CROWN AND EMPIRE - Karen J. Luis - E-Book

CROWN AND EMPIRE E-Book

Karen J. Luis

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Beschreibung

Das Reich Acan'Ha steht am Abgrund: Die Götter verlangen den Phönix zurück, dessen Macht das Imperium seit Jahrhunderten sichert, sonst versinkt die Welt im Feuer. Während der König auf seinem Thron verharrt, ist nur der geheimnisvolle Taco in der Lage, das Unheil abzuwenden. Gleichzeitig kämpft Prinzessin Lara ums Überleben. Machtgier, Intrigen und Verrat innerhalb des Palasts bedrohen ihre Familie, und ihr eigener Onkel will sie töten. Mit dem mysteriösen Nigromanten Odor flieht sie. Doch kann sie ihm vertrauen? Und welches düstere Geheimnis verbirgt er vor ihr?

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Seitenzahl: 459

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

PROLOG 

500 JAHRE SPÄTER 1. AM TEMPELFELSEN 

2. DER WEISSE PALAST 

3. AM TEMPELFELSEN 

4. DER WEISSE PALAST 

5. KORO GEBIRGE 

6. DER WEISSE PALAST 

7. LEVANTIS 

8. DER WEISSE PALAST 

9. TYR 

10. DER WEISSE PALAST 

11. SÜDMEER 

12. MUURI TERRITORIUM 

13. SÜDMEER 

14. BERG AZHÁR 

15. DER WEISSE PALAST 

16. BERG AZHÁR 

17. JADETOR 

18. DER WEISSE PALAST 

19. ARAGAZ 

20. LEVANTIS 

21. DER WEISSE PALAST 

22. TOMBOS 

23. DER WEISSE PALAST 

24. ARAGAZ 

25. DIE SCHLUCHT VON ABU SIR 

26. DIE MEERENGE VON MINET 

27. EHOGAN 

28. DER GOLF VON MADUR 

29. DER WEISSE PALAST 

30. DER GOLF VON MADUR 

31. ARAGAZ 

32. NAVEM 

33. DER WEISSE PALAST 

34. DIE GRENZE 

35. DIE LAGUNA AURARIS 

36. DIE GRENZE 

37. DER WEISSE PALAST 

38. DIE WÜSTE VON AURARIS 

39. DIE WÜSTE VON TENAM 

40. DIE STELE 

41. DIE FELSENSTADT TENAM 

42. DER SEE VON NAJÁL 

43. DER WEISSE PALAST 

44. DIE MARMORHÖHLEN 

45. DIE FELSENSTADT TENAM 

 

 

 

 

Originalausgabe: CROWN AND EMPIRE 

 

© ISEGRIM VERLAG 2025 

ein Imprint der Spielberg Verlagsgruppe, Neumarkt 

Spielberg Verlag GmbH, Am Schlosserhügel 4a1 

92318 Neumarkt, [email protected] 

Lektorat & Redaktion: Sophia Andermahr 

Coverdesign: © Ria Raven www.riaraven.de 

Illustrationen: © shutterstock.com 

Kartenillustration: Karen J. Luis 

 

Alle Rechte vorbehalten. 

Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden. 

 

ISBN: 978-3-95452-134-0 

 

www.isegrim-buecher.de 

 

 

 

Karen J. Luis (Ps.) wurde in Wiener Neustadt geboren und wuchs im südlichen Niederösterreich auf. Das Studium führte sie nach Wien, wo sie bis heute lebt und arbeitet. Eine einjährige Reise in ihrem Campingbus auf dem amerikanischen Doppelkontinent von Feuerland bis Alaska hat sie zur Welt in ihrem Debütroman inspiriert.

PROLOG 

Das Ächzen der Sterbenden klang unheilvoll durch die Stadt. Dathan stand auf der alles überragenden Sonnenpyramide und blickte hinunter auf die Männer mit Tragen, die sich ihren Weg durch die reglosen Körper bahnten und nach Verwundeten suchten.

Er war noch sehr jung gewesen, als er vom Stamm der Aragaz ausgezogen war, um die Welt zu erobern. Und nun, drei entbehrungsreiche Jahre später, war die letzte Schlacht geschlagen. Dathan hatte die Morag unterworfen und damit den gesamten Osten des Kontinents mit seinen fruchtbaren Feldern, Flüssen und Bergen eingenommen.

Er hob den Blick in den grauen Himmel. Eine heftige Böe zerzauste sein Haar und peitschte ihm eine dunkle Strähne in die Stirn. In einer weitgezogenen Kurve flog ein Vogel mit der Anmut eines Adlers auf ihn zu.

Er streckte seinen angewinkelten Arm nach vorn. Der Phönix landete und krallte sich in die lederne Armschiene. Seine Schwanzfedern strahlten trotz des düsteren Lichts türkisblau und reichten bis zu Dathans Knieschienen.

»Dein Vogel hat uns wieder Glück gebracht«, hörte er eine Stimme hinter sich. »Seit er bei dir ist, haben wir keinen einzigen Kampf mehr verloren.«

Dathan wandte den Kopf und sah eine tiefe Wunde an Finns Stirn. »Bist du schwer verletzt?«

»Nein, sein Schutz kam auch mir zugute«, antwortete sein Schwurbruder und strich dem Phönix über den Kopf.

Sein spitzer, leicht gekrümmter Schnabel schnappte nach Finns Hand. Gerade noch rechtzeitig zog er sie zurück. »Obwohl er sich nur von dir berühren lässt.« Finn lächelte breit.

Seit einem Jahr war der Vogel kaum von Dathans Seite gewichen und schon bald hatten sich Mythen um seine Herkunft gerankt. Unter seinen Kriegern hatte sich die Legende verbreitet, Götter hätten Dathan auserwählt, alle Stämme zu einen und ihm den Phönix als Zeichen ihres Wohlwollens geschickt. Seine Feinde gingen sogar so weit zu behaupten, der Phönix sei das alleinige Fundament seiner Macht. Die Wahrheit kannte nur Dathan allein.

»Etwa zwanzig Tagesritte flussabwärts werde ich eine Hauptstadt errichten, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat«, offenbarte er Finn seine ehrgeizigen Pläne. »Ich werde sie Tyr nennen.«

»Nach deinem Vater?« Es war eine rhetorische Frage. »Ein wertschätzendes Zeichen. Das heißt, nach all den Eroberungszügen werden wir sesshaft?«

»Du nicht, Finn. Ich habe noch eine Aufgabe für dich.«

»Du gönnst mir also keine Ruhe?«

»Ich möchte, dass du alle Nigromanten auf meinem Herrschaftsgebiet zusammentreibst und sie in die neue Hauptstadt bringst.«

»Die Magier?« Als Finn die Stirn furchte, begann seine Wunde erneut zu bluten. »Was willst du von ihnen?«

»Die Heiler haben in unseren Feldlazaretten gute Dienste geleistet. Wenn ein Heiler gut in seine Stammesgemeinschaft integriert ist, kann er dort bleiben und sich um die Landbevölkerung kümmern. Ich will, dass du diejenigen aufspürst, die über andere Fähigkeiten verfügen.«

»Sie sind zu rätselhaften Taten in der Lage«, warnte Finn. »Dunkle Mächte wirken in diesen Männern.«

»Fürchtest du sie?« Dathan zog die Brauen hoch.

»Sie werden nicht umsonst verfolgt.« Finn wischte die Blutstriemen mit dem Handrücken von seiner Stirn.

»Gerade deshalb möchte ich sie an einem Ort wissen. Ich werde ihnen meinen Schutz anbieten.«

»Halte deine Freunde nahe, aber deine Feinde noch näher.« Finn verzog anerkennend das Gesicht.

»Du kennst mich zu gut.« Dathans Lächeln entblößte seine makellosen Zähne. »So kann ich sie besser unter Kontrolle halten. Wenn sie auf meiner Seite stehen, können sie mich gegenüber dem einfachen Volk stabilisieren.«

»Wie sollten sie das anstellen? Sie sind Wilde, die Magie praktizieren.«

»Einige von ihnen behaupten, dass Götter zu ihnen sprechen.«

»Glaubst du das?« Finn neigte leicht den Kopf.

»Das spielt keine Rolle, solange es nur das einfache Volk glaubt. Es braucht Sicherheit und Hoffnung nach all den Jahren des Krieges. Etwas, woran es sich festhalten kann. Religion kann ihm das bieten.«

»Du willst aus den gefährlichsten Männern auf dem Kontinent Glaubensbrüder machen?« Finns Stimme klang überrascht und beeindruckt zugleich.

»Und sie als politischen Machtfaktor einsetzen, der das Volk unter Kontrolle hält«, stimmte Dathan zu. »Damit hätte ich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.«

»Raffiniert.« Sein Schwurbruder warf ihm einen Seitenblick zu. Dann wandte er sich zum Gehen: »Ich werde meine Wunde versorgen lassen.«

Dathan nickte, während Finn schon die Stufenpyramide hinabstieg. Er sah den Phönix an, dann blickte er wieder auf das Schlachtfeld und die gefallenen Morag in ihren zerrissenen, gegerbten Tierhäuten hinunter. Niemand würde sich mehr gegen ihn auflehnen.

Zufrieden schweifte sein Blick in die Ferne zu den Bergen, wo der Fluss Nabru entsprang. Dathan war einundzwanzig Jahre alt und der erfolgreichste Feldherr, der je auf dem Kontinent gelebt hatte. Bald schon würde er am Ufer dieses Flusses eine Stadt bauen. Er würde zu Dathan von Tyr werden und eine Dynastie gründen. Eine Dynastie von Königen.

 

500 JAHRE SPÄTER 1. AM TEMPELFELSEN 

Odor erwachte schweißgebadet. Ein Abgrund des Entsetzens klaffte in seiner Brust. Er lauschte, hörte aber nur seinen Herzschlag in den Ohren pulsieren. Draußen lag der Tempel noch in Stille. Er atmete schwer.

In seinem Traum hatte er Tod und Verwüstung gesehen: Ein Vulkan, aus dessen Kegel sich eine Lavasäule in die Luft sprengte. Orangegelbe Glutwellen, die den Erdmantel durchbrachen. Ein Flammensturm, der über das Land hinwegfegte. Explosionen zerrissen die Luft. Glühende Feuerbälle überzogen den düsteren Himmel wie ein Meteoritenschauer. Es sah aus als versengte das Feuer das Firmament selbst. Glutflüssiges Gestein brach aus der Tiefe hervor und vernichtete alles Leben. Odor hörte Schreie der Panik, doch es war als wäre er am Boden festgenagelt. Er sah eine schirmförmige Wolke aus Asche aufsteigen, die sich wie ein Wall in alle Richtungen ausbreitete. Er spürte die Eruptionen, die so stark waren, dass der Boden einsackte und eine endlose, kesselförmige Senke hinterließ. Aus der Vogelperspektive sah er Tausende vor der Glutlawine fliehen. Menschen starben qualvoll und Tiere verendeten. Odor sah die Apokalypse. Und den einzigen Weg, das Unheil abzuwenden.

Der Traum hatte sich so echt angefühlt wie der erdige Boden unter seiner Schlafmatte. Es gab nur einen Vulkan auf dem Kontinent und der lag weit entfernt. Doch Odor wusste, dass das keine Rolle spielte. Er hatte nicht zufällig jede Nacht denselben Albtraum: Es war eine düstere Vorahnung.

Obwohl das Adrenalin durch seine Adern raste, fühlte er sich wie erschlagen. Nach einer Weile legte er die Hand an die Stirn, konnte aber weder die Bilder abschütteln, noch verschwand der bittere Geschmack in seinem Mund. Als der Schock wich, rappelte er sich auf. Seine alten Gelenke knackten als er sich aufrichtete. Er benetzte das Gesicht mit Wasser aus dem rostigen Eimer, der neben der Holztür stand, als könnte er damit seine Gedanken wegwaschen. Doch die Besorgnis blieb.

Odor war groß und knochig, seine Züge faltig. Blaue Augen blitzten aus dem weisen Gesicht, das sich hinter einem dichten Rauschebart, der ihm bis auf die Brust fiel, verbarg. Seine Haare waren voll und fielen schlohweiß über seine Schultern.

Er streifte seine graue Kutte aus grobem Leinen über, schnürte die Kordel um die Taille und ging aus der Hütte. Müde blinzelte er in die Morgensonne, die gerade über dem Tempel aufstieg.

Das gewaltige Bauwerk, dessen Außenmauern von massiven Säulen umringt waren, war das unübersehbare Zentrum des Nigromantenviertels. Die baufälligen Hütten, die sich um seinen Vorplatz säumten, wirkten im Vergleich wie Miniaturen.

Fliegende Händler und Gewürzkrämer priesen lautstark ihre Waren an, Verletzte humpelten in das Lazarett hinter dem Tempel. Odor stieg der Geruch von gerösteten Mandeln in die Nase, die ein Händler feilbot. Die jungen Nigromantenschüler drängten durch das Portal zum Unterricht. Über drei flache, abgewetzte Steinstufen folgte Odor ihnen nach.

Er legte den Kopf in den Nacken und blickte zu den vier Statuen hinauf, die so hoch wie die Halle selbst vor ihm aufragten.

Ein junger Novize versuchte zwischen dem Standbild des Gottes des Feuers und dem der Göttin des Wassers zu schweben. Eine Handbreit über dem Boden fuchtelte er unbeholfen in der Luft, als Odor die Halle mit schnellen Schritten durchmaß.

»Was habe ich euch gesagt?« Das Echo von Odors Worten hallte von den hohen Wänden wider. »Nur die Heiler dürfen öffentlich praktizieren.«

Von draußen drangen gedämpft Hufschläge an sein Ohr. Geistesgegenwärtig riss er den Schüler, der mit den Armen rudernd versuchte zu landen, am Saum seiner Kutte. Unsanft plumpste er auf die Erde. Die anderen Novizen kicherten.

»Nie vor Außenstehenden!«, mahnte Odor mit erhobenem Zeigefinger. »Es kommt jemand.«

Durch das Portal traten im Lazarett Genesene in den Tempel und legten dem Gott der Erde weiße Lilien vor das gewaltige Paar Füße.

Der Tag verging mit dem Unterricht, doch ständig schweiften Odors Gedanken ab. Das entsetzliche Gefühl aus seinem Traum ließ ihn nicht los. Heute muss ich es dem Zirkel der Meister erzählen, mahnte er sich. Vielleicht hätte ich das schon vor Wochen tun sollen. Aber was, wenn ich mich irre?

Am Abend betrat er als erster der dreiundzwanzig Meister die Ratshalle. In Stein gehauene Gestalten in Kutten, dem Erscheinungsbild der Nigromanten nachempfunden, ersetzten die Säulen. Im Schein der flackernden Kerzen wirkten sie düster und gespenstisch. Odor setzte sich auf seinen Platz am Kopf des Tisches.

Sein Blick streifte das Symbol der Schweigerose, das über dem Eingang prangte. Es gebot Stillschweigen über das Gehörte im Ratssaal und über die Fähigkeiten der Nicht-Heiler. Dieses alte Gesetz zur Geheimhaltung nannten sie das Arkanprinzip.

Langsam fanden sich auch die anderen ein. Odor ließ die Augen über die überwiegend grauen Häupter schweifen.Zu seiner Linken nahm Taco Platz. Er war vor fast fünfzig Jahren, kurz nach seiner eigenen Ankunft, auf den Tempelfelsen gekommen und seither sein engster Vertrauter. Aus seinem knittrigen Gesicht sprang eine Knollnase und sein dichtes, nach hinten gekämmtes Haar war seit Jahren eisgrau.

Zuletzt erschien Nelson. Das Holz knarzte als er sich auf dem Stuhl zu Odors Rechten niederließ. Zu dritt bildeten sie das Triumvirat der Großmeister, das den Nigromanten vorstand.

Als Ältester eröffnete Odor die Sitzung und verschaffte sich mit einem Räuspern Ruhe. Er übersprang die wöchentlichen Berichtspunkte und kam ohne Umschweife zur Sache: »Meine Brüder, ich muss euch etwas mitteilen. Ich glaube, die Götter sprechen zu mir.«

Mit einem Schlag hatte er ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Gespannt lauschten sie, während er sie detailgetreu darüber unterrichtete, was er nachts vor Augen hatte. Er schloss mit den Worten: »Kurz bevor ich aufwache, höre ich eine dramatische Stimme, die mir sagt: Nichts währt ewig. Der Tag wird kommen, an dem der schwarze Kegel euch vernichten wird. Die Welt wird brennen, wenn nicht das Leben des Phönix geopfert wird, um das der Menschheit zu retten.«

Totenstille. Odor sah sich mit gefurchter Stirn um.

»Es ist die Stimme eines Mannes«, bestätigte Meister Yadai mit fast tonloser Stimme. In seiner Miene stand ein bestürztes Wiedererkennen.

Die Meister tauschten unsichere Blicke. Odor zog überrascht die buschigen Augenbrauen hoch. Ist das möglich? Yadai sieht dasselbe?

»Du hattest auch diesen Traum?«, sprach Meister Kyan seinen Gedanken aus.

»Anfangs habe ich es für einen Albtraum gehalten, doch er kehrt jede Nacht wieder.« Meister Yadai bemühte sich, das Zittern seiner Lippen zu unterdrücken. Er erzählte seinen Traum, ohne die anderen dabei anzusehen. Erst als er endete, hob er wieder den Kopf.

»Ich habe es auch gesehen. Derselbe Traum, dieselbe Botschaft«, gestand ein Heiler mit bebender Stimme. »Ich sage euch: Die Götter sprechen wieder zu uns.«

Zweiundzwanzig Augenpaare wanderten zu ihm. Odor lief ein kalter Schauer über den Rücken. Noch einer?

Die Meister erstarrten, einigen blieb der Mund offenstehen. So ein Ereignis hatte seit hunderten von Jahren nicht mehr stattgefunden. Odor presste sich die Finger an die Schläfen: »Warum hat bisher niemand seine Träume erwähnt?«

»Ich wusste nicht, was ich davon halten soll.« Der Heiler senkte beschämt den Blick.

»Können sie vielleicht anders gedeutet werden?«, zweifelte jemand.

Odor zögerte. »Ich habe darauf keine Antwort«, gestand er und rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Aber ich habe seit Wochen jede Nacht denselben Traum. Und wenn dies nicht nur mir passiert, kann das kein Zufall sein.«

»Die Götter haben lange nicht mehr zu den Nigromanten gesprochen«, wandte ein Meister aus den hinteren Reihen ein. In sein Gesicht waren tiefe Zweifel gegraben.

»Vielleicht haben sie das nie«, gab ein anderer lispelnd zu bedenken. »Vielleicht ist es nur eine Legende.«

Einige nickten zustimmend.

»Natürlich haben sie das!«, versicherte Meister Osric, einer der Ältesten. Er war der oberste Diener der Götter und in ihren Lehren unbeirrbar.

»Keiner von uns hat es je am eigenen Leib erfahren«, widersprach sein Vorredner und schaute Osric misstrauisch an.

»Auch ich habe seit mehreren Nächten dieselbe Vision mit derselben Botschaft«, meldete sich Taco zu Wort. »Und ich versichere euch: Es ist kein Traum.«

Odors Puls beschleunigte sich. Auch Taco? Warum hat er nichts gesagt?

Plötzlich begannen die Ratsmitglieder wild durcheinander zu reden. Ihre Mienen schwankten zwischen Entsetzen und Fassungslosigkeit.

Odor klatschte laut in die Hände: »Ruhe, Ruhe, meine Brüder! Jeder kann etwas dazu sagen!«

»Hätte nur ein Nigromant Visionen, könnte es bedeutungslos sein. Aber haben mehrere von uns dieselbe Vision, ist es eine Botschaft!«, behauptete Taco voller Gewissheit.

»Es ist eine Prophezeiung!«, berichtigte Meister Osric mit erhobenem Zeigefinger.

Einige senkten den Blick, als jagte ihnen dieser Gedanke Angst ein.

»Wir müssen es dem König sagen! Die Götter haben uns ihren Willen offenbart und wir müssen ihn erfüllen!«, plädierte ein sommersprossiger Meister vom anderen Ende des Tisches.

»Was ist mit dem Arkanprinzip?«, unterbrach Meister Colja.

»König Abod wird nie zulassen, dass wir seinen Phönix opfern«, wandte Nelson mit gleichmäßiger Stimme ein.

»Es ist nicht sein Phönix, er gehört den Göttern!«, insistierte Meister Osric lautstark und brach damit erneut eine hitzige Diskussion vom Zaun.

»Muss es ausgerechnet der Phönix sein?«, fragte jemand mit Verzweiflung in der Stimme.

»Die Götter verlangen immer einen Preis«, kam als Antwort.

»Sie fordern nur zurück, was ihnen gehört«, korrigierte Meister Osric und fuhr sich über den leicht ergrauten Stoppelbart.

Jeder kannte die Mythen um den magischen Vogel.

»Vielleicht muss man die Prophezeiung nicht wörtlich interpretieren, vielleicht reicht irgendein Vogel«, gab ein alter Meister, die Hände in die Luft werfend, zu bedenken.

»Wenn die Götter den Phönix benennen, dann meinen sie den Phönix«, belehrte ihn Meister Osric.

»Das Schicksal des Königs ist eng mit dem Phönix verbunden«, sagte der Sommersprossige. »Er ist das Fundament seiner Macht!«

»Bis zur Gründung des Reichs zurück ist die Geschichte unseres Volkes eng mit dem Phönix verbunden!«, pflichtete ihm jemand bei.

»Du meinst die Geschichte der Königsfamilie«, berichtigte Taco. »Das Volk gab es schon davor und wird es auch noch danach geben – wenn wir den Willen der Götter erfüllen und den Phönix opfern.«

»Die Götter wollen uns warnen und uns einen Ausweg aufzeigen!« Im matten Schein der Kerzen waren die Sorgenfalten in Odors Gesicht deutlich erkennbar.

»Der König gewährt den Nigromanten Schutz«, wandte jemand voll Skepsis ein. »Wollt ihr unser aller Leben aufs Spiel setzen?«

»Unsere Stellung im Volk ist nicht allein vom Wohlwollen des Königs abhängig«, widersprach Kyan und wischte sich den Schweißfilm von der Stirn. »Wir betreiben die Lazarette und speisen die Armen. Das Volk würde die Nigromanten nie wieder einer solchen Verfolgung aussetzen wie früher. Wir haben uns unsere Stellung in der Gesellschaft hart erarbeitet.«

»Du siehst das zu naiv!«, brüskierte sich ein glatzköpfiger Heiler.

»Ich konnte den Tod spüren. Die Welt wird in dauerhafter Dämmerung versinken. Es ist das Ende«, sagte Taco in nachdrücklichem Ton.

»Stimmen wir ab, ob wir das Arkanprinzip in diesem Fall außer Kraft setzen«, schlug Odor vor. »Ich selbst bin der Auffassung, dass wir nicht tatenlos bleiben können!« Er stand auf. »Wer ist dafür, dass das Triumvirat in den weißen Palast reitet, um den König zu bitten, uns den Phönix auszuhändigen?«

Er hob als erster die Hand, es folgten Taco und die anderen, die dieselbe Vision gehabt hatten. Auch Osrics Hand schnellte in die Höhe. Vereinzelt stimmten weitere zu, unter ihnen Nelson.

Einige blickten sich unsicher um. Odor war für seine Besonnenheit bekannt. Wenn sogar er den König um den Phönix bitten wollte, konnte es doch nicht falsch sein? Nach und nach stimmten immer mehr Meister dafür, bis sich eine Mehrheit abzeichnete.

Der Beschluss war gefasst.

 

2. DER WEISSE PALAST 

Als die ersten Sonnenstrahlen den Horizont erhellten, ritten die Großmeister den steilen Pfad vom Tempelfelsen hinunter in die Hauptstadt. Tyr war die größte Stadt auf dem Kontinent und das Zentrum der königlichen Macht.

Die Großmeister wechselten kaum ein Wort. Odors Miene war wie versteinert. Taco schien tief in seine Gedanken versunken.

Nelson war der jüngste Großmeister, ein todernster Mann um die vierzig. In seinem Kopf hämmerte nicht nur die Phönix-Prophezeiung, er dachte auch an Lilia, die Gemahlin Prinz Bartolos und Schwiegertochter des Königs.

Er kannte Lilia schon seit seiner Kindheit in der Felsenstadt Tenam, einem der Stadtstaaten hinter der Grenze. Als sich Nelsons Fähigkeiten offenbarten, hatte er Tenam verlassen, um in der Obhut der Nigromantenmeister in Tyr zu leben. Für seinen Vater war es ein Segen, ihn im wohlhabenden Nachbarland zu wissen. Doch Nelson teilte diesen Enthusiasmus nicht. Nicht den Unterricht bei den Nigromanten fürchtete er, auch nicht die Trennung von seiner Familie. Lilia wollte er nicht verlassen. Damals glaubte er, er würde sie nie wiedersehen. Dass sie ihm vier Jahre später als Braut eines anderen nachfolgen würde, ahnte er nicht.

Doch vor mittlerweile vierundzwanzig Jahren hatte ihr Vater, Fürst von Tenam, ihre Heirat mit Bartolo von Tyr arrangiert. König Abod wollte einen Verbündeten hinter der Grenze und für Lilia war Bartolo die für sie vorteilhafteste Partie.

Nelson war in jenen Tagen Novize gewesen und hatte sich vom Unterricht weggeschlichen, um sich bei ihrer Hochzeit unter die jubelnde Menge zu mischen.

Obwohl sie von da an wieder in derselben Stadt lebten, trafen sie einander kaum. Lilia führte ein zurückgezogenes Leben hinter den Palastmauern und Nelson wurde am Tempelfelsen ausgebildet. Seine von Natur aus sparsame Mimik hatte seine Zuneigung nie offenbart.

Nach zehnjähriger Ausbildung hatte er den höchsten Weihegrad erreicht und wurde in den Zirkel der Meister aufgenommen. Damals legte er nicht nur das Gelübde ab, strenges Stillschweigen über die wahren Fähigkeiten der Nigromanten zu bewahren, sondern schwor auch, nie eine Frau oder Kinder zu haben. Ohne mit der Wimper zu zucken hätte Nelson diese Regeln für Lilia gebrochen, doch sie hatte seine Gefühle nie erwidert.

Als die Großmeister das Armenviertel durchquerten, riss Nelson sich in die Gegenwart.

Viele Menschen schlängelten sich durch die Gassen. Eine Brise wehte ihnen den Gestank von Pferdemist entgegen, der sich mit dem Geruch von Rauch aus offenen Herdfeuern vermischte. Nach mehreren Biegungen erreichten sie die gepflasterte Hauptstraße, die so breit war, dass man ein Wagenrennen darauf veranstalten konnte. An ihrem Ende lag der weiße Palast, in völligem Kontrast zur Stadt und abgeschottet vom Schmutz und dem Pöbel der Metropole, wie eine Perle am Ufer des Flusses Nabru.

An der äußeren Mauer, die den Palastgarten umgab, hoben die Pförtner gelangweilt die Köpfe. Sie nickten unbeteiligt und winkten die Nigromanten durch.

Die Geräusche der Stadt verloren sich im Schutz der Palastmauern, nur der Kies knirschte unter den stampfenden Hufen der Pferde. Von den vier schlanken Rundtürmen spähten die Gardisten auf sie herab. Vor den Stufen in den Palast, dessen Mauern aus weißem Marmor gebaut waren, saßen die Nigromanten ab. Eiligen Schrittes durchmaßen sie den hohen Bogen, der zum Haupteingang führte. Die langen Umhänge schlugen ihnen beim Gehen um die Knöchel.

Die Kühle in der saalgroßen Vorhalle ließ sie frösteln. Sogar der Fußboden war aus glänzendem Marmor, sodass sie das Gefühl hatten, als gingen sie auf Eis.

Vor einer hohen Flügeltür drängten sich die Bittsteller, um ihrem Herrscher ihr Anliegen vorzutragen oder Vergünstigungen zu erflehen. Das Stimmengewirr hallte von den Wänden wider.

Die Schlange reichte weit über den breiten Gang hinaus, welcher von vierundzwanzig mannshohen Statuen flankiert wurde. Sie zeigten die in Stein gemeißelten Ebenbilder der ehemaligen Könige.

Das letzte Standbild vor der prächtig beschlagenen Eichentür zum Thronsaal zeigte den in Stein gehauenen Dathan, Eroberer der östlichen Hälfte des Kontinents und erster König Acan’Has. In seinen angewinkelten Arm krallte sich ein majestätischer Vogel.

»Mit dem Tod jeden Königs verbrennt der Phönix, um mit der Krönung seines Sohnes aus der Asche neu zu erstehen«, dozierte Nelson mit monotoner Stimme, während er die Statue betrachtete.

»Die Wahrscheinlichkeit, dass König Abod den Phönix herausrückt, geht gegen Null«, knurrte Taco. »Wie jeder Herrscher klebt er an seiner Macht.«

»Wir müssen es versuchen. Zu viel steht auf dem Spiel«, sagte Odor. Ihre Stiefel schlurften leise über den Boden.

»Da hinten liegt die Westkuppel, wo der Phönix untergebracht ist.« Taco hatte seine Stimme zu einem Flüstern gesenkt und wies mit dem Kopf die Richtung.

»Das ist ein gefährlicher Gedanke, wenn nicht sogar verräterisch«, warnte Nelson.

»Der nächste!«, brüllte der Herold, während die Flügel der Eichentür knarrend nach innen schwenkten. Ein Junge, der von zwei Leibgardisten des Königs festgehalten wurde, stolperte in den Saal, um gerichtet zu werden.

»Dieser junge Mann war in eine Massenschlägerei und zwei Raubüberfälle verwickelt«, hörten sie die Anklage.

»Das klingt höchst unerquicklich«, vernahmen sie des Königs Stimme, bevor die Wachen die Tür schlossen und nur noch gedämpftes Murmeln auf den Gang drang.

Der Herold meldete seinem Monarchen einen Bittsteller nach dem anderen. Nach zweieinhalb Stunden waren endlich die Nigromanten an der Reihe. Odor rieb sich die müden Füße als eine Wache sie nach dem Grund ihres Kommens fragte. Taco flüsterte dem Mann etwas ins Ohr, der gab die Information an den Herold weiter. Mit einem goldenen Stab pochte dieser auf den Boden und mahnte zur Aufmerksamkeit.

»Das Triumvirat der Nigromanten hat eine wichtige Botschaft vorzubringen!«, sagte er laut. »Wollt Ihr sie anhören?«

»Ja, ja«, hörten sie die Stimme des Königs als die Flügeltür ächzend aufschwang. »Lasst sie vortreten.«

»Die Großmeister der Nigromanten!«, deklamierte der Herold. Seine würdevolle Stimme hallte von den marmornen Wänden wider.

Auf einer Empore saß über fünf Stufen erhöht Abod, König von Acan’Ha, auf der rubinroten Samtpolsterung des Throns. Graue Strähnen durchzogen sein dichtes Haar, auf dem die silberne Krone ruhte.

Rechts neben ihm standen seine Zwillingssöhne Cal und Bartolo. Sie bildeten seine Regierung. Zu seiner Linken war Vigo, sein königlicher Berater, postiert.

Unter den hohen Fenstern stand der Hofadel aufgereiht und tuschelte.

Mit einer Verbeugung traten die Nigromanten ein und knieten vor ihrem Herrscher nieder. Der Prunk des Thronsaals gab Odor das Gefühl der Bedeutungslosigkeit. Seine Hände wurden feucht. Die Zukunft der Nigromanten hängt von dieser Audienz ab. Und die der ganzen Welt.

Auf eine beiläufige Handbewegung des Königs hin erhoben sich die Großmeister. Odors Blick schweifte zum Deckenfresko, das die Geschichte des Landes verherrlichte. Ein Abbild des Phönix starrte auf ihn herab, als kenne er sein Anliegen. Am hinteren Rand des Deckengemäldes erkannte er – halb von einer Säule verdeckt – die fünf lotusförmigen Türme seiner Heimatstadt Aragaz.

»Was ist Euer Begehr?«, fragte Abod und zupfte desinteressiert an seiner reich bestickten Robe. Er wirkte erschöpft.

Odor trug seine Bitte vor. Plötzlich schien der König nicht mehr gelangweilt.

Auch seine Söhne horchten auf. Höflinge, Gardisten und Untergebene lauschten angestrengt. Odor schloss seinen Vortrag mit dem exakten Wortlaut der Prophezeiung.

»Seid ihr völlig von Sinnen?«, polterte Abod vom Thron herab. Seine Stimme überschlug sich fast.

Odor schloss die Augen und bemühte sich, ruhig zu bleiben.

»Wir werden nicht das Schicksal unserer Dynastie aufs Spiel setzen, weil ein paar alte Männer Halluzinationen haben!«, fügte Cal hinzu und lehnte sich leger gegen die golden verschnörkelte Rückenlehne des Throns.

Er trug sein Haar schulterlang mit einer Spange am Hinterkopf fixiert und einen Dreitagebart, in dem sich die ersten Spuren von Grau zeigten.

Odor räusperte sich und strich über seinen langen, weißen Bart. »Wir haben nicht um diese Visionen gebeten, Majestät. Wir verleihen dem Willen der Götter bloß unsere Stimme. Die Welt wird in ewige Finsternis gehüllt sein, wenn wir den Phönix nicht opfern. Der gesamte Kontinent wird in Trümmern liegen.«

»Nur, weil ihr einen bedeutungsvollen Gesichtsausdruck aufgesetzt habt, müssen wir das nicht für bare Münze nehmen«, lachte Cal.

»Der Phönix ist göttlicher Herkunft, ein magisches Wesen!« Abods Hände packten die goldenen Lehnen des königlichen Mobiliars. Bedrohlich beugte er sich nach vorn.

»Genau deshalb ist er das Opfer, das die Götter verlangen«, meldete sich Taco zu Wort. »Sie wollen den Phönix zurück.«

»Das wird ja immer abenteuerlicher!« Cal schien, als bereute er, nur selten im weißen Palast zu sein.

Abod warf die Arme in die Luft. »Es war nur ein Traum!«.

»Es fühlte sich wahrlich nicht an wie ein Traum«, widersprach Odor mit fester Stimme. Wie können wir sie überzeugen?Die Visionen lassen sich nicht beweisen.

»Wieso habt ihr eure Hellseherei bisher nie benutzt?« Bartolos Neugier schien geweckt. Sein Gesicht glich dem seines Bruders, doch sah er artiger aus, mit kurzem Haar und rasiertem Bart.

»Vor allem für etwas Sinnvolles?«, spottete Cal.

Odor hörte die Höflinge kichern. Er hatte das Gefühl, freihändig einen Handstand vollführen zu müssen. »Die Nigromanten können sich nicht aussuchen, ob sie Visionen haben.«

»Woher wisst ihr, dass es die Götter sind, die zu euch sprechen?«, fragte Bartolo ruhig, doch man konnte die Zweifel in seiner Stimme hören.

»Nur die Götter vergeben das Recht, die Zukunft vorherzusehen«, sagte Nelson demütig.

»Aber seht ihr wirklich die Zukunft? Was, wenn die Visionen falsch sind?« Cal zuckte mit den Schultern.

»Gibt es Euch nicht zu denken, dass jede Nacht mehr und mehr Nigromanten exakt dasselbe sehen?«, widersprach Taco.

»Das sind Spekulationen. Zu keinem von euch haben die Götter je gesprochen, wieso jetzt?«, hakte Abod nach.

Odor atmete tief durch. »Weil der Welt noch nie so großes Unheil bevorstand.«

»Die Nigromanten dienen Eurer Familie seit fünfhundert Jahren«, sagte Taco in versöhnlichem Ton. »Wir wissen um die Bedeutung des Phönix und wir würden Euch nicht bitten, wäre die Lage nicht ernst. Wir kommen im Auftrag der Götter selbst. Sie wollen den Phönix, nicht wir.«

König Abod schnitt ihm mit einer ungeduldigen Handbewegung das Wort ab: »Der Vulkan Izabal liegt am anderen Ende des Kontinents! Mehr als vierzig Tagesritte jenseits der Landesgrenze. Seit Beginn der Aufzeichnungen ist er noch nie ausgebrochen. Und selbst wenn, kann er uns aus dieser Entfernung nicht gefährlich werden.«

Odor achtete nicht auf die Besserwisserei in seiner Stimme. »Aufgrund der Ascheschicht wird der Lebensraum auf dem gesamten Kontinent unbewohnbar werden. Ohne Sonne gibt es kein Überleben. Selbst in unserem strahlenden Reich nicht.« Er mühte sich, nicht zynisch zu klingen.

»Jedermann weiß, dass der Phönix eng mit unserer Dynastie verbunden ist«, erwiderte Bartolo anklagend. »Wenn ihr ihn opfert, was passiert dann mit uns? Würden mein Vater und alle seine Nachfahren gleichzeitig sterben?«

»Das weiß ich nicht.« Odor senkte den Blick.

Abod schnappte hörbar nach Luft. Der Hofadel in den hinteren Reihen verstummte. Einige machten entsetzte Gesichter, andere studierten den glatten Marmorboden.

Offenbar ist die Überlieferung um den Phönix doch nicht nur ein Mythos aus längst vergangenen Tagen, schoss es Odor durch den Kopf. »Andernfalls werden Millionen Menschen sterben«, fügte er schnell hinzu. »Dem Vulkanausbruch wird ein dunkles Zeitalter folgen. Ich habe gesehen, dass sich der Himmel über Jahrzehnte verdüstern wird. Die, die nicht durch die Katastrophe selbst ums Leben kommen, werden an den Folgen sterben: Die Temperaturen werden fallen, die Vegetation wird schwinden und die Menschen werden ihrer Existenzgrundlage beraubt werden.«

»Einen Vogel zu opfern, ist ein geringer Preis zur Rettung der bekannten Welt.« Nelsons Stimme klang monoton.

»Nicht diesen Vogel! Das ist mein letztes Wort in dieser Angelegenheit!«, entschied der König und fuchtelte mit der Hand als müsste er Fliegen verscheuchen.

»Majestät, bitte …«, startete Odor einen letzten Versuch, doch Abod schnitt ihm das Wort ab.

»Hinfort mit euch, ihr habt die Erlaubnis, euch zu entfernen!« Der König hustete krächzend. Er klang krank.

Mit einer tiefen Verneigung zogen sich die Nigromanten zurück.

»Mögen die Götter ihm vergeben«, murmelte Taco als sie zum Ausgang gingen.

 

3. AM TEMPELFELSEN 

Es verging keine Nacht ohne denselben beängstigenden Traum, begleitet von denselben verstörenden Worten.

Der Himmel war sternenklar, als alle Gegenstände in Tacos Hütte zu vibrieren begannen. Er wälzte sich auf seiner Schlafmatte, Schweißperlen standen auf seiner Stirn.

Er sah einen Kegel, der aus einer weiten Ebene von dampfenden Erdlöchern ragte. Unversehens schoss eine Eruptionssäule aus dem Krater. Unter seinen Füßen spürte er das Zittern des Bodens, vom Himmel regneten Asche und Bimssteine.

Unvermittelt wechselte die Szene und er befand sich auf einer breiten Straße, begleitet von einem Vogel, der seine Krallen in seinen Arm bohrte. Sein Schnabel war spitz und leicht gekrümmt. Taco sah sich um, erkannte jedoch nichts. Es war weder Tyr noch Levantis, seine Heimatstadt. Mehr Städte kannte er nicht. Die Straßen und Häuser waren sandgelb und kahl. Sogar die Stadtmauer hatte dieselbe monotone Farbe.

Wieder vibrierte der Erdboden, zuerst leicht, dann immer stärker. Risse zeichneten sich auf den Mauern ab, Steinbrocken donnerten von den Dächern. Decken stürzten ein und die Luft war voller Staub. Chaos brach aus: Menschen rannten panisch schreiend durch die Gassen, Pferde scheuten, Hunde bellten, Kinder weinten. Tacos Glieder fühlten sich starr an. Eine Wolkenmauer, schwarz wie die Nacht, rollte auf die Stadt zu. Darunter bahnte sich eine Glutlawine unaufhaltsam ihren Weg. Er sah Menschen mit qualvoll verzerrten Gesichtern im Todeskampf unter den Trümmern liegen.

Unerwartet teilte sich die heranrollende Lavaflut vor Taco und dem Vogel. Das Stück staubige Erde, auf dem er stand, sah aus wie eine Insel in einem Meer aus rotglühendem Feuer. Taco und der Phönix blieben unverletzt, während rundherum der Tod wütete. Noch bevor sich der Boden unter seinen Füßen ganz in Rauch auflöste, stand er wieder vor dem Vulkankegel, der eine Glutsäule in den Himmel sprengte. Ein gewaltiger Spalt klaffte vor ihm in der Erde und Feuerwellen schwappten in die Höhe. Ein Schauerregen aus Glut zog in feurigem Bogen am Himmel über ihm hinweg. Eine Grabesstimme, die aus dem Kegel zu kommen schien, sagte: »Geh bis ans Ende der Welt!«

Plötzlich sah er sich selbst aus der Vogelperspektive wie er mit dem Phönix geradewegs auf die Stimme zuging. Das letzte, das er hörte, waren die vertrauten Worte der Prophezeiung. Dann explodierte die Welt in gleißendes Licht.

Taco atmete stoßweise und blinzelte ins Halbdunkel seiner Hütte. Jedes Wort der Prophezeiung hallte in seinem Kopf wie ein Echo. Das fahle Licht des Mondes schimmerte durch das Fenster und warf Streifen an die rückwärtige Wand. Draußen war alles ruhig. Auf dem wackeligen Holztisch in der Ecke vibrierte der Krug leicht nach und das Wasser darin zitterte in kaum sichtbaren Wellen.

Taco wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Er wusste, dass das eben Erlebte nicht bloß die Vorahnung von etwas Grauenhaftem war. Etwas hatte sich verändert: Die Götter hatten ihm eine weitere Botschaft geschickt. Eine andere als den anderen.

Der Weg lag offen vor ihm: Es ist meine Bestimmung, den Phönix zum Izabal zu bringen, um ihn den Göttern zu opfern.

In dieser Nacht tat er kein Auge mehr zu. Fieberhaft überlegte er wie er die Prophezeiung erfüllen könnte. Er müsste seinen König verraten, zum Dieb werden, verfolgt und gejagt. Sein Leben würde nie wieder dasselbe sein. Der Vulkan ist weit und die Grenze schwer geschützt. Ganz zu schweigen von König Abod, der mir jedenSoldaten im Land auf den Hals hetzen wird. Wahrscheinlich würde ich nie von dieser Reise zurückkehren. Die Gedanken wirbelten durch seinen Kopf wie in einem Karussell.

Taco war immer ein Zweifler gewesen, doch als der Vogelgesang den anbrechenden Tag verkündete, wusste er, was zu tun war.

 

Die Ratssitzung am Nachmittag war wieder von nur einem Thema beherrscht: Die widerstreitenden Interessen zwischen der Krone, der die Nigromanten seit einem halben Jahrtausend dienten, und den Göttern, denen sie ihr Leben und Wirken verschrieben hatten.

In den letzten Wochen hatte sich die Prophezeiung allen Meistern offenbart. Wild gestikulierend redeten sie durcheinander. Jeder hatte eine Meinung, aber keiner eine Lösung.

Taco hatte die ganze Zeit über kein Wort gesagt. Ohne Ankündigung erhob er sich nun und stützte sich mit beiden Fäusten auf den langen Holztisch. In knappen Worten umriss er sein Vorhaben.

»Das ist Verrat!«, ertönten mehrere Stimmen gleichzeitig.

»Habt ihr eine bessere Idee?« Taco zog die Brauen hoch. »Es ist der einzige Ausweg.«

»Du willst einen Krieg zwischen den Nigromanten und der Krone anzetteln?«, protestierte ein Heiler.

Ja, das würde ich, antwortete er stumm und schloss die Augen. Er wagte es aber nicht, den Gedanken laut auszusprechen.

»Taco hat recht. Es ist der Wille der Götter«, bekräftigte Meister Osric das Vorhaben.

»Die Wachen werden dich sehen und erkennen!«, warnte jemand.

»Das wird sich nicht vermeiden lassen«, gab Taco achselzuckend zu und ließ sich auf seinen Stuhl sinken. Die säulenhohen Gesteinsgestalten, die das Deckengewölbe stützten, blickten aus leeren Augen auf ihn herab. Er stützte sein Kinn auf die Hand und tat, als hörte er den Diskutanten aufmerksam zu. Dabei war ihm völlig gleichgültig, was die Meister in dieser Causa meinten. Sein Entschluss stand fest.

»Auf Verrat steht die Todesstrafe!«, riss ihn jemand aus seinen Gedanken.

Nervt mich nicht mit Kleinigkeiten, stöhnte er innerlich. »Das ist mir bewusst«, antwortete er mit einer verständnisvollen Geste.

»Es ist zu gefährlich!«, protestierte ein Heiler aus den hinteren Reihen.

»Ich möchte zu eurer eigenen Sicherheit, dass ihr die Details meines Plans nicht kennt«, entgegnete er auf die aufgeregten Fragen. Natürlich unterlagen alle der Arkandisziplin, doch nur die Großmeister sollten in den genauen Ablauf eingeweiht sein. »Ich werde schon heute Nacht aufbrechen.«

Nach einer weiteren Viertelstunde ohne Ergebnis entließ er die Skeptiker.

»Ausgerechnet du, wo du doch so streng nach dem Arkanprinzip lebst«, murmelte Odor, als die Tür hinter dem letzten Meister ins Schloss fiel. Jeder kannte Taco als pflichtbewusst und verlässlich. Aber risikobereit war er nie gewesen. »Du musst das nicht tun. Nelson könnte an deiner statt gehen. Seine Gabe würde ihm die Reise leicht ermöglichen.«

»Ich selbst könnte schnell zum Izabal kommen«, bestätigte Nelson, »aber meine Fähigkeit erlaubt es mir nicht, andere Lebewesen mitzunehmen.«

»Du hast recht«, pflichtete Odor ihm bei und rieb sich nachdenklich die Stirn. »Das hatte ich nicht bedacht.«

»Es ist mein Schicksal.« In Tacos Augen stand eine eiserne Entschlossenheit. »Ich muss aufbrechen, kein anderer. Und ich gehe allein. Des Königs Schergen werden in den Tempel kommen und euch verhören. Aber ihr sagt, dass ihr nichts von meinen Plänen wusstet.«

»Das glaubt uns doch niemand.« Odors Stimme klang ruhig und in keiner Silbe vorwurfsvoll. »Wir drei haben König Abod gebeten, uns den Phönix zu überlassen. Wenn er jetzt entführt wird, liegt es nahe, dass wir alle dahinterstecken!«

Nelson erhob sich und holte ein vergilbtes Pergament aus einem Regal, das bis an die Decke reichte. Er blies auf die Schriftrolle und Staub wirbelte durch die Luft. Taco musste niesen. Auf dem langen Tisch entrollte Nelson das Pergament. Es zeigte eine Landkarte des Kontinents, detailgetreu gezeichnet, die Landschaften und Straßen in den richtigen Verhältnissen wiedergegeben. An den äußeren Rändern erstreckte sich blau der Ozean.

»Acan’Ha umfasst die östliche Hälfte des Kontinents«, sagte Nelson und strich das Pergament glatt. Die Enden wellten sich vom Einrollen. Er beschwerte sie mit Tintenfässchen, um sie niederzudrücken.

Das Land hatte annähernd die Form einer abgestumpften Pfeilspitze, die an den langen Seiten vom Meer umgeben war. An der schmalen Grenze im Westen war die Landesmauer, die Dathan nach der Gründung des Reichs erbaut hatte, eingezeichnet. Sie durchbrach Seen und Flüsse, schlängelte sich über Berge und durch Wälder. Im Norden und im Süden endete sie im Ozean. Neben ihrem südlichen Ende war kunstvoll der Name »Jadetor« gemalt.

Zwei Fernstraßen teilten Acan’Ha in vier Teile: Die Nord-Süd-Route und die Ost-West-Achse, die sich in der Hauptstadt Tyr kreuzten. Am Ende jeder Hauptstraße lag eine der Großstädte des Reiches.

Die nördliche Straße endete in Ehogan, der Kornkammer des Landes. Die östliche Route führte von Tyr aus in einem weiten Bogen um den Berg Azhár herum nach Aragaz, Odors Heimat. Rund um die Stadt waren grüne Flecken eingezeichnet, die bewaldete Flächen darstellten. Die westliche Straße endete abrupt vor der Mauer. Hinter der Grenze war die Landkarte weniger detailliert.

»Karthala umfasst die westliche Hälfte des Kontinents. Wir wissen kaum etwas über das Land.« Als Odor aufsah, wirkte sein Blick nachdenklich.

»Außerhalb der Stadtstaaten ist es ein Land in Anarchie«, meinte Nelson, der jenseits der Mauer aufgewachsen war. »Nur Wüste und ungezähmte Wildnis.«

»Der Vulkan Izabal liegt weit im Nordwesten.« Taco kreiste die Zeichnung des Kegels mit dem Finger ein. »Man hört gelegentlich, dass Schmuggler die Landesgrenze überquert hätten, aber für normale Bürger ist Karthala unerreichbar. Es wird schwierig werden, dorthin zu gelangen.«

»Du bist der einzige von uns, der die Landesmauer je gesehen hat«, sagte Odor und sah Nelson in die dunklen Augen. »Wie ist sie beschaffen?«

»Nicht so hoch wie man meinen sollte, aber von Norden bis in den Süden gibt es kein Durchkommen.«

»Ich habe dich nie gefragt, wie du seinerzeit nach Acan’Ha gekommen bist?« Odor suchte erneut Nelsons Blick.

»Nachdem sich meine Fähigkeit offenbart hatte, kam ich mit einer Delegation nach Tyr. Der einzige Grund, weshalb ich einreisen durfte, war, dass der Fürst der Felsenstadt Tenam ein Verbündeter König Abods ist.« Nelson wandte sich an Taco: »Es ist unmöglich, die Grenze ungesehen zu passieren, solltest du es überhaupt so weit schaffen!«

»Ich werde den Seeweg nehmen. Ich will den Fluss Nabru entlang nach Süden reiten und in Levantis einschiffen. Ich bin dort aufgewachsen.« Taco zog mit dem Finger den Weg nach. Die Nord-Süd-Route machte auf halber Strecke einen großen Bogen um das Koro Gebirge. Gezackte Gipfel stellten die Berge auf der Karte dar. Kurz vor Levantis zweigte eine Straße nach Westen zur Küstenstadt Becán ab. »Schiffe aus dem ganzen Reich legen in Levantis an. Ich möchte auf einem anheuern. Ich verstehe ein wenig von der Schifffahrt, mein Vater war Fischer.«

»Schiffe fahren nicht weiter als bis Becán. Außerdem ist der Weg mehr als doppelt so weit!«, gab Nelson zu bedenken. »Das Meer birgt viele Gefahren, ebenso wie Karthala.«

»Der kürzeste Weg ist nicht immer der sicherste. Beide Wege haben Vor- und Nachteile«, wandte Taco ein. »Jeder würde den kürzesten Weg wählen. Die Wahrscheinlichkeit, dass meine Verfolger mich auf der Ost-West-Straße fassen, ist viel höher als auf dem Seeweg. Mit den Gefahren in Karthala werde ich schon fertig. Ich habe mir alles genau überlegt.«

»Der Seeweg ist schon ein wenig verrückt«, bemerkte Odor mit einem Seitenblick.

»Sonst würde es vermutlich nicht funktionieren«, zwinkerte Taco. Sein Blick glitt über die Küstenlinie. Er schloss die Augen und wiederholte murmelnd die Namen der Hafenstädte.

Seine Freunde tauschten einen langen Blick und nickten zustimmend.

Nelson rollte die Karte auf und legte sie zurück ins Regal. Dann fasste er in seinen Kapuzenmantel und drückte Taco Kugeln mit milchiger Farbe in die Hand. »Wenn du Hilfe brauchst, weißt du, was zu tun ist. Zerdrück sie und ich werde dich auf der Stelle finden.« Sie sahen aus wie Murmeln, mit denen die Kinder auf den Straßen spielten. Taco nickte und verstaute sie in der Tasche seiner Kutte.

Als die Nacht hereinbrach, packte er ein paar Vorräte ein. Odor hatte ihm einen schwarzen Hengst aus dem Derya Territorium besorgt. Die Pferde aus diesem Teil des Landes waren für ihre Robustheit bekannt, galten als ausdauernd und konnten Tag und Nacht durchlaufen.

Genau das, was ich für ein Leben auf der Flucht brauche. Taco klopfte dem Hengst auf den Hals.

»Er heißt Nachtwind«, sagte Odor und befestigte an der Satteltasche einen würfelförmigen Holzkäfig mit fingerdicken Stäben. Taco verdeckte ihn unter einem geflickten Umhang.

Ein paar Meister versammelten sich auf dem Platz vor dem Tempel. Sie bildeten eine Fackelreihe und erhellten den Weg. Ungeduldig stampfte Nachtwind mit dem vorderen Huf auf die Erde und wirbelte den Staub vor Tacos baufälliger Hütte auf.

Der Wind ließ Odors langes weißes Haar um seinen Kopf wehen. »Ich hoffe, wir sehen uns wieder, Bruder«, sagte er und schloss Taco in die Arme.

»Leb wohl, alter Freund.« Taco klopfte ihm in der Umarmung auf die Schulter. Fast drei Jahrzehnte haben wir den Nigromanten gemeinsam als Triumvirat vorgestanden. Eine Ära geht zu Ende.

»Du tust das richtige, es ist der Wille der Götter«, bekräftigte Meister Osric, der neben Odor stand. »Versuch, wenig Aufmerksamkeit zu erregen. Du weißt, wie die Menschen auf unsere Fähigkeiten reagieren. Sie fürchten, was sie nicht verstehen. Bei all den Gefahren, die dir begegnen werden, darfst du die Tarnung der Nigromanten nicht gefährden.«

»Ich werde meine Gabe so wenig wie möglich vor Publikum einsetzen«, versprach Taco und hoffte, dass es stimmte.

»Du wirst uns fehlen. Eines Tages werden die Götter uns wieder zusammenführen«, sagte Meister Kyan mit gezwungen wirkender Zuversicht.

»Pass auf dich auf«, murmelte Nelson. »Mögen die Götter dich behüten.«

Der Hengst hob den Kopf und wieherte. Taco saß mit einer schwungvollen Drehung auf und kehrte dem Tempel den Rücken.

Jetzt gab es kein Zurück mehr.

 

4. DER WEISSE PALAST 

Tausend Gedanken rasten durch Tacos Kopf, während er das Pferd durch die Straßen von Tyr trieb. Die Stadt war vom Mond silbrig beschienen und kaum irgendwo brannte eine Fackel. Die Hufschläge hallten von den Mauern der Steinhäuser wider. Tacos Herz hämmerte heftig gegen seine Rippen.

Vor dem steinernen Torbogen zum Palastgarten zügelte er abrupt den Hengst. Nachtwind schnaubte und bäumte sich leicht auf. Taco hielt den Atem an. Er hatte einen fahlen Geschmack im Mund.

»Wer da?« Der Pförtner hielt die Handfackel dicht an Tacos Gesicht. »Ah, Großmeister Taco, Ihr seid es! Ist jemand im Palast erkrankt?«

»Ja, ein Notfall«, improvisierte er und warf einen gehetzten Blick über die Schulter.

»Sind es die Hustenanfälle unseres Königs?« Die Stimme des Torwächters klang aufrichtig besorgt.

»So ist es, er hat nach meiner sofortigen Anwesenheit verlangt«, antwortete er, überrascht, wie leicht ihm die Lüge fiel.

Der Pförtner fragte nicht weiter nach und ließ ihn passieren. Jetzt macht sich bezahlt, dass ich so oft im Lazarett geholfen und mich als Heiler getarnt habe, dachte Taco und stieß den Atem aus. Er musste den Kopf in den Nacken legen, um zu den majestätischen Marmorkuppeln hochzublicken, die gespenstisch in den schwarzen Nachthimmel ragten. In einem fliegenden Galopp fegte er über den knirschenden Kies. Heiße und kalte Schauer durchjagten ihn, als er auf den schlanken Rundtürmen die Umrisse der Gardisten ausmachte.

Ohne den Blick noch einmal zu heben, sprang er aus dem Sattel und eilte mit hochgeschlagener Kapuze durch den Bogen, der den Eingang überspannte. Vor dem hohen Tor blieb er stehen. Der Bogen schützte ihn vor den Blicken von oben.

Es war an der Zeit, seine Fähigkeiten einzusetzen. Mit einer Vorwärtsbewegung seines rechten Arms flogen die eisernen Torflügel wie durch einen Windstoß nach innen auf. Die Angeln knarrten und Taco trat ein. Hektisch schaute er sich nach allen Seiten um und horchte.

Silberne Lichtstreifen fielen durch das Tor auf den milchweißen Fußboden der leeren Eingangshalle. Eiligen Schrittes bog er in den Gang mit den Statuen der verblichenen Könige. Die Schatten der Fackeln huschten über die Wände und ließen sie fast lebendig wirken. Es schien, als hielten sie Wache, als folgten ihm ihre Steinaugen. Sie alle haben den Phönixgefangen gehalten, dachte er, bis heute.

Nahezu endlos erschien ihm der spärlich beleuchtete Korridor. Wo sich tagsüber die Bittsteller drängten, herrschte gähnende Leere. Zielstrebig steuerte er zur Westkuppel, wo der Phönix untergebracht war.

Vor der Holzpforte, die in die Kuppel führte, waren zwei einsame Wachen postiert. Mit gekreuzten Hellebarden versperrten sie den Durchgang. Sie schienen müde und stützten sich auf ihre Waffen. Als sie Tacos Silhouette ausmachten, nahmen sie eine straffere Haltung an.

»Großmeister Taco, was führt Euch zu so später Stunde her?«, fragte der Linke mit gedämpfter Stimme.

Der Nigromant blieb eine Antwort schuldig. Prüfend warf er einen Blick über die Schulter. Ich kann jetzt keine Zeugen gebrauchen. Einen spannungsgeladenen Augenblick war alles still. Taco hörte seinen eigenen Atem und das Rauschen seines Blutes. Seine Pupillen verengten sich. Dramatisch schlug er seine Kapuze zurück und reckte seine Arme nach vorn wie ein Dirigent, der ein Orchester leitete. Die Holzpforte begann sachte zu vibrieren.

Während die Gardisten fragende Blicke tauschten, bewegte Taco seine Hände ruckartig nach rechts und dann nach links als wollte er etwas wegwischen.

Ehe sich die Wachhabenden versahen, segelten sie durch die Luft. Völlig überrumpelt kamen sie weder dazu, zu reagieren noch Alarm zu schlagen. Einer knallte gegen das steinerne Bein einer Statue, fiel dumpf auf den alabasterweißen Boden und blieb reglos liegen. An seiner Stirn klaffte eine Wunde.

Der ist außer Gefecht, dachte Taco.

Der andere rutschte rücklings zwischen den versteinerten Königen über den glatten Marmorgang. »Was -«, stammelte er, während er die Hellebarde fallen ließ. Er schien gar nicht zu wissen, wie ihm geschah.

Mit einer einladenden Geste zerrte Taco ihn an seinem rechten Fuß zu sich. Es sah aus, als würde er von unsichtbaren Händen geschleift. Tacos gestreckte Hand machte eine ruckartige Bewegung nach links und der Mann donnerte gegen Abods in Stein gemeißelten Vater. Der Gardist stöhnte auf, dann rührte er sich nicht mehr. Ob er tot war oder nur bewusstlos, wollte Taco gar nicht so genau wissen.

Die Wachen waren leichter zu überwinden gewesen als er angenommen hatte. Aber nur die erste Hürde ist genommen.

Er drehte sich auf dem Absatz und wandte sich der Holzpforte zu. Mit einer kurzen Bewegung aus beiden Handgelenken gaben die Angeln der schweren Pforte nach. Holzbalken splitterten und der Rahmen löste sich mit einem ohrenbetäubenden Krachen aus der Mauer. Wie durch einen Orkan sauste die Pforte aus den Fugen und donnerte gegen die blassen Palastwände. Mit einem ertappten Gesichtsausdruck zuckte Taco zusammen. Das war lauter als beabsichtigt.

Er schnappte eine Fackel aus der Wandhalterung und stieg durch das entstandene Loch. Die Stufen der breiten Wendeltreppe waren abgewetzt und rutschig. Im flackernden Licht schienen sie unter seinen Füßen zu schwanken. Er nahm zwei Stufen mit einem Satz, sodass seine graue Kutte unter seinen schnellen Schritten wirbelte. Der Knall war schwer zu überhören, bald wird jemand kommen. Angespannt presste er die Finger um die Fackel bis seine Knöchel weiß hervortraten.

Keuchend erreichte er den kahlen Kuppelsaal. Mit der Fackel leuchtete er ihn aus und blickte sich hastig um. Er hielt sie hoch über den Kopf, um so weit wie möglich sehen zu können. Wo ist der Phönix? Taco drehte sich im Kreis. Der Geruch von faulen Eiern stieg ihm in die Nase. In einer Wandnische entdeckte er den Vogel. Sein Puls raste.

Kaum jemand hatte den sagenumwobenen Vogel je mit eigenen Augen gesehen. Taco war auf eine Reise mit schwerem Ballast vorbereitet. Er kannte nur das steinerne Abbild auf Dathans Statue und der Vogel aus seinen Visionen hatte etwas Raubtierhaftes an sich.

Bei der Erschaffung von Dathans Standbild haben die Bildhauer wohl etwas dick aufgetragen, dachte er, als er den Phönix leibhaftig zu Gesicht bekam. Zu seiner Überraschung war er klein und handlich. Sein Federkleid schimmerte pflaumenfarben und die Schwanzfedern, die fast so lang wie der Körper selbst waren, strahlten türkisblau im spärlichen Licht. Taco steckte die Fackel in eine rostige Halterung und stellte sich unter das Nest. Er streckte sich, um den Vogel vorsichtig zu packen. Der Phönix wandte den Kopf und sah den Fremden an, machte aber keine Anstalten zu fliehen. Er zuckte nicht einmal, als hätte er darauf gewartet, dass jemand kam und ihn abholte.

Als Taco ihn berührte, blitzte ein Bild des Vulkans, der eine Feuersäule in den Himmel stieß, vor ihm auf. Einen Herzschlag später sah er wieder den mondbeschienenen Saal der Westkuppel. Er blinzelte. Dann zog er den Vogel behutsam zu sich herunter. Sein Gefieder fühlte sich weich und warm in seiner Hand an.

»Ich bringe dich nach Hause«, flüsterte er beschwörend und steckte ihn in die hängenden Ärmel seiner Robe. Er stülpte sich die weite Kapuze über den Kopf und griff nach der Fackel. Hastig stieg er die finstere Wendeltreppe hinab. Das Feuer knisterte über seinem Kopf und verströmte den Geruch von Rauch.

Kaum hatte er den Gang mit den versteinerten Königen erreicht, hörte er vom Thronsaal her den strammen Schritt der Wachpatrouille. Er fluchte leise. Die Fackel ließ er zurück und rannte zum Ausgang, ehe der Hofstaat zum Leben erwachte. Panisch sah er sich nach Fluchtmöglichkeiten um. Der Korridor schien ihm endlos lang. Er schlitterte über den blanken Boden, der wie eine Eisfläche vor ihm lag. Endlich sah er die Lichtstreifen, die der Mond in die Vorhalle warf. Vor dem Eingangstor wäre er auf dem glatten Marmor beinahe ausgerutscht.

Vom Nordturm her hörte er jemanden rufen. Er stürmte auf den Hengst zu, schwang sich auf und gab dem Tier die Sporen. Die galoppierenden Hufe schleuderten die Kieselsteine auf, als er davonritt.

»Halt!«, hörte er eine autoritäre Stimme aus dem Eingangsbereich des Palasts. »Nehmt den Mann fest!«

Das Blut wich aus Tacos Gesicht. Er beugte sich weit im Sattel vor und preschte im Todesgalopp durch die Gartenanlage.

Der Pförtner, vom Geschrei der Gardisten alarmiert, riegelte das Tor ab. Er baute sich in der Mitte des Portals vor ihm auf und versperrte den Durchgang.

»Aus dem Weg!«, brüllte Taco. Ich muss ihn niederreiten. Er schloss die Augen, er wollte den Zusammenprall nicht sehen.

Im letzten Augenblick hechtete der Pförtner zur Seite und presste sich gegen die Wand des Torbogens. Ein Windzug zerzauste seine Haare als Taco vorbeirauschte.

Einen Lidschlag später hörte Taco das Knarren der Torangeln, gefolgt von einem schleifenden Geräusch. Das Tor hatte nach nur einer seiner Handbewegungen nachgegeben.

Ohne sich noch einmal umzublicken, jagte er auf die Stadtmauer zu.

Tyr schlief noch, doch die Stadtwache zog schon das südliche Stadttor für die fahrenden Händler auf. Mit der rechten Hand ließ Taco die Zügel los und fegte die Torwächter mit einem Streich wie Stoffpuppen beiseite. Sie rollten sich ab und Taco passierte unbehelligt das Tor. Zum ersten Mal seit einem halben Jahrtausend hatte der Phönix Tyr verlassen.

 

5. KORO GEBIRGE 

Als der Morgen dämmerte, hatte Taco den Dunstkreis der Hauptstadt bereits hinter sich gelassen. Die Luft war kühl und sauber.

Er folgte der von uralten Eichen gesäumten Straße, die sich doppelreihig am Westufer des Nabru hinzog.

Der Fluss war tief und wasserreich. Im blendenden Licht der Morgensonne hockten Frauen mit Leinenbündeln auf in den Fluss gebauten Stegen und wuschen die Wäsche, während ihre Kinder aus Holz geschnitzte Spielzeugschiffe um die Wette segeln ließen. Er hob die Hand zum Gruß und die Wäscherinnen winkten freundlich.

Fährleute warteten am Ufer auf Reisende, die sie mit ihren Floßen auf die andere Seite oder zu den Nabru-Inseln übersetzten. Insgesamt zwölf gab es zwischen Tyr und dem Koro Gebirge, soweit Taco sich erinnern konnte.

Je weiter er sich von der Hauptstadt entfernte, desto weniger Verkehr herrschte auf der Straße.

Nachtwind galoppierte ohne Pause gen Süden. Die Ohren waren angelegt, seine Nüstern bebten. Die trommelnden Hufe ließen den Boden erzittern und zogen eine Wolke aus Staub hinter sich her.

Nach etwa zehn Wegstunden veränderte sich die Landschaft drastisch: Das Umland von Tyr wich unberührter Natur. Taco passierte sonnenbeschienene, goldene Felder und sattgrüne Wiesen, wo fette Kühe weideten. Es roch nach frischem Gras. In der Ferne sah er die gezackten Gipfel des Koro Gebirges.

Er hielt an, schob seine Hand in den Ärmel seiner rauchgrauen Robe und tastete nach dem Phönix. Ganz vorsichtig, darauf vorbereitet, bei der Berührung den feuerspeienden Izabal zu sehen. Doch nichts. Taco stieß den Atem aus und holte den Phönix heraus. Der blinzelte und sah ihn aus müden Knopfaugen an. Behutsam setzte er ihn in den hölzernen Käfig und schloss die vergitterte Tür.

Ohne Vorwarnung begann der Phönix zu trällern. Taco zog blitzartig die Hand zurück als hätte er sich an etwas Heißem verbrannt. »Was ist das denn? Habe ich dich verletzt?«, fragte er erschrocken. »Oder bist du hungrig?«

Der Vogel sang so falsch, dass es ihn schaudern ließ. Seine hohe Stimme klang als wollte ein vor Schmerzen jaulendes Hündchen Worte kläffen.

Schlagartig streifte Taco die Erkenntnis: »Das ist dein natürlicher Gesang?« Er bedachte den Phönix mit einem überraschten Gesichtsausdruck. »Wie kann ein göttliches Wesen so scheußlich klingen?« Tacos Weltbild geriet ins Schwanken.

Der bizarre Gesang wurde gleichmäßiger, doch nach wie vor schien es, als könnte der Vogel keinen einzigen Ton treffen. Dann erstarb sein Geheul so plötzlich wie es begonnen hatte.

Bei jeder Begegnung verbarg Taco sein Gesicht unter der Kapuze und hoffte, dass der Phönix den Schnabel hielt. Er mied die Tavernen, die sich in Abständen von Tagesritten an der südlichen Straße fädelten. Dort rasteten die Boten und berittenen Kuriere, die Nachrichten von einem Winkel des Landes in die anderen brachten. Es hieß, sie reisten schneller als die Falken. Ebenso gefährlich für Taco waren die fahrenden Sänger, die von Dorf zu Dorf zogen und die Neuigkeiten aus der weiten Welt bei jedem Auftritt ein bisschen abgeändert weitergaben.

Die ersten Tage seiner Flucht verbrachte er überwiegend im Sattel, die Nächte in windgeschützten Mulden. Sicher ist schon eine Belohnung auf meinen Kopf ausgesetzt.

An einer Weggabelung zweigte die Nord-Süd-Straße vom Ufer des Nabru ab. Bleiches Licht schimmerte auf der Wasseroberfläche. Stromabwärts zeigte sich das Land zerklüftet.

Taco schlug den Weg in die Berge ein. Bald kam er an der Kante eines namenlosen Sturzbaches vorbei, der über eine schroffe Felswand in die Tiefe rauschte. Eine abgestorbene Eiche lehnte sich weit in die Schlucht hinaus. Sprühregen stieg auf. Die schäumende Gischt erfrischte sein müdes Gesicht. Er entschloss sich zu einer kurzen Rast und plünderte einen Himbeerstrauch, dessen Dickicht nah an einer Felswand wucherte. Unter einem Baum lagen Nüsse verstreut, die er mit den Händen knackte und in den Käfig steckte. Die Schalen fielen auf den Boden und der Phönix schnappte gierig zu.

Ein Schafhirte trieb seine Herde die Straße entlang. Bald blockierte sie die gesamte Breite.

»Sei gegrüßt, Fremder!«, rief der Hirte. Er trug einen wollenen Schal und ein schweres Fell um die Schultern.

»Gibt es eine Abkürzung nach Levantis?« Taco musste schreien, um das Blöken der Schafe zu übertönen.

»Du kannst den unbefestigten Pfad über den Pass nehmen«, erklärte der Hirte mit einer Handbewegung zum Hochgebirge. »Die Nord-Süd-Straße verläuft tief in die Provinz Duvar hinein. Auf diesem Weg brauchst du mindestens sechs Tage länger. Aber in den Bergen ist es kalt und das Wetter wechselt schnell.«

Taco dachte nach. Wenn sich erst herumgesprochen hat, dass ein Mann mit meiner Beschreibung und einem Vogel bei sich gesucht wird, bin ich nirgends mehr sicher. Wenn ich den Weg über den Bergkamm einschlage, könnte ich es ungesehen bis zum Südmeer schaffen