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Band 2 der magischen Battle of the Drumfire-Trilogie über zwei Schwestern, gefangen in der berauschenden Welt der Fae, in der Liebe und Tod gefährlich nah beieinanderliegen Yeerans Weg führt sie aus dem Exil zurück zu ihrem Elfenvolk, wo sie auf Salawa trifft, das Oberhaupt und zugleich ihre ehemalige Geliebte. Ungläubig lauscht diese Yeerans Bericht über das Reich der Fae, begleitet sie aber schließlich nach Mosima. Doch kann Yeeran ihr trauen? Lettle und Rayan befinden sich währenddessen bei den Fae, wo sie nur knapp einem Attentat entkommen und ihrerseits die Flucht ergreifen. Das Schicksal führt Lettle und Yeeran wieder zueinander. Gemeinsam schwören sie, den Fluch der Fae zu brechen, um diese vor dem Untergang zu bewahren. Die Schwestern müssen sich zwischen Liebe und Pflichterfüllung entscheiden, während der Krieg zwischen den Fae und den Elfen ihre Welt für immer mehr zu verschlingen droht. »Die Fae waren so, wie er erwartet hatte: furchterregend, mächtig und verführerisch.« »Auch wenn unsere Glut erloschen und deine Trommel verstummt ist, werde ich mich an die Melodie deines Liedes erinnern, jetzt und für alle Zeit.«
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Seitenzahl: 502
Veröffentlichungsjahr: 2025
Saara El-Arifi
Imprisoned by Fate
Romantasy
Kerstin Fricke
Für Rachel
NotizenChronik der jüngsten Ereignisse
Vor fünf Monaten war ich noch Wahrsagerin in den Elfenländern, und zwar im Bezirk des Abnehmenden Mondes – meine Schwester Yeeran würde wollen, dass ich das betone, denn sie ist immer stolz auf unsere Herkunft gewesen. Daran hat sich auch nichts geändert, nachdem sie von ihrer eigenen Geliebten, dem Oberhaupt Salawa, in die Verseuchten Sümpfe verbannt worden war. Obwohl Yeeran und ich häufig Meinungsverschiedenheiten hatten, kam es für mich nicht infrage, sie völlig allein den Schrecken der Wildnis zu überlassen.
In der Absicht, sie zurück nach Hause zu holen, folgte ich ihr in die Länder jenseits unserer Grenzen. Rayan, Yeerans einstiger Oberst, begleitete mich – obwohl ich sie auch allein hätte retten können, wie ich hinzufügen möchte –, und gemeinsam machten wir uns auf die Suche nach meiner Schwester.
Auf dieser Reise habe ich die Worte vorausgesagt, die mich bis heute heimsuchen: Ein im Sturmnebel Geborener soll dein Geliebter sein. Aber wenn sich der abnehmende Mond wandelt, wirst du ihm den Tod gewähren.
Ich konnte ja nicht ahnen, dass ich die Liebe zu Rayan, die ich zum jetzigen Zeitpunkt empfinde, damit prophezeit hatte. Wenn ich ehrlich bin, gehörte ihm mein Herz schon damals.
Yeeran hatte unterdessen einen Obeah gejagt – eine der Kreaturen, deren Fell vom Volk des Abnehmenden Mondes zur Erzeugung von Trommelfeuer, einer Kriegswaffe, verwendet wird. Mit ihren katzenartigen Körpern, die von onyxschwarzem Haar bedeckt sind, und ihren verzweigten perlmuttartigen Hörnern verfügen die Obeah sowohl über die Schnelligkeit eines Leoparden als auch die Kraft eines Hirschs. Yeeran hatte gehofft, mit dem Fell des größten Obeah, den sie je gesehen hat, zu Oberhaupt Salawa zurückkehren zu können und dank dieser ungemein wertvollen Trophäe Straffreiheit für ihre Verbrechen zu erlangen.
Am Tag nach unserer Wiedervereinigung im Exil gelang es Yeeran, ihre Beute zu erlegen. Allerdings fand Yeeran durch den Tod dieser Kreatur keine Freiheit, stattdessen wurden wir alle zu Gefangenen der Fae: Obeah und Fae sind nämlich miteinander verbunden, was wir nicht wussten, und indem man einen Obeah umbringt, tötet man auch die dazugehörige Fae. Yeerans Tat war in den Augen unserer Verfolgerinnen und Verfolger demzufolge das schwerste aller Verbrechen – Mord.
Vielleicht sollte ich hier eine Pause einlegen. Ja, Fae existieren. Wir hatten nicht den blassesten Schimmer, da sie seit über tausend Jahren nicht mehr gesichtet worden waren. Und unsere Geschichtsbücher … Darin steht nicht etwa die Wahrheit, vielmehr wird dort behauptet, dass Fae und Menschen vor langer Zeit ausgestorben seien. Im Gegensatz dazu erzählen die Überlieferungen der Fae von einem Fluch, der sie in einer unterirdischen Höhle festhält, einem wunderschönen Gefängnis namens Mosima, über das die Königinnen der Jani-Dynastie herrschen, die Schwestern Chall und Vyce.
Yeeran wurde eingesperrt, und ihr Zellennachbar war ein älterer Elf, der Komi genannt wurde. Im Gegensatz zu ihm lautete ihre Strafe allerdings nicht nur Gefängnis, denn dafür war ihr Verbrechen zu schwerwiegend: Yeeran wurde von den Königinnen zum Tode verurteilt, denn der Obeah, den sie getötet hatte, war jener des Prinzen von Mosima.
Ich will mich nicht damit aufhalten, wie groß mein Schmerz in dem Augenblick war, in dem ich erfuhr, dass Yeeran hingerichtet werden sollte. Aber ich weiß, dass dies eine Wunde ist, die niemals verheilen wird. Eine Erinnerung, die ewig schmerzen wird.
Doch kurz vor der Vollstreckung stieß Yeeran auf den Obeah Pila, oder, besser gesagt, Pila stieß auf sie – ich bin mir nicht sicher, wie genau das funktioniert. Jedenfalls wurde Yeeran faeverbunden, wodurch ihre Seele ein unverbrüchliches Band mit ihrem Obeah einging.
Und nein, mir erging es nicht so. Keiner weiß, warum Yeeran, eine Elfe, faeverbunden wurde, aber es ist passiert und hat ihr zum Glück das Leben gerettet. Auch Komi wurde begnadigt, da Yeeran seine Freilassung zu einem Teil ihrer Verhandlungen mit den Königinnen machte.
Wir vier – Yeeran, Komi, Rayan und ich – lebten zusammen in einer ruhigen Ecke des Palasts. Unter der Erde verliefen die Monate quälend langsam, aber mir wurde eine gewisse Freiheit zuteil. Ich verbrachte meine Tage damit, die Faesprache von Golan zu erlernen, einem Stylisten, der sich als mein einziger Freund unter den Fae erwies. Ausgestattet mit diesem neuen Wissen versuchte ich, den Fluch zu verstehen, der die Grenze zwischen dem Reich der Fae und jenem der Elfen versiegelt.
Meine Nachforschungen führten mich zu einer alten Fabel, Die Geschichte des Weizens, der Fledermaus und des Wassers, in der von den drei Gottheiten und den drei von ihnen geschaffenen Wesen die Rede ist. Dort stieß ich auf eine uralte Prophezeiung, die vor über tausend Jahren erstmals ausgesprochen wurde:
Für immer wird der Krieg wüten, bis die drei vereint sterben werden.
Erst fallen die Menschen, dann die Fae tiefer gar,
Zuletzt die unwissenden Elfen, ihrer Macht bar,
Verflucht, auszuharren, verflucht, zu überleben.
Alle werden vergehen, wenn nicht alle drei gedeihen.
Ich habe bisher nicht die geringste Ahnung, worum es dabei geht. Aber ich werde es herausfinden, und danach wird die Welt wieder in Frieden existieren.
Yeeran war derweil gezwungen, unter Furi zu trainieren, der Kommandantin der Faewache und Schwester des Prinzen, den Yeeran getötet hatte. Es dauerte nicht lange, bis aus ihren Kämpfen Küsse wurden.
Auch ich fand Trost in den Armen eines Liebhabers, nämlich in jenen von Rayan, aber erst, nachdem die Jani-Dynastie von einer Katastrophe heimgesucht wurde: Die Königinnen Vyce und Chall wurden ermordet.
Ich hatte ihren Tod viele Monate zuvor vorausgesagt, war jedoch nicht in der Lage gewesen, die Prophezeiung richtig zu deuten. Ich gelobe, dass mir ein derartiger Fehler nicht noch einmal unterlaufen wird!
In den Tagen darauf fing der Baum der Seelen – ein riesiger Affenbrotbaum, der über den Fluch mit der Jani-Dynastie verbunden ist – damit an, sich mit den neuen Herrschenden zu verbinden.
Alle erwarteten, dass Nerad und Furi, die einzigen verbliebenen Kinder von Vyce und Chall, die Thronfolge antreten würden.
Für Furi löste sich diese Annahme ein, denn der Baum erwählte sie. Aber als Zweites wurde kein anderer als Rayan zum König gekrönt. Mein Geliebter, dessen Faeherkunft nicht einmal ihm selbst bekannt war.
Dann enthüllte sich ihm die wahre Tragödie: Najma, der Prinz, den Yeeran ermordet hatte, war sein Vater. Rayans Leben war schon immer von Schmerz gezeichnet gewesen. Seine Mutter war ebenfalls getötet worden, als er noch ein Kind gewesen war, abgeschlachtet vom tyrannischen Oberhaupt Akomido.
Und Akomido … war in Wirklichkeit Komi. Wieso uns das entgangen war, wird mir auf ewig ein Rätsel bleiben. Aber es war prophezeit worden, dass Komi durch Rayans Hand sterben würde, und so verließ Oberhaupt Akomido dieses Leben begraben unter Stein, den Rayan aus der Erde heraufbeschworen hatte.
Allerdings starb Komi nicht als Einziger. Auch Nerads Verrat wurde aufgedeckt – es stellte sich heraus, dass er hinter dem Mord an den Königinnen steckte, da sich seine politischen Allianzen drastisch von jenen seiner Familie unterschieden.
Wir nähern uns dem Ende der Geschichte, und mir tut auch langsam die Hand weh. Ich bin mir nicht sicher, ob meine Schmerzen vom Schreiben kommen oder von dem, was ich als Nächstes zu Papier bringen muss.
Denn es wurde noch ein Rätsel gelöst, vor dem wir seit dem Moment, der zu Yeerans Verbannung geführt hatte, standen. An jenem Tag befand sie sich auf dem Schlachtfeld, und ihre Bogenschützen schossen auf die gegnerische Halbmondarmee. Doch deren Pfeile prallten einfach ab, als stünde der Feind hinter einer Mauer aus Glas.
Aber es war kein Glas – es war Faemagie.
Die Fae hatten ein Bündnis mit dem größten Widersacher des Abnehmenden Mondes geschlossen – mit dem Halbmondbezirk. Im Austausch gegen kampfkräftige Faetruppen sollte das Halbmondvolk den Fae ihr altes Territorium wieder überlassen. Die Fraediakristalle unter dem Blutfeld waren in Wirklichkeit keine zu plündernde Mine, sondern die einstige Heimat der Fae.
Als Yeeran diese Nachricht erhielt, verließ sie Mosima.
Sie verließ Furi.
Und mich.
Nur, um ihre frühere Geliebte, Oberhaupt Salawa, vor den Machenschaften der Fae zu warnen.
Wird Yeeran erfolgreich sein? Ich habe wieder und wieder meine Talismane geworfen, um das Schicksal zu befragen.
Doch es hüllt sich in Schweigen.
Ich hinterlasse diese Worte, auf dass sie in der Zukunft gefunden werden. Auf diesen Seiten schildere ich die Maßnahmen, die wir gezwungenermaßen ergreifen mussten. Ihr werdet verstehen, warum Ihr den Weg fortsetzen müsst, den wir eingeschlagen haben.
Die Ältesten behaupten, dass die Welt einst ein friedlicher Ort war – bevor die Gottheiten beschlossen, ihren Kindern Leben einzuhauchen. Die Gottheit Asase erschuf meine Geschwister – die Menschen – aus den Samen des Waldes und verlieh uns die Magie, die Sprache der Bäume und Tiere zu beherrschen. Es heißt, dass unsere Macht einst so groß war, dass wir mit ihr alle schönen Dinge dieser Welt erschaffen konnten – die Farben einer Pfauenfeder, das Herz einer Lotusblume, die Pracht der Blauwale im offenen Meer.
Doch dann erschuf die Gottheit Ewia die Fae aus Sonnenstrahlen, und die Gottheit Bosome formte die Elfen aus den Wassern der Erde. Die ungeheuerliche Macht der Menschen wurde von den Fae und den Elfen begehrt, verehrt – und bekämpft.
Allmählich zogen wir uns aus den großen Kriegen der Welt zurück, als unsere Zahl schrumpfte, als unsere Macht schwand und als unser Wissen zunehmend gestohlen wurde oder verloren ging.
Ich habe es mir zur Lebensaufgabe gemacht, alle Überbleibsel der menschlichen Magie zusammenzutragen und diese Geheimnisse in die Seiten dieses Grimoires einfließen zu lassen.
Möge es Eure Rettung sein.
Yeeran war nicht allein im Wald. Obwohl sie nichts und niemanden sah, spürte sie ein Kribbeln auf der Haut, als ob sie beobachtet würde.
Es war nun fünf Tage her, dass sie mit Pila Mosima verlassen hatte. Fünf Tage, seit sie davon erfahren hatte, dass die Fae das Halbmondvolk unterstützten.
Und mit jedem verstreichenden Tag sterben mehr Mitglieder meines Volkes durch ihre Hand. Der Gedanke richtete sich zwar nicht direkt an Pila, doch sie reagierte trotzdem.
Furi sagte, sie würden die Faetruppen zurückrufen.
Und wenn wir zu spät kommen?
Yeerans Obeah antwortete nicht, und sie war froh darüber, denn sie durfte nicht länger an das Gemetzel denken, das sie im Bezirk des Abnehmenden Mondes mit Sicherheit erwarten würde.
Sie drangen tiefer in den Wald vor, und Yeerans Unbehagen nahm zu.
Obwohl die Reise durch die Verseuchten Sümpfe beschwerlich gewesen war, schätzte sie sich glücklich, weil ihnen niemand begegnet war. Bis jetzt.
Kannst du jemanden in der Nähe spüren, Pila?
Pila reckte die Schnauze gen lilafarbenen Himmel und schnupperte. Ich rieche nichts.
Für Yeeran hing der Geruch nach Moos und Sumpfwasser in der Luft, aber sie wusste, dass Pilas Nase weitaus mehr wahrnehmen konnte als ihre eigene.
Bist du dir sicher?, hakte Yeeran nach. Ich habe das Gefühl, als würde uns jemand beobachten.
Nur die Tiere und Pflanzen, versicherte Pila ihr.
Die Verseuchten Sümpfe waren eine raue Landschaft mit ebenso vielen giftigen Pflanzen wie Tieren. Der Boden war morastig und verwandelte sich häufig unverhofft unter den Füßen in Treibsand.
Sie betraten eine Lichtung, auf der die Erde fester war. Gesäumt von Zypressen und Eukalyptusbäumen bot sie zumindest etwas Schutz vor dem Wetter. Da sich der Himmel über ihnen verdunkelte, schien mit dem Sonnenuntergang auch der Regen zu kommen, gegen den sie hier einen optimalen Platz zum Übernachten gefunden hatten.
Yeeran glitt von Pilas Rücken und sah sich um. Trotz Pilas Zusicherung ließ ihre Unruhe nicht nach.
Es gab Gerüchte über gewalttätige nomadische Elfen, aber diese Geschichten waren unbegründet und wahrscheinlich nur erfunden worden, um Fellhändlerinnen und -händler abzuschrecken, die versuchten, in diesem gesetzlosen Land Geschäfte zu machen.
Was sind Fellhändlerinnen und -händler?, fragte Pila.
Du weißt doch, dass Obeahfell in den Elfenländern wegen seiner Magie sehr begehrt ist?
Pila erschauderte neben ihr. Ja.
Dunkle Haut wie meine wird Ahnungslosen gern als Obeahleder verkauft. Elfen lassen sich schließlich leichter fangen als Obeah.
Pila winselte. Ich mag deine Haut.
Yeeran streichelte Pilas Fell. Keine Sorge. Ich lasse nicht zu, dass mir jemand wehtut.
Trotz ihrer anhaltenden Bedenken wusste Yeeran, dass die beiden keinen besseren Platz zum Ausruhen finden würden. Sie nahm ihren Rucksack ab und machte sich daran, ihren Schlafsack auszubreiten.
Eine plötzliche Brise wirbelte durch das Geäst und ließ die Blätter der Eukalyptusbäume und Zypressen rauschen. Yeeran schloss die Augen, atmete den Duft ein und versuchte, ihre Nerven zu beruhigen.
Pila legte die Ohren an und reckte den Hals.
Was ist?, fragte Yeeran.
Ich dachte, ich hätte etwas gerochen, aber es ist weg.
Jegliche Gelassenheit, die Yeeran heraufbeschworen hatte, verflog sogleich wieder.
Sie ging in eine tiefe Hocke und schwang ihre Trommel vor sich. Ihre Finger tanzten über die Oberfläche, während sie suchend durch die Bäume spähte.
Krah-rah, krah-rah, krah-rah.
Der Ruf des Vogels hallte auf schaurige Weise über die Lichtung. Yeeran konnte den Vogel nicht bestimmen und wusste daher, dass es ein Signal unter Elfen gewesen sein musste.
Jagende.
Das war die einzige Erklärung. Warum sonst sollte sich eine Gruppe von Elfen an den Rand der Verseuchten Sümpfe wagen? Aufgrund von Überjagung gab es kaum noch Obeah in den Wäldern der Elfenländer, demzufolge waren die Jagenden gezwungen, weiter entfernt nach Beute zu suchen.
Pila scharrte nervös mit den Pfoten. Yeeran streckte den Arm aus und kraulte sie zwischen den Hörnern. Niemand wird uns etwas antun, versicherte sie ihr.
Die Elfen hatten keine Ahnung, dass es ein Band zwischen einem Obeah und der Seele einer Fae gab – tötete man den Obeah, starb auch die Fae. Der Zustand der Faeverbundenheit war ausschließlich den Fae vorbehalten – jedenfalls bis Yeeran und Pila einander gefunden hatten und sie zur ersten Elfe mit Faemagie wurde.
Krah-rah, krah-rah, krah-rah. Das Geräusch wurde immer lauter, zumindest hatte Yeeran diesen Eindruck.
Du musst fliehen, Pila, verlangte Yeeran.
Pila schnaubte. Ich werde nicht von deiner Seite weichen.
Getrennt sind wir weitaus flinker. Wenn sie mich sehen, werden sie nichts weiter tun. Wenn sie dich sehen, werden sie dich töten.
Pila stieß ein tiefes kehliges Knurren aus, als wollte sie sagen: »Sie könnten es ja mal versuchen.«
Yeeran beugte sich vor und drückte ihre Stirn gegen die des Obeah. Sie schob die Hände in das struppige Fell und umarmte Pila. Es war ein seltsames Gefühl, einen Teil der eigenen Seele in den Armen zu halten. Als würde sie einen Spiegel berühren, aber statt Glas Fell und Wärme an den Fingern spüren.
Ich kriege keine Luft mehr, sagte Pila.
Yeeran ließ lächelnd Pilas Hals los. Geh jetzt. Schlag einen großen Bogen um die Lichtung. Wir sehen uns auf der anderen Seite.
Der Obeah verschwand im Unterholz, und sein schwarzes Fell glich kurz den Schatten auf den Farnwedeln, dann war er fort.
Man vergaß rasch, dass Pila ein Geschöpf des Waldes war. Allerdings galt dasselbe für Yeeran, dafür hatte ihr Vater schließlich gesorgt.
Seitdem sich die beiden der Grenze zum Halbmondbezirk genähert hatten, war das Gelände weniger sumpfig, aber immer noch feuchter, als Yeeran lieb war – auf trockenem Boden erzeugte man weniger Geräusche.
Sie bewegte sich in gleichmäßigem Tempo durchs Unterholz und setzte die Füße fast lautlos auf.
»Bei jedem Schritt rollst du den Fuß vom Ballen zur Ferse ab«, hatte ihr Vater sie einst ermahnt. »Und beweg dich schnell. Je schneller der Takt, desto leichter lässt sich der Rhythmus beibehalten.«
Yeeran hatte ihren Vater verehrt, aber er war mit ihrer Entscheidung, sich der Armee des Abnehmenden Mondes anzuschließen, nicht einverstanden gewesen, und sie hatten sich im Streit voneinander getrennt. Dann hat Lettle ihn umgebracht … Der Gedanke ließ Yeeran straucheln, woraufhin sie über eine aus der Erde ragende Wurzel stolperte und auf dem Rücken landete.
Vögel stoben von den Ästen über ihr auf, und Yeeran zuckte bei dem Geräusch zusammen, das sie verursacht hatte. Sie spürte eine Welle der Besorgnis, die aufgrund der Verbindung mit Pila über sie hereinbrach.
Mir geht’s gut, ich bin nur gestürzt.
Fall nächstes Mal einfach nicht, erwiderte Pila nüchtern.
Yeeran lag da und spitzte die Ohren, doch der Rhythmus des Waldes blieb unverändert, nur die Vogelstimmen waren verstummt.
Die Sonne ging unter, und die nächtliche Dunkelheit verdichtete sich in den Schatten der Bäume. Yeeran wollte unbedingt Abstand zwischen sich und die Jagenden bringen, bevor sie sich schlafen legte.
Sie wartete noch kurz ab, bevor sie aufstand, als sich plötzlich etwas im Blätterdach über ihr bewegte und sie innehielt.
Es sah zu groß aus, um eine Kreatur der Verseuchten Sümpfe zu sein – die Tierwelt hier bestand hauptsächlich aus Vögeln und Reptilien. Aber dieses Tier hatte lange Arme und Beine, die es weit ausstreckte, als es von Baum zu Baum hüpfte. Yeeran beobachtete die Gestalt und war fasziniert von ihrer Behändigkeit. Ohne Vorwarnung schnellte sie auf einmal am nächsten Baumstamm herunter und auf Yeeran zu.
Yeeran setzte sich auf und legte die Hände an die Trommel, aber es war zu spät. Die Gestalt stand bereits über ihr.
Mit dem Licht des Sonnenuntergangs im Rücken konnte sie gerade mal die weißen Zähne des Mannes sehen, als er sagte: »Hallöchen.«
Yeeran erstarrte. Es dauerte einen Moment, bis ihre Augen ihn richtig erfassen konnten. Sein Grinsen, das sie zunächst für unheimlich gehalten hatte, breitete sich schief und spitzbübisch über seine Wangen aus und ließ ihn jünger aussehen als die vierzig Jahre, die er vermutlich war.
»Hallo«, erwiderte sie unsicher.
»Du scheinst dich verirrt zu haben.« Der Mann reichte ihr eine Hand an, um ihr aufzuhelfen.
Yeeran war sich nicht sicher, warum sie danach griff, aber er hatte etwas an sich, das nicht bedrohlich wirkte.
Das sind die Leute, vor denen man sich am meisten in Acht nehmen sollte, riet Pila ihr aus der Ferne.
Stimmt, antwortete Yeeran.
Yeeran stand auf und strich sich den Staub von der Kleidung.
»Habe ich dich eben von einem Baum herunterklettern sehen?«
Der Mann wippte mit dem Kopf, wobei ihm das blonde Haar über die Augen fiel. Er schob es mit einer schwieligen Hand weg.
»Ja, wir Nomaden schlagen unser Lager in den Baumwipfeln auf.«
»Nomaden?« Sie beäugte ihn kritisch.
Sein Blick zuckte kurz zu ihr, bevor er zur Seite schaute. »Ja, Nomaden«, wiederholte er mit einem Hauch von Entschlossenheit.
Er hob Yeerans Trommel auf, die ihr beim Stolpern von der Schulter gerutscht war. Sie kniff die Augen zusammen, als er mit den Fingern leicht über das Fell strich, und sie fragte sich, ob er merkte, dass es kein Obeahleder war.
Eine Sekunde lang glaubte sie schon, er würde sie ihr nicht zurückgeben, woraufhin sie sich anspannte, um notfalls darum zu kämpfen.
Dann sagte er leise: »Ich bin immer wieder erstaunt, wie etwas so Schönes solche Gewalt hervorrufen kann.« Er hielt ihr die Trommel hin.
Seine Worte entwaffneten sie für einen Moment, doch dann schnappte sie sich ihre Waffe und schwang sich den Riemen über den Kopf, bevor sie erwiderte: »Alles, was schön ist, kann ein Kriegswerkzeug sein. Es kommt immer darauf an, wer die Waffe führt.«
Der Mann legte den Kopf schief. »Ja, einige der schönsten Pflanzen sind Zutaten für die giftigsten Tinkturen.«
Sie standen einen Moment lang schweigend da, während der Himmel um sie herum dunkler wurde. Dann lächelte der Mann erneut. »Ich bin Alder, benannt nach der Erle, und es ist die Art der Nomaden, jeden Elfen, den wir in der Wildnis treffen, zu einer warmen Mahlzeit einzuladen.«
»Ihr seid wirklich nomadische Elfen?«, staunte Yeeran. Er sah nicht wie ein primitiver Kannibale aus, der in den Geschichten beschrieben wurde.
Sein Grinsen wurde breiter. »Das sind wir. Keine Regeln außer jenen des Waldes.«
Obwohl sie seine Einladung schon aus purer Neugier gern angenommen hätte, traute sie Alder nicht und schüttelte den Kopf. »Ich muss leider weiter.«
Alder machte ein enttäuschtes Gesicht. »Bist du sicher? Das heutige Festmahl wird das beste des Jahres, weil einige Nomaden gerade von ihrer Handelsreise in den Halbmondbezirk zurückgekehrt sind. Dabei machen sie immer halt auf dem Markt, um zahlreiche Gewürze mitzubringen.«
Yeerans Interesse war geweckt, nicht wegen des Essens, sondern wegen der Informationen, die diese Handelnden möglicherweise besaßen.
Du ziehst das doch nicht ernsthaft in Betracht, Yeeran?, fragte Pila aus der Ferne.
Es ist besser, auf das, was uns in den Elfenländern erwartet, vorbereitet zu sein. Diese kleine Verzögerung könnte sich auf lange Sicht als hilfreich erweisen.
Das gefällt mir nicht. Warum sollten sie eine Fremde zum Essen einladen?, erwiderte Pila.
Yeeran sprach die Frage des Obeah laut aus.
Alder lachte. »Auf diese Weise wächst unsere Gemeinschaft, denn viele Elfen entscheiden sich dazu, nicht wieder zu gehen.«
Du wirst doch gehen, oder?, fragte Pila.
Ja, natürlich, Pila. Ich würde dich nie im Stich lassen.
Yeeran wandte sich wieder an Alder. »Zeig mir den Weg.«
Sie hatte Alder nicht geglaubt, dass die Nomaden ihr Lager in den Baumwipfeln aufschlugen, doch dann sprang Alder auf den nächsten Baum.
»Ich soll da hochklettern?«
»Es ist ganz leicht. Mach mir einfach alles nach.« Alder hockte sich auf einen Ast über ihr. Er trug keine Schuhe, und seine Kleidung bestand aus locker gewebtem Hanf, wodurch er perfekt mit dem Wald verschmolz.
Perfekt für die Jagd, dachte sie. Vielleicht lügt er und lockt mich in den Tod.
Meinst du, er könnte ein Fellhändler sein?, fragte Pila, und als Yeeran über ihre Verbindung spürte, wie besorgt ihr Obeah war, zuckte sie zusammen.
Nein, Pila. Das glaube ich nicht. Es war nur ein beiläufiger Gedanke.
Irgendwo weiter im Süden fuhr Pila ihre Krallen aus.
»Kommst du?«, rief Alder.
Nach einigen Fehlstarts kletterte sie den Eukalyptusbaum hinauf. Als sie etwa zwei Meter vom Boden entfernt waren, sprang Alder in die Luft. Yeeran schrie auf und rechnete damit, ihn abstürzen zu sehen, aber etwas fing ihn auf.
Sie näherte sich und betrachtete im schwindenden Sonnenlicht, was sich da vor ihr befand: silbrige Fäden, die sich wie ein Spinnennetz und vielfach verknotet von einem Baum zum anderen zogen. Als sie genauer hinsah, entdeckte sie das Glitzern weiterer gitterartiger Stränge, die sich über viele der Bäume um sie herum erstreckten.
»Seidenranke. Wir ernten sie im Norden und bauen daraus hier unsere Baldachine.« Er winkte sie zu sich.
Kein Wunder, dass wir sie nicht sehen konnten, Pila. Sie waren die ganze Zeit über uns.
Yeeran kroch über die Netze zu einem großen Baldachin in der Mitte, wobei ihr Näherkommen von zahlreichen glitzernden Augen beobachtet wurde.
»Leute, das ist …« Alder hielt inne und stellte fest, dass sie ihm noch gar nicht ihren Namen genannt hatte.
»Yeeran«, ergänzte sie leicht atemlos. Ihr klopfte das Herz bis zum Hals, da sich die Seidenranke unter ihr bewegte.
Mehrere Nomaden nickten ihr lächelnd zu. Es waren etwa fünfzig Elfen jeden Alters und Geschlechts. Nur eines verband sie miteinander: Sie alle hatten Schnitte in den Ohren, woran man die unehrenhafte Entlassung aus ihren jeweiligen Armeen erkennen konnte. Auch Alders Ohrenspitzen waren aufgeschlitzt worden, so wie es in der Halbmondarmee üblich war.
»Wie lange seid ihr schon hier oben?«, fragte Yeeran, während sie sich vorsichtig im Schneidersitz niederließ.
Alder setzte sich neben sie. »Ein paar Tage. Viel länger verweilen wir an keinem Ort.«
Ein junger Elf von etwa zehn oder elf Jahren hopste mit zwei Tonbechern in der Hand herbei. Yeerans Knöchel liefen weiß an, als sie sich an der Seidenranke festkrallte.
»Nesselwein?« Der Junge bot Yeeran einen Becher an.
Sie löste die Finger vom Baldachin und nahm den Becher entgegen. Das Getränk war süß und wärmend.
»Danke«, sagte sie zu dem Jungen, der Alder mit einer respektvollen Verbeugung den anderen Becher reichte.
Nachdem er gegangen war, fragte Yeeran Alder: »Bist du der Anführer der Nomaden?«
Leises Kichern und einige Lacher stiegen aus der Gruppe auf. Alder lächelte. »Wir folgen weder Regeln noch Herrschenden. Aber ich bin der Wanderer der Nomaden und lenke unsere Schritte.«
»Und wohin führen dich deine Schritte?«
Alders Augen glitzerten im Mondlicht. »Wohin die Ströme fließen und die Winde wehen.«
Die Nomaden hoben ihre Becher gen Himmel und riefen ihm zu: »Die Nomaden beschreiten keinen Weg.«
Es handelte sich eindeutig um einen häufigen Ausspruch, der Yeeran ein Gefühl dafür vermittelte, wer diese Leute waren. Und sie waren eindeutig keine Jägerinnen und Jäger.
»Was machst du in den Verseuchten Sümpfen, Yeeran?«, fragte Alder, nachdem er einen Schluck getrunken hatte.
»Ich bin auf der Suche nach einer Blume«, antwortete Yeeran leise. »Um die Krankheit eines Freundes zu heilen.«
Bei der Lüge dachte sie an ihre Schwester, die sich bestens mit Kräutern und ihren Anwendungsgebieten auskannte.
Alder lehnte sich auf dem Seidenrankennetz zurück und überkreuzte die Fußknöchel. Er gehörte zu jenen Personen, die sich ihrer eigenen Schönheit nicht bewusst zu sein schienen. Sein Gesicht war so symmetrisch geformt, als wäre es aus Marmor gemeißelt worden.
»Ah, Mia!«, rief er.
Eine Frau mit obsidianschwarzem Haar schritt über die schwankende Seidenranke, als wäre diese so stabil wie Ziegelstein. Sie hielt einen großen Kochtopf in den Händen. Der Geruch, der davon ausging, ließ Yeerans Magen knurren.
»Das Essen ist fertig«, verkündete Mia laut. Als die Gruppe kurz zögerte, fügte sie mit finsterem Blick hinzu: »Keine Sorge, ich habe es nicht gekocht, sondern nur hergebracht. Gebackene Süßkartoffeln, gefüllt mit Haselnüssen und knusprigem Moos – oh!« Mia bemerkte Yeeran. »Wer bist du?«
»Yeeran«, erwiderte sie, bevor Alder es für sie tun konnte. »Ich war in den Verseuchten Sümpfen auf der Suche nach einer Blume, einem Heilmittel für meinen kranken Freund. Dort bin ich Alder begegnet, und er hat mich zum Essen eingeladen.«
Die wiederholte Lüge klang selbst in Yeerans Ohren hölzern, aber Mia zog nur eine Augenbraue hoch und sah Alder liebevoll an, bevor sie meinte: »Natürlich hat er das. Hier, nimm eine Süßkartoffel, bevor du nur noch eine der matschigen vom Boden abbekommst.« Sie reichte ihr den Topf.
Yeeran griff nach dem lederartigen Gemüse. Die braune Schale diente sowohl als Nahrung als auch als Gefäß für die Füllung und die Gewürze, sodass sie keinen Teller benötigte.
Beim Kauen musste sie ein Stöhnen unterdrücken. Die Süßkartoffel war köstlich, buttrig, nussig und dezent gewürzt und prickelte auf der Zunge.
Alder beobachtete sie mit vielsagendem Lächeln. »Ich sagte doch, dass wir nach dem Handel mit dem Halbmondvolk immer schlemmen.«
Das Netz unter ihnen schwankte, als weitere Nomaden nach vorn stürmten, um sich etwas zum Abendessen zu holen.
Mia bemerkte, wie Yeeran erstarrte, und versicherte ihr: »Keine Sorge, die Seidenranke zerreißt nie. Na ja, einmal ist es doch passiert, aber das ist schon eine Weile her, und da war sie nicht richtig geknüpft.«
Das war nicht so beruhigend, wie Mia vielleicht geglaubt hatte.
Yeeran wagte es, sich zu bewegen, und nahm sich eine weitere Süßkartoffel. »Wie kocht ihr hier oben?«, erkundigte sie sich, bevor sie herzhaft hineinbiss.
»Gar nicht«, antwortete Alder. »Wir backen unser Essen mit heißen Kohlen in der Erde, um die Tiere nicht durch den Feuerrauch zu stören.«
Das waren ganz eindeutig keine Jägerinnen und Jäger. Dies waren auch nicht die unzivilisierten nomadischen Elfen, von denen sie in den Geschichten gehört hatte. Die Welt, die sie oberhalb der Baumgrenze errichtet hatten, erschien ihr zwar furchterregend, aber auch genial.
»Was für eine Blume suchst du denn genau? Vielleicht können wir dir ja helfen?«, fragte Mia und setzte sich neben sie. »Alder kennt jede Pflanze, jeden Stein und jedes Lebewesen im Wald.«
»Sie ist … lila mit gelber Mitte …« Yeeran versuchte, sich eine genauere Antwort einfallen zu lassen, aber hatte noch nie eine lebhafte Phantasie gehabt, ganz im Gegensatz zu Lettle.
Mia sah zu Alder hinüber, der den Kopf schüttelte. Yeeran war sich nicht sicher, ob die Geste »Ich weiß es nicht« oder »Hör auf, Fragen zu stellen« bedeutete.
Auf jeden Fall war Yeeran dankbar dafür, dass Mia nicht länger in sie drang.
Nachdem sie die Kartoffel verspeist hatte, fragte Yeeran: »Was gibt es für Neuigkeiten über den Ewigen Krieg? Ich bin schon einige Zeit von meinem Volk getrennt.«
Einst war der Ewige Krieg Yeerans einziges Ziel gewesen. Die Fraediakristalle unterhalb des Schlachtfelds hatten einen Jahrhunderte andauernden Krieg heraufbeschworen, denn sie waren ein kostbares Gut und schufen die idealen Bedingungen für den Anbau von Pflanzen und das Heizen von Häusern unter jeglichen Wetter- oder Umweltbedingungen. Zudem dienten sie als optimaler Brennstoff und Dünger.
Als Kommandantin in der Armee des Abnehmenden Mondes hatte Yeeran daran geglaubt, dass ihr Volk ein Recht auf diese Kristalle hätte, und deswegen Krieg gegen die drei anderen Elfenvölker geführt. Obwohl sie ins Exil geschickt worden war, galt ihre Treue weiterhin ihren Leuten.
Jemand zu Yeerans Linken antwortete. They stellte sich als Damal vor, und their Stimme knisterte wie Feuer, nur ohne die dazugehörige Wärme. »Das Halbmondvolk hat an Boden gewonnen. Seine neue Magie ist nur schwer zu überwinden.«
»Neue Magie?«, fragte Yeeran vorsichtig.
Damal zog die dicken Brauen zusammen. »Du bist in der Tat schon sehr lange unterwegs.«
»Fast vier Monate.«
»Ah, etwa zu der Zeit hat das Volk des Abnehmenden Mondes das Manöver des Halbmondvolkes zum ersten Mal gesehen. Eine Kommandantin aus der Armee des Abnehmenden Mondes wurde deswegen verbannt. Aber es brauchte noch weitere Zwischenfälle, bis sie endlich erkannten, dass das Halbmondvolk über eine neue Form der magischen Verteidigung verfügt: unsichtbare Schilde.«
Yeeran zwang sich zu einem entsetzten Gesichtsausdruck. »Unsichtbare Schilde? Wie soll das gehen?«
Damal zuckte mit den Achseln. »Das weiß keiner.«
Aber Yeeran wusste: Es war Faemagie.
»Offenbar wurde ein Drittel der gesamten Armee des Abnehmenden Mondes ausgelöscht«, berichtete Damal. »Die Bürgerinnen und Bürger protestieren. Aber auch im Mondfinsternisbezirk und im Bezirk des Zunehmenden Mondes grassieren Unruhen. Überraschenderweise ist der Halbmondbezirk als Einziger stabil.«
Der Nesselwein blieb Yeeran in der Kehle stecken, und sie musste würgen. Ein Drittel der Armee des Abnehmenden Mondes? Das war ihre Familie gewesen, waren ihre Freunde. Ihr Volk.
Mia klopfte ihr auf den Rücken, allerdings ein bisschen fester als vielleicht nötig. »Besser?«, erkundigte sie sich und schlug zur Sicherheit noch einmal zu.
»Ja, danke«, krächzte Yeeran.
Alder musterte Yeeran, und sie bemühte sich um eine neutrale Miene. Dabei war sie in Wahrheit am Boden zerstört.
Ihre Entschlossenheit wuchs. Ich kann verhindern, dass noch mehr sterben müssen. Möglicherweise beende ich mit den Neuigkeiten, die ich überbringe, sogar den Krieg.
Wenn ihr das nicht gelang, hätte sie Furi ganz umsonst das Herz gebrochen.
Yeeran versuchte, Furi aus ihren Gedanken zu verdrängen. Doch als sie die Lider schloss, tauchte das Bild der in Sonnenlicht gebadeten Fae vor ihr auf, deren Haar wie ein goldener Strahlenkranz schimmerte. Yeeran presste sich die Handballen auf die Augen und versuchte, den Schmerz zu lindern, der sich dahinter ausbreitete.
Mia deutete diese Geste als Zeichen der Müdigkeit. »Ich bin auch erschöpft und werde mich lieber zurückziehen.«
»Möchtest du bei uns bleiben, Yeeran?«, fragte Alder. »Auf Mias Baldachin ist noch Platz. Ihr Partner ist heute Abend nicht da.«
Pila? Bist du an der Grenze sicher?
Ja.
Ich verbringe die Nacht wohl besser hier. Sie scheinen mir nichts Böses zu wollen, und es wäre schön, zur Abwechslung mal eine Nacht durchzuschlafen.
Pila gähnte irgendwo in der Ferne. In Ordnung. Schlaf gut, denn ich werde das auch tun.
»Yeeran?«, hakte Alder nach.
»Oh, entschuldige. Ja, ich würde gern hier schlafen. Danke.«
Mia führte sie weiter auf dem Netz in die Baumkronen hinein. Sie tänzelte mühelos vor Yeeran über die Konstruktion, wobei ihr das lange Haar in Wellen bis zu den Kniekehlen fiel. Genau wie Alder war auch sie einst aus der Halbmondarmee entlassen worden, daher hatte man ihr die Ohrenspitzen eingeritzt, allerdings weitaus tiefer als bei Alder.
Sie konnte nicht viele Jahre beim Militär verbracht haben, da sie noch jung war, aber schon so langes Haar hatte. Wie die Armee des Abnehmenden Mondes rekrutierte auch die Halbmondarmee Kinder. Der Gedanke hinterließ einen bitteren Beigeschmack in Yeerans Mund, als sie sich hinter Mia über das Netz bewegte.
»Da wären wir«, trällerte Mia, als sie unter einem geschützten Baldachin inmitten eines Eukalyptusbaums anhielt. »Wenn es regnet, wirst du es nicht einmal merken«, fügte sie hinzu.
»Ich habe Decken und eine Plane dabei«, erwiderte Yeeran.
»Die wirst du wahrscheinlich nicht brauchen.« Mia legte sich direkt auf die Seidenranke. »Ich habe das Netz so eng gewebt, dass es den ganzen Körper umhüllt, und es ist sehr warm.«
Yeeran legte sich neben sie und merkte, dass Mia recht hatte. Sie schlief schnell ein.
Yeeran wurde schlagartig wach. Sie hatte sich bis an den Rand des Seidennetzes gerollt und presste das Gesicht gegen die Rinde eines Eukalyptusbaums.
Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, als sie sich vorsichtig von der Kante entfernte.
Es war noch mitten in der Nacht, und sie konnte nicht mehr als eine oder zwei Stunden geschlafen haben. Sie spürte die sanfte Präsenz von Pilas Träumen in ihrem Verstand, während der Obeah irgendwo weiter südlich schlummerte. Derweil schnarchte Mia leise neben Yeeran, und ihr Haar hing ihr wie ein Schleier über eine Schulter.
Yeerans Trommel war immer noch an ihrer Seite festgeschnallt und bohrte sich schmerzhaft in ihren Leib. Sie versuchte, sie in eine andere Position zu schieben, hielt aber inne, als sie spürte, dass der Baldachin bebte, als würde jemand darüberlaufen.
Rasch drehte sie sich um und sah einen Schatten auf sich zukommen. Als sich die Person über sie beugte, konnte sie erkennen, wer es war.
»Alder? Was ist los?«, fragte sie.
Seine grauen Augen glitzerten im Mondlicht. »Hudhni iilaa qabri wadeni artaj«, sagte er und stand dann mit offenem Mund da.
»Wie bitte?«
»Hudhni iilaa qabri wadeni artaj«, wiederholte er.
Die Worte ergaben für Yeeran keinen Sinn, und sie spürte, wie ein unbehagliches Kribbeln in ihr aufstieg. Sie griff nach ihrer Trommel, doch in diesem Augenblick machte Alder einen weiteren Schritt auf sie zu und hob die Hände, als wollte er zuschlagen.
»Lass mich in Ruhe!«, schrie sie.
Mia wachte sofort auf. »Was ist hier los?«
Yeeran war nicht bereit, es mit zwei Gegnern aufzunehmen, daher wirkte sie Magie und attackierte Alders Beine.
Obwohl sie Fäden aus Faemagie benutzte, konnte sie diese anders formen als die Fae. Ihre Erfahrung mit dem Trommelfeuer ermöglichte es ihr, kurze kugelförmige Fäden zu erschaffen, doch im Gegensatz zu den Fae musste sie eine Trommel benutzen, um ihre Magie einsetzen zu können.
Alder schrie auf und fiel auf die Knie, als die Kugeln ihn trafen.
»Was machst du denn da?«, kreischte Mia und rannte auf Alder zu.
Andere Nomaden wachten durch den Aufruhr auf, aber Yeeran hatte nicht vor, so lange zu bleiben, bis sie auch gegen diese antreten musste.
Was auch immer Alders Absichten gewesen waren, gut konnten sie nicht gewesen sein, wie Yeeran nun wusste. Hätte ich nur von Anfang an auf mein Bauchgefühl vertraut, schalt sie sich.
Den Baum hinaufzuklettern, war schwer gewesen, aber runter ging es deutlich einfacher. Dazu musste sie bloß einen längeren Magiefaden spinnen.
Bada-dum, bada-dum, bada-dum.
In den Elfenländern beruhte die Magie auf einem Obeahfell, das über eine Trommel gespannt war. Je nachdem, wie diese angeschlagen wurde, entstanden unterschiedliche Geschosse, und die Schallwellen wurden zu Waffen. Yeeran nutzte dasselbe Prinzip, als sie jetzt zu ihrer Magie griff, nur dass die Magie aus ihrem Inneren und nicht von einem Obeahfell stammte. Mithilfe der Intention des Trommelfeuers fokussierte sie ihren Geist.
Bada-dum, bada-dum, bada-dum.
Yeeran schlug die Trommel kontinuierlich und in einem heftigen Stakkatorhythmus an, der die Magie in ihr entfaltete. Im Anschluss konzentrierte sie sich darauf, den Faden so zu beeinflussen, dass er sich um einen Ast wickelte, bevor sie sich ins Nichts stürzte.
Eine Sekunde lang hatte sie das Gefühl zu fliegen, aber dann raste der Boden auf sie zu. Sie ließ die Finger über die Trommel rasseln und lenkte den Faden der Magie zu sich, während sie weiter nach unten sauste. Einen Zentimeter vor dem tödlichen Aufprall hielt er sie fest.
Yeeran? Pilas Gedanken waren noch schlaftrunken, bevor sie plötzlich in Alarmbereitschaft versetzt wurde. Was ist passiert?
Yeeran schilderte ihr den Angriff in knappen Worten.
Ich werde östlich des Bachs warten, der südlich des Lagers verläuft, bestätigte Pila. Schon spürte Yeeran das Echo der über den Boden jagenden Obeahpfoten in ihrem Geist widerhallen.
Beeil dich, Pila.
Dasselbe galt auch für Yeeran.
Es wäre sinnlos gewesen, ihre Schritte verbergen zu wollen. Jetzt kam es auf Geschwindigkeit, nicht auf Lautlosigkeit an.
Sie stürmte hinaus in die Nacht und ließ die Trommel griffbereit vor sich hin und her schwingen. Kämpfen war das Letzte, was sie wollte. Sie besaß zwar Faemagie, aber die Nomaden waren ihr zahlenmäßig weit überlegen.
Daher rannte sie los und schaute nicht zurück.
Zu ihrem Erstaunen kamen keine Pfeile angeflogen, keine Schreie hallten hinter ihr durch die Luft. Dennoch war es eine Erleichterung, wieder mit Pila vereint zu sein.
Sie sprang auf den Rücken des Obeah, und Pila rannte durch den Wald, schneller und immer schneller, bis die Nomaden einem längst vergangenen Albtraum glichen.
Lettle schleuderte ihre Prophezeiungstalismane quer durch den Raum. Einer traf einen Spiegel an der Wand und ließ Glasscherben auf den Boden regnen.
Das war schon der zweite Spiegel, den sie in dieser Woche zerbrach. Beim ersten Mal waren die Scherben in der Nacht beseitigt und der Spiegel ersetzt worden. In solchen Momenten wurde ihr immer deutlich vor Augen geführt, wie viele Dienstboten in den königlichen Gemächern arbeiteten.
Sie stieß einen Seufzer aus und ließ sich rückwärts aufs Bett fallen. Die dicke Bettdecke federte ihren Sturz ab, trug aber nicht dazu bei, ihre Frustration zu lindern.
Seit Yeerans Aufbruch vor acht Tagen hatte Lettle die Talismane stündlich geworfen, doch das Schicksal weigerte sich, ihr etwas über ihre Schwester zu enthüllen.
Ihre Schlafzimmertür ging auf, und Golan spähte durch den Spalt. Er musterte sie fragend, bevor er den zerbrochenen Spiegel beäugte. »Wenn dir dein Aussehen nicht gefällt, hättest du mich früher herrufen sollen, um dein Make-up zu machen.«
Lettle stützte sich auf die Ellbogen. »Was?«
Golan betrat den Raum und zeigte auf die Glasscherben auf dem Boden. »Der Spiegel … Er ist zerbrochen!«
»Ach das. Ich habe die Talismane geworfen.«
Golan fegte einige Glasscherben mit dem Stock weg, bevor er den Raum durchquerte und sich auf die Kante ihres Himmelbetts setzte.
»Hast du immer noch keine Prophezeiung machen können?«, fragte er leise.
Lettle stieß einen heißen Atemzug aus. »Nein. Da ist nichts, rein gar nichts.«
»Was sagt Sahar dazu?«, erkundigte sich Golan.
Lettle hatte den früheren Seher von Mosima – dessen Titel sie nun übernommen hatte – nicht mehr gesehen, seitdem sie am Tag nach Yeerans Abreise in seine Apotheke gegangen war. Sie dachte an jenen Moment zurück, der nun schon über eine Woche zurücklag.
»Dort drüben steht noch mehr Owenbaumsaft für dich«, hatte Sahar gesagt und bei ihrem Hereinkommen nicht einmal aufgeblickt, sondern weiter in das vor ihm liegende Notizbuch gestarrt. Sie erkannte es als sein Prophezeiungstagebuch wieder.
»Eine neue Prophezeiung?«, erkundigte sie sich und nahm das Fläschchen mit Owenbaumsaft an sich. Die klebrige Flüssigkeit half, den Schmerz in ihrem verkümmerten Arm zu lindern.
Sahar klappte das Notizbuch zu, als sie zu ihm trat. Einen Moment lang waren seine braunen Augen voller Sorge, doch dann schüttelte er den Kopf. »Nichts von Interesse.«
Lettle kannte den Schmerz im Herzen, der zuweilen mit der Vorhersage von Ereignissen einherging, daher drängte sie ihn nicht. Wenn er auf seiner Privatsphäre beharrte, würde sie sie ihm gewähren.
Sie holte den kleinen Beutel mit ihren Prophezeiungstalismanen aus der Tasche und wollte das Glas mit dem Owenbaumsaft hineinstopfen, woraufhin jedoch die Talismane herauspurzelten und zu Boden fielen.
Sahar half, sie aufzusammeln. Dabei hielt er eine der Schnitzereien gegen das Licht. »Die könnten ein wenig Öl vertragen, damit das Holz nicht bricht. Warte kurz.«
Als er zurückkam, reichte er ihr die eingefetteten Talismane. Seitdem hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen.
»Ich habe Sahar schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen«, sagte Lettle jetzt zu Golan. »Obwohl ich gehört habe, dass er auf Furis Geheiß in den Palast einziehen wird.« Sahar war nicht nur der ehemalige Seher, sondern auch Furis Vater.
Golan nickte, wobei seine langen dunklen Zöpfe schwankten. »Ja, das habe ich auch gehört. Vielleicht ist er sogar heute Abend beim Abendessen dabei, dann könntest du ihn um Rat bitten.«
Lettle versuchte, sich nicht zu große Hoffnungen zu machen, allerdings schien Golan ihr das Elend anzusehen, denn er legte ihr seine manikürte Hand auf den Arm.
»Das Schicksal wird wieder zu dir sprechen«, versicherte er ihr.
»Woher willst du das wissen?«, entgegnete sie weitaus aufgebrachter als beabsichtigt.
Golan war inzwischen an ihr Temperament gewöhnt und wusste, dass sich ihr Zorn nicht gegen ihn richtete. Er zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht.«
Lettle stand bei seinen Worten auf und ging zum Fenster. Sie öffnete die gläserne Klappe, die breit genug war, dass ein ausgewachsener Obeah mitsamt seinen Hörnern hindurchpasste. Da sie nicht an einen Obeah gebunden war, diente die Luke ihr lediglich dazu, eine willkommene Atempause voll frischer Luft einzulegen.
Nicht dass es in Mosima viel Wind gegeben hätte. In der unterirdischen Höhle herrschte ein gemäßigtes Klima, und für Lettles Geschmack war es ein wenig zu feucht. Aber Pflanzen gediehen in dieser Atmosphäre prächtig, und so war die Landschaft, die sich vor ihr erstreckte, leuchtend grün. Selbst das rote Gestein an der Höhlendecke war mit Moos und Efeu bewachsen.
In der Mitte hing das Einzige, was alles am Leben hielt – das Gewirr, die größte Fraediakristallansammlung, die Lettle je gesehen hatte.
In diesem Moment färbte sich das Gewirr aufgrund des nachgeahmten Sonnenuntergangs tiefrot.
»Es ist fast Essenszeit«, sagte sie.
»Ja, deshalb bin ich hier.« Golan klopfte auf die Tasche an seiner Taille, von der Lettle wusste, dass sie voller Tinkturen und Lotionen war, mit denen er sie verschönern würde.
»Du weißt doch, dass du dich nicht länger um mein Make-up kümmern musst. Rayan hat dich zu meinem Berater ernannt.«
Golan setzte sein perfektes Lächeln auf. »Ich weiß, aber ich tue es gern. Außerdem weiß König Rayan meine Bemühungen stets zu schätzen.« Er zwinkerte ihr zu, und Lettle verdrehte die Augen.
König Rayan. Es klang immer noch so seltsam. Sie strich mit der Hand über die Fensterbank. Die Fensterbank der königlichen Gemächer – ihrer Gemächer.
Zuerst war sie in diesem vergessenen Land eine Gefangene gewesen. Dann ein Gast. Und jetzt war sie die Gemahlin des Königs: ein Elf, der zum Königshof der Fae gehörte.
Es war fast zu unglaublich, um es zu glauben. Und doch war sie hier. Mit einem Plüschteppich unter den Füßen und Daunenkissen, auf die sie ihren Kopf betten konnte. Sie hatte es weit gebracht, seitdem sie in bitterer Armut aufgewachsen war.
Golan stand vom Bett auf und machte sich auf den Weg zum Kleiderschrank.
Lettle zeigte auf das pflaumenfarbene Kleid, das am Türgriff hing. »Ich weiß schon, was ich heute Abend anziehen will«, sagte sie.
Golan stieß einen leisen Pfiff aus. »Ich muss dir offenbar nicht mehr viel beibringen …«
»Und dazu die fuchsiafarbenen Sandalen.« Lettle präsentierte die Schuhe, die sie zuvor ausgesucht hatte.
Golan verzog das Gesicht. »Du warst so nah dran. Vielleicht gibt es für dich doch noch das eine oder andere zu lernen.«
Das zauberte ein Lächeln auf Lettles Lippen.
»Da ist sie ja wieder.« Golan durchquerte erneut den Raum. »Ich weiß, dass es schwierig war, seitdem Yeeran«, Lettle schnappte bei der Nennung dieses Namens nach Luft, »fort ist, aber schon bald wird das Leben hier einen gleichmäßigen Rhythmus annehmen, und deine Sorgen werden dir jeden Tag kleiner erscheinen.«
Diese Vorstellung behagte Lettle überhaupt nicht. Sie wollte Yeeran nicht vergessen und ebenso wenig den Fakt, dass ihre Schwester Lettle in Mosima zurückgelassen hatte.
Sie hat dich nicht zurückgelassen – sie ist weggegangen, um das Volk des Abnehmenden Mondes davor zu warnen, dass das Halbmondvolk mit den Fae unter einer Decke steckt. Sie ging fort, um Leben zu retten. Aber Lettle wollte sich heute nicht mit ihrem Gewissen auseinandersetzen, daher verdrängte sie den Gedanken und klammerte sich fester an ihre Wut.
Ihr Blick verweilte auf den Glasscherben und Talismanen.
»Ich werde noch ein letztes Mal versuchen, mit dem Schicksal zu sprechen.«
Sie sammelte die geschnitzten Gebilde wieder ein, die die wichtigsten Organe des Körpers darstellten: Lunge, Herz, Magen, Nieren, Leber und Gedärme. Das letzte und wichtigste Organ war das Gehirn, das Lettle repräsentierte.
Das vom Baum der Seelen stammende Holz enthielt die Restmagie des Fluchs, mit dem die Fae gebunden waren. Diese magische Kraft ermöglichte ihr die Verbindung zum Schicksal. Früher hatte Lettle einen Obeah aufschlitzen müssen, um ihre Wahrsagerei zu betreiben, aber jetzt hatte sie dafür diese selbst geschnitzten Talismane.
Sie warf sie auf ihren Schminktisch und wechselte in den Magierblick.
Durch ihn ließ sich das Schicksal deutlich erkennen. Er ermöglichte es außerdem, die Magie der Fae zu sehen. Ihr Blick glitt an Golan vorbei.
Ihm war dieser einzigartige Glanz, der die Faeverbundenen umgab, nicht eigen. Aufgrund dieses Mangels galt er bei den Fae als Lichtloser.
Aber Lettle kannte die Wahrheit. Golan besaß ein verborgenes Licht, das viel heller leuchtete als das jeder anderen Fae, die sie je getroffen hatte. Nur weil seine Artgenossen es nicht auf dieselbe Weise sehen konnten, bedeutete das nicht, dass sie auf ihn herabsehen durften.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, drückte er ihr die Schulter. »Du schaffst das«, sagte er.
Sie richtete ihren Magierblick abermals auf die Talismane. Aber da war kein einziges Flackern der silbernen Magiestränge. Nicht einmal ein Fünkchen.
»Jetzt reicht es aber«, schimpfte sie. »Ich brauche ein Glas Met. Sehen wir zu, dass wir hier fertig werden.«
Der königliche Speisesaal befand sich in der obersten Etage des Palasts. Lettle ging mit schweren Schritten die Treppe hinauf.
Die Stufen hatten einst aus Glas bestanden und waren von den ehemaligen Königinnen geschaffen worden. Doch nach ihrer Ermordung war das Glas zersprungen. Rayan hatte für Ersatz gesorgt, indem er Felsen aus der Erde hervorrief und eine steinerne Treppe errichtete.
Diese war genau wie Rayan robust und ließ Lettle höhere Ebenen erklimmen. Bei diesem Gedanken besserte sich ihre Laune.
Ihr Atem ging in kurzen, unregelmäßigen Stößen. Vor über einer Woche hatte sie mit einer kollabierten Lunge im Krankenhaus gelegen, nachdem sie vom Faeprinzen Nerad verletzt worden war. Doch sein Verrat hatte tiefere Wunden geschlagen als jene, die ihr zugefügt worden waren. Am meisten hatten seine Mutter und seine Tante – die Königinnen – leiden müssen, die durch seine Hand gestorben waren. Lettle war immerhin am Leben geblieben, kam jedoch deutlich schneller außer Atem als sonst.
Dieses Kleid ist auch nicht gerade hilfreich. Sie hatte den Rock mit der langen Schleppe raffen müssen, um die Stufen zu erklimmen, und ärgerte sich jedes Mal aufs Neue darüber, dass man von ihr erwartete, sich für die Mahlzeiten fein zu kleiden. Doch sie war jetzt nicht nur die königliche Seherin, sondern auch die Gemahlin.
König Rayans Gemahlin. Sein Name zauberte ein sanftes Lächeln auf ihre Lippen, die auffällig glänzten.
Die Tür zum Speisesaal stand offen, und als sie den Raum betrat, zog sich ihr Magen zusammen. Sie war spät dran: Das Abendessen war bereits serviert worden.
Der Steintisch war groß genug für fünfzig Personen, was Lettle lächerlich fand, da sie im Allgemeinen nur zu dritt waren: Furi, Lettle, Rayan – und an diesem Abend war zudem Sahar anwesend. Mehr Mitglieder hatte die königliche Familie nicht.
Die Geister von Königin Vyce, Königin Chall und Nerad schienen auf den leeren Plätzen zu verweilen und ließen Lettle frösteln, als sie daran vorbeiging.
Die anderen bemerkten die unbesetzten Stühle, auf denen früher die Toten gesessen hatten, nicht und unterhielten sich fröhlich, doch als Lettle hereinkam, verstummte das Geplauder.
Auf dem Tisch standen die unterschiedlichsten Gemüsegerichte: in Honig karamellisierte Karotten, mit Salbei gewürzte Kartoffeln, in Butter gebratener Blumenkohl. Letzterer war Lettles Favorit. Sie vermisste zwar Fleisch, doch das Gericht war ein guter Ersatz. Die Fae aßen keine Tiere, was vor allem darauf zurückzuführen war, dass sie sich mit Obeah verbanden.
Lettle warf Rayan einen zerknirschten Blick zu, weil sie sich verspätet hatte, und zog den Stuhl zu seiner Rechten unter dem Tisch hervor.
»Lasst mich das machen, Seherin.« Ein Diener eilte aus einem der Alkoven herbei, in dem rotes Wachs an Kerzen herunterrann.
Der Bedienstete griff nach dem Stuhl, und dabei streiften seine Fingerknöchel kurz Lettles. Eine Sekunde lang zeichnete sich Abscheu auf seinem Gesicht ab, die er jedoch rasch durch höfliches Desinteresse ersetzte.
Lettle starrte ihn finster an. Sie hatte sich an die unverhohlene Geringschätzung gewöhnt, die die Fae den Elfen entgegenbrachten, aber dieser neue versteckte Hass war fast noch schlimmer. Sie gaben vor, sie zu akzeptieren, was Lettle auf den Tod nicht leiden konnte.
Aus diesem Grund merkte sie sich das Gesicht des Dieners. Im Palast arbeiteten über einhundert Fae, und erst in den letzten Tagen hatte Lettle damit angefangen, ihr Tun und Lassen genauer zu beachten.
»Bitte entschuldigt meine Verspätung«, sagte sie in den Raum hinein und griff nach dem Met.
»Kein Problem«, erwiderte Rayan und kniff leicht die Augen zusammen.
Sahar lächelte höflich und neigte den Kopf in ihre Richtung.
Furi mahlte nur schweigend mit dem Kiefer. In der letzten Woche hatte die Fae sogar noch schlechtere Laune gehabt als Lettle, und sie kannte auch den Grund dafür: Yeeran.
Lettle leerte ihr Glas, leckte sich die Lippen und schenkte sich noch mehr Met ein.
Rayan beäugte sie kritisch, besaß aber genug Taktgefühl, um sich nicht danach zu erkundigen, ob ihre Prophezeiungen inzwischen erfolgreicher verliefen.
Nicht so Furi. »Gehe ich recht in der Annahme, dass du heute nichts über unsere Zukunft in Erfahrung bringen konntest?«, murmelte sie auf Fae, bevor sie mit ihrer Gabel in eine Karotte stach.
Lettle hatte große Schwierigkeiten gehabt, die Sprache, die nur Faeverbundene automatisch beherrschten, zu erlernen, geschweige denn zu sprechen, aber Furi lehnte es ab, sich mit ihr auf Elfisch zu unterhalten. Auch auf diese Weise wurde Lettle das Gefühl vermittelt, eine Fremde in diesem fremden Land zu sein.
»Nein«, antwortete Lettle knapp auf Elfisch.
»Schade.« Furi verzog die Lippen zu einem höhnischen Grinsen. Während der Regentschaft von Furis Mutter war die Wahrsagerei verboten gewesen, daher war es nicht weiter verwunderlich, dass Furi nicht viel von dieser Fähigkeit hielt.
Doch nur so konnte ich den Tod ihrer Mutter vorhersagen. Der Gedanke war bitter und voller Bosheit. Lettle trank noch einen Schluck Met.
»Tochter«, tadelte Sahar Furi. »Du kannst nicht erwarten, dass das Schicksal auf jeden von Lettles Rufen reagiert. Wir müssen Geduld haben. Zur rechten Zeit werden wir schon erfahren, was wir wissen müssen.«
Sahars Antwort machte ihre Hoffnung darauf zunichte, dass er ihr vielleicht helfen würde.
Furi sah aus, als würde sie am liebsten die Augen verdrehen, und einen Moment lang konnte sich Lettle deutlich vorstellen, wie sie als Teenager gewesen war. Es kam ihr so vor, als würde sie ihre eigene Vergangenheit im Spiegel sehen, und die Vorstellung, sie könnte etwas mit Furi gemeinsam haben, verstörte sie.
Lettle rutschte auf ihrem Stuhl herum und wechselte das Thema. »Wie läuft der Rückzug aus dem Halbmondviertel? Konntet ihr Kontakt zur letzten Schwadron aufnehmen?« Sie richtete die Frage an Rayan, da sie es so weit wie möglich vermied, mit Furi zu sprechen, wenngleich die Antwort dennoch von Furi kam.
»Nein, wir haben Berro hingeschickt, um sie zurückzurufen.«
»Berro?« Eine weitere Fae, die Lettle verachtete, weil sie sich über Berros unverhohlenes Verlangen nach Rayan ärgerte.
»Ja, das werden schwierige diplomatische Verhandlungen. Da wir auch noch die Nachricht von Akomidos Tod überbringen müssen …« Furi warf Rayan einen erbosten Blick zu, der mit den Achseln zuckte. »… und versuchen müssen, einen weiteren Krieg zu verhindern.«
Lettle hatte Komis Tod noch immer nicht verarbeitet, ebenso wenig wie die Tatsache, dass er in Wirklichkeit Oberhaupt Akomido gewesen war, auch bekannt als der Tyrann mit den zwei Klingen und berüchtigt wegen seiner grausamen Herrschaft über den Halbmondbezirk. Es fiel ihr außerdem schwer, sich von den Erinnerungen aus ihrer gemeinsamen Zeit hier zu befreien. Diese glücklichen Erinnerungen wurden nun durch das Wissen um seine wahre Identität getrübt.
»Wird Berro es schaffen, das Halbmondvolk dazu zu bringen, von Vergeltungsmaßnahmen abzusehen?«, fragte Lettle zweifelnd.
Furi warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Berro ist seit Jahren meine Stellvertreterin und eine ebenso fähige Politikerin wie ich.«
Was nicht viel heißen muss. Obwohl Lettle die Worte nicht laut aussprach, schien Furi ihr angesehen zu haben, was sie dachte.
»Wie wäre es, wenn du bei deinen Talismanen bleibst und ich mich um die Politik in meinem Land kümmere?«, fügte Furi hinzu.
Die Erinnerung daran, dass sie eine Außenseiterin war, behagte Lettle gar nicht. Selbst Rayan war nur Halbfae, dennoch hatten sie ihn hier als einen der ihren akzeptiert. Ohne Yeeran fühlte sich Lettle vollkommen isoliert.
Rayan räusperte sich, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und die Anspannung zwischen Furi und Lettle zu entschärfen. Aber Furis Worte hatten Lettle tiefer getroffen, als sie zugeben wollte, und ihr längst die Streitlust verdorben.
»Ich habe die Unterlagen meines Vaters durchgesehen«, wechselte Rayan das Thema. »Auch sämtliche Notizen, die Nerad aus seiner Sammlung gestohlen hatte, aber da war nicht viel zu holen.«
Furi schluckte ihren Bissen hinunter. »Was hattest du gehofft zu finden?«
Sorge verdunkelte Rayans Blick. »Ich bin mir nicht sicher. Irgendetwas über den Fluch, der uns hier unten festhält. Mein Vater hat nicht all sein Wissen niedergeschrieben.«
Lettle und Rayan tauschten einen Blick. Es gab noch mehr, das Rayan Furi nicht erzählte, denn sie hatten beschlossen, die Wahrheit vorerst vor ihr zu verbergen. In seinem letzten Brief an seinen Sohn hatte Najma Rayan davor gewarnt, seiner Familie zu sehr zu vertrauen.
Yeeran mag Furis moralische Werte teilen, aber ich tue es nicht.
Furis Blick wanderte zum Fenster und auf die Königswälder dahinter. Aber Lettle konnte erkennen, dass sie den Wald nicht wirklich wahrnahm, sondern in Erinnerungen an ihren älteren Bruder schwelgte.
Mit einem Ruck kehrte Furi in die Gegenwart zurück, wobei ihre Gabel gegen ihren Teller klapperte.
»Tochter?«, fragte Sahar besorgt.
Zu Lettles Entsetzen wurden Furis Augen glasig. Die Königin zeigte selten echte Emotionen. Als diese nun das Wort ergriff, klang ihre Stimme leblos und ließ Lettle die Nackenhaare zu Berge stehen.
»Es spielt keine Rolle, nichts davon ist von Bedeutung. Wir sitzen hier unten fest. Und vielleicht ist das auch gut so. Wir sind vor den Halbmondtruppen geschützt, die sicher Krieg gegen uns führen werden, um sich dafür zu rächen, dass wir unseren Verbündeten ermordet haben.« Furi gab Rayan die Schuld an Akomidos Tod, was ihn allerdings nicht groß zu scheren schien.
Der Tyrann mit den zwei Klingen mochte ein Verbündeter der Fae gewesen sein, aber sein Tod durch Rayans Hand war bereits in seiner Kindheit vorhergesagt worden.
Und eine Prophezeiung ließ sich nicht aufhalten.
Ein im Sturmnebel Geborener soll dein Geliebter sein. Aberwenn sich der abnehmende Mond wandelt, wirst du ihm den Tod gewähren.
Lettle zuckte zusammen, als ihr die alte Prophezeiung von Schamane Imna durch den Kopf ging, die sie verfolgte, seitdem sie den Bezirk des Abnehmenden Mondes verlassen hatte. Dies war gleichzeitig ihr größtes Geheimnis und der Grund für all ihre Schuldgefühle: Eines Tages würde sie Rayan töten.
Aber nicht heute.
Sie griff mit dem linken Arm unter den Tisch. Obwohl sie darin wenig Kraft hatte und ihr Ellbogen nur eine geringe Beweglichkeit besaß – eine Folge der Schwindpocken, die sie als Kind gehabt hatte –, fand sie Rayans Oberschenkel. Sofort schob er eine Hand unter den Tisch und umfing sanft die ihre.
Lettle spürte, wie sie sich bei seiner Berührung sogleich entspannte.
Rayan drehte sich wieder zu Furi um. »Ich halte es für keine gute Lösung, unser Schicksal zu akzeptieren, Furi. Mithilfe der Schriften meines Vaters werde ich einen Weg finden, den Bann zu brechen.«
Furis Nasenflügel blähten sich, aber sie widersprach ihm nicht. Es gelang ihr nie, lange wütend auf Rayan zu sein, was möglicherweise an ihren Familienbanden lag.
»Rayan hat recht«, fügte Lettle hinzu. »Wir müssen es weiter versuchen.«
Denn Lettle wollte eines Tages wieder nach Hause. Und solange der Fluch Bestand hatte, war Rayan an Mosima gebunden und konnte es nicht verlassen, ohne dass dies schlimme Konsequenzen nach sich zog – und Lettle würde nie ohne Rayan fortgehen.
Furi stand abrupt auf. »Ich habe schreckliche Kopfschmerzen und werde mich zurückziehen.«
Lettle sah Furi nicht hinterher, spürte jedoch, dass es im Raum deutlich wärmer wurde, sobald sich die Tür hinter ihr schloss.
»Auch ich werde mich in meine neuen Gemächer zurückziehen. Glücklicherweise befinden sie sich nur ein paar Türen weiter.« Sahar klopfte sich auf den Bauch. Dann bedachte er Lettle mit einem freundlichen Blick. »Mach dir keine Sorgen darüber, dass das Schicksal noch nicht gesprochen hat. Du bist eine begabte Seherin, wie wir alle wissen. Sei nicht so hart zu dir.«
Sahars Worte berührten Lettle tief. Der alte Mann wandte sich an Rayan.
»Gute Nacht, Enkel. Ich wünsche dir schöne Träume.«
Als Rayan und Lettle allein waren, herrschte einen Moment lang Schweigen. Dann rückte Rayan mit seinem Stuhl näher an sie heran und strich ihr über die Wange, bevor er ihr einen Kuss auf die Lippen drückte.
»Darauf habe ich gewartet, seit du hier bist.« Seine Worte entlockten ihr ein Lächeln.
Sie legte ihm eine Hand in den Nacken, und mit einem Ruck hatte er sie auf seinen Schoß gezogen.
»Warum können wir nicht jeden Abend so essen?«, fragte sie an seinem Hals.
Rayans Lachen grollte in seiner Kehle. »Ich glaube nicht, dass Furi das gefallen würde.«
»Wen interessiert Furi?«
Rayans Lachen wurde tiefer, und er legte die lächelnden Lippen auf ihre.
Er schmeckte nach Honig und Zitronenschale und löste eine Spirale des Verlangens tief in ihrem Inneren aus, woraufhin sie sich fester an ihn presste.
»Oh – Entschuldigung!«
Sie lösten sich voneinander und wandten sich der Stimme zu, die sie derart unsanft unterbrochen hatte. Lettle kniff die Augen zusammen, als sie bemerkte, dass es der Diener von zuvor war.
»Ich wollte nur die T-T-Teller abräumen«, stotterte er.
Rayan winkte ihn herein, machte jedoch keine Anstalten, Lettle von seinem Schoß zu heben. »Schon in Ordnung. Wir wollten sowieso gerade unser Schlafgemach aufsuchen«, sagte er.
Lettle beäugte ihn irritiert. »Ach ja? Ich war aber noch gar nicht mit meinem Met fertig.«
Der Diener verharrte zögernd neben dem Tisch. »Soll ich später wiederkommen?«
Rayan schüttelte den Kopf. »Nein, nein, schon gut. Der Met kann einfach stehen bleiben.«
Lettles Lachen wurde von den Bartstoppeln an Rayans Wange gedämpft. Die Stille dehnte sich aus, während der Diener hin und her eilte und den Tisch abräumte.
Bis nur noch ihr Glas übrig geblieben war.
»Bitte sehr, Gemahlin.« Der Diener neigte den Kopf, als Rayan ihr das Glas reichte. In seinen Augen flackerte etwas wie Abscheu auf. Lettle gab ihrer Neugier nach, und sie wechselte in den Magierblick.
Wenn man das Zentrum der Faeverbundenen betrachtete, war der Funke – denn alles Lebendige besaß einen Funken – mit etwas Dunklerem, fast Kupferfarbenem durchsetzt.
Dieser Diener war nicht faeverbunden. Das hatte sie schon vermutet, weil er nicht auf Fae mit ihr sprach. Zwar beherrschten einige der Lichtlosen wie Golan die Sprache fließend, doch die Vokale waren schwer zu meistern, daher versuchten sich nur wenige daran.
Der Diener richtete sich auf, wobei ihm das lange Haar über den Rücken fiel, dann rannte er fast schon aus der Tür.
»Ich glaube, wir haben ihn verschreckt«, stellte Lettle fest.
»Ja.« Rayan bedeckte ihren Hals mit Küssen.
»Pass auf! Du wirst noch meinen Met verschütten.«
Rayan griff nach dem Glas und führte es an seinen Mund. »Das ist mein Met.« Er trank einen großen Schluck, wobei seine braunen Augen funkelten. Als er das Glas herunternahm, schimmerte Honigwein auf seinen Lippen.
Lettle beugte sich vor und wollte die Tropfen ablecken, aber bevor sie ihn berührte, fing er an zu husten.
»Halt dir eine Hand vor den Mund«, schimpfte sie.
Doch dann hustete er erneut, diesmal noch heftiger.
»Rayan?«
Sein Atem ging rasselnd und ruckartig, als ob sich seine Kehle zuschnürte.
Das Weinglas fiel auf den Boden.
Nein, Rayan warf es von sich.
Seine Augen wurden groß, er drehte sich zu Lettle um und stieß ein Wort hervor: »Gift.«
Dann verdrehte er die Augen und erschlaffte.
Alder lebte schon seit vielen Jahren in den Elfenländern, was er allerdings nur anhand der Schnitte in seinen Ohren wusste. Er hatte keine Erinnerungen an seine Zeit im dortigen Krieg, und dieses Leiden teilten einige, mit denen er reiste.
»Ein Segen«, wie Mia meinte. »Dein Gehirn schützt sich vor den Schrecken der Welt.«
Er nahm Mia beim Wort und versuchte, sich nicht mit dem Fehlen seiner Erinnerungen zu beschäftigen. Es war ohnehin müßig, sich zu fragen, welchen Rang er einst innehatte oder wer seine Eltern gewesen waren. Die Nomaden waren die einzige Familie, die er brauchte.
Und doch werde ich das Gefühl nicht los, dass etwas fehlt.
Der Gedanke hatte in den letzten Monaten zunehmend an Bedeutung gewonnen, nahm seinen wachen Verstand in Beschlag und trübte sein sonst so sonniges Gemüt.
Der Schlafmangel ist auch nicht gerade förderlich.