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Er ist Rechtschaffenheit. Sie ist die Sünde. Pater Cade Frédéric ist ein heiliger Mann. Aufgewachsen in den Straßen von Paris, hat er sein Leben der Kirche gewidmet. Doch unter der Oberfläche lauert ein Ungeheuer. Eine Krankheit. Eine, die in Dunkelheit blutet und sich von den Verdammten ernährt. Als er den Auftrag erhält, Priester in Festivalé, Vermont, zu werden, einer Stadt, die sowohl durch ihre schöne Architektur als auch durch ihre Verzweiflung geprägt ist, singt seine Krankheit und verlangt, dass er den Ort vom Bösen befreit. Amaya Paquette ist das schöne Geheimnis von Festivalé. Sie verbringt ihre Tage damit, sich um ihren jüngeren Bruder zu kümmern, und ihre Nächte damit, sich in Esmeralda zu verwandeln und für gierige Augen und schamlose Lippen zu tanzen. Obwohl sie sich nach Liebe sehnt, scheut sie die Gesellschaft, weil sie Angst hat, wieder verlassen zu werden. Als Pater Cade Amaya erblickt, ist er gefangen und überzeugt, dass sie ihn mit Hexerei zu sich lockt. Er kann nicht essen. Kann nicht atmen. Er kann nicht denken, außer an sie. Und die Versuchung ist eine verheerende Geliebte. Sie ist seine Schwäche, also beschließt er, sie zu vernichten ... selbst wenn das bedeutet, die einzige Frau zu töten, die er jemals lieben könnte. Crossed ist ein düsterer Liebesroman und der fünfte, unabhängig lesbare, Teil der Never-After-Serie: einer Sammlung von gebrochenen Märchen, in denen die Bösewichte die Helden sind. Es handelt sich nicht um eine Nacherzählung und nicht um Fantasy. Crossed enthält Themen und Inhalte, die möglicherweise nicht für alle Leser:innen geeignet sind. Alle Warnhinweise zum Inhalt findet ihr auf der Webseite der Autorin.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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© Crossed by Emily McIntire 2023
© der deutschsprachigen Erstausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2025
Übersetzung aus dem Amerikanischen: Birte Mirbach
Redaktion: Antje Steinhäuser
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
Covergestaltung: zero-media.net, München nach einem Entwurf von Cat/TRC Designs Covermotiv: unter Verwendung von Shutterstock und depositphotos
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Cover & Impressum
Playlist
Widmung
Zitat
Anmerkung der Autorin
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Epilog
Erweiterter Epilog
Steckbriefe
Cade Fréderic
Amaya Paquette
Werde Mitglied bei McIncult!
Danksagungen
Glossar
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
»Seven Devils« – Florence + the Machine
»My Mind & Me« – Selena Gomez
»Come as You Are« – Nirvana
»Unholy« – Sam Smith, Kim Petras
»Monster« – Shawn Mendes, Justin Bieber
»God is a Woman« – Ariana Grande
»Elastic Heart« – Sia
»Lovely« – Billie Eilish, Khalid
»Bleeding Out« – Imagine Dragons
»Figure You Out« – VOILÀ
An alle, die Angst davor haben, Fehler zu machen. Irren ist menschlich. Sei gnädig zu dir selbst.
Als ich dich zweimal gesehen hatte, wollte ich dich tausendmal, wollte ich dich immer sehen. Von da an … wie einhalten auf diesem Abhang zur Hölle? … Von da an gehörte ich nicht mehr mir.
Victor Hugo,Der Glöckner von Notre-Dame
Crossed ist ein düsterer, zeitgenössischer Liebesroman. Es ist ein gebrochenes Märchen für Erwachsene, keine Fantasy oder Nacherzählung.
Die Hauptfigur ist ein Schurke. Wenn du auf der Suche nach einer ungefährlichen Lektüre bist, wirst du das auf diesen Seiten nicht finden.
Crossed enthält sexuell explizite Szenen, die anschaulich beschrieben werden und nicht für jede Zielgruppe geeignet sind. Es liegt in deinem Ermessen, ob du dieses Buch lesen möchtest. Ich fände es besser, wenn du dich blind darauf einlassen würdest, aber wenn du eine Liste mit detaillierten Triggern möchtest, findest du sie auf EmilyMcIntire.com.
Cade
Festivalé in Vermont sieht zu nachtschlafender Zeit anders aus.
Es ist eine dreckige Kleinstadt.
Schmutzig. Voller Dunkelheit.
Mein Vorgesetzter hat mich hierhergeschickt, um das historische Gebiet wiederzubeleben. Um es zurück auf den Pfad der Rechtschaffenheit zu führen, auf dem es schon so lange nicht mehr wandelt.
Als ich vorhin hier angekommen bin, verspürte ich einen Anflug von Nostalgie. Ich saß auf dem Beifahrersitz des SUV, der langsam durch die Straßen rollte, die Architektur im französischen Kolonialstil erinnerte mich an meine Kindheit – wie ich in den finsteren Seitengassen von Paris aufwuchs, um Reste bettelte und klaute, nur um etwas zu essen zu haben und zu überleben.
Diese Kleinstadt trieft vor Sünde, ganz ähnlich wie Paris, auch wenn ihr dessen Finesse fehlt.
Anstatt seine eigentlich so reichhaltige Tradition zu pflegen, geprägt von der Zeit, als Vermont im achtzehnten Jahrhundert noch zu Neufrankreich gehörte, wirkt Festivalé wie eine Karikatur. Eine absurde Ode an einen verlorenen Ort. Der Name der Stadt ist nicht einmal richtiges Französisch.
Wenn ich ein hoffnungsvoller Mann wäre, würde ich dennoch durch die staubigen Fenster blicken und Potenzial erkennen. Aber die Luft wird vom Bösen verpestet, das sie stickig und zäh macht, eine dunkle Wolke, die das Tal bedeckt und in allem, was sie berührt, Krankheit hervorruft. Ich kann es mit jedem Inhalieren riechen. Mit jedem Atemzug schmecken. Ein Teil von mir macht sich Sorgen, dass auch ich mich anstecken könnte, aber ich schiebe den Gedanken schnell beiseite und spüre, wie sich meine Abwehrkräfte verstärken, bis sie so solide wie Stahl sind.
Ich weiß nicht genau, wie spät es jetzt ist, nur dass ich schon vor Stunden hier angekommen bin und es kurz vor Mitternacht war, als ich mein neues Zuhause verließ. Es war gar nicht meine Absicht gewesen, mich schon so bald nach meiner Ankunft hinauszuwagen, aber ein vertrautes Bedürfnis stieg in mir auf, das ich zu ignorieren versuche.
Und ich bin nur ein Mensch.
Wenn sich meine eigene Krankheit … mein eigenes krankes Sein manifestiert, kann ich mich seiner Sogwirkung nicht erwehren.
Il est miséricordieux.
Er ist barmherzig.
Die Luft ist kühl heute Nacht, und ich eile über die aufgeplatzten Bürgersteige und durch die Seitengassen, ein Anflug von Frost zupft mir an der Nase und den Ohrenspitzen, bis sich ein brennendes Taubheitsgefühl darin ausbreitet. Ich neige den Kopf, der Kragen meiner schwarzen Wolljacke scheuert mir am Hals, während ich durch den vermutlich rauesten Teil der Stadt gehe.
Der Vollmond wirft ein gespenstisches Licht auf die ruhigen Straßen, meine Schritte hallen durch die Stille.
Auf einmal öffnet sich eine Tür zu meiner Linken, gelbes Licht fällt durch den Eingang und betont die Silhouette einer Frau. Ihre Stimme wird von den zerfallenden Backsteinhäusern mit verrottenden Platten und Scherben anstelle von Fenstern zurückgeworfen.
Ich zögere und runzele unter der breiten Krempe meines Hutes die Stirn, während sie den Hausaufgang verlässt und auf mich zu geschlendert kommt. Ich mustere die Umgebung. Außer uns ist niemand hier draußen.
Sie bleibt direkt vor mir stehen und sieht mir mit verschleiertem Blick in die Augen, die Pupillen geweitet, sodass ihre Augen so schwarz wie Kohle wirken.
Mir sinkt der Magen.
Une démone.
Eine Dämonin.
»Sie sind neu hier«, säuselt sie. Ihre Stimme ist auf eine geübte Art heiser, an der sie garantiert gefeilt hat, um den Schwanz eines Mannes zum Zucken zu bringen und seine niederen Instinkte aufsteigen zu lassen. Aber ich habe schon seit Jahren kein sexuelles Bedürfnis mehr einer Frau gegenüber verspürt.
Abscheu macht sich in mir breit, und eine Stimme in meinem Kopf flüstert, aber ich versuche, die bösen Gedanken zu ignorieren. Ich bin nicht nach draußen gegangen, um meinen Impulsen nachzugeben, sondern nur, um meine Psyche davon zu reinigen.
Ich starre auf sie hinunter, überrage ihren drahtigen Körper, auch wenn sie wahrhaftig nicht klein ist. Ein eisiger Windstoß fegt mir übers Gesicht, und ich beiße die Zähne zusammen, damit sie nicht anfangen zu klappern.
Über die entblößte cremefarbene Brust der Frau zieht sich eine Gänsehaut, und sie tritt von einem Fuß auf den anderen, wobei unter ihren Füßen Blätter knirschen.
Sie streckt die Hand aus und fährt damit über das Revers meines schwarzen Mantels, und lässt mich in Bewegung geraten. Meine behandschuhten Hände schnellen hervor, um ihre Finger fest zu packen. Ein überraschtes Keuchen entschlüpft ihren liederlichen roten Lippen.
»Wie heißt du, Démone?«, krächze ich.
Der schockierte Ausdruck auf ihrem Gesicht weicht und macht einem Anflug von Neugier Platz.
»Das nenne ich mal einen Akzent.« Sie tritt näher heran. »Sie können mich nennen, wie auch immer Sie wollen, solange Sie zahlen können, Baby. Bar oder … oder Heroin, wenn Sie welches haben.«
Mein krankes Sein singt.
Und bevor ich es zurückdrängen kann, explodiert mein Monster, meine Krankheit – dieses kranke Sein – und zieht sich mir durch Mark und Bein, bis es schmerzt.
Ich lasse das Handgelenk der Frau los und nicke ihr kurz zu.
Ihr Grinsen wird breiter, bis es die Ecken ihres eingefallenen Gesichts erreicht. »Folgen Sie mir.«
Sie dreht sich um und kehrt zur offenen Tür zurück, und ich sehe mich noch ein letztes Mal um, ob uns wirklich niemand sieht.
Immer noch allein.
Ihre Unterkunft ist klein und verdreckt. Nur ein einziges Zimmer mit einer schmutzigen Matratze auf dem Fußboden und einer Lampe ohne Lampenschirm, die in der Ecke flackert. Das Bett selbst ist voller Flecken, und ich kann riechen, wie die gottlosen Paarungen die Luft erfüllen, die so dick ist, dass ich das Gefühl habe, nicht atmen zu können.
Vor Jahren hätte ich sie um diesen Raum beneidet. Ich hätte mich nach einer Matratze unter mir und einem Dach über dem Kopf in der Nacht gesehnt.
Aber das war früher.
Die Frau dreht sich zu mir um, und ich bemerke die Pockennarben, die sich über ihr ausgemergeltes Gesicht verteilen, eine wilde Verzweiflung in den Tiefen ihrer Gesichtszüge, die versucht, meine Energie mit ihren schemenhaften schwarzen Klauen einzufangen.
Der Mann in mir will weggehen, aber das Monster ruft sie näher heran.
Ihre knochigen Hüften schwingend schlendert sie zu mir, und irgendetwas Saures zieht an meinen Mundwinkeln, während ich zusehe, wie sie versucht, ihren unterernährten Körper verführerisch erscheinen zu lassen. Sie lässt die Hand über meinen Wollmantel gleiten und öffnet langsam die Knöpfe. Ich lasse es zu, und als der Stoff aufklafft, bleibt ihr Blick an dem unverkennbaren Kragen um meinen Hals hängen, und sie reißt die Augen auf, während sie ruckartig den Kopf hebt, um mir in die Augen zu sehen.
Sie zuckt zurück, aber ich packe sie so fest, dass es blaue Flecken geben wird, und ziehe sie an mich heran.
»Le diable est à l’intérieur de toi«, zische ich.
Sie schüttelt den Kopf. »Ich verstehe nicht … Ich weiß nicht, was das bedeutet.«
Ich beuge mich hinunter, bis ich ihr in die struppigen, zerzausten Haar flüstern kann. »Es bedeutet, dass der Teufel in dir steckt.«
Dann lasse ich die Hände ihre Arme hochgleiten, bis ich sie um ihre zerbrechliche Kehle legen kann. Ihr Herz schlägt so laut, dass ich es durch das Leder meiner Handschuhe spüren kann. In meinem Magen explodiert die Aufregung wie eine kleine Bombe, und jetzt zuckt mein Schwanz doch.
Es ist mir egal, dass sie offensichtlich eine Sexarbeiterin ist. Es ist nicht das, was sie tut, was mein Monster auf den Plan ruft, sondern das, was in ihr ist. Ich möchte sie nur von ihren Dämonen befreien.
»Mach dir keine Sorgen, mein Kind«, fahre ich fort. »Ich bin gekommen, um dir zu helfen.«
Und dann drücke ich zu, quetsche ihre empfindliche Luftröhre zusammen. Die Ärmel meines Mantels verrutschen bei der Bewegung, und sie bohrt ihre Fingernägel in meine entblößten Handgelenke, ritzt mir die Haut auf, während sich meine Muskeln anspannen.
Ich genieße es, wie sie kämpft. Just bevor sie das Bewusstsein verliert, lasse ich sie los, löse den Schal von meinem Hals, um ihn ihr um den Hals zu legen, überkreuze die Enden und ziehe daran.
Langsam erschlafft ihr Körper, und erst als ich sehe, wie das Leben aus ihren verschleierten Augen weicht, verpufft das gewalttätige Bedürfnis in mir, bis nichts als Asche zurückbleibt; mein krankes Sein verschwindet, als wäre sie überhaupt nicht da gewesen.
Ich lege ihren Körper auf dem Boden ab und atme tief durch, während ich den Schal wieder an mich nehme und mir den Mantel zuknöpfe. Dann beuge ich mich über die Leiche und berühre mit den Fingerspitzen erst ihre Stirn und dann ihren unteren Brustkorb, bevor ich sie über ihre Schultern ziehe, um das Kreuz zu vollenden.
»Danket dem Herrn, denn Er ist gut«, murmele ich.
Die Ranken der Schuld schlingen sich bereits um meine Mitte und rollen sich zusammen, bis ich nur noch stockend atme und das Bild vor meinen Augen verschwimmt.
Aber ich kann das nicht kontrollieren.
Dieses Ding habe ich schon seit meiner Geburt in mir, verdammt von meinem allerersten Atemzug an. Nur indem ich Ihm diene kann ich versuchen, meine Seele zu reinigen.
»In dir steckt ein Monster, Kind. Und Gott will, dass ich es aus dir herausprügele.«
Ich schüttele die Stimme aus der Vergangenheit ab und stehe rasch auf, um das Zimmer zu verlassen, wobei ich darauf achte, dass die Luft rein ist, bevor ich ins Stadtzentrum zurückkehre.
Zu meinem neuen Zuhause.
Es wird eine lange Nacht werden. Ich werde nicht eher ruhen können, bis ich sowohl für die Sünde gebüßt habe, ein Leben ausgelöscht zu haben, als auch für meine mangelnden Gewissensbisse danach.
Schuldgefühle schnüren mir die Luft ab, weil ich überhaupt nichts spüre.
Ich werde den Schmerz willkommen heißen.
Er ist barmherzig.
Während ich weitergehe, beiße ich gegen die raue Luft die Zähne zusammen und versuche, mich daran zu erinnern, wohin ich meine Geißel gepackt habe: Die Peitsche, die ich für Anlässe wie diesen besitze.
Ich brauche zwanzig Minuten für den Rückweg, die Kathedrale Notre-Dame glänzt im Licht des Vollmonds, ihre beiden aufwendig gestalteten Glockentürme ragen über dem Hauptplatz auf wie ein Versprechen. Von außen ist die Architektur sehr gotisch und eine fast exakte Nachbildung der gleichnamigen Kathedrale in Paris, wenn auch deutlich kleiner.
Diese gesamte Stadt ist wie eine Zeitkapsel; Geschichte, die diesen Menschen und diesem Land nicht wirklich gehört und mit ihrer deplatzierten Kraft alles erstickt. Sie zieht allerdings Touristen und Geld an, und wenn sich die Vereinigten Staaten in etwas auszeichnen, dann ist es Gier.
Ich beschleunige die Schritte, und gerade als ich durch das Tor und um das Haus herum zum Hinterhof gehen will, wo sich das Pfarrhaus befindet, fällt mir eine Bewegung am Fuße der Stufen zur Kathedrale auf.
Ein Mann lehnt an den Steinen, die Augen geschlossen und das Haar zerzaust, während er versucht, sich mit einer löchrigen Decke und fingerlosen Handschuhen warmzuhalten.
Der Anblick schnürt mir die Kehle zu. Ich weiß, wie gnadenlos die kalten Nächte sein können, wenn du auf dem Beton der Straßen schläfst.
Also gehe ich hinüber und lege ihm die Hand auf die Schulter, drücke sanft zu, als er mit einem Ruck erwacht. Mein Blick huscht zu meiner Hand, ein paar tiefe Kratzer verunstalten mein bleiches Handgelenk, und eine lebhafte Erinnerung daran, wie ich erst vor wenigen Minuten die Finger um die Kehle der Frau gelegt habe, erhitzt mein Blut und schickt mir einen Adrenalinstoß durch den Körper.
»Kommen Sie herein, bevor Sie erfrieren.« Mit einem Nicken weise ich auf die Pforten der Kathedrale.
Der Mann reißt die Augen auf und zögert nur einen Moment, bevor er »Danke« murmelt und mir die Treppen hoch folgt. Wir passieren die steinernen Wasserspeier, die sich über die Vorderseite ziehen, und gehen in die Wärme des Narthex, der Kirchenvorhalle gleich hinter dem gewölbten Eingang.
»Sie können hier schlafen oder im Kirchenschiff, wenn Sie wollen.« Mit dem Kinn weise ich auf die Kirchenbänke des Gotteshauses, bevor ich mich zu dem Gang umdrehe, der mich zum Hinterausgang führen wird, zu dem kleinen Cottage auf der hinteren Seite des Kirchengeländes, das jetzt mein Zuhause ist.
»Wer sind Sie?«, fragt der Mann. Seine Stimme widerhallt von den hohen Decken und den Buntglasscheiben. »Ich habe Sie noch nie zuvor gesehen.«
Ich halte inne, drehe mich aber nicht zu ihm um.
»Ich bin Monsieur Frédéric. Aber Sie können mich Pater Cade nennen.«
Amaya
»Verdammt.«
Ich ziehe die Luft ein, reiße die Hand vom Gasherd weg und renne zur Spüle, wo ich Wasser über die verbrannte Haut laufen lasse. Der scharfe Schmerz lässt mir Tränen in den Augen aufsteigen, aber ich beiße die Zähne zusammen und lasse die verbrannte Stelle von der lauwarmen Flüssigkeit beruhigen.
Gerne würde ich dem minderwertigen Gerät die Schuld für mein Missgeschick zuschieben, aber ich war einfach nur in Gedanken verloren gewesen. Selbst jetzt, während ich zuschaue, wie das Wasser aus dem verrosteten Hahn an meiner Spüle läuft und der kleine Wasserfall sich beim Auftreffen auf meinen Finger aufspaltet, driften meine Gedanken wieder weg, verliere ich mich irgendwo in meinem Hinterkopf. Irgendwo, wo ich das Brennen nicht fühle. Wo ich überhaupt nichts fühle.
Mit einem Kopfschütteln drehe ich den Wasserhahn zu und seufze, während ich mich in der Vierzimmerwohnung nach meinem kleinen Bruder umsehe.
»Quin«, rufe ich ihn, als ich ihn nicht finde.
Geräusche von draußen sickern durch die hauchdünnen Wände des kleinen Wohnzimmers herein, und ich runzele die Stirn. Als ich zur Tür gehe, zieht die kalte Luft des rauen Herbstes in Vermont durch die Spalten und lässt mir einen Schauer den Rücken hinunterlaufen. Als ich aufblicke bemerke ich, dass das Schloss oben an der Tür offen ist, und ein ungutes Gefühl macht sich in mir breit. Ich verriegele die Tür immer.
Quinten läuft gern weg, und es ist meine Aufgabe, darauf zu achten, dass er in Sicherheit ist, wenn er sich selbst reguliert.
Ich kann nicht glauben, dass ich nicht abgeschlossen habe.
Rasch ziehe ich das Schultertuch von der Garderobe, das ich immer dort hängen habe, und lege es mir um die Schultern, während ich die Haustür aufreiße und auf die Vortreppe trete. Die eisige Brise schlägt mir ins Gesicht, aber ich ignoriere sie und lasse den Blick über den breiten Bürgersteig und die Straße hinunter wandern.
Sobald ich die Kinder sehe, die sich an der Ecke zusammendrängen, schnürt es mir die Kehle zu, und ich rase auf sie zu, meine langen Beine schlucken die Distanz.
Einer der Jungen lacht und nimmt den Fuß zurück, als wollte er gleich gegen etwas treten, was sich vor ihm befindet. »Die Katze hat wohl deine Zunge gefressen, du verdammter Idiot?!«
Meine Brust verkrampft sich.
»Hey«, schreie ich. Das kleine Arschloch erstarrt in der Bewegung und dreht sich um, zusammen mit den anderen vier Kindern: Zwei Jungen und zwei Mädchen, die ihn flankieren. Mir wird flau, als ich sehe, wer der Anführer ist.
Bradley Gammond. Die kleine Arschgeige.
Seine Mutter ist Strafverteidigerin im Staatsdienst, und sie hasst mich absolut, genauso wie sie meine Mutter gehasst hat. Und offenbar hasst Bradley Quinten ebenso.
Seit wann sind Kinder so gemein?
Ihre Augen werden groß, als sie mich sehen, und Bradleys helle Wangen färben sich rosa. Er packt den Jungen neben sich am Arm. Dann rennen sie alle weg, ihre schnellen Schritte trommeln auf den Bürgersteig.
Stirnrunzelnd gehe ich weiter auf die zusammengekauerte Gestalt mit kurzen, flauschigen, schwarzen Haare zu, die mitten auf dem Bürgersteig vor- und zurückschaukelt.
Quinten.
Schuldgefühle schnüren mir die Kehle zu. Ich kann gar nicht glauben, dass ich nicht gemerkt habe, dass er hier draußen ist.
»Ihr verdammten kleinen Schläger!«, schreie ich den Kindern hinterher, schnappe mir einen mittelgroßen Kieselstein und schmeiße ihn der miesen Bande hinterher, bevor ich mich neben meinen kleinen Bruder hocke. Die Kälte des Betons kriecht unter meinem langen, fließenden violetten Rock an meinen Beinen hoch und heftet sich an meine Haut, aber es ist mir egal. Ich bin an kaltes Wetter in Vermont gewöhnt und schon seit Jahren Profi darin, so zu tun, als wäre meine dünne Kleidung warm genug.
Quinten zittert, er hat die Fäuste so fest zusammengeballt, dass seine glatte, lohbraune Haut weiß wird, und ohne hinzusehen weiß ich, dass seine Nägel in die Handflächen einschneiden, bis sie bluten. Ich schicke ein rasches Stoßgebet zum Himmel, hoffentlich hat er sich nicht so stark verletzt, dass er ein Antiseptikum braucht.
Er hasst es, wenn irgendetwas seine Hände berührt. Ehrlich gesagt hasst er es ganz allgemein, berührt zu werden.
»Quin«, murmele ich und achte darauf, nicht nach seinem Arm zu greifen, bevor er mich bemerkt hat.
Er dreht mir den Kopf zu, die grünen Augen, die genauso aussehen wie meine, groß und rund, aber er gibt nicht einen einzigen Ton von sich.
Scheiße.
Er spricht nicht oft, und wenn, dann sind es normalerweise Formulierungen, die er von anderen aufgeschnappt hat. Erst im vergangenen Jahr hat er angefangen, die Worte zu eigenen Sätzen zu formen, und wenn er aufgewühlt ist, neigt er dazu, abzuschalten, weshalb mich sein Schweigen jetzt nicht überrascht.
Er war schon drei Jahre alt, bevor er überhaupt anfing, Wörter zu bilden, wobei er die Menschen in seinem Umfeld nachahmte und Dinge nachplapperte, die er bereits gehört hatte.
Echolalie und gestaltbasierte Sprachentwicklung nennen seine Therapeuten das.
Aber das bedeutet nicht, dass er nicht intelligent ist, egal, was diese Kinder gerade behauptet haben. Quinten ist das intelligenteste sechsjährige Kind, das ich kenne. Und das beste. Punktum.
»Das sind Dummköpfe, in Ordnung?«, sage ich, wobei ich nicht sicher bin, wen ich jetzt eigentlich zu beschwichtigen versuche: mich selbst oder ihn.
Er senkt den Blick.
Ein Gefühl des Versagens macht sich in mir breit, sodass sich mein Herz zusammenzieht. Ich beiße die Zähne zusammen, weil ich Quinten nicht zeigen will, dass ich zu kämpfen habe.
Es ist meine Aufgabe, für ihn stark zu sein.
Und das versuche ich, Herrgott noch mal wie ich das versuche. Aber manchmal ist es so unglaublich schwer.
Dies hier ist ein grausamer Ort auf Erden, voller Menschen, die es nicht verstehen. Die nicht begreifen wollen, dass jemand nicht weniger wert ist, nur weil er anders ist. Quinten hat die ganze Welt verdient, und ich würde alles dafür tun, um ihn von der harschen Realität einer Welt abzuschirmen, die ihm nicht einmal ein kleines Stück davon anbietet.
Die Menschen in Festivalé machen es sogar noch schlimmer. Weil Quinten mein kleiner Bruder ist, ist er automatisch mitschuldig. Ich bin der Paria der Stadt, und er ist anders. Auch wenn sie natürlich mir die Schuld dafür geben, genauso wie für alles andere, das in dieser Stadt schiefläuft.
Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft ich schon davon geträumt habe, unsere Sachen zu packen und irgendwo anders hin zu verschwinden. Irgendwohin, wo wir neu anfangen können.
So wie meine Mutter das immer getan hat.
Aber das ist unrealistisch. Ich habe Rechnungen, die bezahlt werden müssen, und Quintens Therapie und tausend andere Arten von Verantwortlichkeiten hier. Abgesehen davon kann ich ihn nicht einfach aus dem einzigen Zuhause herausreißen, das er je gekannt hat.
Als ich noch klein war, lange vor Quintens Geburt, packte meine Mutter immer dann unsere Sachen, wenn ich mich gerade an unserem aktuellen Wohnort eingewöhnt hatte, und schleifte uns dann irgendwo anders hin. Ich hatte schnell gelernt, dass Freundschaften zu schließen eine nutzlose Fähigkeit war und das Gefühl von Zugehörigkeit nur ein Wunschtraum, von dem ich zwar in Büchern gelesen hatte, der aber im echten Leben bei mir nicht vorkam.
Dass Quinten an meiner Seite die gleichen Erfahrungen machen muss, ist das Letzte, was ich will.
Er ist meine Welt. Das Einzige, das wichtig ist.
Ich strecke die Hand aus, halte sie vor seine zusammengekauerte Gestalt und warte, bis er seine Hand in meine schiebt. Breit lächelnd drücke ich sie, während ich ihn hochziehe und zurück in unser Zuhause bringe.
Drinnen geht er sofort zu dem kleinen, rechteckigen Küchentisch und schlüpft auf den abgenutzten Holzstuhl, greift sich sein Tablet und vertieft sich in sein Sicherheitsnetz. Ich kann ihm das nicht vorwerfen; sonst müsste ich zu meinem Bett rennen und mich dort zusammenrollen oder ins nächste Poledance-Studio gehen, um Dampf abzulassen und mich in meinem Körper zu verlieren, statt in meinen Gedanken. Poledance ist das Einzige, was mir das Gefühl vermittelt hat, ich selbst zu sein.
Die unbezahlte Internetrechnung winkt mir vom Küchentresen aus zu, wo ich sie hingelegt und versucht habe, sie zu vergessen. Aber dieser Morgen und wie Quinten gerade zu seinem Tablet gerannt ist, erinnern mich deutlich daran, dass seine Apps nicht einfach nur ein Luxus sind, sondern eine Notwendigkeit, und wenn ich die Rechnung nicht bezahlen kann, kann er sich in seinem eigenen Zuhause nicht sicher fühlen.
Heute ist Montag, der Tag, an dem ich abends normalerweise frei habe, und ich hatte geplant, mit Quinten herumzuhängen und mich zu entspannen, aber bevor ich es mir noch einmal anders überlegen kann, greife ich nach meinem Mobiltelefon, um Dalia, meiner einzigen Freundin – und Mitbewohnerin – eine Nachricht zu schicken, während ich mich auf einen der Stühle fallen lasse.
Ich habe einen Anruf verpasst und zucke zusammen, mein Magen verkrampft sich, als ich den Namen »Parker« auf dem Display sehe. Rasch wische ich die Benachrichtigung beiseite, um eine Nachricht zu tippen.
Ich: Hey, ich werde heute Abend arbeiten gehen. Kannst du auf Quin aufpassen?
Die Antwort kommt schnell, und ich seufze erleichtert auf.
Dalia: Natürlich. Bin um 4 zu Hause.
Ich fahre mir mit der Hand über die Stirn und blicke über den Tisch hinweg meinen jüngeren Bruder an. Sein Gesicht ist ausdruckslos, als würde ihn das, was passiert ist, nicht berühren. Als hätte er es bereits vergessen.
Aber der Schein trügt.
Quinten vergisst niemals irgendetwas.
Abgesehen davon, auch wenn er sich den Anschein nach schnell wieder erholt, ich tue das nicht. Das Gefühl, das in mir aufsteigt, weil ein paar missratene Kids versucht haben, ihm körperlich wehzutun, wird für immer an mir haften bleiben, eine weitere Kerbe in der bereits gezeichneten Oberfläche meines Herzens.
In den richtig schweren Momenten frage ich mich, ob diese Kerben sich in Narbengewebe verwandeln und eine undurchdringliche Mauer bilden werden, die sich nicht mehr durchbrechen lässt.
An manchen Tagen wünsche ich mir das.
Mein Telefon klingelt erneut, und als ich hinschaue, leuchtet Parker auf dem Display auf.
Mein Herz stockt, aber ich drücke den Anruf weg. Es ist viel zu früh, um mich mit ihm zu befassen.
Parker Errien ist der Fluch meines Lebens und der Grund, weshalb Quinten und ich dauerhaft in Schulden leben. Das erste Mal tauchte er vor gut fünf Jahren auf, als er kurz nach unserer Ankunft in Festivalé eine Beziehung mit meiner Mutter einging.
Ich weiß nicht, wie sie ihn kennengelernt hat, aber es hat mich nicht überrascht. Meine Mutter war eine schöne Frau. Sah mir in fast jeder Hinsicht ähnlich mit ihren langen, schwarzen Haaren und den beeindruckenden grünen Augen. Den ellenlangen Beinen, die ihre kräftigen Oberschenkel und Hüften betonten. Falls erforderlich, konnte sie mit Leichtigkeit den Eindruck vermitteln, über Geld zu verfügen, auch wenn sie keins hatte, und für die Männer war sie wie eine Sirene, die sie herbeirief und sie mit einem einzigen Blick in ihren Bann schlug.
Fast sofort nach unserer Ankunft fing sie an, mit Parker auszugehen, und erst nach ihrem Verschwinden erfuhr ich, dass er sie heimlich an seine Freunde in höheren Positionen »ausgeliehen« hatte. Die Art von Freunden, die auf Diskretion angewiesen und bereit sind, dafür ein ordentliches Sümmchen hinzublättern. Aber in der Öffentlichkeit wurden Parker Errien und Chantelle Paquette schnell zum Stadtgespräch, und zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, irgendwohin zu gehören. Auch wenn seine Blicke ein kleines bisschen zu lange auf mir verweilten und seine Hände ein bisschen zu weit wanderten.
Doch als sie verschwand, verschwand er nicht mit ihr zusammen. Er verlagerte seinen Fokus einfach auf mich.
Es gefiel ihm nicht, dass sie ihn auf dem Trockenen hatte sitzen lassen, sodass seine »Kunden« keine Frau hatten, die ihnen das Bett wärmte, wobei sie bereits für dieses Privileg bezahlt hatten. Deshalb muss ich jetzt ihre Schulden abbezahlen. Das meiste Geld, das ich verdiene, landet in Parkers schmutzigen Händen, und er blüht auf, wenn er mich in jeder ihm möglichen Art und Weise von ihm abhängig machen kann.
Ein Schauder läuft mir den Rücken hinunter, und ich schüttele den Kopf und wende meine Aufmerksamkeit Quinten zu.
»Hast du Hunger, Quin?«, frage ich und trommele mit den Fingernägeln auf dem abgenutzten Holz des Tisches. Er ist eine Mistkrücke, genauso wie alles andere in dieser Wohnung. Ich habe ihn vor fünf Jahren, just nach meinem neunzehnten Geburtstag aus dem Müllcontainer am Ende der Straße gezogen. Das war auch just nachdem unsere Mutter mich zum Feind der Stadt gemacht und dann abgehauen war, wobei sie mir eine Nachricht mit neun Wörtern hinterließ.
Ich bin fertig. Jetzt bist du für ihn verantwortlich.
Lustig, dass sie damit zurechtkam, als sie mit fünfzehn eine Tochter gebar, aber das Überraschungskind von einer ihrer zahlreichen »Lieben ihres Lebens«, das sie als Dreiunddreißigjährige bekam und Anzeichen für eine Autismus-Spektrum-Störung zeigte, war zu viel für sie.
Scheiß auf sie.
Ich hatte den Tisch hereingeschleppt und dann ein paar Tage damit verbracht, ihn zu reinigen, bis mir die Finger bluteten, aber es war mir egal. Ich war einfach nur froh, dass Quinten und ich von etwas anderem als dem Fußboden essen konnten, und fest dazu entschlossen, zu beweisen, dass ich besser war als unsere erbärmliche Eizellspenderin, die uns nicht einmal genug liebte, um es zu versuchen.
»Quin.«
Quinten blickt nicht auf, und Furcht ergreift mich, weil ich weiß, dass ich ihm nicht sein übliches Rührei anbieten kann, weil ich die Eier auf dem Herd habe anbrennen lassen. In den vergangenen sechs Monaten ist das sein Wohlfühlessen gewesen, das Einzige, das er zum Frühstück isst, und wenn ich irgendetwas für ihn tun will, dann ist es, für sein Wohlbefinden zu sorgen.
»Wie wäre es mit ein paar Waffeln mit Schokostückchen?« Ich lächele breit und versuche, ihn zu verlocken. Ich glaube, es sind noch ein paar übrig. Mag sein, dass sie einen leichten Gefrierbrand haben, aber notfalls gehen sie noch.
Er schüttelt den Kopf und macht tief in seiner Kehle ein Klickgeräusch, bevor er spricht: »Willst du Eier haben?«
Das ist keine Frage. Die Formulierung ist einfach Teil seiner gestaltbasierten Sprachentwicklung.
»Ich will Eier haben«, erwidere ich.
»Ich will Eier haben«, spricht er mir nach und fügt dann seinen eigenen Gedanken hinzu. »Das klingt gut.«
»Du kriegst sie, Buddy.« Meine Kehle verengt sich, während ich nicke, denn ich weiß, dass ich Mr Brochet nebenan um welche bitten muss, und er ist ein ekelhafter, mürrischer alter Mann, der nicht gern belästigt wird.
Aber ich mache es trotzdem, denn wenn Quinten Eier haben will, sorge ich dafür, dass er welche bekommt.
Cade
Parker Errien.
Ich kannte den Namen schon, bevor ich überhaupt in die Stadt kam. Mein Vorgesetzter, Bischof Lamont, hat ihn oft genug erwähnt, sodass ich weiß, dass Parker angeregt hat, mich hierherzuschicken. Aber jetzt treffe ich ihn zum ersten Mal persönlich.
Er ist ein durchaus attraktiver Mann mit einer Haut, die an Porzellan erinnert, hellblonden Haaren, die an den Schläfen grau werden, und einem aufgeblasenen Ego, das ich nur zu gerne in den Dreck ziehen würde. Vor zwanzig Minuten kam er in mein Büro im hinteren Korridor der Kirche hineinspaziert und benimmt sich, als gehörte ihm die ganze Welt, was zumindest in diesem kleinen Teil des Universums vermutlich zutrifft.
Parker leitet Errien Enterprises: eine Holdinggesellschaft, der siebzig Prozent der anderen Unternehmen zwischen hier und den Nachbarstädten gehört. Parkers Name ziert die Fassaden von fast jedem teuren Gebäude in Festivalé. Natürlich ist er stinkreich, der beste Freund des Bürgermeisters und einer der größten hiesigen Spender für die Kathedrale Notre-Dame, und im Wesentlichen ist er der König von Festivalé.
Und er hat meinen Vorgesetzten, Bischof Lamont, in der Tasche.
Aber ich kann das Böse spüren, das seine Seele ausströmt, und ich frage mich, was ein Mann wie Parker tun muss, damit sein Thron unangreifbar bleibt. Wie viele Menschen er bestechen muss, wie viele Sünden er zu begehen bereit ist.
Es fällt mir sehr schwer zu glauben, dass ich wirklich hergeschickt wurde, um die Stadt auf einen anderen Weg zu bringen, und ich vermute, dass ich in Parkers Augen nur eine weitere Marionette bin, die er nach seiner Pfeife tanzen lassen kann.
Schließlich war mein Vorgänger, Pater Clark, sehr deutlich in seinen letzten Tagen. Ich hatte mit angehört, wie er am Telefon Bischof Lamont ins Ohr brüllte, dass Mr Errien nicht sein Herr sei und er sich niemand anderem als Gott beugen würde.
Parker wird sehr enttäuscht sein, wenn er merkt, dass ich nicht anders bin.
»Ich habe gehört, dass Sie von der alten Schule sind«, sagt Parker und blickt mich an, während ich hinter meinen großen Walnussholzschreibtisch sitze.
Ich habe die Fingerspitzen vor dem Kinn aneinandergelegt, und meine Ellbogen graben sich in die Armlehnen des Polstersessels.
»Sogar steif«, fährt er fort.
Ich antworte ihm immer noch nicht.
Er blickt mich finster an. »Sprechen Sie Englisch, Mr Frédéric?«
Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Kommt darauf an, ob jemand da ist, mit dem es sich zu sprechen lohnt, Monsieur Errien.«
Ein dunkler Ausdruck huscht über Parkers Gesicht, während er sich auf dem Stuhl zurücklehnt, die Beine breit geöffnet. Ich bin mir sicher, dass er das für einen Akt der Dominanz hält, sich in meinem Büro herumzulümmeln, als würde es ihm gehören, aber es zeigt nur, dass er ein Mann ist, der nicht weiß, was er mit dem Schwanz zwischen seinen Beinen machen soll.
»Ist das so ein katholisches Ding?«, ätzt er. »Priester, die glauben, dass sie über jede Kritik erhaben sind?«
Der Muskel in meinem Kiefer zuckt. »Und welcher Religion gehören Sie an, Monsieur Errien? Ich war davon ausgegangen, dass Sie katholisch wären.«
Er zieht die Augenbrauen hoch. »Natürlich bin ich das.«
Summend stehe ich auf und gehe um den Schreibtisch herum, bis ich ihm so nah bin, dass er den Hals recken muss, um mir in die Augen zu blicken.
»Ich bin ein Mann Gottes, Monsieur Errien, was bedeutet, dass ich der Kritik sogar noch stärker ausgesetzt bin«, sage ich. »Auch wenn ich viele Dinge vergebe, die eine unbedeutendere Person nicht vergeben würde, sollten wir unserer zukünftigen … Beziehung zuliebe Grenzen festlegen.«
»Ganz meine Meinung.«
»Perfekt. Ich fange an.« Ich lächle. »Es spielt keine Rolle, mit wie viel Geld Sie um sich werfen, oder wie viele andere vor Ihnen auf die Knie fallen und Sie wegen des besagten Geldes als eine Art von falscher Gottheit verehren. Ich werde keine Respektlosigkeit tolerieren.«
Parker knirscht so laut mit den Zähnen, dass ich es hören kann. »Das werde ich ebenso wenig.«
Mit einem leisen Lachen beuge mich vor, bis mein Schatten über seine Gestalt fällt. »Kommen Sie nicht in mein Büro herein, an Seinen Ort der Anbetung, um mit Ihrer Respektlosigkeit zu prahlen und anzudeuten, dass mein Glaube etwas ist, worüber gespottet werden darf. Hier in diesem Haus habe ich das Sagen.«
»Sie sind nur auf meinen Wunsch hin in dieser Position«, faucht Parker zurück. »Sie haben keine Ahnung, wozu ich fähig bin.«
Ich richte mich wieder auf, fahre mir mit der Hand über mein schwarzes Button-down-Hemd und lehne mich an die Kante des Schreibtisches. »Das stimmt. Und die Kirche ist ewig dankbar für Ihre mehr als großzügigen Spenden. Ich weiß, dass Sie und Pater Clark nicht einer Meinung waren, was die Säuberung der Straßen von Festivalé anbetrifft, also würde ich vorschlagen, Sie nehmen sich einen Moment Zeit zum Nachdenken und suchen intensiv nach der Dankbarkeit, die Sie verspüren sollten, weil ich Ihre Bitten gehört habe und ihre Sache unterstütze.«
Er schnaubt, aber mir entgeht nicht, wie seine Schultern eine Winzigkeit absacken, seine Arroganz versteckt sich, so wie falsches Selbstvertrauen das üblicherweise tut, wenn es mit Dominanz konfrontiert wird.
»Haben wir einander verstanden?«, dränge ich.
Seine Antwort besteht nur aus einem scharfen Nicken, und ein Grinsen zieht meine Mundwinkel hoch. Ich lasse das Schweigen lasten und in seine Haut stechen, bis er in offensichtlichem Unbehagen hin und her rutscht.
»Woher, hatten Sie noch einmal gesagt, stammen Sie ursprünglich?«, fragt er schließlich.
»Das habe ich Ihnen nicht gesagt.«
»Und wie lange sind Sie schon Priester?«
»Lang genug.«
Der gestärkte Priesterkragen kratzt mich bei seiner Frage am Hals, und ich räuspere mich.
Parker brummt und trommelt mit seinen dicken Fingern auf das Holz seines Stuhls, sein Blick auf einmal berechnend.
Wahrscheinlich war es ein Fehler, so barsch mit ihm umzugehen, aber dass ich hier in dieser Kleinstadt bin, hat mich aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich bin leicht reizbar und meine Lunte kurz.
»Ich habe ein paar Ideen für Ihre Predigt nächsten Sonntag«, sagt er und wechselt das Thema.
Mir sträuben sich die Nackenhaare.
»Nicht weniger hätte ich erwartet«, erwidere ich und winke in Richtung Tür. »Unglücklicherweise ruft mich die Pflicht, und ich habe nicht die Zeit, sie mir anzuhören. Wenn Sie beichten wollen, könnten Sie mit Pater Jeremiah sprechen, dem Kaplan, der heute die Beichte abnimmt.«
Parker springt auf und knöpft sich die Anzugjacke zu, bevor er – ganz der Geschäftsmann – seine Hand in meine Richtung ausstreckt. Ich starre auf sie hinunter, gehe aber nicht auf sein Angebot zum Händeschütteln ein. Er hat mich beleidigt, und ich werde nicht zulassen, dass er sich innerhalb dieser Wände allzu wohlfühlt.
Nicht heute.
»Wir sind gar nicht so unterschiedlich, Sie und ich«, sinniert er. »Und egal, welchen Titel Sie hier tragen mögen, Mr Frédéric, würde ich vorschlagen, dass Sie sich daran erinnern, warum Sie ihn tragen.«
»Lassen wir doch die Formalitäten weg, Parker.« Ich lächele. »Nennen Sie mich bitte Pater.«
Er beißt die Zähne zusammen, doch er nickt. »Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Pater.«
Und dann ist er fort.
Ich atme langsam aus und bewege den Kopf zur Seite, bis ein scharfes Knacken ertönt und die Anspannung sich in Erleichterung verwandelt. Ich gehe wieder um den Schreibtisch herum, um mich hinzusetzen, greife nach einem Stift und klopfe in einem methodischen Rhythmus damit auf das Holz, die Augen auf die Tür gerichtet, durch die Parker gerade gegangen ist. Ich hätte ihn nicht reizen sollen, hätte mir auf die Zunge beißen und lächeln sollen, damit er glaubt, dass er die Macht hat.
Aber irgendetwas an ihm ist seltsam. Eine Dunkelheit in seinem Blick, die mich an meine Vergangenheit erinnert. An Schwester Agnes, als sie mich grün und blau geschlagen hat.
»Cade Frédéric!«, schreit Schwester Agnes, ihre Stimme hallt von den Betonwänden des Speisesaals wider.
Ich ducke mich hinter den längsten Tisch auf der Rückseite und versuche, mich im Schatten in der Ecke zu verstecken. Hoffentlich sieht sie mich nicht. Wenn sie mich findet, wird sie mich mit Sicherheit wieder mit dem Gürtel traktieren, und meine Wunden von letzter Woche, als ich das Spielzeug des neuen Jungen gestohlen habe, sind noch nicht verheilt. Diesmal habe ich nichts getan.
Nicht wirklich.
Schritte kommen näher, und ich ducke mich noch tiefer und wechsle vom Knien in die Bauchlage, wobei ich versuche, mich so platt wie möglich auf den Fußboden zu drücken. Ich halte die Augen nach einem Zeichen von ihr offen, und mir schlägt das Herz bis zum Hals, als ich sehe, wie ihre schlichten, schwarzen Schuhe in den Raum gestampft kommen. Sie nähert sich mir, und mit jedem Schritt sinkt mein Magen noch tiefer, Reue darüber, dass ich die Beherrschung verloren und diese Teller in der Küche zerschlagen habe, trifft mich mit voller Wucht.
Aber ich war einfach so … wütend. Und ich musste es rauslassen.
Ihre Schritte stoppen direkt vor dem Tisch, unter dem ich mich verstecke, und ihre Knie knacken, als sie sich hinhockt, ihr Habit lässt sie sogar noch bedrohlicher aussehen, als wenn sie zivile Kleidung trüge.
Sie spitzt die Lippen. »Komm sofort darunter hervor.«
Mein Magen zieht sich zusammen, und ich krieche unter dem Tisch hervor, den Kopf gesenkt und die Hände hinter dem Rücken gefaltet, aber ich sage kein Wort. Ich spreche nicht gerne Englisch mit ihr. Ich stolpere über meine eigenen Worte und vergesse, wie man richtig formuliert. Jedes Mal, wenn ich einen Fehler mache, versetzt sie mir noch einen Hieb mehr.
Sie packt mich fest am Ohr und verdreht es, bis es sich anfühlt, als würde sie es gleich abreißen. Zischend stoße ich die Luft aus, bin aber nicht so dumm, gegen den Schmerz anzukämpfen.
»Wie ich sehe, hast du wieder ein Chaos angerichtet, Kind. Bringst dich immer in Schwierigkeiten. Weißt du, wie viel Geld du uns dieses Mal kostest? Dutzende von Tellern, in der Küche zerschmettert. So viel Zerstörung für einen Fünfjährigen.«
»Je suis désolé«, murmele ich.
Sie verdreht mein Ohr nur noch fester. »Englisch, Kind.«
»E-entschuldigung, Schwester. Es tut mir leid«, stottere ich.
Sie lässt mein Ohr los, und Schmerz strahlt über meine gesamte linke Gesichtshälfte aus.
»Warum hast du es diesmal getan?« Sie blickt auf mich hinunter.
»André wurde von seinen El-eltern abgeholt.«
Sie verschränkt die Arme. »Und das hat dich wütend gemacht?«
Ich nicke. Es hat mich wütend gemacht. Und eifersüchtig. »Oui.«
Mit einem Seufzer sagt sie: »Es ist nicht dein Fehler, Cade. Du bist krank.«
Mit einem Schlucken nicke ich erneut. »Ich weiß.«
»Komm her.« Sie packt mich am Arm und zieht mich durch den Speisesaal und in die Küche hinter sich her. Die Scherben von mehreren Dutzend Tellern bedecken den Boden, und sie stellt mich mitten hinein, bevor sie einen dicken Holzlöffel holt.
Als sie direkt vor mir steht, beugt sie sich näher zu mir und sieht mir in die Augen. Es geht schnell, aber ich schwöre, dass sich ihre Pupillen erweitern und ein Anflug von Schwarz durch ihren Blick huscht. Prompt spannen sich meine Schultern an und mein Mund wird trocken.
»In dir steckt ein Monster, Kind. Und Gott will, dass ich es aus dir herausprügele.«
Mit einem Seufzer reiße ich mich aus der Erinnerung und blicke auf den Kalender, der den Großteil des Freiraums auf meinem Schreibtisch einnimmt, eine Erinnerung daran, dass meine Pflichten daraus bestehen, mich in die Räume einzufügen, die Gemeinde kennenzulernen, den Kaplan zu überwachen – Pater Jeremiah, den ich noch nicht kennengelernt habe. Ich bin hier, um die Menschen auf den Weg Gottes zurückzuführen. Um Festivalé dabei zu helfen, sich von einem Sündenpfuhl wieder in ein rechtschaffenes Land zu verwandeln.
Ich weiß bereits, dass ich heute nichts davon tun werde.
Stattdessen folge ich Parker. Ich muss mehr über den Mann wissen, auf den der Bischof hört und der nach Korruption stinkt.
Amaya
Ich springe am Rand der Carnival Street aus dem Bus und biege um die Ecke, wo sich das Chapel befindet, der Stripclub, in dem ich seit drei Jahren tanze. Ein violettes, in der Mitte zersplittertes Kreuz leuchtet flackernd über goldenen Neonlichtern, wie ein Anflugfunkfeuer, das den Lasterhaften zeigt, wo sie sich versammeln sollen.
Der Club selbst befindet sich zwei Kleinstädte weiter entfernt in Coddington Heights, etwa eine Stunde von Festivalé entfernt. Nah genug, um dorthin zu kommen, aber weit genug entfernt, dass ich mir um die Wahrung meiner Anonymität keine großen Sorgen zu machen brauche.
Ich schäme mich nicht für das, was ich tue – tatsächlich sogar ganz im Gegenteil. Aber ich kann es einfach nicht riskieren, dass Parker herausfindet, wo ich arbeite. Wenn er es erfährt, wird er es ruinieren, nur damit ich noch mehr von ihm abhängig bin. Und das ist nichts, womit ich mich herumschlagen möchte.
Aber ich liebe es, erotisch zu tanzen.
Ich genieße die Lust in den Augen der Menschen, wenn sie zuschauen, wie ich die hohle Stahlstange auf der Bühne als leere Leinwand nutze, an der jede Bewegung von mir wie ein Pinselstrich ist. Und ganz besonders mag ich dieses Gefühl, meine Sexualität selbst in der Hand zu haben und Geld aus den Männer herauszulocken, die mir zuschauen. Am Ende der Nacht die Geldscheinstapel zu zählen und einzupacken berauscht mich, und das fühlt sich verteufelt nach Erfolg an – egal, wie flüchtig dieses Gefühl auch ist. Schon solange ich zurückdenken kann, wurde ich zum Objekt gemacht. Meine Pubertät setzte früh ein und zeigte mir nur, wie egal den Menschen das Alter eines Mädchens ist, solange es ihre niederen Instinkte ästhetisch anspricht. Das ist einer der zahlreichen Gründe, warum meine eigene Mutter ein Stück Scheiße war. Sie war eine verbitterte Frau, die nicht mit einem autistischen Sohn umgehen konnte, den sie nie hatte haben wollen, und dazu auch noch mit einer gut ausgestatteten Tochter, die allein durch ihre Existenz mehr Aufmerksamkeit erregte als sie selbst.
Wenn es irgendjemand auf der Straße war, war sie verärgert. Wenn es die Männer waren, die sie mit nach Hause brachte, war sie eifersüchtig.
Als ich ein Teenager war, machten die subtilen Witze und anzüglichen Blicke mir Angst. Aber als ich mit neunzehn plötzlich für mich selbst und Quinten sorgen musste, merkte ich, dass in Wahrheit die Frauen die Macht haben, nur ist es den meisten von ihnen nicht bewusst. Mir schon. Ich lernte, alles in meinem Arsenal einzusetzen, sodass ich jetzt die Macht in der Hand habe. Zumindest in allen mir möglichen Bereichen.
Das ist der Hauptgrund, warum ich mich nicht mit Männern verabrede. Tatsächlich habe ich null Interesse am anderen Geschlecht. Mein ganzes Leben lang habe ich durch die Linse meiner Mutter beobachtet, was passiert, wenn du dich näher mit einem Mann einlässt, und es ist immer das Gleiche.
Die Vernarrtheit mit Herzchen in den Augen, nicht essen können, nicht schlafen können. Blumen und Geschenke und »Oh, diesmal ist es anders, meine Kleine. Er ist der Richtige.«
Dann kommen die scharfen Worte, die erbitterten Streitereien, das Geräusch von Fäusten, die in Gesichter schlagen. Das Weinen spät nachts und das Bedürfnis, sich von der eigenen Tochter bemuttern zu lassen, statt umgekehrt.
Und dann schließlich das Verschwinden. Zusammenpacken und abhauen, wenn dir bewusst wird, dass der Mann, in den du dich verknallt hast, ganz und gar nicht derjenige ist, für den du ihn gehalten hast.
Meine Mutter war im Grunde ihres Wesens eine Nomadin, und es war praktisch unmöglich für sie, auch nur so lange stillzustehen, dass sich ihre Absätze in den Boden gedrückt hätten. Sobald sie anfing, ein kleines Stück einzusinken, riss sie sich wieder heraus, und ich war das unglückselige Gepäck, das mitgeschleppt wurde, während sie auf der Suche nach etwas war, das sich immer just außerhalb ihrer Reichweite zu befinden schien.
Ich frage mich, ob sie jetzt, wo sie uns nicht mehr dabeihat, immer noch auf der Suche ist.
Realistisch betrachtet liegt sie wahrscheinlich irgendwo tot in einem Graben, erstickt von ihren Lastern oder einem der Männer, die sie angeblich geliebt hat.
Als ich klein war tat ich so, als wäre ich eine verschollene Prinzessin und aus meinem Schloss entführt und von Ort zu Ort mitgeschleppt und versteckt worden, damit meine ausgedachten Eltern – die mich wirklich liebten – mich nicht aufspüren konnten. Es war ein tröstlicher Gedanke, dass es da draußen Menschen gab, die verzweifelt nach mir suchten. Als ich älter wurde, hörte ich auf, meine Fantasie zu bemühen, und begann stattdessen, meine Mutter zu beobachten. So war es leichter, vorbereitet zu sein.
Wie bei einer Religion blieben ihre Verhaltensmuster immer gleich.
Wenn ihr Lächeln dünner wurde und Eisbeutel die Blumen ersetzten, wusste ich, dass es Zeit zum Gehen war.
Chantelle Paquette konnte nur eine gewisse Menge an Misshandlung ertragen, sich nur so weit auf die Männer einlassen, die ihrer Überzeugung nach in sie verliebt waren, bis eine Grenze überschritten war. Dann schlich sie sich mitten in der Nacht mit uns davon wie Kriminelle, die durch die Gitterstäbe schlüpfen. Eine andere Stadt. Ein anderer Mann. Die gleiche nachlässige elterliche Fürsorge.
Aber Erfahrung formt uns, ob es uns gefällt oder nicht, und die Erfahrungen, die sie mir verschafft hat, waren wertvolle Lektionen.
Ich lernte, dass man keine Wurzeln schlagen sollte, wenn man nicht dableibt, um sich um die Scholle zu kümmern.
Und wie ich für meinen Bruder sorge, indem ich mich an all die Arten der Fürsorge erinnere, die ich mir von ihr gewünscht hätte.
Vor allem aber lernte ich, niemandem zu vertrauen, der behauptet, dich zu lieben, denn letztendlich lieben sie sich selbst doch am meisten.
Und trotz all dem, trotzdem ich immer wieder aufs Neue erlebte, wie ihr das passierte, hätte ich nie im Leben gedacht, dass sie mich verlassen würde.
Aber mit Quintens Geburt änderte sich alles.
Ich schüttele die Erinnerungen ab. Ich werde niemals wie sie sein.
Meine ausgetretenen knöchelhohen schwarzen Turnschuhe knirschen auf dem Kies des Parkplatzes vom Club, und ich gehe auf den Angestellteneingang auf der Rückseite zu, meine Leggins, die Baseballkappe und der Stoff des übergroßen Kapuzenpullovers hüllen mich ein.
Benny, einer der Rausschmeißer, steht draußen; in dem gelben Licht der Straßenlaterne über der Tür wirft seine massige Gestalt mit den lockigen Haaren einen Schatten. Hier ist nicht viel los, was man im Auge behalten müsste, aber außerhalb der Reichweite der Außenkameras befindet sich eine Seitengasse, die zur Hauptstraße führt, weshalb normalerweise jemand hier draußen ist, nur für alle Fälle.
Er nickt mir zu und öffnet die Tür, sodass ich hineinschlüpfen kann.
Dankend lächele ich ihn an, bevor sich die Tür hinter mir schließt, und ich gehe den Korridor entlang, der glänzende Linoleumfußboden quietscht unter meinen Sneakern, während ich zum Hinterzimmer gehe.
Die anderen Tänzerinnen hängen herum, jede von ihnen hat ihren eigenen Schminktisch, an dem sie sich zwischen ihren Auftritten ausruht oder sich zurechtmacht. Die meisten von ihnen kenne ich vom Sehen her, aber mehr auch nicht. Wahrscheinlich würde ich sie auf der Straße nicht wiedererkennen, und eng befreundet bin ich jedenfalls mit keiner von ihnen.
Ich habe mich nicht darum bemüht, sie kennenzulernen. Ich bin nicht hier, um Kontakte zu knüpfen.
Quintens Therapie ist teuer, und da ich die astronomische Versicherungsprämie und die Stromrechnung bezahlen und alles am Laufen halten muss, brauche ich jeden Cent, den ich kriegen kann. Diese Frauen sind meine Konkurrenz, egal wie sehr mir das missfällt. Die meisten von ihnen sind eng befreundet, und ich sehne mich nach dieser Art von Verbindung.
Die habe ich nur bei Dalia gefunden, und sie arbeitet nicht mehr hier.
Deshalb halte ich den Kopf gesenkt und konzentriere mich auf das, was wichtig ist.
Ich stopfe meine Tasche in einen der kleinen grauen Spinde an der Rückwand und lasse das Schloss einrasten, sodass meine Sachen sicher sind.
Als ich mich umdrehe, spaziert Phillip, der Eigentümer, durch den Raum, und ich winke ihm kurz zu, als er an mir vorbeigeht, um mit einer der anderen Frauen zu sprechen.
Von all den Männern, die ich kennengelernt habe, muss er wohl derjenige sein, den ich am wenigsten hasse. Er hat mir einen Job gegeben, als niemand anderes mich haben wollte, und als ich damit aufhören wollte, Cocktails zu servieren und lieber Poledance lernen wollte, brachte er mich mit der besten Tänzerin – Dalia – zusammen und ließ mich von ihr unterrichten, wobei er die Rechnung übernahm. Er tat so, als wäre er einfach nur nett, aber ich bin nicht naiv genug, um das wirklich zu glauben. Höchstwahrscheinlich hat er nur das Potenzial in mir gesehen und gedacht, dass sich die Investition lohnen würde. Wie auch immer, ich weiß es zu schätzen, was er getan hat. Poledance ist mein Ventil. Abgesehen davon darf ich an meinen freien Tagen sein leeres Studio auf der anderen Seite der Stadt zum Tanzen benutzen, und allein das ist sein Gewicht in Gold wert.
Er ist nicht unbedingt im klassischen Sinne attraktiv, mit seinen zu Stacheln hochgegelten blonden Haaren, der hellen Haut und den trüben, braunen Augen. Er hat ein weicheres Kinn als die meisten Männer, und wenn ich meine Bühnenstilettos trage, blicke ich auf ihn hinunter, aber er ist massig, und mir gefallen Männer, bei denen ich mich sicher fühle, ohne dass sie überwältigend sind.
Wie gesagt gebe ich nicht gerne die Kontrolle ab.
Er geht direkt an mir vorbei, ohne mir einen einzigen Blick zu schenken, und ich ignoriere den kleinen Anflug von Eifersucht, der mich befällt, als er bei einer der anderen Tänzerinnen stehenbleibt und grinst. Nicht, weil ich seine Aufmerksamkeit haben möchte, sondern weil zwischen allen anderen im Club eine vertraute Art von Energie fließt, von der ich ausgeschlossen bin. Genauso wie ich in Festivalé ausgeschlossen werde.
Ich beiße die Zähne zusammen, rufe mich innerlich zur Ordnung und gehe zu einem freien Schminktisch.
Es ist Zeit, mich von Amaya in Esmeralda zu verwandeln.
Zwanzig Minuten später bin ich fertig, meine rabenschwarzen Haare sind unter einer roten Perücke versteckt, die mir bis zu den Hüften hinunterreicht und mit Haftstreifen und Haarklemmen gesichert ist. Dazu violette Kontaktlinsen und volles Make-up, meine langen, glänzenden Wimpern streifen bei jedem Blinzeln den unteren Rand meiner Augenbrauen. Und als ich schließlich auf die Hauptbühne hinausgehe und der DJ mich lautstark ankündigt, werde ich zu jemand völlig anderem.
Ich fühle mich sinnlich, während ich mich über die erhöhte Plattform und um die Stange herum bewege, langsam strippe und die Erotik des Augenblicks mit der Kunstfertigkeit meines Gewerbes verschmelzen lasse. Ich stelle mir meine Energie wie eine pulsierende rote Farbe vor, die ausströmt und den gesamten Bereich bedeckt, alle Blicke auf sich zieht und, noch wichtiger, lauter Dollars zu mir lenkt.
Ich verliere mich in diesem Moment, meine Gedanken driften ab, all meine Sorgen und Nöte existieren nicht mehr. Ich habe die Macht, die Aufmerksamkeit festzuhalten, und dieses Machtgefühl fließt meine Glieder hinunter, legt sich um meinen fast nackten Körper herum und erfüllt mich mit Selbstvertrauen und Sinnlichkeit.
Aber dann durchdringt etwas meinen Rauschzustand heiß und scharf, ich reiße die Augen auf und lasse den Blick über den Hauptbereich schweifen.
Mein Herz stockt, als mein Blick auf eine dunkle Gestalt in der hinteren Ecke fällt, hinter den Plüschsofas mit Tischbedienung.
Er lehnt an der Wand, die Hände in den Taschen und den Körper zu mir gedreht. Ich kann keine Einzelheiten erkennen abgesehen davon, dass er alle anderen überragt, doch sein Gesicht ist von der Krempe eines altmodischen schwarzen Huts verdeckt, als wäre er eine Art Mafioso aus den Neunzehnhundertzwanzigerjahren. Sein restlicher Körper verbirgt sich im Schatten. Und irgendwie weiß ich ganz einfach, dass er der Grund für die Hitze ist, die gerade meine Ruhe durchbricht.
Ich schüttele den Kopf und sehe weg, mag das Gefühl nicht, und mustere stattdessen die begierigen Gesichter in der Nähe der Bühne. Ich strecke die Arme nach oben aus und ergreife die Stange, gleite mit dem Hintern an der Metallstange hinunter, bis ich mit einladend geöffneten Beinen in der Hocke lande.
Ein untersetzter Mann mit zurückgegelten blonden Haaren und einer verkniffenen Nase steht in vorderster Reihe, und mein Magen schlägt einen schmerzhaften Purzelbaum, als ich ihn erkenne. Prompt verliere ich das Gleichgewicht und stolpere so, dass ich einen kleinen Ruck im Knöchel spüre.
Parker Errien.
Scheiße. Scheiße. Scheiße.
Panik breitet sich in mir aus, und meine Handflächen werden klamm, während ich mich aufrichte und mit meiner Nummer fortfahre. Meine Finger rutschen an der Stange ab, was meine Bewegungen schlampig und unsicher erscheinen lässt. Ich beiße die Zähne zusammen und spule hastig die letzten paar Sekunden meines Tanzes ab, und sobald er endet, springe ich vorwärts und schnappe mir meine Kleider und die wenigen Geldscheine, die auf die Bühne geworfen wurden, bevor ich davonhinke. Ich bleibe nicht stehen, denke nicht, atme nicht, bis ich mit zitternden Gliedern den Rücken an die Wand im Flur der Angestellten lehnen kann.
Ich glaube nicht, dass mit Ausnahme von Jesus mich irgendjemand wiedererkennen würden.
Was zum Teufel macht er hier?
Sobald sich mein Herzschlag beruhigt hat, sehe ich mich im Gang um und mustere den Hauptbereich, Anspannung quält mich mit Was-wäre-wenn-Fragen. Es ist ein Risiko, hinauszugehen und zu versuchen, mich für private Tänze engagieren zu lassen, denn ich will wirklich nicht, dass er mich erkennt, aber meine Geldnot gewinnt den Kampf.
Abgesehen davon, falls er mich erkennt, erkläre ich ihm einfach, dass er zum Teil der Grund dafür ist, dass ich das Geld überhaupt brauche. Erschaudernd stelle ich mir vor, wie das ausgehen würde. Wahrscheinlich genauso wie beim letzten Mal, als ich ihm klarmachen wollte, dass ich die angeblichen Schulden meiner Mutter nicht bezahlen würde, und dann die Katze, die ich zwei Monate vorher gerettet hatte und an der Quinten sehr hing, mit abgetrenntem Kopf in unseren Briefkasten lag. Die ganze Woche durch fand ich immer wieder Teile von ihr, in den Lüftungsschächten unseres Zuhauses, unter dem Schrank, zwischen den Latten meines Bettes.
Galle steigt in meiner Kehle auf, als ich mich an den Moment erinnere, als mir klar wurde, dass Parker weitaus gefährlicher war, als ich es ihm zugetraut hatte. Dass die Fassade des Geschäftsmanns nur die Spitze des Eisbergs war. Dass er zu jeder Zeit in meine Wohnung eindringen konnte und es keine Möglichkeit gab, ihn draußen zu halten.
Und dass das wirklich stimmte, bewies er mir einen Monat später, als er beschloss, sich ohne meine Einwilligung das zu nehmen, was er von mir haben wollte.
Meine Kehle wird trocken, während ich darüber nachdenke, was er tun wird, wenn ich das nächste Mal widerspreche.
Ich atme tief aus, nehme die Schultern zurück, schüttele meine falschen roten Haare aus, bis sie mir den Rücken kitzeln, und mache mich auf den Weg, wobei ich mich bewusst am Rand halte, für den Fall, dass ich mich verstecken muss.
Und dann trifft ein Schwall heißer Luft meinen Nacken und eine Gänsehaut zieht über meine Arme. Und eine Stimme dröhnt so tief und gebieterisch, dass ich bei Gott schwöre, sie lässt meine Knochen vibrieren.
»Hallo, petite pécheresse.«
Cade
Ich habe mir eingeredet, dass es Aufklärungsarbeit ist, Parker den ganzen Tag lang zu verfolgen. Er glaubt, dass ich seine Marionette sein werde, und Bischof Lamont hat mich anscheinend unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hergebracht, dass nämlich meine Hilfe erforderlich wäre, nur um mir dann zu sagen, dass ich mich Parkers Forderungen fügen soll. Aber ich unterwerfe mich niemandem außer Gott, und mir wird mulmig zumute bei dem Gedanken, dass mein Vorgesetzter sich so leicht von etwas so Simplem wie Gier und Geld beeinflussen lässt.
Und auf einer persönlicheren Ebene sehnt mein Monster sich obendrein danach, Parker von seinen Dämonen zu befreien.
Und jetzt ist er hier.
Péchant.
Er sündigt.
Genau wie alle anderen.
Es überrascht mich nicht. Parker Errien verfügt über eine Menge Geld, immense Summen, und das ist genau das, was Geld macht. Es verbiegt und quält und korrumpiert, bis nichts mehr übrig bleibt außer einem aufgeblasenen Ego und einer leeren Seele. Wieder huschen meine Gedanken zu Bischof Lamont. Zu der Kirche, für die ich mein Gelübde abgelegt habe. Der ich mein Leben geweiht habe. Das kann nicht das sein, was Gott sich für Seine Menschen vorgestellt hat.
Ich bewege mich durch die Menschenmenge, die sich um den Stripclub verteilt, Ekel wühlt meinen Magen auf, während ich mich tiefer in Mantel und Hut vergrabe. Der Club selbst ist weit genug von Festivalé entfernt, dass ich mir keine Sorgen darüber zu machen brauche, es könnte mich jemand wiedererkennen. Aber ich bin immer vorsichtig, nur für den Fall.
Das Chapel ist voller religiöser Artefakte, die entweiht werden, und das lässt meine Haut jucken. Ich suche mir eine versteckte Ecke hinter langen, violetten Plüschsofas und lehne mich mit der Schulter an die Wand, während ich Parker beobachte, wie er sich mit seinem schleimigen Körper durch die Menge nach vorn zur Bühne schiebt.