Cyberpunk 2077: No Coincidence - Rafal Kosik - E-Book
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Cyberpunk 2077: No Coincidence E-Book

Rafal Kosik

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Beschreibung

Welcome to Night City! »Cyberpunk 2077: No Coincidence« ist der erste offizielle Roman aus der Welt des Games-Bestsellers »Cyberpunk 2077«  Die ebenso glitzernde wie gefährliche Metropole Night City im Kalifornien des Jahres 2077: Eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von sechs Fremden überfällt einen Konvoi, um einen geheimnisvollen Container der Firma Militech zu rauben. Keiner von ihnen ist freiwillig hier, sie alle wurden erpresst, sich an dem Überfall zu beteiligen – und sie haben nicht die leiseste Ahnung, wie weit der Einfluss ihres mysteriösen Auftraggebers reicht oder was sie da eigentlich gestohlen haben. Nur eines ist ihnen vollkommen klar: Wenn sie überleben wollen, müssen sie lernen, ihre Differenzen zu überwinden und zusammenzuarbeiten, bevor ihre nächste Mission beginnt … Coole Sprüche und heiße Action zeichnen den dystopischen Roman des polnischen Science-Fiction-Autors Rafal Kosik ebenso aus wie den Computerspiel-Hit mit Keanu Reeves in einer der Hauptrollen. »No Coincidence« ist ein großer Spaß für alle Fans des Games »Cyberpunk 2077« sowie der Netflix-Serie »Cyberpunk: Edgerunners«.

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Rafal Kosik

Cyberpunk 2077

No Coincidence

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Die ebenso glitzernde wie gefährliche Metropole Night City im Kalifornien des Jahres 2077:

Eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von sechs Fremden überfällt einen Konvoi, um einen

geheimnisvollen Container der Firma Militech zu rauben. Keiner von ihnen ist freiwillig hier, sie alle wurden

erpresst, sich an dem Überfall zu beteiligen – und sie haben nicht die leiseste Ahnung, wie weit der

Einfluss ihres mysteriösen Auftraggebers reicht oder was sie da eigentlich gestohlen haben.

Nur eines ist ihnen vollkommen klar: Wenn sie überleben wollen, müssen sie lernen, ihre Differenzen zu

überwinden und zusammenzuarbeiten, bevor ihre nächste Mission beginnt …

Inhaltsübersicht

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Über den Autor

Kapitel 1

Klick. Klick. Klick. Es passte nicht.

So wie alles andere nicht passte. Diese ganze Situation gerade. Er sollte eigentlich gar nicht hier sein – und wollte es auch nicht. Eingequetscht zwischen einer Wand und einem Müllcontainer, während Regen auf ihn herabprasselte. Aber wer weiß, vielleicht nützte er ihm ja. Der Regen. Reduzierte die Sichtweite, bot ein wenig natürliche Deckung. Ja, der Regen konnte seinetwegen bleiben.

Klick. Klick. Passte immer noch nicht. Seine Klamotten waren völlig durchweicht. Ungemütlich, aber eine Erinnerung daran, dass er noch am Leben war, obwohl er es eigentlich nicht sein sollte.

Zor hätte eigentlich seit mindestens sieben Jahren tot sein müssen.

Graues Wasser stürzte in Kaskaden vom tiefgrauen Himmel. Die oberen Stockwerke der aufgegebenen Trockennahrungsfabrik verschwammen im grauen Nichts. Etwas weiter weg ragten die unteren Etagen des Petrochem-BetterLife-Kraftwerks auf, von hier aus waren sie kaum zu sehen. Arroyo – nicht gerade das idyllischste Viertel in Night City.

Einige Passanten hasteten vorbei, würdigten ihn aber kaum eines Blicks. Gleichgültig fuhren Autos durch die ölverschmierten Pfützen am Straßenrand und bespritzten den Bürgersteig. Er hätte ebenso gut unsichtbar sein können.

Klick. Klick. Das konnte doch echt nicht wahr sein. Er starrte auf das Magazin runter. Verkehrt herum, du Idiot. Er hatte also schon vergessen, wie es ging. Sieben Jahre waren eine lange Zeit. Sogar das Muskelgedächtnis vergisst irgendwann.

Klick. So, jetzt aber. Nicht dass es viel änderte. Der Mist hier würde auf keinen Fall klappen, nicht mit diesem Team. Wie standen die Chancen – eins zu hundert? Oder eher zu tausend? Das Wunschdenken sagte, eins zu fünf, aber selbst das klang nicht sehr ermutigend.

»Dreißig Sekunden«, sagte eine künstliche Stimme in seinem Ohr.

Er wollte nicht hier sein – wollte das nicht tun. Es würde niemals gut gehen. Er blickte auf seine Hände hinunter, die das SMG hielten. Dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag. Er konnte sich nicht vorstellen, wo er jetzt stattdessen sein sollte. Keine andere Zeit, keinen anderen Ort, wo er hinpassen würde. Regen, ein Müllcontainer und eine Knarre.

Und keine Wahl.

»Zwanzig Sekunden. Bereithalten, Ziel im Anmarsch!«

Er griff nach dem Ersatzmagazin in seiner Tasche und drehte es ebenfalls richtig herum. Schloss eine Hand um den Pistolengriff, die andere um die Stütze. Er erinnerte sich, wie man das machte. Mehr oder weniger. Sieben Jahre forderten ihren Tribut. Sieben Jahre und ein Tod. Sein eigener.

Aus den Regenschleiern tauchte ein klobiger Kastenwagen auf. Sah gepanzert aus. Die vier Türen sicherlich auch. Die Kugeln aus dem SMG würden vermutlich nicht mal einen Kratzer hinterlassen.

Langsam erhob sich Zor, blieb aber in seinem Versteck. Die andere Straßenseite war wegen irgendwelcher Reparaturarbeiten gesperrt, die sonst zweispurige Straße zu nur einer Spur verengt. Eigentlich hätte die Security zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen ergreifen oder lieber gleich einen Umweg nehmen sollen. Aber offenbar setzten sie darauf, nicht aufzufallen – weder der Kastenwagen noch der Wagen davor trugen irgendwelche sichtbaren Markierungen. Ein beliebiger Passant würde nichts Ungewöhnliches bemerken.

»Zor! Jetzt!«, befahl die Stimme.

Zor zielte und drückte den Abzug durch. Das kurze Ratata hallte von den umstehenden Gebäuden wider. Die ohnehin schon wenig belebte Straße wurde schlagartig noch leerer. Spätestens jetzt würde den Wachen des Konvois klar sein, dass ihre Tarnung aufgeflogen war. Die Salve hatte die Panzerung des vorderen Wagens durchschlagen und den Motor geschrottet. Das kleine SMG hatte es also doch gepackt. Zor starrte es verblüfft an. Das Militech M221 Saratoga war optisch nicht gerade die imposanteste Wumme auf dem Markt, aber die Hochgeschwindigkeits-Wolframgeschosse machten mit leichter Panzerung meist kurzen Prozess. Nach ein paar Salven war die Waffe dann im Arsch, aber das konnte ihm ja egal sein.

Der Regen hörte auf. Unter der Motorhaube quoll zischend Dampf heraus. Oder Rauch. Doch niemand stieg aus. Der Kastenwagen war keine fünf Zentimeter von dem mit Kreide auf den Bordstein gezeichneten X entfernt zum Halten gekommen, das der Regen noch nicht vollständig weggespült hatte. Steckte mitten im Engpass fest – genau nach Plan. Der Quadra Coupé hinter dem Kastenwagen, ein richtiger Oldtimer, hatte abrupt gebremst, und als der Fahrer des Kastenwagens zurücksetzen wollte, knallte er volles Rohr in die Stoßstange des Sportwagens.

Eine große, schlanke Frau stieg aus dem Quadra, um den entstandenen Schaden in Augenschein zu nehmen. Kurzes, dunkles Haar, hohe Absätze, elegantes Kostüm. Falscher Ort und falsche Zeit für eine wichtigtuerische Konzernschnepfe, um ihrem gerechten Zorn auf andere Verkehrsteilnehmer Luft zu machen.

Warum zum Henker steigen die nicht aus?

 

Warden stand über einen Klapptisch gebeugt und beobachtete die Geschehnisse auf den Monitoren. Die Digitalanzeige in der rechten unteren Ecke zählte die Zeit runter, bis die Bullen auftauchen würden. Nur ein Schätzwert, aber besser als nichts.

Durch die Fenster sah er die umliegenden Hochhäuser, die im Regen kauerten wie geisterhafte Monolithen. Der Regen war ein Segen, aber keine Erfolgsgarantie. Wie lange würde es dauern, bis ihn jemand hier oben entdeckte? Es war nur eine Frage der Zeit. Aber er befand sich im dreiunddreißigsten Stockwerk eines im Bau befindlichen Wohnhauses im Süden von Heywood und damit gute drei Kilometer vom Schauplatz des Hinterhalts entfernt, also sollte er wohl ausreichend Zeit haben, um abzuhauen, falls die Scheiße anfing zu dampfen. Die militärische Modulausrüstung zu zerlegen und in die Aktenkoffer zu stopfen dürfte ihn keine zwei Minuten kosten.

Beim Netrunner sah das schon anders aus.

Kabelgewirr zog sich über den mit Trümmern übersäten Betonboden und führte ins Bad, wo sich all die Kabel zu einer hermetischen Steckverbindung vereinten, die in den Neuralport hinter dem Ohr des Netrunners eingestöpselt war. Er lag bis zum Hals in einer Wanne voll mit Eis und Wasser, während sein Hirn tausend Prozesse auf einmal abspulte – die Reaktionsgeschwindigkeit von Polizei und Sicherheitskräften zu verlangsamen hatte dabei oberste Priorität. Er wusste nicht, dass bei diesem Wettrennen auch sein eigenes Leben auf dem Spiel stand. Aus dem Deep Dive aufzutauchen würde viel Zeit kosten.

Warden zog seine Pistole – eine silberne Tsunami Nue mit goldenen Beschlägen – und überprüfte die Munition. Er hatte nicht vor, jemanden zurückzulassen, der so viel wusste. Aber im Moment brauchte er ihn noch – tatsächlich ruhte gerade die gesamte Operation auf seinen im Eismatsch untergetauchten Schultern.

Warden blickte erneut auf die Bildschirme. Worauf warteten die denn bloß?

»Planänderung – wir räuchern sie aus«, verkündete er über den offenen Kanal. »Milena, bleib, wo du bist.«

 

Es war ein typischer Konzernschnepfen-Wutanfall. Wild gestikulierend kreischte sie den Fahrer des Kastenwagens an, verlangte den Namen seiner Versicherung zu erfahren und sorgte dafür, dass er wusste, was für eine Riesenscheiße er gebaut hatte. Hohe Absätze, mit Pelzkragen besetztes Kostüm – sie sah wirklich überzeugend aus. Fast schon zu sehr. Sie tat sogar so, als hätte sie ganz vergessen, dass eben noch Schüsse gefallen waren. Sie stand exakt auf dem mit Kreide gezeichneten X. In Sicherheit, genau außerhalb seiner Schusslinie. Aber dann ging sie drei Schritte vorwärts.

»Milena, zurück auf Position!«

Entweder war sie immer noch voll in ihrer Rolle, oder sie hatte ihn wirklich nicht gehört. Akustischer Tunnelblick, sozusagen. Immer, wenn es wirklich stressig wurde, lief plötzlich nichts mehr wie geplant.

»Ron, gib ihnen Zunder«, bellte Warden über Funk.

»Was ist mit Milena? Nicht dass ich sie aus Versehen erschieße.«

»Ihr werdet alle erschossen, wenn ihr euch nicht an den Plan haltet.«

»Sekunde.« Zor war es am allerliebsten, wenn hier überhaupt keiner erschossen wurde. »Ich habe einen guten Schusswinkel.« Er schaltete die Saratoga auf Halbautomatik und gab einen einzelnen Schuss auf den Wagen ab, der eine hässliche Furche in die Motorhaube schlug. Die Türen öffneten sich, und drei Wachen sprangen heraus. Anfänger offenbar, so linkisch, wie sie wirkten. Sie trugen Militech-Uniformen und minimalistische Standardbewaffnung. Von seiner Position aus hätte Zor gleich zwei auf einmal ausschalten können, wenn er nur gewollt hätte. Aber nein, das war unnötig.

Milena schien weder Wardens Befehle gehört zu haben noch den Schuss, den Zor abgegeben hatte. Sie überschüttete den Fahrer noch immer mit dem ganzen heißen Zorn einer italienischen Primadonna, zeigte immer wieder auf ihn und dann auf ihre Stoßstange.

Endlich öffnete sich die Vordertür des Kastenwagens.

»Aya! Dein Einsatz!« Wardens Stimme.

Man sah auf den ersten Blick, dass die schlanke Frau mit den ostasiatischen Gesichtszügen, die sich hinter einer Säule versteckt hielt, keinerlei Erfahrung mit derlei Stunts hatte. Hektisch fummelte sie mit dem Granatwerfer herum, aber dann ertönte das typische dumpfe Wuuump, gefolgt von einem unverwechselbaren Zischen. Aus den Fenstern des Kastenwagens quoll Rauch. Ihr Schuss hatte perfekt gesessen.

»Borg, auf dein Zeichen!«

Eine Salve ertönte links vom Wagen, und aus dem Dunst kamen zwei Gestalten herausgetaumelt. Die meisten Kugeln gingen daneben, eine aber traf – vermutlich dem schieren Zufall geschuldet. Der Fahrer stürzte zu Boden. Die zweite Gestalt, eine Wache, suchte eilig hinter dem riesigen Hinterrad Deckung.

»Besser zielen!«

Die nächste Salve tat niemandem was außer dem nassen Asphalt. Borg hatte es wirklich nicht so mit dem Zielen.

Mit klappernden Absätzen tauchte Milena hinter das nächste Gebäude und warf eine weitere Rauchgranate. In weitem Bogen flog sie über die Straße, prallte von einer Straßenlaterne ab und landete nur wenige Meter von Zor entfernt.

Verdammt noch mal. Versucht die überhaupt, vernünftig zu zielen?

Zischend entwich Rauch aus der Granate und behinderte Zors Sicht auf die Straße erheblich.

Aya gab eine Salve auf den Kastenwagen ab. Wahrscheinlich war es das erste Mal in ihrem ganzen Leben, dass sie einen Abzug betätigte. Die Entfernung betrug höchstens dreißig Meter, aber keine einzige Kugel fand ihr Ziel.

Die drei Wachen hinter dem Wagen konnten sie nicht sehen, also feuerten sie blind drauflos. Die vierte Wache jedoch kauerte hinter dem Rad und entdeckte Aya, die hinter einem alten ausgebrannten Autowrack in Deckung gegangen war.

»Aya! Runter – sofort runter!«, bellte Zor in sein Mikro.

Sie duckte sich gerade noch rechtzeitig, ehe eine Salve aus einem schweren Maschinengewehr die Karosserie durchschlug, als wäre sie aus Papier. Milenas Quadra war kein bisschen kugelsicher, deshalb hatten sie das Innere des Wagens vor einer Stunde mit antiballistischen Paneelen ausgekleidet. Sie erfüllten ihren Zweck.

»Aya, bleib in Deckung«, mahnte Zor.

Die drei würden warten müssen. Er wusste, dass einer der Wachmänner hinter dem Hinterrad kauerte – er konnte ihn allerdings nicht sehen. Also zielte er auf den Reifen und schoss dreimal, einmal hoch, einmal mittig, einmal tief. Sein Handgelenk schmerzte vom Rückstoß. Der Schlitten der Waffe lockerte sich. Das Ding würde entweder gleich klemmen oder ganz auseinanderfallen. Spielte eigentlich keine Rolle, er schoss sowieso nur auf Gummi. Aber jetzt wussten die Gegner, wo Zor steckte. Mehrere Kugeln pfiffen über seinen Kopf hinweg und schlugen kleine Putzfontänen aus der Wand. Die Rauchgranate erwies sich als lebensrettend, allerdings wagte er es trotzdem nicht, auch nur einen Zentimeter aus der Deckung hervorzukommen.

Mehrere Sekunden verstrichen ereignislos, keine der beiden Fronten konnte irgendwas tun. Klassisches Patt.

»Gebt mir Feuerschutz«, rief Aya über Funk.

Sie sprang aus der Deckung.

»Aya …«, stieß Zor hervor, aber es war zu spät, um sie noch aufzuhalten. Er beugte sich vor und gab ein paar Schüsse ab, eigentlich nur, um die Gegner unten zu halten – aus seiner Position heraus hatte er keine Chance, einen von ihnen zu erwischen.

Aya kletterte auf das Dach des Quadra, machte von dort aus einen Satz Richtung Kastenwagen, bekam die Dachkante zu packen und zog sich hoch. Ihre Bewegungen waren doppelt so schnell wie die eines Normalsterblichen. Mehrere Gewehrsalven zischten durch die Luft – Aya erwiderte das Feuer mit drei gezielten Schüssen aus nächster Nähe. Die Wache hinter dem Wagen sackte schlaff zu Boden.

»Ron!«, rief Warden.

»Wurde auch Zeit! Wäre fast eingepennt.«

Das tiefe Donnern eines HMG ertönte; es war irgendwo hinter einem Fenster im ersten Stock versteckt. Ganze Brocken wurden aus dem Bürgersteig gerissen, aus einem Hydranten schoss ein Wasserstrahl, und die Bauzäune jenseits der Absperrung fielen klappernd in sich zusammen. Aus der nebligen Ferne, sicherlich dreißig Meter weit weg, drang das Klirren zerberstender Fensterscheiben. Aber der Wagen blieb vollkommen unversehrt.

»Wow.« Das war Milenas Stimme. »Sehr präzise.«

»Hey, ich mache das gerade zum ersten Mal, ja?!«

Die Wachen blieben in Deckung und stellten das Feuer ein. Immerhin ein kleiner Erfolg.

»Aya!«, rief Zor. »Hierher!«

Pfeilschnell sprang Aya über das Autowrack und erreichte sein Versteck. Er packte sie und schob sie hinter sich. »Danke.« Sie presste sich gegen die Wand, band das lange Haar zusammen und überprüfte ihre Waffe. Ihre Schulter blutete.

»Zeig her.« Behutsam ergriff Zor ihren Arm und begutachtete die Wunde. Nichts Lebensgefährliches.

»Ist nur ein Kratzer.« Unbeholfen versuchte Aya, die Waffe neu zu laden.

»Ron!«, rief Zor ins Mikro.

»Jaja, schon dabei.«

Eine kurze Salve, vielleicht fünf Kugeln – drei trafen ihr Ziel. Sie sprengten den Wagen auf, als hätte man Feuerwerkskörper in eine Blechbüchse gesteckt. Die Wachen verließen ihre nutzlos gewordene Deckung.

»Alle in Deckung!« Warden. »Schirmt eure Waffen ab!«

Zor sprang hinter den Müllcontainer und presste Aya dichter an die Wand. »Waffe in Deckung«, befahl er.

 

Er konnte in Echtzeit alles materialisieren und das Interface ganz nach Belieben anpassen, seinen eigenen Cyberraum so gestalten, wie es ihm gefiel. Er bevorzugte es ganz schlicht – kein Firlefanz, keine unnötige Ablenkung. Jeder Netrunner hatte seine eigenen Vorlieben und Macken. Er passte die Helligkeit an, tauschte um der besseren Lesbarkeit willen einige Farben aus und deaktivierte die Wasserfall-Animation, die eingehende Daten anzeigte.

Die Arroyo-Operation interessierte ihn nicht besonders. Er betrachtete das Ganze eher als Spiel. Seine Aufgaben hätte er auch mit seinem eigenen Cyberdeck erledigen können, aber das Equipment, das ihm für diesen Job zur Verfügung gestellt worden war, stellte ein ordentliches Upgrade dar. Er fühlte sich sehr mächtig – die Realität gehörte ihm, und er konnte damit anstellen, was immer ihm einfiel. Borgs Codes funktionierten tadellos, die Ampeln in diesem Teil Arroyos taten alles, was er wollte.

Er trieb auf einer Welle der Freude durch seinen eigenhändig konfigurierten Kontrollraum. Die wichtigsten Bedienelemente waren in Unterkategorien unterteilt, schwebten über ihm und rings um ihn herum. Er hing sozusagen inmitten Hunderter Symbole und Icons, verwoben zu einer Art ungleichmäßiger Kugel, die augenscheinlich keine Außenseite besaß – aber in Wirklichkeit wurde sie von einer dicken Schicht schwarzem ICE abgeschirmt.

Zeit für den nächsten Schritt. Es gab keinen Grund zur Eile. Die Zeit floss hier anders – langsamer. Als Zor zum Müllcontainer lief, sah es für den Netrunner aus, als bewegte er sich durch zähes Öl, in das die ganze Außenwelt getaucht war.

Der lokale CCTV-Zugang erwies sich als große Hilfe. Bestimmt suchten die Techniker im Kontrollzentrum verzweifelt nach der Ursache für den Alarm und ahnten nicht, dass er gezielt ausgelöst worden war. Der Netrunner leitete seinen NetIndex um, sodass er den halben Bezirk abdeckte. Zwar erwartete er keine ungebetenen Besucher in seiner temporären Domäne, aber trotzdem hatte er sicherheitshalber alle möglichen Zugangspunkte dreifach verschlüsselt. Es würde mindestens sechs Spezialisten erfordern, um seine genaue Position herauszufinden, und selbst dann – bis sie wussten, wo genau der Eindringling steckte, würden sie dort nichts weiter finden als kalte, dunkle Leere.

Er mochte es schlicht. Links neben ihm schwebten zwei rechteckige Prismen – zwei große rote Knöpfe. Zünder.

Mittels eines gedanklichen Befehls leitete er einen Nervenimpuls in seine immaterielle Hand und drückte auf beide Knöpfe zugleich.

 

Die beiden EMP-Ladungen, versteckt im müllübersäten Rinnstein, gaben bei der Aktivierung ein leises Zirpen von sich. Die Munitionsanzeige an Zors SMG flackerte – ansonsten wirkte es völlig unbeeindruckt. Kein Wunder, es war durch und durch mechanisch. Er sah, wie Aya zuckte, und spürte die von ihr abgestrahlte Hitze selbst durch seine durchnässten Klamotten.

Zu ihrer Rechten eröffnete Borg das Feuer und ballerte auf alles, was ihm ins Sichtfeld geriet.

»Der EMP-Impuls kann uns nichts anhaben«, sagte Zor zu Aya, ein Versuch, sie zu trösten. Sie nickte zögerlich.

Der stählerne Müllcontainer erfüllte seinen Zweck – ihre Waffen waren in Sicherheit, wohingegen die technisch fortgeschritteneren Waffen der Wachen erst in fünf Sekunden wieder funktionieren würden. Fünf Sekunden waren alles, was sie brauchten.

Jetzt!

»Jetzt!«, befahl Warden.

Zor sprang aus der Deckung und eröffnete das Feuer. Sollten nicht eigentlich Borg und Ron ihnen Feuerschutz geben? Verdammt! Er schoss auf den Boden, um Lärm zu produzieren, ohne dafür auf irgendwelche Gebäude oder Fenster ballern zu müssen. Querschläger und das über die ganze Straße spritzende Wasser wirkten ohnehin beeindruckender. Die Querschläger zertrümmerten ein paar Fensterscheiben. Aya folgte ihm dichtauf und tat dasselbe wie er.

»Borg, Abschleppwagen!«, rief Warden.

Die Wachen ließen die Waffen fallen und hoben die Hände.

Na großartig. Amateure auf beiden Seiten.

Ein Schuss fiel. Einer der Wachmänner stürzte zu Boden.

»Borg!« Zor sah sich hektisch um. »Nicht schießen!«

Er rannte zu den Wachen und schob ihre Gewehre unter das durchlöcherte Auto. Packte einen der Männer und stieß ihn vorwärts, sodass er mit dem Gesicht zu der durchlöcherten Baustellenabsperrung stand. Der zweite, ebenfalls völlig verängstigt, brauchte keine Aufforderung und stellte sich rasch daneben. Aya filzte die beiden und zog die Pistolen aus ihren Holstern – sie hatten offenbar nicht mal daran gedacht, sie zu benutzen.

Borg in seinem üblichen lila-dunkelblauen Overall tauchte aus seinem Versteck auf. Lässig schlenderte er näher, als hielte er sich für einen Darsteller in einem Actionfilm, das hellgrüne Haar nach hinten gegelt. Hob die Waffe.

»Borg, lass es sein!«, rief Zor.

Borg hörte ihm gar nicht zu. Er grinste wie ein übermütiges Kind, das Schabernack im Sinn hatte.

»Borg, der Abschleppwagen!«, sagte Warden. »Halt dich an den Plan.«

»Du hast ihn gehört«, knurrte Zor.

Ungerührt hob Borg das Gewehr und stützte es gegen seine Schulter. Zuckte kurz zusammen – der Lauf war noch heiß – und richtete es neu aus. Er schaltete seine Kommverbindung aus, damit Warden ihn nicht hörte.

»Den Plan, bei dem wir hier unsere Ärsche in die Schussbahn halten, den meint er«, sagte er. »Während er irgendwo gemütlich im Hintergrund hockt und Befehle erteilt.« Er krempelte die Ärmel hoch und gab rasch etwas in einem Bedienfeld über seinem Handgelenk ein. Es piepste, seine Arme und Schultern schwollen an, und gleich darauf waren sie fast anderthalbmal so muskulös wie zuvor. Mit einem zufriedenen Lachen küsste er seinen Bizeps. »Beeindruckend, was?« Er zwinkerte Aya zu.

»Nicht wirklich, nein.« Sie sah ihn nicht mal an, sondern war ganz auf die Wachen fokussiert, die sie mit der Waffe in Schach hielt. »Jetzt schaff endlich den Abschleppwagen her.«

»Zeitplan!«, drängte die synthetische Stimme des Netrunners.

Widerwillig drehte sich Borg um und trabte an seine Position, auf der er sich bereits vor einer Minute hätte befinden sollen – eine gravierende Planabweichung.

Aus der Ferne drang das Heulen von Polizeisirenen.

»Los, haut ab«, befahl Zor den Wachen und drückte behutsam Ayas Arme nach unten.

Verwirrt sahen sie einander an, dann rannten sie so eilig los, dass sie fast über ihre eigenen Füße stolperten.

»Das Schloss!«, rief Zor.

Mit wippendem schwarzem Pferdeschwanz rannte Aya um den Kastenwagen. Sie war echt schnell, obwohl äußerlich nichts an ihr auf Implantate hindeutete. Zor blieb stehen, wo er war, und behielt die Straße im Auge.

»Meine ist scharf«, verkündete Aya. »Fünf Sekunden.«

Motorengeräusch ertönte, gefolgt vom Piepsen eines Nutzfahrzeugs im Rückwärtsgang.

»Yo, was soll denn der Scheiß?«, wollte Borg verwirrt wissen. »Den Wagen zu fahren ist mein Job.«

»Dann hättest du das auch tun sollen, statt hier rumzualbern«, erwiderte Milena über Funk.

Aya kam hinter dem Kastenwagen hervorgesaust, duckte sich hinter den Kotflügel, presste die Hände auf die Ohren und kniff die Augen zusammen. Aber es gab keine große Explosion – es klang eher nach einer Feuerwerksrakete als nach einer Sprengladung. Umso besser – sie brauchten die Ladung in unversehrtem Zustand.

Rasch eilten sie zum Kastenwagen und öffneten die Hecktüren.

»Soll ich noch irgendwas machen?«, erkundigte sich Ron unsicher.

»Nein, kannst runterkommen«, antwortete Zor. »Wir müssen ausladen und so schnell wie möglich hier verschwinden. Die Bullen sind jeden Moment hier, ganz zu schweigen von den Jungs aus der 6th Street.«

Borg, offenbar immer noch verärgert über die Zurechtweisung, lief dem von Milena gelenkten Müllwagen voraus. Vermutlich war es das erste Mal, dass sie was Größeres als eine Standard-Limousine fuhr. Sie schrammte an der Flanke des Quadra entlang, aber diesmal war ihr der Wagen herzlich egal – er war sowieso gestohlen.

Mitten im Laderaum des Kastenwagens befand sich das Zielobjekt ihres Auftrags – ein grauer Container. Einen Moment lang standen sie da und glotzten ihn stumm an, im Bann des Gefühls, als stünden sie vor etwas … Wichtigem. Aber sie hatten keine Zeit zu verlieren. Zor zückte ein Messer und durchschnitt die Riemen, mit denen der Container gesichert war. Zog am Griff. Der Container rührte sich nicht.

»Den kriegen wir auf keinen Fall so hier weg«, stellte er fest. »Borg, die Ehre ist ganz dein, mach dich nützlich.«

Mit finsterem Blick ging Borg zu einem Schaltkasten, der mit Klebeband seitlich am Müllwagen befestigt war. Sie hatten ihn erst in letzter Minute angebracht – eine einfache, aber effektive Vorrichtung. Leise surrend schwenkte ein Kran über die Dachkante des Müllwagens, von dem Gurte und Haken herabbaumelten. Zor befestigte sie am Container, und mit einem Ächzen hob der Kran ihn an.

»Das Scheißding wiegt mindestens sechshundert Pfund.« Borg wirkte beeindruckt. »Was zum Henker ist da drin?«

Die Sirenen wurden immer lauter.

»Zwei Minuten«, informierte sie der Netrunner.

»Geschätzt oder genau?«, fragte Aya.

»Dreißig Extrasekunden kann ich euch noch verschaffen, mehr ist nicht drin.«

Zor sah Aya an. Er hätte das alles auch allein geschafft, dachte er im Stillen, ohne die anderen – mit Ausnahme von ihr. Und dem Netrunner natürlich, wer auch immer er sein mochte.

Am Eingang der verlassenen Fabrik erschien eine große, hagere Gestalt. Zor griff nach seiner Pistole, aber die Hand erstarrte auf halbem Weg in der Luft. »Lieber Himmel, Ron. Nächstes Mal bitte mit Vorwarnung.«

»Wow, hey!« Mit einer guten Sekunde Verspätung wich Ron aus. »Wir sind im selben Team, schon vergessen?« Theatralisch legte er eine Hand auf die Brust. »Echt liebenswürdig von dir, mich zu verschonen.« Sein übergroßer Mantel schlackerte ihm wie ein Müllsack um die Schultern, das kurze graue Haar war zerzaust. Er wirkte so tiefenentspannt, als wäre nichts wirklich, als wäre das alles nur ein Tagtraum, den er jederzeit unterbrechen oder vor- und zurückspulen konnte, um die unerfreulicheren Stellen zu umgehen.

Der Container hatte nur etwa die Größe einer durchschnittlichen Badewanne, aber trotzdem wölbte sich das Dach des Müllwagens leicht nach oben, und der Kran bog sich unter seiner Last, als er den Container über das Dach schwenkte.

»Zeitplan!«

Zor löste die Haken. Der Container plumpste mit einem dumpfen Aufschlag aufs Dach, der Müllwagen schaukelte auf und ab.

»Los geht’s!«

 

Warden sah über die Bildschirme, wie der Müllwagen in voller Fahrt davonbrauste, und zog eine Braue hoch, als er ein geparktes Auto rammte und es gegen eine Straßenlaterne schleuderte. Auf dem kleineren Bildschirm sah er zwei NCPD-Streifenwagen, die ein paar Blocks weiter aus der entgegengesetzten Richtung kamen. Eigentlich hatte er eher mit einer Militech-Sondereinheit gerechnet – normalerweise waren sie um Lichtjahre schneller als die Cops. Aber von den Jungs fehlte weit und breit jede Spur.

Langsam dämmerte ihm, dass sie es tatsächlich geschafft hatten. Er hatte nicht wirklich daran geglaubt. Diese vom Klienten persönlich geplante Operation war ihm nicht nur seltsam erschienen, sondern vollkommen unmöglich. Normalerweise sagten Klienten einem einfach, was sie wollten und was sie dafür zu zahlen bereit waren. Aber dieser Typ hatte alles von Anfang bis Ende durchgeplant, so verrückt es auch klang. Schräg, dass es am Ende doch geklappt hatte. Aber vielleicht war die Sache auch gar kein so hirnverbranntes Unterfangen gewesen, wie er anfangs gedacht hatte … kurz kam Warden in den Sinn, dass es vielleicht eine durchaus erwägenswerte Strategie war. Man heuerte einfach einen Haufen blutiger Amateure an, und wenn dann alles in die Hose ging, hatte man nichts verloren.

Nur leider kannten sie sein Gesicht, seinen Namen. Das müsste er beim nächsten Mal dann geschickter anstellen.

 

»Yo, Lady, mach mal langsam!«, schrie Borg und klammerte sich mit einer Hand am Sitz fest, mit der anderen strich er sich das grüne Haar zurück. »Hast du etwa Bock zu sterben, oder was!?«

»Wenn hier irgendwer eine Lady ist, dann ja wohl du.« Milena packte das Lenkrad noch fester und gab alles, um in der Fahrspur zu bleiben. Sie grinste und hatte offenbar einen Mordsspaß. Zor und Ron wechselten einen Blick.

»Wir sollten besser keine Aufmerksamkeit erregen«, gab Zor zu bedenken. »Ein Müllwagen, der so wild durch die Gegend rast, fällt auf.« Er wollte ebenso dringend wie die anderen, dass es endlich vorbei war, aber es wäre wirklich eine Schande, wenn man sie jetzt noch erwischte – kurz vor der Ziellinie.

Er machte diesen Job nicht freiwillig. Man hatte ihn dazu gezwungen. Er hatte gar keine andere Wahl gehabt.

Und so war es auch bei den anderen. Sie alle hatten irgendwas zu verlieren – etwas so Wichtiges, dass es zu retten es ihnen wert war, ein Verbrechen zu begehen und ein paar Minuten lang sein Leben zu riskieren, so gefährlich es auch sein mochte.

Der Lastwagen streifte schon wieder einen Mülleimer. Leise fluchend nahm Milena den Fuß vom CHOOH. Ron drehte sich um und richtete einen Finger auf Aya. »Du – zeig mir deinen Arm.« Sie schob die Schulter näher an ihn heran, und er beugte sich darüber und stellte seinen Zoom auf Stufe zehn.

»Ich geh nachher zum Arzt.«

»Du bist gerade schon beim Arzt, Kleines.«

Sie protestierte nicht. Ron riss ein Stück seines Ärmels ab, holte ein Fläschchen aus der Tasche und sprühte Flüssigkeit auf die Wunde. Schaum bildete sich und löste sich gleich darauf auch schon wieder auf. Rons sechsfingrige Chromhand führte eine Art Tanz über der Wunde auf, die Laserimpulse seiner rechten Hand waren perfekt mit den Bewegungen der linken synchronisiert, deren Finger behutsam die verletzte Haut zusammenschoben. Die holprige Straße schien seine Präzision nicht im Geringsten zu beeinträchtigen, und schon bald war von der Wunde nur noch eine dünne rote Narbe übrig.

»Keine Sorge, die Narbe verschwindet noch«, versprach er ihr.

»Danke.« Aya lächelte ihn höflich an und rutschte wieder zurück auf ihren Platz neben Borg, der zwischen Vordersitzen und Abwassertank eingekeilt dahockte, damit die Chemie- und Strahlungssensoren ihn nicht erfassten. Borg nutzte Gelegenheit und Enge, um ihr ganz zufällig eine Hand auf den Oberschenkel zu legen, doch Aya bedachte ihn mit einem so durchdringenden Blick, dass er sie hastig wieder wegzog und sich schmerzhaft den Ellbogen an einem Strahlungsmesser stieß. Zor saß an die Beifahrertür gepresst und beobachtete die anderen.

Ron, ein Ripperdoc am falschen Ort zur falschen Zeit. Zor betrachtete die Sechs-Bit-Hände mit den Titangelenken. Sie waren mit mattem Nanogummi überzogen, das nicht im Geringsten an RealSkinn erinnerte. Arschteure Technologie von Zetatech. Womit hatte Warden ihn wohl dazu erpresst, an dieser Operation teilzunehmen?

Zor hatte das unheimliche Gefühl, sie wären sich schon mal begegnet.

Milena ging in die Kurve. Der Müllwagen schlug einen weiten Bogen und verfehlte nur um Haaresbreite eine Straßenlaterne. »Huch«, murmelte sie. »An diesen Wendekreis gewöhne ich mich wohl nicht mehr …«

Wie viele Anti-Aging-Mods mochte sie wohl haben? Auf den ersten Blick hätte Zor sie auf maximal fünfundzwanzig geschätzt, aber inzwischen wusste er, dass sie eher schon über vierzig sein musste. Geringfügige Verzögerungen in ihren Bewegungen deuteten auf gealterte Muskeln und Gelenke hin, kompensiert durch mikroangepasste Implantate. Viel interessanter war jedoch die Frage, was sie, allem Anschein nach eine hochrangige Corpo, in Gesellschaft von Night Citys Abschaum zu suchen hatte. Solche wie sie machten sich normalerweise nicht die Hände schmutzig, blieben unter sich – für ihre Privilegien musste sie ihr ganzes Leben lang schwer geackert haben. Was auch immer Warden gegen sie in der Hand hatte, es musste etwas Ernstes sein.

Aya war ihm ebenfalls ein Rätsel. Kein sichtbares Chrom – eine Seltenheit heutzutage. Aber man musste schon verdammt gut in Form sein, um sich so schnell zu bewegen. Das erforderte eine Menge Disziplin.

Der Netrunner – keiner von ihnen wusste, wer er war, dabei war er das eigentliche Rückgrat der ganzen Operation. Der Einzige, der nicht austauschbar war. Ohne ihn hätten sie es niemals geschafft, keine verdammte Chance.

»Bieg rechts ab.« In der synthetischen Stimme des Netrunners lag kein bisschen Gefühl. »Zwei Kreuzungen weiter an der grünen Ampel rechts abbiegen.«

»Und wem habt ihr das zu verdanken, ihr Loser?«, rief Borg von hinten. »Ganz genau – meinen Codes. Ohne mich hättet ihr …«

»Maul halten«, sagte Zor ganz ruhig.

Und wer zum Henker war Borg? Der Name erklärte sich durch seine massive Vercyberung, auch wenn viel davon vermutlich reine Showzwecke erfüllte. Verbreiterter Kiefer, mehrere auffällige Implantate an Bizeps, Schultern und Hals – es war beim besten Willen kein System zu erkennen, die Modifikationen wirkten zusammenhanglos wie ein Sammelsurium völlig beliebiger Tätowierungen. Welchem Zweck auch immer sie dienten, sie ließen ihn nicht stark wirken, nur aufgeblasen.

Aber es war müßig, sich über die anderen den Kopf zu zerbrechen. Sobald sie den Container abgeliefert hatten, würde jeder seiner Wege gehen, und sie würden sich vermutlich nie wiedersehen.

Zusammengepfercht kauerten sie in der Fahrerkabine des Müllwagens und beobachteten, wie die Straßen wie durch Zauberhand den Weg für sie freimachten. Der Netrunner manipulierte die Ampeln, und hinter ihnen steckten die Bullen im Verkehr fest, während sie selbst die grüne Welle ritten. Milena lächelte noch immer beim Fahren.

Eins blieb noch zu tun.

»Halt an«, sagte Zor so bestimmt, dass Milena ohne zu zögern bremste.

Sie fuhr rechts ran. Weil sie den Bremsweg falsch einschätzte, rollte der Müllwagen weiter, bis er gegen das Heck eines herrenlosen Autos stieß. Bis eben hatte der Regen unablässig aufs Dach getrommelt, jetzt auf einmal wurde es still. Sie befanden sich unter einer Überführung.

»Verdammt …« Ron lächelte humorlos. »So müsste man …«

»Schaltet eure Komms aus.« Zor ging mit gutem Beispiel voran.

Die anderen gehorchten nur zögerlich – im Gegensatz zu Zor schalteten sie ihre Implantate jedoch per Gedankenbefehl aus, ohne auch nur einen Muskel zu bewegen.

»Bro, ein Kopfhörer? Ist das dein Ernst?« Borg grinste Zor an. »Kannst du dir kein Neurolink leisten wie jeder andere Choom?«

»Ich halte nichts von der Vorstellung, dass irgendwelche Mikroprozessoren in meinem Gehirn rumsurren.«

Weder er noch Aya nutzten implantierte Holo-Komms. Sie hatte zwar ein Neurolink, aber das war mit einem externen Gerät verbunden. Solange sich die Kommunikation auf Sprache beschränkte, zog Zor es vor, einfach ein Handy zu benutzen – schlicht und ohne Schnickschnack. Schließlich hielt man im normalen Alltag nur selten eine Holo-Konferenz ab.

»Na schön. Also, warum wir?«, fragte Zor.

Die anderen starrten ihn schweigend an.

»Äh, weil wir so verdammt knallhart sind?« Borg schnaubte. »Die Nummer lief so glatt wie ein Joytoy-Hintern. Hast du ihre Gesichter gesehen? Die haben sich in die Hose gemacht, als sie uns gesehen haben.«

»Weil sie nicht mit Ärger gerechnet haben«, warf Ron ein. »Nicht mal mit solchen Lappen wie uns.«

»Klar hatten die Angst.« Milena zückte eine Zigarette, steckte sie in eine elegante Zigarettenspitze und zündete sie an. Violetter Dunst waberte durch die Fahrerkabine. »Die waren neu in dem Job, völlig unerfahren. Glotzäugige Rekruten frisch aus der Ausbildung. Haben sicherlich gedacht, der Job wäre irgendeine Routineangelegenheit. Einfach nur Zeug von A nach B schaffen.«

»Wir haben Kinder ihres jugendlichen Lebens beraubt …«, murmelte Ron grimmig.

»Tja, manche werden alt – für andere ist es auf einen Schlag vorbei.« Milena deutete mit ihrer Zigarette nach hinten. »Irgendwer wollte sich ja partout nicht an den Plan halten.«

»Weil wir ein geringes Risiko darstellen. Deshalb hat Warden uns ausgesucht«, sagte Aya. »Wären wir draufgegangen, hätte es für ihn keinen großen Verlust bedeutet.«

»Und davon, dass wir am Leben sind, hat er auch nichts«, fügte Zor hinzu. »Im Moment braucht er uns noch. Aber das ändert sich in dem Moment, in dem wir diesen Container abliefern.«

 

Was war jetzt schon wieder los?

Warden hatte durchaus bemerkt, dass der Müllwagen unter einer Überführung angehalten hatte.

»Worauf wartet ihr?«, fragte er.

Keine Antwort. Verdammte Amateure. Wenn sie jetzt schon Probleme machten, wer weiß, was ihnen dann morgen einfiel?

Der beste Umgang mit Problemen war seiner Meinung nach, sie mit Stumpf und Stiel auszureißen, ehe sie wuchsen und sich verzweigten. Leider hatte der Klient verlangt, dass diese Leute lebend davonkamen. Wozu diese Sentimentalitäten?

Er zog seine Pistole und nahm sich einen Moment Zeit, um sie zu bewundern, fuhr mit den Fingerspitzen über den glatten Stahl. Und wenn er den Deal ein klein wenig abänderte? Weniger Zeugen, weniger potenzielle Probleme. In allen anderen Punkten blieb es ja beim ursprünglichen Plan. Nachdenklich richtete er die Pistole auf den Netrunner, der immer noch in der Badewanne lag.

»Davon würde ich abraten«, sagte die künstliche Stimme in seinem Kopfhörer. »Sieh mal auf den Monitor.«

Warden beugte sich vor. Der Hauptmonitor zeigte das Innere eines unvollendeten Megahochhauses. Ein etwa vierzigjähriger, breitschultriger Schwarzer in Synthledermantel stand über einen Tisch gebeugt.

Rasch fuhr Warden herum und richtete die Pistole auf die Drohne, die vor dem Fenster schwebte.

»Lohnt nicht«, sagte der Netrunner. »Ich habe eine Aufzeichnung der ganzen Operation an einen sicheren Speicherort gesendet. Wenn ich einen Herzstillstand erleide, geht sie im selben Moment ins Netz.«

Vollkommen ruhig schlenderte Warden zur Badewanne hinüber. Kniete sich davor und brachte das Gesicht ganz dicht an das des Netrunners. Es hätte ausgesehen, als schliefe er, würde nicht der Widerschein bunter Farben durch seine geschlossenen Lider flackern. Das Eis in der Wanne war fast vollständig geschmolzen.

»Gibt viele Möglichkeiten, einen Körper künstlich am Leben zu erhalten«, flüsterte er.

Der Netrunner schwieg. Warden lächelte. Er stand auf und steckte die Pistole weg.

»Entspann dich, du bekommst die versprochene Belohnung. Ich spiele nur einfach gern mit meiner Waffe rum, wenn ich sonst gerade nichts zu tun habe.«

 

»Yo, verdammt noch mal – Moment, Moment!«, stieß Borg hervor. »Wir haben die Ware. Wenn er sie haben will, muss er uns bezahlen.«

»Ich glaube, du hast die Situation nicht ganz erfasst.« Ron sah Borg an. »Das hier ist nicht unser Spiel – er macht die Regeln.«

»Er macht sie, wir biegen sie. Ich meine, Himmel noch mal, wir sind ’ne verdammte Gang! Und er ist einfach nur … er.«

Milena schüttelte den Kopf.

»Wir alle haben etwas zu verlieren«, sinnierte Ron.

»Ach ja?«, fragte Borg. »Was denn zum Beispiel, alter Mann?«

»Meine Geduld zum Beispiel, wenn du nicht mit deiner Klugscheißerei aufhörst.«

»Wenn Warden nicht bekommt, was er will, wird er seine Drohungen wahr machen«, stellte Milena nüchtern klar. »Ich weiß nicht, was er gegen euch in der Hand hat, aber da ihr hier seid, nehme ich an, es ist etwas Ernstes. Lasst uns das hier doch einfach fertig über die Bühne bringen, und dann machen wir mit unserem Leben weiter.«

»Woher willst du das wissen?« Borg rieb sich die Schulter und verzog das Gesicht; offenbar hatte der heißgeschossene HMG-Lauf ein Stück freiliegende Haut verbrannt. »Was macht dich so verdammt sicher, dass er es durchziehen wird?«

»Ich kann Menschen lesen.« Milena zog an der Zigarette und blies eine Rauchwolke in seine Richtung. »Man könnte sagen, ich verdiene damit meinen Lebensunterhalt.«

Ron lächelte.

»Wir wissen, wer er ist«, meldete sich Zor zu Wort. »Solange wir am Leben sind, stellen wir eine Bedrohung für ihn dar.«

»Stimmt«, antwortete Milena. »Er hätte seine Identität vor uns verbergen können, wenn er gewollt hätte. Aber er hält sich für sicher, für unantastbar, und er hat recht. Wir sind diejenigen, die Angst haben sollten, nicht er. Wir sollten lieber den Mund halten, denn soweit ich weiß, hat Erpressung kein Verfallsdatum.«

»Gut, dann hauen wir doch einfach ab.« Borg lehnte den Kopf gegen die Rückwand des Fahrerhauses, und es gab ein metallisches Geräusch. »Holen wir uns einfach unsere Eddies und lassen die ganze Sache hinter uns.«

»Was für Eddies?«, fragte Aya verwirrt.

»Ich meinte, äh …« Borg krümmte sich leicht. »Bringen wir den Scheiß einfach hinter uns. Es sei denn, du willst nach Müllwagen stinken.«

 

Der Wachmann winkte sie wortlos durch. Kluger Mann. Die Tiefgarage war praktisch leer und wurde nur schwach von ein paar Baulampen beleuchtet. Die in gleichmäßigen Abständen stehenden Säulen warfen lange Schatten auf den Boden. Es machte fast den Eindruck, als wäre die Baufirma pleitegegangen, bevor eine vernünftige Beleuchtung installiert werden konnte.

Die Crew sprang aus dem Lastwagen, das leise Klatschen von Füßen auf Beton hallte durch das Gebäude. Hier unten war es kühl und feucht. Das erklärte, weshalb weit und breit keine Obdachlosen zu sehen waren.

Sie alle wollten die Sache hinter sich bringen, hatten es aber nicht besonders eilig, Warden gegenüberzutreten. Diese Location war wie geschaffen dafür, in aller Ruhe und sicher vor neugierigen Blicken hässliche Geschäfte zu erledigen.

»Und?« Borg verschränkte die Arme vor der Brust und sah sich in der betonierten Leere um. »Wo steckt der Boss?«

Ron betrachtete den Spalt zwischen der Decke und dem Dach des Müllwagens – er war keine fünf Zentimeter breit. »Ich weiß nicht, ob das ein Zeichen für Wardens Weitsicht und Intelligenz ist oder das genaue Gegenteil.«

Bevor irgendwer erraten konnte, was er meinte, hörten sie Warden über Funk. »Waffen in die Kiste.« Diesmal erschien auch eine Holoprojektion Wardens – sichtbar für alle außer Zor, der nur seine Stimme hörte.

Die Kiste stand in der Nähe der Aufzugstüren. Hut ab, dachte Zor. Leute zu bedrohen, die bis an die Zähne bewaffnet sind, ergibt wenig Sinn.

Nicht dass Zor sich an Warden rächen wollte. Er wollte nur sein normales Leben wiederhaben – wenn man sein Leben denn überhaupt »normal« nennen konnte. Er machte den Anfang, ging zur Kiste hinüber und warf die Saratoga hinein wie ein Stück Schrott, gefolgt von seiner Pistole. Die ganze Zeit hatte er sich punktgenau an Wardens Regeln gehalten – jetzt konnte er es auch bis zum Ende durchziehen. Er hatte keine Kampfimplantate, würde allein auf seine Instinkte und etwas Training zurückgreifen müssen. Mit anderen Worten, er war ein Amateur, aber wenigstens war er nicht allein. Er hätte ohne Weiteres vor einer Stunde sterben können. Er könnte in fünf Minuten sterben. Vielleicht sogar in der nächsten Sekunde. Der Gedanke machte ihm keine Angst. Eigentlich sollte er einfach auf die Knie fallen und es hinter sich bringen, den Tod mit offenen Armen empfangen – einen sinnlosen Tod als Krönung eines sinnlosen Lebens. Aber nein, das könnte das Schicksal dazu verleiten, ihn zu verschonen. Er musste einfach nur Geduld haben. Früher oder später würde eine Kugel den Weg in sein Gehirn finden – zufällig oder nicht –, und dann hatte er seine Ruhe vor der Welt.

Schwarzer Regen prasselt auf die Windschutzscheibe, die Tropfen prallen ab, und er gibt Gas, rast durch die Nacht. Weit fort zu seiner Linken wird das Neonmosaik von Night City immer schwächer und versinkt in Dunkelheit. Am Horizont vor ihm wütet ein Feuer. Es ist zu spät …

»Zor …«

Er kam zu sich – er stand immer noch über die Kiste gebeugt. Aya nahm die Hand von seiner Schulter. Er richtete sich auf, als wäre nichts gewesen.

Niemand hatte etwas bemerkt, niemand außer Aya und Ron, der zwei Meter entfernt stand, aber er sagte nichts, musterte Zor nur stumm.

Unerwartet glitten die Fahrstuhltüren auf. Alle erstarrten. Der Lichtstreifen verbreiterte sich, und Warden betrat das Parkhaus, als gehöre es ihm wie alles andere auch. Er trug einen langen Synthledermantel, und seine Holoprojektion verschwand, als das Original hindurchschritt.

Zor riss sich zusammen, holte sich selbst vom Rand seines Flashbacks zurück – vorerst. Aber er hielt sich nur mit Mühe auf den Beinen.

Warden war unbewaffnet. Er ging zum Heck des Müllwagens und fuhr mit einer Hand über den Rand des Containers, dann wandte er sich um und ließ den Blick über ihre Gesichter wandern. »Eine Feuerprobe«, sagte er heiser. »Aber die kleine, wild zusammengewürfelte Gang hat sie bestanden. Jetzt dürft ihr wieder zurückkehren zu eurem langweiligen, bedeutungslosen, glücklichen Leben.«

»Also …« Ron zuckte mit den Schultern und drehte beide Handflächen nach oben. »Das war’s? Wir können einfach gehen?«

Warden lächelte nur stumm und entblößte himmelblaue Zähne.

Kapitel 2

Schwer senkte sich Hitze vom Himmel herab und ließ alle Spuren des morgendlichen Regens verdampfen. Selbst die Pfützen auf dem zerstörten Bürgersteig und dem versengten Asphalt waren fast verschwunden.

Mit wehendem langem Mantel schritt Liam zwischen den Autowracks umher. Fotos und Aufnahmen hatte er sich bereits angesehen, aber ein persönlicher Besuch am Tatort war durch nichts zu ersetzen. Die Straße war in beiden Richtungen mit Polizeiband abgesperrt. Die Streifenwagen standen leer am Straßenrand, die Beamten hatten im Schatten Schutz gesucht und beobachteten Liam ungeduldig. Vermutlich wünschten sie sich allesamt, sie wären woanders. Hinter ihnen hatte sich eine kleine Gruppe von Schaulustigen versammelt, darunter auch eine Handvoll Reporter, die sich fast die Hälse verrenkten, um einen besseren Blick zu erhaschen. »Hier gibt es nichts zu sehen« … ein abgedroschenes Klischee, aber in diesem Fall stimmte es. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, Drohnen hochzuschicken oder mit High-End-Tech heranzuzoomen, um brandneuen Content zu liefern, aufgepeppt mit heißen Live-Kommentaren. Nicht so heiß allerdings wie die Luft. Es dauerte nicht lange, bis sie das Interesse verloren und sich nach und nach zerstreuten.

Zwei Straßenreiniger hatten offenbar genug vom Herumstehen und fingen an, die Ausrüstung an den Tank ihres Lastwagens anzuschließen.

»Noch nicht«, sagte der Detective.

»Wollen Sie uns etwa den ganzen Tag warten lassen?«, schnauzte einer der Männer ihn an. »Im Gegensatz zu Ihnen werde ich nicht dafür bezahlt, in der Gegend herumzupimmeln!«

»Sie werden auch nicht dafür bezahlt, achtundvierzig Stunden in einer Zelle zu sitzen.«

Das wirkte; sie verkrümelten sich zu ihrem Wagen und rauchten trotzig Zigaretten.

Liam wischte sich den Schweiß von der Stirn, drehte die Klimaanlage in seinem Mantel auf und setzte die Inspektion des Tatorts fort. Nichts ergab irgendeinen Sinn. Zum Beispiel war die HMG noch da, die aus dem Fenster im zweiten Stock Blei vom Himmel hatte regnen lassen. Eine Militech-Waffe – was für eine Ironie. Es sei denn …

Der Detective ging ins Gebäude, lief in den zweiten Stock hoch und stellte sich, nicht zum ersten Mal, neben das schwere Maschinengewehr. Der Schütze hatte praktisch alles in Sichtweite mit Kugeln eingedeckt … bis auf das Zielfahrzeug, das nur drei Treffer abbekommen hatte. Wie war das zu erklären? Man vertraute doch eine Waffe, für die man mehrere Tausend Eddies hinblättern musste, nicht jemandem an, der nicht wusste, was er tat. Außerdem musste man praktisch hirntot sein, um ein so teures Teil einfach zurückzulassen – selbst mit rausgefeilter Seriennummer. Wenigstens der Lauf hätte ausgetauscht gehört, um die Rückverfolgung zu erschweren. Die zurückgelassene Waffe und der Trottel, der den Abzug betätigt hatte … es war ihm ein Rätsel. Oder vielmehr Rätsel im Plural.

Er nahm die Waffe genauer unter die Lupe. Ein HMG Modell 31, fabrikneu, frisch vom Fließband. Nicht mal die Sicherheitsetiketten waren abgezogen worden. Aber wenn es Amateure gewesen waren, wie kamen sie dann überhaupt an so eine Wumme?

Liam kniete sich hin und untersuchte den Griff. Vielleicht hatte sich die Spurensicherung bereits um eventuelle Fingerabdrücke gekümmert, vielleicht auch nicht. Nicht dass es darauf ankäme – die Schusswaffendatenbank war schon seit Ewigkeiten ein unterfinanziertes Desaster. Also hatten sie sich die Mühe vermutlich ohnehin gespart.

Mit dem kleinen Finger, der eine Nuance heller war als die anderen, fuhr er am Lauf entlang, dort, wo die Seriennummer herausgefeilt worden war. An seinem Handgelenk bildeten die goldenen Verbindungsstellen zwischen Chrom und Knochen eine Art Armband, und als er das Metall befühlte, blinkten Dioden auf – es war fast vollkommen glatt bis auf die winzigen Vertiefungen, wo einmal Ziffern magnetisch eingraviert worden waren. Er schloss die Augen und konzentrierte sich. Der Sensor in seinem kleinen Finger brauchte nur dreimal über die Stelle zu fahren, dann blitzte auch schon die Seriennummer auf der Innenseite seiner geschlossenen Augenlider auf. Er speicherte sie intern ab und stellte eine Verbindung zur Datenbank her. Die Waffe war vor über drei Jahren aus einem Militech-Lager gestohlen worden. Warum hatte man sie erst jetzt benutzt? Das passte nicht zu einer Gang. In Liam stieg ein vertrautes Unbehagen auf – ein Knoten tief in seinem Magen. Wenn man nicht wusste, mit wem man es zu tun bekommen würde, ließ man es manchmal besser bleiben. Er hatte miterlebt, wie Ermittlungen im Keim erstickt wurden, wie Beamte plötzlich verschwanden, nachdem sie sich geweigert hatten, einen Fall ruhen zu lassen … Berufsrisiko eben. Aber das hier … das war neu.

Motorengeräusch vor der Tür holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Was jetzt?

Er blickte hinaus. Zwei Militech-Patrouillenfahrzeuge waren vorgefahren – identisch mit dem, das verlassen mitten auf der Straße stand – und ein Abschleppwagen.

Er eilte die Treppe hinunter und wandte sich an den nächstbesten NCPD-Beamten. »Welchen Teil von niemand wird durchgelassen haben Sie nicht verstanden?«, fragte er gereizt.

»Neue Befehle von Zed«, antwortete der Beamte mit schlecht verhohlener Erleichterung. »Der Konzern übernimmt ab hier.«

»Na sieh mal einer an.« Liam seufzte und ging auf den Militech-Soldaten zu, der hier das Sagen zu haben schien. Die anderen waren bereits damit beschäftigt, das Abschleppen des Kastenwagens und des kleineren Autos vorzubereiten. Sie trugen schwarze Uniformen, besser gepanzert als die der Leute vom NCPD, vielleicht sogar besser als MaxTac. Schon ihr bloßer Anblick vermittelte Autorität.

»Leutnant Liam Reed, Abteilung Schwerverbrechen.« Er zeigte seine Holo-ID vor. »Ich leite hier die Ermittlungen, und ihr seid mir im Weg.«

»Nicht mehr.« Der Mann hielt es offenbar nicht für nötig, sich vorzustellen, schob nicht einmal das von außen undurchsichtige Visier hoch, in dem Liam sich spiegelte. Sein Abbild wirkte eigenartig klein.

»Was soll das heißen, nicht mehr? Dass ich die Ermittlungen nicht mehr leite oder dass Sie mir nicht mehr im Weg rumstehen werden?«

»Sie wissen doch, wie das läuft. Es wurden keine Zivilisten verletzt, also ist es auch nicht Angelegenheit der Polizei. Wir übernehmen ab hier.«

Er hatte recht. Es war bei solchen Geschehnissen selten, dass kein einziger Unbeteiligter auch nur einen Kratzer abbekam und ausschließlich Privateigentum beschädigt wurde. Unter diesen Umständen gab die Polizei die Ermittlungen normalerweise ab. Allerdings …

»Richtig, es wurde kein Zivilist verletzt, aber die Straße wurde bei dem Angriff beschädigt.« Liam deutete mit einem Nicken hinter sich. »Und das ist öffentliches Eigentum. Außerdem wurde das CCTV-System manipuliert.«

»Militech kommt vollumfänglich für die Straßenreparaturen auf. Veraltetes ICE in Ihrem CCTV-Netzwerk ist Ihr Problem. Also, mit Verlaub, sind Sie uns im Weg. Dies ist eine interne Untersuchung.« Der Mann drehte sich auf dem Absatz um und ging zu dem Abschleppwagen, der gerade das Heck des Militech-Transporters anhob. Die NCPD-Beamten machten sich mit frischem Eifer an den Abbau der Barrikaden.

Liam schob sich einen Kaugummi in den Mund und warf einen letzten Blick auf die Szene. Er war gerade vierzig geworden, und sein Haaransatz war bereits fast bis zur Schädelmitte zurückgewichen. Wozu sich anstrengen, wenn es am Ende doch immer so ausging wie hier?

Er aktivierte das Telefon in seinem Mantel und diktierte per Gedankenbefehl eine Nachricht: »Ich habe den Nachmittag frei und hole die Kinder von der Schule ab.«

ArS-03, Log 35102.

Synchronisationsvorgang eingeleitet.

Nicht identifiziertes Gerät NI100101001110. Status: unbekannt.

Keine zusätzlichen Subsysteme registriert.

Er war am Leben. Daran gab es keinen Zweifel. Zumindest nicht für Zor. Er lag flach auf den Rücken und starrte an die Decke. Auf dem Rücken zu liegen war noch kein Beweis, aber man musste definitiv am Leben sein, um an die Decke zu starren.

Warum hatte Warden ihn ausgewählt? Ausgerechnet ihn?

Er glaubte nicht an Zufälle.

Er stand auf und blickte aus dem Fenster. Von Ausblick konnte man nicht wirklich reden, er sah nur die wenige Meter entfernte Wand des nächsten Gebäudes. Es war dunkel, schon nach Mitternacht. Nicht dass es tagsüber großartig anders aussah. Die Megablocks, mitunter bis zu achtzig Stockwerke hoch, hielten effektiv jedes Sonnenlicht ab, ebenso wie die Holo-Werbung, die mit Wohnungen in schöneren Vierteln lockte.

Zufälle …

Er drehte sich um und begutachtete seine Wohneinheit. Die durchgesessene Couch, die zugleich als Bett diente, den Schreibtisch mit dem durchschnittlich großen Cyberdeck darauf, ein Schrank, ein winziges Bad. Insgesamt siebenundzwanzig, höchstens dreißig Quadratmeter. In der Ecke befanden sich ein kleiner Kühlschrank und eine Kochnische – ganz schlichte Ausführungen.

Sein Magen grollte, aber er war nicht hungrig genug, um sich die Fertiggerichte anzutun, die geduldig in seinem Kühlschrank warteten. Zumindest noch nicht.

Er setzte sich auf den durchhängenden Teil der Couch. Seit Jahren die gleiche Routine. Schaltete mit einer Handbewegung den Fernseher ein. Auf den ganzen anderen Mist konnte er verzichten, aber darauf nicht.

»Hey, hast du schon von dem neuen ImaginEar-Implantat gehört?«, fragte ihn ein kleiner Gnom mit Glatze und Schlappohren. »Nein? Tja, jetzt schon! Mit dem ImaginEar-Implantat kannst du alles hören, was deine Fantasie hergibt!«

»Rüsten Sie Ihren Universal-Speisenautomaten innerhalb der nächsten Stunde auf und erhalten Sie einen Rabatt von bis zu …«

»Der Nachbar von unten macht wieder Krach? BudgetArms hat genau die richtige Lösung für Sie …!«

»Hat sich das Kugellager in Ihrem Fußimplantat gelockert? Kein Problem …!«

»Haben Sie jemals davon geträumt …?«

»Erstaunlich! Jetzt kannst du …!«

»Gib nicht mehr vor …«

Wahre Explosionen aus Farben und animierten Figuren fielen über Zors Geist her. Als die obligatorische Dosis Werbung vorbei war, begann die Show. Aber in Wirklichkeit war auch das nur ein weiterer Werbespot, der vorgab, eine Show zu sein.

Zor wählte sehr sorgsam aus, welche Sendungen er sich ansah. Sorgte dafür, dass sein Profil so nichtssagend und unauffällig wie möglich war, falls jemand einen genaueren Blick darauf werfen sollte. Es gab keinen Grund, weshalb jemand das tun sollte, aber sicher war sicher.

Sein Ziel war es, genau im Mittelfeld sämtlicher Verbraucherstatistiken zu sitzen – ein einsames Bötchen, das sanft im Auge eines Hurrikans dahindümpelte. Das war nicht einfach, aber das Wissen, dass es nicht ewig so weitergehen würde, verlieh ihm Durchhaltevermögen.

Am sichersten war es, dieselben Sendungen zu sehen wie alle anderen. Die Top-Story auf allen Kanälen war in den letzten Stunden ein Überfall auf einen Militech-Konvoi in Arroyo. Ein paar Aufnahmen der Szene wurden in einer Schleife gezeigt, sonst hatten sie offenbar nichts.

Der Netrunner hatte solide Arbeit geleistet. Alles war blitzblank geschrubbt.

Bürgersteig und Straße hingegen waren zerfetzt und voller Trümmer – das Ergebnis von Rons außergewöhnlich mieser Treffgenauigkeit. Zor dachte an den sechsfingrigen Cyberarm. Das fortschrittliche Zetatech-Modell war für nanochirurgische Operationen geeignet, nicht für den Umgang mit einem HMG.

Die Nachrichtensprecherin behauptete, weder die Cops noch Militech hätten irgendwelche Spuren gefunden. Vielleicht stimmte es, vielleicht auch nicht. Aus dem Inneren des von Kugeln zerfetzten Lastwagens kletterte ein elegant gekleideter Mann mit dunkler Sonnenbrille, der aussah, als wäre er geradewegs einem Spionagethriller entsprungen.

Zor erstarrte. Nahm den Mann, der nun mit dem Finger auf Zor zeigte, genauer in Augenschein. Der Kerl nahm die Sonnenbrille ab, und cybernetische Military-Nachtsicht-Implantate blickten Zor entgegen.

»Machen Sie sich Sorgen um Ihre Sicherheit in den Straßen von Night City?«

Nope, es war nur ein weiterer Werbespot, der auf einen Nachrichtenbeitrag aufgepfropft wurde.

»Schalten Sie nicht um! Wir sind noch nicht fertig! Halten Sie sich fest! Was Sie brauchen, sind kugelsichere CrystalArmor-Fenster. Denn IHR Leben ist jeden Preis wert!«

Zor wechselte den Sender. Aber es half nichts.

»Einsam in der Großstadt? Damit ist jetzt Schluss! Angel’s Companions suchen genau nach Mädchen wie dir! Du wirst TONNENWEISE interessante Leute kennenlernen! Melde dich noch heute für unser nächstes Casting an!«

Er schaltete wieder um.

»Vielleicht glauben Sie nicht an Keime«, sagte eine schlanke Ärztin in Netzstrümpfen und Stöckelschuhen. »Aber die Keime glauben ganz sicher an Sie! Investieren Sie noch heute in einen Wasserfilter!«

Er füllte sich im Waschbecken ein Glas Wasser. Ungefiltert. Trank in kleinen, langsamen Schlucken. Er war dreißig, lebte allein und hielt sich gut in Form. Wahrscheinlich geriet er deshalb immer wieder an Kanäle mit Werbung für erotische Dienstleistungen. Es machte ihm nichts aus, sie anzusehen, aber er kaufte nie etwas. Eine Verschwendung von Zeit und Nerven, die er nicht hatte, ganz zu schweigen von der unerwünschten Aufmerksamkeit, die es auf sich ziehen mochte. Er konnte es sich nicht leisten, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten.

Vor allem, wenn man die gestrigen Geschehnisse bedachte.

Zor saß vor seinem klobigen, altmodischen Cyberdeck. Unter dem kleinen Bildschirm befand sich eine herkömmliche Tastatur, heutzutage eine Seltenheit. Zor konnte lesen und schreiben – eine Grundbedingung bei der NUSA-Armee – und hielt an diesem eigenartigen alten Stück Technik fest. Es wurde weniger überwacht als neuere Modelle, und es wurde nur selten Werbung geschaltet, da es sich nicht lohnte, sie extra entsprechend zu formatieren. Es machte sich auch niemand die Mühe, den Netzzugang solcher alten Cyberdecks zu blockieren – es verwendete dieselben Protokolle wie die Konzern-Wartungssysteme und die aktualisierten Übertragungsverbindungen zwischen Autowerkstätten und den Filialen der Data Inc. Sie waren ungefährlich, solange man sie nicht für kriminelle Zwecke verwendete, und das taten nur Amateure.

Obwohl er eine NetIndex-Verschlüsselungssoftware installiert hatte, tippte er nichts ein, sondern überflog nur die Nachrichten, die in sehr schlichtem Format gehalten waren. So war es ihm am liebsten. Jemandem, der mit optischer Cyberware ausgestattet oder zumindest an moderne Schnittstellen gewöhnt war, käme dieses Deck vor wie ein antikes Relikt aus grauer Vorzeit.

In der Regel klickte Zor auf einen zufälligen Link nach dem anderen, manchmal rund ein Dutzend nacheinander, bevor er etwas auswählte, das ihn wirklich interessierte.

Er blieb bei einer kurzen, in Dauerschleife laufenden Aufnahme stehen, die einen schlanken Mittfünfziger mit Brille zeigte, der gerade in eine Limousine stieg. Auf den ersten Blick sah er wichtig aus, und tatsächlich: In dem Artikel darunter ging es um einen neuen Regierungsauftrag. Kein Ort oder Datum, keine brauchbaren Daten. Zor speicherte Informationen niemals irgendwo ab, sondern zog es vor, sie sich einzuprägen. Aber er kam seit Jahren kein Stück weiter, sammelte immer neue Informationsfetzen, die ihn seinem Ziel doch wieder nicht näherbrachten.

Er schaltete das Cyberdeck aus und versank in Gedanken.

Eine Waffe konnte er besorgen, das war kein Problem. Zumindest für eine Pistole würde es reichen. Aber mit einer Pistole war es nicht getan, das wäre so, als würde man mit einer Fliegenklatsche auf einen Elefanten losgehen. Wenn es denn noch Elefanten gäbe.

Seine Augenlider fühlten sich schwer an. Er ging zurück zu der durchhängenden Couch und ließ sich rücklings draufplumpsen. Mehrere Minuten vergingen, aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Schließlich öffnete Zor die Augen. Direkt vor ihm tanzte ein blauhaariges Mädchen und schwang rhythmisch die Hüften. Sie beugte sich zu ihm hinunter und öffnete den Mund, in dem sich zehn blaue Zungen wanden wie Schlangen. Träumte er etwa schon? Das blauhaarige Mädchen verschwand, nur um von ihr ersetzt zu werden. Aya. Er erinnerte sich an ihren berauschenden Duft, den er sogar im Regen wahrgenommen hatte. Daran, wie sie sich bewegte. Vielleicht irgendwann mal, eines fernen Tags. Sobald er getan hatte, was getan werden musste. Sie könnte für ihn tanzen. Wahrscheinlich tanzte sie gut, so leichtfüßig, wie sie war. In Zeitlupe beobachtete er, wie sie sich nach links drehte, wie ihr langes dunkles Haar durch die Luft wirbelte, der durchscheinende Rock wogte. Ihre nackten Füße bewegten sich mit unbekümmerter Präzision über den Boden.

Es war nur ein Traum. Vermutlich würde er sie niemals wiedersehen.

 

Alles, was weiter entfernt war als ein paar Meter, verschwamm zu einem dichten pinken Nebel. Der Beat durchdrang alles, untermalt von Gläserklirren und Dutzenden Gesprächen. Der Algorithmus der Musik generierte sich selbst und passte sich den Bewegungen der Tänzer an, griff auch kleinste Änderungen der Stimmung auf und verstärkte sie.

Ganz sicher sah ihr jemand zu. Vielleicht sogar alle. Nein, nicht alle. Je später es wurde, desto weniger sahen zu, und die BD-Junkies taten es ohnehin nie.

Mit einer Hand packte sie die Chromstange, sprang mit dem entgegengesetzten Fuß ab, drehte sich zweimal in der Luft und spürte das kühle, vertraute Metall zwischen Oberschenkel und Wade. Sie setzte eine kleine Dosis Pheromone frei, schloss die Augen und gab sich ganz ihrem Instinkt hin. Wie eine sanfte Welle lief ein Schauer über ihren Oberkörper, ihr Körper verschmolz förmlich mit der Stange. Sie musste über nichts nachdenken – ihr Körper wusste genau, was zu tun war, bewegte sich wie von allein. Jedes Mal, wenn sich der Rhythmus der Musik änderte, zog sie ein weiteres Kleidungsstück aus. Sie liebte es. Genau das hier. Zu tanzen, vor einer gesichtslosen Menge.

Das Licht wurde schwächer, die Musik verklang. Aus dem Nebel schälte sich ein mit Tischen gefüllter Raum. Einige Gäste stellten die Gläser ab, um den kurzen, aber spektakulären Auftritt mit Applaus zu würdigen. Jemand stand klatschend auf und rief ihr etwas zu, aber sie verstand nicht, was er sagte.

Sie sammelte ihre verstreuten Kleidungsstücke ein und machte sich auf den Weg hinter die Bühne. Im Raum herrschte schon wieder die übliche Geräuschkulisse.

Im Gang hinter der Bühne war es angenehm still. Zwei männliche Tänzer standen rauchend neben der Tür, die zur Bar führte, und unterhielten sich mit zwei Tänzerinnen. Der eine war muskulös, seine Haut schimmerte fast so dunkel wie Obsidian, der andere war dünn und klein und so blass, dass seine Haut fast bläulich wirkte. Der erste hatte einen großen Schwanz, der zweite eine gespaltene Zunge – für jeden Geschmack was dabei. Sie würdigten sie nicht mal eines kurzen Blickes. Gutes Aussehen und entblößtes Fleisch waren hier nicht gerade Mangelware. Sie kam an Yuki vorbei, die sich gerade auf ihren Auftritt vorbereitete, und bemerkte leuchtend rote Muster, die unter ihrer Haut pulsierten. Sie musste sich ein neues Subdermal gechipt haben. Sie lächelten einander zu. Yuki versuchte gerade, im Braindance-Biz Fuß zu fassen, hatte aber bisher noch keine lohnenden Auftritte bekommen.

Mit einem erleichterten Seufzer schloss sie die Tür zur Garderobe hinter sich und ließ sich auf einen der vier Stühle vor dem Spiegel sinken. Die Glühbirnen an den Rändern des Spiegels ließen den Raum hinter ihr dunkel wirken.

Es war vorbei. Der kleine kriminelle Ausflug der improvisierten Gang lag hinter ihr. Es wurde Zeit, dass alles wieder seinen normalen Gang lief. Langweilig, ja, schon möglich. Begrenzt in den Möglichkeiten. Aber wenigstens war es sicher, berechenbar.

Aya blinzelte einmal, um ihr Komm zu aktivieren, und diktierte eine Nachricht an M: »Fertig für heute Nacht. Bin in dreißig Minuten da.«

»Aya.«

Erschrocken drehte sie sich um. Jemand saß auf der Couch an der Wand. Es war Crispy, ihre Chefin.

»Crisp, hey. Ist irgendwas passiert?«, fragte Aya.

»Nein, alles wie immer.« Crispy stand auf. »Du weißt, dass manche Kunden auf Organics stehen, oder? Es gibt Leute, die nur deinetwegen herkommen.«

»Ich nehme an, das ist was Gutes, oder?« Aya nahm ihre rosa Perücke ab und entfernte die falschen Wimpern. »Ich habe diesen Monat schon zwei BDs gemacht.«

Crispy erhob sich, blieb direkt hinter ihrem Stuhl stehen und sah sie mit diesen unnatürlich großen Augen an. Vielleicht hatten sie früher auf der Bühne mal gut ausgesehen, damals, als sie noch selbst getanzt hatte. Jetzt war sie im Ruhestand, aber die Augen waren immer noch riesig und ließen sie wie ein altes Kind aussehen. Sie löste Ayas langes schwarzes Haar und fing an, es zu bürsten. »Mhm. Aber manchmal wollen sie mehr als nur einen Tanz und auch mehr als einen Braindance. Verstehst du, was ich meine?«

»Ich mache so was nicht, das habe ich von Anfang an gesagt.« Aya nahm ihr die Bürste weg und entfernte rasch das Augen-Make-up.

»Menschen ändern sich, geschäftliche Absprachen ändern sich. Man muss der Zeit voraus sein, wenn man seinen Lebensunterhalt verdienen will. Gerade du solltest das wissen.«

»Ich habe Grenzen.«

»Sind Grenzen nicht dazu da, dass man sie überwindet?« Crispy legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Die anderen Mädchen beschweren sich auch nicht.«

Aya wischte den rosa Lippenstift nicht ab, sondern warf sich ihre Jacke über und ging zur Tür. Crispy hielt sie nicht auf.

»Denk drüber nach, Süße. Du bist vielleicht eine Organic, aber unschuldig bist du deshalb noch lange nicht. Also tu uns allen den Gefallen und hör auf, hier die verdammte Heilige zu spielen.«

Aya stieß die Tür auf und lief Richtung Ausgang.

 

Als sich Ron an die Bar setzte, wackelte der Hocker unter ihm. Er spielte mit dem Eis in seinem Behältnis, das so tat, als wäre es aus Kristallglas, und eine bräunliche Flüssigkeit enthielt, die so tat, als wäre sie ein halbwegs anständiger Whiskey. In neun von zehn Fällen gelang es ihm, mit einer raschen Handbewegung einen Eiswürfel auf den anderen zu katapultieren, aber sie schmolzen zusehends und verloren ihre Form.

»Kannst du mit richtigen Würfeln auch so gut umgehen?«, fragte Pepe, der Barkeeper.

»Nein.« Ron sah ihn mit leerem Blick an. »Warum?«