zum achten Mal denselben Abzweig nimmt, werden wir ganz bestimmt wieder auf dieses Dorf stoßen, woraufhin er hysterisch wendet, wo dies eigentlich gar nicht geht. Nun endlich sehen wir Orte, durch die wir zuvor noch nicht gekommen sind. Eines ist sicher – es geht bergan. Die Straße sieht nicht wie eine Autobahn aus und wird definitiv zu einer Bergstraße. Kurz darauf sehen wir ein Schild mit der Aufschrift „Rijeka“.

„Das ist doch wieder diese Strecke!“, brüllt Emtcho. „Da bin ich also wieder hier rausgekommen! Mach jetzt bloß kein Gezeter!“

Ich sage ihm nicht, dass es wahrscheinlich gar keinen anderen Weg nach Rijeka gibt, da man die Berge ja irgendwie überqueren muss. So sieht es zumindest auf der Karte aus. Ich verspreche ihm, nicht loszubrüllen.

Irgendwann jedoch überkommt mich der Wunsch zu brüllen – vor Begeisterung. Denn so etwas habe ich noch nie gesehen, und was ich sehe, lässt sich mit Worten überhaupt nicht beschreiben. Oben im Gebirge sehen wir andere Berge, die mit den Füßen im Meer stehen und deren Rücken wie die von prähistorischen Tieren herausragen, aber es sind richtige Berge, gewaltig und hoch genug, nur stehen sie im Meer. Der Himmel bleibt keine Sekunde ruhig, die Wolken ziehen im Schnelldurchgang vorüber, Licht und Farben ändern sich ununterbrochen. Und all das sehen wir von noch weiter oben, diese riesigen Berge im Meer sind irgendwo da unten in einem sehr tiefen Loch, über dem sich die Wolken drehen, als ob eine Hexe sie in ihrem Kessel umrührte.

„Hübsch, nicht wahr?“, meint Emtcho. „Das sind übrigens die Alpen. Genau hier enden die Alpen.“

„Es erinnert mich an Dante“, sage ich. „Gleich kommen wir hinunter in den ersten Höllenkreis.“

Nur dass wir statt in der Hölle im Paradies gelandet sind. Keine Spur mehr von der schaurig-majestätischen Landschaft – hier ist alles weich, ruhig und schön. Wir sehen nicht mehr das Ganze, sondern einzelne kleine Buchten, die eine nach der anderen zwischen Pinien und Olivenbäumen hindurchschimmern. Sie sind wirklich unglaublich, wie Fiktion. Eine solche Farbe hat Wasser in der Natur nicht und mir fällt es schwer zu glauben, dass sie nicht gefärbt sind. Von unten betrachtet sehen die Wölkchen wie gemalt aus, wunderschön und makellos. Natürlich sind sie völlig ohne böse Absicht dort, sondern nur, um die Landschaft zu ergänzen. Diese Landschaft sieht wie ein Bild auf einem Bettkopfteil aus. Ich habe nicht gewusst, dass solche Dinge wirklich existieren, habe immer geglaubt, autodidaktische Künstler würden sie sich ausdenken.

„Gleich werden wir die Insel sehen“, sagt Emtcho.

Und da sehe ich sie. Sie wirkt gar nicht wie eine Insel, eher wie ein eigener Kontinent. Zu diesem führt eine riesengroße, außergewöhnliche Brücke, die regelrecht in den Himmel ragt. Möglicherweise ist die Brücke die Stelle, an der ich „nicht kreischen“ sollte, denn Tunnel habe ich jedenfalls keine gesehen.

Emtcho wohnt in München und ist mit einer Deutschen verheiratet. Von Beruf ist er nicht drehender Filmregisseur. Bei uns wollte er gerade anfangen zu drehen, als der Schlamassel begann, und in München ging es gleich gar nicht. Emtcho kann Fremdsprachen, außerdem ist er nicht dumm. Seine Frau arbeitet praktisch nicht und er ist der Ernährer der Familie. Er verkauft Flugtickets, hat ein eigenes Büro. Bestimmt läuft es gut bei ihm, wenn er sich ein Haus auf einer Insel in der Adria kaufen kann. Obwohl ich andererseits weiß, dass das Haus in München ihr gehört. Keine Wohnung, sondern ein Haus, ich habe es auf Fotos gesehen. Ich habe nie verstanden, wie sich die Dinge genau verhalten, es war mir unangenehm zu fragen. Ich weiß auch nicht, warum sie keine Kinder haben. Immerhin ist sie so alt wie ich — es wäre höchste Zeit für sie, daran zu denken. Denn Emtcho hat ein Kind, sie aber nicht, es ist ihre erste Ehe. Chris ist nett, sie spricht nicht viel, hat aber Köpfchen. Mit einem freundlichen Lächeln erträgt sie Emtchos Eskapaden, die mich früher dazu brachten, herumzuschreien und mit den Türen zu knallen, und dann haut sie plötzlich etwas vernichtend Scharfsinniges heraus, was viel effektiver als jedes Herumbrüllen ist.

Im vergangenen Jahr haben die beiden eine Woche bei uns gewohnt, und wäre sie nicht gewesen, hätte man es nicht aushalten können. Denn bei Emtcho und Mischo war es Hass auf den ersten Blick, unverhohlen und fürs ganze Leben, dann beschlossen beide, sich nicht wie Rüpel zu benehmen, sondern sich zu betrinken, um ihre Beziehung zueinander zu klären und eventuell Freunde zu werden. Dieses Vorhaben endete in einer Katastrophe, denn Chris und ich ließen sie die ganze Nacht hindurch trinken. Am Morgen sprachen sie gar nicht mehr miteinander und jeder versuchte, mich abzufangen und mir zu erzählen, was für schreckliche Dinge der andere über mich gesagt habe. Chris und ich lächelten uns von da an schuldbewusst zu, sie stürzte sich immer so schnell auf das Kücheputzen und den Abwasch, dass ich ihr nicht ein einziges Mal zuvorkommen konnte. Dafür kocht Chris nicht. Sagt einfach, sie könne es nicht. Ich bin auch keine herausragende Köchin, koche aber jeden Tag, wie eine gute bulgarische Ehefrau eben. Die wahren Köche sind Mischo und Emtcho, und auch hier gab es einen Wettkampf.

Dann ist da noch die Sache mit dem Kleinen Mischo, der seinen Vater nicht besuchen möchte. Ich schwöre bei allen guten Geistern, dass ich den Kleinen Mischo niemals gegen seinen Vater aufgehetzt habe. Ich hasse Emtcho ja selbst nicht, und überhaupt bin ich einfach nicht so. Er aber wird seinem Vater gegenüber immer feindseliger, keine Ahnung warum. Jedenfalls nicht, weil er den Großen Mischo so sehr lieben würde; eigentlich streiten sich die beiden ununterbrochen. Vielleicht liegt es schlicht an der Pubertät.

Ich glaube nicht, dass es bei Emtcho und Mischo um Eifersucht ging. Zumindest nicht wegen mir. Es liegt zu lange zurück. Ich ließ mich nicht wegen Mischo von Emtcho scheiden und überhaupt war er es, der mich verlassen hat. Ich denke, zwischen den beiden hat sich einfach eine natürliche Antipathie entwickelt. Womöglich ging es auch um den Kleinen Mischo. Vielleicht bildet Emtcho sich ein, der Große Mischo habe ihn ihm weggenommen.

All das ist so widrig und quälend, dass ich gar nicht mehr daran denken möchte. Ich sollte mir lieber überlegen, wie ich jetzt allein auf einer unbewohnten Insel leben werde. Denn der Plan sah vor, dass ich zwei Wochen mit Emtcho und Chris verbringen würde, um danach einen Monat allein dort zu bleiben.

Die Insel sah jedoch gar nicht unbewohnt aus. Wir fuhren über die Brücke in den Himmel (wobei ich nicht kreischte, weil es zwar sehr hübsch war, aber nicht zu vergleichen mit dem schaurig-schönen Blick vom Kamm des Gebirges) und kamen sofort zum Fährhafen, wo die Autoschlange bis ins Unendliche reichte.

„Nur auf den Straßen sieht man, wie viele Menschen eigentlich auf der Insel sind“, sagt Emtcho. „Ansonsten bemerkt man sie nicht, es gibt so viele Buchten, dass für jeden eine da ist. Manchmal sind es nur drei Meter. Wie eine Einzimmerwohnung.“